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SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Wissen
"Wir wollten im Kampf fallen"
Jüdischer Widerstand in Polen
Von Ingrid Strobl
Sendung: Freitag, 29. Juli 2016, 8.30 Uhr
Redaktion: Udo Zindel
Regie: Felicitas Ott
Produktion: SWR 2015
Bitte beachten Sie:
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MANUSKRIPT
Musik
Chaika Grossman:
Jiddische Jugend! Glaub nicht welche verfihren dir......Warft aweg die Illusies!
Übersetzerin:
Jüdische Jugend! Glaub ihren Lügen nicht! Von den 80.000 Juden in Wilna, dem
Jerusalem von Litauen, sind nur noch 20.000 übrig. Vor unseren Augen hat man
unsere Väter und Mütter, unsere Brüder und Schwestern abgeführt! Gebt die
Illusionen auf!
Erzählerin:
In der Silvesternacht 1941 verfassten ein paar junge Frauen und Männer im Ghetto
von Wilna den historisch ersten Aufruf zum jüdischen Widerstand. Chaika Grossman
trug ihn als Kurierin der Untergrundbewegung in die polnischen Ghettos. Und sie
kann noch 50 Jahre danach jedes Wort auswendig.
Chaika Grossman:
Lammer nicht gejn wie Schaf zu der Strippe .... Selbstschutz.
Übersetzerin:
Lasst uns nicht wie Lämmer zur Schlachtbank gehen! Ja, wir sind schwach und
hilflos. Aber die einzige Antwort auf unsere Mörder ist Widerstand.
Ansage:
"Wir wollten im Kampf fallen" – Jüdischer Widerstand in Polen. Eine Sendung von
Ingrid Strobl.
Erzählerin:
Bis heute wird den von den Nationalsozialisten ermordeten europäischen Juden
vorgeworfen, sie hätten sich nicht gewehrt – allen Tatsachen zum Trotz. Israel
Gutman, der ehemalige Leiter des Archivs von Yad Vashem, schreibt in einem
Aufsatz:
Zitator 1
In mehr als 50 Ghettos im deutsch-besetzten Polen entstanden
Untergrundorganisationen des bewaffneten Widerstands ...
Erzählerin:
Nicht nur in den Ghettos wehrten sich Juden gegen die Vernichtungspolitik der
deutschen Besatzer. In den polnischen Wäldern kämpften jüdische Partisanen,
isoliert und unter extrem schwierigen Bedingungen. Dennoch hielten einige der
Gruppen bis zum Kriegsende durch. Hirsch Glick, einer der Kämpfer der FPO, der
Vereinigten Jüdischen Partisanenorganisation von Wilna, schrieb 1943 das Lied "Sog
nit kejnmol as du gejst dem letztn Weg" – Sage nie, du gehst den letzten Weg. Es
wurde zur Hymne des jüdischen Widerstands in Polen und den Baltischen Ländern.
Hirsch Glick fiel, 23 Jahre alt, im Kampf gegen die Deutschen.
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Sarah Gorby singt "Sog nit kejnmol...":
Du sollst nit sogn as du gejst dem letztn Weg ... S’wert a Pojkton unser Trot: Mir
zeynen do!
Übersetzerin:
Sag nie, du gehst den letzten Weg,
wenn auch bleierner Himmel den blauen Tag verdeckt,
unsere erträumte Stunde wird noch kommen,
dröhnen wird unser Schritt: Wir sind da!
Erzählerin:
Selbst in Vernichtungslagern gab es bewaffnete Widerstandsaktionen. Im KZ
Treblinka bauten Häftlinge eine Untergrundorganisation auf, die im August 1943
einen Ausbruchsversuch organsierte. In Sobibor töteten Häftlinge im Oktober '43
zehn SS-Männer, nahmen deren Waffen und ermöglichten es Gefangenen, unter
ihrem Feuerschutz zu fliehen. In Auschwitz-Birkenau erhob sich im Oktober 1944
eine Gruppe von Häftlingen, die als sogenanntes "Sonderkommando" in den
Krematorien arbeiten mussten. Alle Teilnehmer des Aufstands fielen im Kampf, doch
es gelang ihnen, eine der Gaskammern zu zerstören.
Chaika Grossman:
I do not blame the Jews, who went to the gas chambers ... could do.
Übersetzerin:
Wie könnte ich den Juden, die in die Gaskammern gingen, etwas vorwerfen? Sie
hatten keine andere Wahl. Wir waren jung, wir haben die Situation begriffen. Wir
hatten keine Kinder. Wir konnten kämpfen.
Erzählerin:
Der jüdische Widerstand im deutsch-besetzten Europa wurde vor allem von jungen
Menschen getragen. Sie waren alle schon vor dem Einmarsch der Deutschen
politisch aktiv, vorwiegend in drei linken Organisationen: dem Bund, der
sozialdemokratischen jüdischen Arbeiterpartei, in der Kommunistischen Partei, und
vor allem im Hechalutz, einer Jugendbewegung, die einen sozialistischen Zionismus
vertrat mit dem Ziel, in Palästina in Kibbuzim zu leben und ein unabhängiges
jüdisches Gemeinwesen zu schaffen.
Chaika Grossman:
I couldn’t imagine that I would go into the gas chamber ... in the ghetto.
Übersetzerin:
Ich konnte mir nicht vorstellen, in die Gaskammer zu gehen. Wir dachten damals:
Wenn wir schon sterben müssen, dann im Ghetto.
Erzählerin:
Chaika Grossman war seit ihrer Kindheit Mitglied von Haschomer Hatzair, einer der
Gruppierungen des Hechalutz. Mit anderen zusammen leitete sie die
Widerstandsbewegung im Ghetto Bialystok, nahm am Aufstand teil – und überlebte.
Nach der Befreiung Polens emigrierte sie nach Israel und schrieb dort "Die
Untergrundarmee", ihren autobiografischen Bericht über den jüdischen Widerstand.
Die Frage "Warum haben die Juden nicht gekämpft?", sagt sie, ist falsch gestellt.
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Chaika Grossman:
First of all it´s not true. Second: We are talking about what population? ... conditions.
Übersetzerin:
Erstens stimmt das nicht. Zweitens: Über was für eine Bevölkerung reden wir? Es
geht hier um Zivilbevölkerung. Mit Kindern, alten Leuten. Unter grauenhaften,
unmenschlichen Lebensbedingungen.
Erzählerin:
Im September 1939 marschierte die Wehrmacht in Polen ein – und begann so den
Zweiten Weltkrieg. Im deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt hatten die Sowjetunion
und das Deutsche Reich vereinbart, Polen unter sich aufzuteilen. Die Grenze verlief
entlang des Flusses Bug. Ende 1940 zwangen die Besatzer die jüdische
Bevölkerung im deutsch-besetzten Polen, in Ghettos umzuziehen. In Warschau
funktionierten sie eines der alten Arbeiterviertel zum größten aller Ghettos um. Eine
halbe Million Menschen wurden hier auf engstem Raum zusammengesperrt – hinter
bewachten Mauern und Stacheldraht. In seinem Bericht "Das Ghetto kämpft"
beschreibt Marek Edelman die verzweifelte Lage im Jahr 1941:
Zitator 1:
Für die große Masse ist das "Leben" im Ghetto ein Dahinvegetieren mit der Suppe
aus der Volksküche und dem rationierten Brot. Das Elend ist so groß, dass die
Menschen vor Hunger auf den Straßen sterben. Gleichzeitig wütet das Fleckfieber.
Erzählerin:
Marek Edelmann gehörte damals der Jugendorganisation des sozialdemokratischen
jüdischen Bund an. Später wurde er zum stellvertretenen Kommandanten der
jüdischen Kampforganisation im Ghetto. Nach dem Krieg blieb er in Polen und
veröffentlichte 1945 seinen Bericht "Das Ghetto kämpft". Die Volksküchen, die er
darin erwähnt, betrieben der Bund und der Hechalutz. Genauer gesagt: deren
Aktionsgruppen im Untergrund. Sie organisierten auch Schul-Unterricht und Spiele
für Kinder, Konzerte und Theateraufführungen und gaben illegale Zeitungen auf
Jiddisch heraus.
Mascha Putermilch:
Man hat geprift, oifzuhalten die Moral ... hat herab gemindert die Moral.
Übersetzerin:
Man hat sich bemüht, die Moral aufrecht zu halten und ein bisschen Kultur zu
vermitteln. Das war alles konspirativ. Und es war sehr wichtig, denn die Menschen
wurden immer schwächer. Und die Bedingungen haben auch die Moral geschwächt.
Erzählerin:
Mascha Putermilch war eine der jungen Aktivistinnen des Bund im Untergrund des
Warschauer Ghettos. Sie kümmerte sich um die Kinder in ihrem Häuserblock,
verteilte die illegale Zeitung der Bund-Jugend und versuchte zu überleben.
Erzählerin:
Nach dem Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 eroberten die Deutschen auch
die Gebiete östlich des Bug und besetzten nun ganz Polen. Diesmal folgten der
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Wehrmacht die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes
des Reichsführers SS auf dem Fuß. Sie ermordeten gleich in den ersten Tagen der
Besatzung Hunderttausende Juden an Ort und Stelle.
Chaika Grossman:
We knew very, very early, in the autumn of 41 ... to understand is better.
Übersetzerin:
Wir wussten schon im Herbst 1941, dass jeder Jude, den sie aus dem Ghetto holen,
getötet wird. Ich glaube, wir waren die ersten in Europa, die das begriffen haben.
Erzählerin:
Chaika Grossman befand sich im Juni 1941 im litauischen Wilna. Sie hatte Białystok,
ihre polnische Heimatstadt, verlassen, um nach Palästina auszureisen. Nun aber
beschloss sie, in Polen zu bleiben und mit ihren Kameradinnen und Kameraden des
Haschomer Hatzair eine jüdische Selbstschutzorganisation aufzubauen. An
bewaffneten Widerstand dachten sie und ihre Freunde damals noch nicht. Doch im
Sommer 1941 ermordete die SS mehr als 30.000 Wilnaer Juden in einem Wald in
der Nähe der Stadt. Die jungen Linkszionisten zogen daraus ihre Schlüsse.
Chaika Grossman:
We decided not to go ... it should happen in every Ghetto.
Übersetzerin:
Wir beschlossen, den Anweisungen der Deutschen nicht zu folgen. Nicht zu
gehorchen, wenn der Befehl kam, da und da hinzugehen. Denn wir wussten: Es kann
nicht sein, dass ein Offizier der SS oder der Gestapo in Wilna beschließt, die Juden
von Wilna zu töten. Uns war klar: das musste aus Berlin kommen. Und wenn es in
Wilna geschah, dann würde es in jedem Ghetto geschehen.
Erzählerin:
Der Kampfaufruf, den die Wilnaer Mitglieder des Haschomer Hatzair in der
Silvesternacht 1941 verfassten, wurde zum Startschuss für den bewaffneten
Widerstand in den polnischen Ghettos.
Chaika Grossman fungierte nun als Kurierin des Widerstands. Juden durften das
Ghetto nicht verlassen. Taten sie es doch, riskierten sie ihr Leben. Chaika Grossman
und die anderen jungen Frauen, die diese schwierige Aufgabe übernahmen,
sprachen nicht nur Jiddisch, sondern auch fließend Polnisch. Die meisten waren
blond und blauäugig und gingen deshalb als nicht-deutsche Polen oder
Volksdeutsche durch. Ihr selbstsicheres Auftreten trainierten sie sich mit learning by
doing an. So gelang es ihnen, die fast vollständige Isolierung der Ghettos zu
durchbrechen, Kontakte herzustellen und Waffen zu besorgen. Emanuel Ringelblum,
der Chronist des Warschauer Ghettos, schrieb über diese Frauen, die kaum älter als
18, 19 Jahre waren:
Zitator 1:
Diese heroischen Mädchen, Chaika, Frumka, sie sind ein Thema, das nach der
Feder eines großen Dichters verlangt.
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Erzählerin:
Chaika Grossman brachte den Aufruf zum Widerstand aus dem litauischen Wilna in
das Warschauer Ghetto. Die linkszionistische Jugend, die Kommunisten und die
Jugendorganisation des Bund begannen, eine gemeinsame Widerstandsorganisation
aufzubauen. Als die Deutschen die Ghettobewohner aufforderten, sich zum
Transport in ein – angebliches – Arbeitslager einzufinden, verteilten die jungen
Widerständler Flugblätter:
Mascha Putermilch::
Lasst euch nicht nehmen vun die Deitschen ... was sie sagn.
Übersetzerin:
Lasst euch nicht von den Deutschen abführen! Es stimmt nicht, was sie sagen.
Erzählerin:
Am 22. Juli 1942 begann die sogenannte "Aussiedlungsaktion". Tag für Tag wurden
Tausende Menschen abtransportiert. Am dritten dieser Tage berieten sich die
Vertreterinnen und Vertreter der Untergrundgruppen im Ghetto. Die Jungen
plädierten dafür, aktiv Widerstand zu leisten. Die Älteren waren dagegen. Sie
fürchteten eine Bestrafungsaktion der Deutschen, die das gesamte Ghetto treffen
könnte. Der Bund beauftragte Zygmunt Frydrych, einen seiner Aktivisten,
herauszufinden, wohin die Menschen gebracht wurden. Drei Tage später kehrte er
zurück mit der Nachricht: Sie werden in das Lager Treblinka gebracht und dort mit
Gas erstickt. Die Bund-Jugend druckte seinen detaillierten Bericht in ihrer
Untergrundzeitschrift ab und verteilte sie im Ghetto.
Mascha Putermilch:
Die Jiden haben nicht geglaubt ... noch oisnutzen zu der Arbeit, warum darf man sie
umbringen?
Übersetzerin:
Die Menschen haben es nicht geglaubt. Meine Mutter hat Zygmunt geglaubt, denn
sie hat ihn gekannt. Aber die anderen haben gesagt: "Das kann nicht sein: Warum
sollten sie denn Leute umbringen, die sie für sich arbeiten lassen?"
Erzählerin:
350.000 Ghettobewohner wurden zwischen Juli und September 1942 nach Treblinka
deportiert. In seinem Bericht "Das Ghetto kämpft" schreibt Marek Edelman:
Zitator 1:
Nun beginnen die Juden endlich zu begreifen, dass die Aussiedlung Tod bedeutet.
Dass uns nichts anderes übrig bleibt, als würdig zu sterben.
Erzählerin:
Anfang Oktober schlossen sich der Bund, die Kommunisten und der Hechalutz zur
ZOB zusammen, der Vereinigten Jüdischen Kamporganisation Zydowska
Organizacia Bojowa. Ihre dringlichste Aufgabe war es, Waffen aufzutreiben. Auch im
Ghetto von Bialystok bemühten sich die Widerstandskämpfer um Waffen. Chaika
Grossman war Anfang 1942 in ihre Heimatstadt zurückgekehrt, hatte von dem
Massaker bei Wilna berichtet und den Aufruf zum Widerstand überbracht. Nach
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heftigen Diskussionen schlossen sich auch hier die Widerständler zu einer
gemeinsamen Organisation, dem Vereinigten Kampfblock, zusammen. Chaika
Grossman, die zur Führung des Kampfblocks gehörte, zog erneut, als Polin getarnt,
über Land.
Chaika Grossman:
The Problem was not to have a parabellum ... not only to get weapons, but what kind
of weapons.
Übersetzerin:
Eine Parabellum oder ein Revolver haben uns nicht viel genützt, das sind Waffen für
die Verteidigung, nicht für den Kampf. Das wirklich große Problem war nicht, Waffen
zu bekommen, sondern welche Art von Waffen!
Erzählerin:
Einzelne Menschen und kleine Gruppen, Pfadfinder zum Beispiel, unterstützten den
jüdischen Widerstand von außen. Die großen polnischen Widerstandsorganisationen
jedoch wie die von der Exilregierung in London dirigierte Heimatarmee – Armia
Krajowa – hielten sich weitgehend zurück. Wie in der Bevölkerung war auch im
polnischen Widerstand Antisemitismus weit verbreitet. Die Ghettokämpferinnen und kämpfer blieben, von kleineren Solidaritätsaktionen abgesehen, auf sich gestellt. In
Warschau bildete die ZOB nun Kampfgruppen. Junge Frauen und Männer, die zuvor
noch nie eine Waffe in der Hand gehalten hatten, lernten, einen Revolver zu
bedienen und "Zündflaschen" zu bauen, eine Art Molotowcocktails.
Mascha Putermilch:
Mir han gelernt /schießen/ nur theoretisch.
Erzählerin
Das Schießen lernten sie nur theoretisch, erinnert sich Mascha Putermilch.
Mascha Putermilch:
Warum? Weil schießen hat man gehört auf der Straß ... gekost sehr a Sach Geld!
Übersetzerin:
Warum? Weil das Schießen in den Straßen zu hören war. Und die Munition war sehr
teuer.
Erzählerin:
Am 18. Januar 1943 starteten die deutschen Behörden eine neue
"Aussiedlungsaktion" im Warschauer Ghetto. Wieder mussten sich Tausende
Menschen am sogenannten "Umschlagplatz" einfinden. Doch diesmal kamen viele
erst gar nicht, sondern versteckten sich. Als die anderen abgeführt wurden, schreibt
der Historiker Israel Gutman:
Zitator 1:
... mischte sich eine Gruppe bewaffneter Ghettokämpfer unter sie. An einer
bestimmten Stelle des Weges begannen sie ein Handgemenge mit den deutschen
Polizisten, die den Zug begleiteten. Bei diesem Kampf wurden die ersten Polizisten
im Ghetto verletzt und getötet.
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Erzählerin:
Auch andere Kampfgruppen leisteten Widerstand, und die Menschen, die abgeführt
werden sollten, nutzten die Chance und liefen weg. Der verantwortliche SS- und
Polizeiführer Friedrich Wilhelm Krüger konnte "nur" circa 5.000 Juden festnehmen
und zog seine Leute schließlich aus dem Ghetto ab. Es war ein historischer Moment,
konstatiert Israel Gutman:
Zitator 1:
Die deutschen Uniformierten stießen zum ersten Mal bei der Durchführung einer
Deportationsaktion auf Widerstand und wurden sogar beschossen. Sie waren von
nun an gezwungen, sich in acht zu nehmen, wenn sie in Kellerräume, Dachböden
und andere Orte eindrangen, in denen Juden sich versteckt hielten.
Erzählerin:
Die ZOB kasernierte jetzt ihre Kampfgruppen und hielt sie in ständiger
Alarmbereitschaft. Hauskomitees organisierten den Bau von Bunkern und
Verstecken, von Durchbrüchen zwischen den Häusern und Fluchtwegen durch die
Abwasserkanäle. Den Verbindungsleuten der ZOB in der Stadt gelang es, weitere
Waffen und vor allem Sprengstoff und Benzin zu kaufen. Im Ghetto wurden
Werkstätten eingerichtet, in denen die Kämpferinnen und Kämpfer im Schichtdienst
Zündflaschen bauten. Marek Edelman schreibt in seinem Bericht "Das Ghetto
kämpft":
Zitator 1:
Auf jeden Kämpfer entfallen durchschnittlich eine Pistole mit zehn bis 15 Patronen,
vier bis fünf Handgranaten und vier bis fünf Zündflaschen. Auf jedes Gebiet im
Ghetto kommen zwei bis drei Gewehre. Im gesamten Ghetto gibt es nur eine
Maschinenpistole.
Erzählerin:
Damit forderten die jungen Frauen und Männer einen Gegner heraus, der mit leichter
und schwerer Artillerie, Flammenwerfern, Gasbomben, Panzern und
Kampfflugzeugen ausgerüstet war. In den frühen Morgenstunden des 19. April 1943
umstellten Einheiten der Waffen-SS, der Wehrmacht, der Ordnungs- und der
Sicherheitspolizei, unterstützt von polnischer Polizei das Ghetto. Kuriere der ZOB
alarmierten die Ghettobewohner, die in vorbereitete Verstecke flüchten. Die
Kampfgruppen begaben sich in ihre Stellungen.
Mascha Putermilch:
Wenn die Deitschen seinen arein ... Mir sejen, es kämpft a Flieg mit an Elefant.
Übersetzerin:
Als die Deutschen hereinkamen, hatten wir eine gute Position. Wir standen im ersten
Stock, zehn Kämpfer an fünf Fenstern. Meine Hand, in der ich den Revolver hielt, hat
gezittert. Wir sahen: Da kämpft eine Fliege mit einem Elefanten.
Erzählerin:
Kommandiert wurde die Liquidierung des Ghettos von SS Brigadeführer Jürgen
Stroop, der täglich Meldungen über "den Verlauf der Aktion" nach Berlin schickte.
Zum ersten Tag schrieb er:
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Zitator 2:
Sofort nach Antreten der Einheiten starker planmäßiger Feuerüberfall der Juden. Der
eingesetzte Panzer und die beiden Schützenpanzerwagen wurden mit
Molotowcocktails beworfen. Verluste beim ersten Einsatz: 12 Männer.
Erzählerin:
Am 2. Tag meldete Stroop zwei Tote und sechs Verwundete. Seine Truppen stießen
auch in den folgenden Tagen immer wieder auf bewaffnete Gegenwehr. Die ZOB, die
jüdische Kampforganisation, bemerkte in ihrem Bulletin vom 22. April, dem vierten
Tag des Ghettoaufstands:
Zitator 1:
Einige jüdische Kämpfer fielen den Deutschen lebend in die Hand und wurden von
schwerbewaffneten Posten abgeführt. Wie sich das Bild verändert hat! Früher führten
ein paar Deutsche große Mengen Juden ab. Heute ist für ein paar Juden ein ganzer
Trupp Deutscher erforderlich.
Erzählerin:
Am 24. April ordnete Stroop an, "die totale Vernichtung des jüdischen Wohnbezirks
durch Abbrennen sämtlicher Wohnblocks vorzunehmen".
Zitator 1:
Was die Deutschen nicht geschafft haben, erledigt jetzt das allmächtige Feuer.
Erzählerin:
... schreibt Marek Edelman.
Zitator 1:
Das Feuer treibt die Menschen aus den Schutzkellern heraus, zwingt sie, aus den
sicheren Verstecken auf den Dachböden zu fliehen. Hunderte Menschen setzen
ihrem Leben ein Ende, indem sie aus dem dritten und vierten Stock
herunterspringen.
Erzählerin:
Doch erst am 16. Mai – fast vier Wochen nach Beginn der Kämpfe – konnte SSBrigadeführer Stroop die Aktion für beendet erklären. In seinem Abschlussbericht
meldete er an eigenen Verlusten 15 SS-Männer und deutsche Polzisten und einen
polnischen Polizisten. Dazu 84 Verletzte. Die 56.000 letzten noch im Ghetto
lebenden Juden ließ er nach Treblinka deportieren.
Sarah Gorby singt:
Dos Lid geschrieben is mit Blut und nit mit Blei ... Dos Lid gesungen mit Naganes in
di Hänt.
Übersetzerin:
Dieses Lied ist mit Blut und nicht mit Blei geschrieben,
es ist kein Lied eines Vogels in der Freiheit.
Es hat ein Volk zwischen einstürzenden Wänden
dieses Lied gesungen, mit Pistolen in den Händen.
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Erzählerin:
Im Frühsommer 1943 war das Ghetto in Białystok eines der wenigen noch
existierenden Ghettos in Polen. Im Februar hatten die Besatzer 10.000 seiner
Bewohner nach Treblinka verschleppt. Seither debattierte die Führung des
Vereinigten Kampfblocks über die Frage, die alle Widerständler in den polnischen
Ghettos umtrieb: Was ist sinnvoller? Im Ghetto zu bleiben oder als Partisanen in den
Wald zu gehen? In Białystok wurde schließlich ein Kompromiss gefunden: Ein Teil
der Kämpferinnen und Kämpfer ging in die umliegenden Wälder, um eine
Partisanengruppe aufzubauen. Ein paar junge Frauen verließen das Ghetto und
mieteten, als nichtjüdische Polinnen getarnt, in der Stadt Wohnungen an. Die
Mehrheit blieb im Ghetto, um sich zu erheben, wenn die Deutschen kamen, um die
Bewohner abzutransportieren. Nach der Liquidierung des Ghettos sollten die
Überlebenden in den konspirativen Wohnungen Zuflucht finden und von dort zu den
Partisanen in den Wald gebracht werden.
Chaika Grossman:
We hoped they will run away … Okay, I will run away. So, where?. Wuhin?
Zitatorin:
Während wir im Kampf gegen die Nazis fallen, so hofften wir, nutzen die Menschen
die Gelegenheit und laufen weg. Wir wussten aber auch: Wo sollen sie hinlaufen?
Das war die entscheidende Frage, vor der jeder Jude damals stand: Okay, ich laufe
weg. Aber wohin?
Erzählerin:
Im Juni 1943 beschloss der Reichsführer-SS Heinrich Himmler die endgültige
Liquidierung des Białystoker Ghettos. Mit der Durchführung beauftragte er SSGruppenführer Odilo Globocnik. In der Nacht vom 15. auf den 16. August 1943 ließ
Globocnik das Ghetto abriegeln und der Bevölkerung mitteilen:
Zitator 2:
Alle Juden haben sich um neun Uhr morgens an der Sammelstelle auf der
Jurowieckastraße einzufinden. Sie werden in ein Lager in Lublin transportiert.
Erzählerin:
50 Jahre danach besucht Chaika Grossman Białystok. Und spricht plötzlich nicht
mehr Englisch, sondern Jiddisch. Ihre Muttersprache.
Chaika Grossman:
In dem Transport, da hab ich gesejn meine Mutter zum letzten Mal. … ich geh auf ein
letzten Kampf, auf a letzte Schlacht.
Übersetzerin:
Hier, auf dem Sammelplatz habe ich meine Mutter zum letzten Mal gesehen. Ich
wusste nicht, was ich ihr sagen sollte. Sollte ich sagen: "Lauf weg!"? Wie sollte sie
das denn machen? Sie hat mich gefragt: "Chaikele, wohin gehst du?" Und ich konnte
ihr nicht sagen: Ich geh zum letzten Kampf.
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Erzählerin:
Chaika Grossman und ihre Kameradinnen und Kameraden legten Feuer in den
Fabrikgebäuden im Ghetto und lieferten sich heftige Gefechte mit den Deutschen.
Doch am Nachmittag hatten sie ihre Munition verschossen, fast alle waren gefallen.
Chaika Grossman gelang es, das Ghetto zu verlassen und sich in eine der
konspirativen Wohnungen zu flüchten.
Fünf junge Widerstandskämpferinnen blieben schließlich alleine und völlig isoliert in
der Stadt zurück. Sie arbeiteten als vermeintliche Polinnen in deutschen Betrieben
und wagten es kaum, sich abends heimlich zu treffen. Dann gelangte eine
Kameradin aus der jüdischen Partisanengruppe in die Stadt. Der Kontakt war
hergestellt. Liza Czapnik, eine der fünf jungen Frauen, erinnert sich:
Liza Czapnik:
We wanted of course to go to the forest … that connection.
Übersetzerin:
Wir wollten natürlich in den Wald zu den Partisanen, um zu kämpfen. Aber sie sagten
uns: "Wir brauchen euch in der Stadt." Wir waren ja ihre einzige Verbindung zur
Außenwelt, und ohne die konnten sie nicht überleben.
Erzählerin:
Abends, nach der Arbeit, machten sich die jungen Frauen auf den langen und
gefährlichen Weg in den Wald. Am anderen Morgen liefen sie zurück in die Stadt. Sie
besorgten, unter Lebensgefahr, was die Partisanen benötigten. Und brachten es am
nächsten Abend zu ihnen.
Liza Czapnik:
First of all medicaments ... explosion means.
Übersetzerin:
Medikamente vor allem. Aber auch Lebensmittel. Und Waffen natürlich. Wir konnten
nicht viele bringen, aber doch ein paar Waffen und auch Sprengstoff.
Erzählerin:
Im Frühjahr 1944 drang eine sowjetische Partisanenbrigade in das Gebiet der
kleinen jüdischen Partisaneneinheit vor. Sie rettete die wenigen, die den kalten
Winter und die Angriffe der Deutschen überlebt hatten. Brigadekommandant Nikolai
Woitsehowski löste die jüdische Formation auf und gliedert ihre Kämpferinnen und
Kämpfer seiner Brigade ein. Chaika Grossman, Liza Czapnik und ihre Gefährtinnen
hielten nun die Verbindung zwischen den Widerstandsgruppen in der Stadt und den
Partisanen und sammelten Informationen über mögliche Angriffsobjekte.
Liza Czapnik:
The electric … And we should have been that.
Übersetzerin:
Sie haben das Elektrizitätswerk gesprengt, ja? Und dafür brauchten sie natürlich
(lacht) eine Art Geheimdienst. Und das waren wir.
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Musik
Erzählerin:
Am 27. Juli 1944 befreite die Rote Armee Białystok, zusammen mit den Partisanen.
Chaika Grossman kehrte mit ihnen in die Stadt zurück. "Wir waren traurige Sieger",
schreibt sie in ihren Erinnerungen. Von den 60.000 Białystoker Juden haben nur ein
paar Hundert überlebt.
Chaika Grossman:
I was sad and empty. …
Übersetzerin:
Ich war traurig und leer. Mein Körper war leer. Meine Seele war leer. Ich wusste
nicht, wofür ich am Leben war. Ich lebte, aber ohne mein Zutun.
Chaika Grossman:
I was alive, but it was quite unwillingly.
*****
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