SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Wissen Erleuchtung Konjunktur eines religiösen Begriffs Von Rolf Cantzen Sendung: Freitag, 25. November 2016, 8.30 Uhr Redaktion: Ralf Kölbel Regie: Alexander Schumacher Produktion: SWR 2016 Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Service: SWR2 Wissen können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/wissen.xml Die Manuskripte von SWR2 Wissen gibt es auch als E-Books für mobile Endgeräte im sogenannten EPUB-Format. Sie benötigen ein geeignetes Endgerät und eine entsprechende "App" oder Software zum Lesen der Dokumente. Für das iPhone oder das iPad gibt es z.B. die kostenlose App "iBooks", für die Android-Plattform den in der Basisversion kostenlosen Moon-Reader. 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Rania: Was wir in den spirituellen Traditionen lesen oder hören können, ist, dass das der Prozess der Erleuchtung ist, und ich würde heute sagen, das ist das, wenn sich unser Bewusstsein in das Absolute öffnet, in Gott, also, wenn wir darin wirklich verschwinden. Madhukar: Wunderbar, wunderbar. Wenn ich still bin, in der Stille, verschwindet auch alles, selbst diese wunderbare schöne Schöpfung mit dem Glück und dem Leid, und nur eine formlose Glückseligkeit ist hier. Ansage: Erleuchtung – Konjunktur eines religiösen Begriffs. Eine Sendung von Rolf Cantzen. Musik Zitator: Leben in Fülle – Leben in Erleuchtung. Drei volle Tage Liebe und Mitgefühl. Erleuchtungskongress live in Berlin mit vierzig spirituellen Lehrern und Lehrerinnen ... Erzählerin: ... und mit etwa 250 Teilnehmenden. Seit einigen Jahren findet der Kongress jährlich statt. Roland und Ludmilla organisieren ihn. Sie sind selbst spirituelle Lehrer, halten sich selbst für erleuchtet und: Sie kennen die Szene: Roland Heine: Die esoterische Szene und die spirituelle Szene sind sicherlich zum Teil getrennt wahrnehmbar, es sind einige Bereiche, die sich überlappen, aber die esoterische Szene kümmert sich halt um Tarotkarten und Engel und Einhörner und die spirituelle Szene ist ernsthafter, möchte ich jetzt einmal sagen, dabei handelt es sich eher um Erwachen und Erleuchtung. Erzählerin: Mit evangelikalen Erweckungsbewegungen hat diese spirituelle Szene nichts gemein, ein wenig mit christlicher Mystik, mehr mit dem, was in indischen Philosophien "Advaita" genannt wird. Advaita heißt wörtlich übersetzt: "NichtZweiheit", ein nicht in Worte zu fassendes Erleben einer beglückenden 2 Einheitserfahrung. Die in den letzten Jahren stark expandierende Szene sammelt sich um den Begriff "Satsang". Ludmilla erläutert: Ludmilla: Satsang heißt ja: Zusammensein in Wahrheit. Und die Ausrichtung ist natürlich auf dieses Eine, auf dieses Erwachen zu dem wahren Selbst, das ist immer Satsang. Dennoch sehen die Satsangs bei den verschiedenen Lehrern ganz unterschiedlich aus. Erzählerin: Während des Berliner Erleuchtungskongresses tritt auch der spirituelle Meister "Madhukar" auf – so nennt sich einer der Stars der Szene. Er lehrt, ... Madhukar: .... dass wir in Wirklichkeit der Seinsgrund sind und nicht die Person, die wir glauben zu sein mit ihrer Geschichte, mit ihrer Freude natürlich auch, aber oftmals mit viel Leid, sondern etwas sind, was, ja man könnte sagen, Glückseligkeit ist. Musik Erzählerin: Madhukar – hier singt er auch – will die Menschen bereit machen für die, wie er sagt, "Gnade der Erleuchtung". Wenn die Suchenden den Veranstaltungsraum betreten, sehen sie vorne einen weißen Sessel. Rechts und links davon Fotos von Madhukars indischen Meistern; daneben hübsche Blumenarrangements; im Halbkreis vor dem Sessel zwei Reihen Meditationskissen; die erste Reihe ist reserviert für Madhukars Schülerinnen; es folgen einige Stuhlreihen. Knapp achtzig Leute haben sich versammelt. Sori: Einen schönen guten Abend wünsche ich euch und uns. Mein Name ist Sori und ich darf euch heue begrüßen zu der Veranstaltung, die hier gleich stattfindet und zwar zu "Silence and Dance" mit Madhukar. Erzählerin: Bevor der spirituelle Meister den Raum betritt, erläutert Sori, eine der Assistentinnen von Madhukar, das Prozedere seines Auftritts: Zuerst eine längere Stillephase, dann werde Madhukar das "Om" intonieren. Dann könnten Fragen gestellt werden. Abschließend Tanzen. Sori: Madhukar ist Advaita-Meister. Er ist Philosoph. Er ist Vermittler von Klarheit und Lebensfreude. Und er ist vor allem der Schüler von Papaji, den seht ihr hier auf diesem Bild, ... 3 Erzählerin: Die Autorisierung durch eine Reihe von "Meistern" wiederholt sich bei vielen Erleuchteten. Madhukar, erklärt Sori, sei Schüler des indischen Lehrers Papaji, alias Poonja, der wiederum Schüler von Ramana Maharshi, einem Heiligen gewesen sei. Madhukar, 1957 in Stuttgart geboren, studierte Philosophie und Ökonomie, arbeitete als Journalist und Yoga-Lehrer, habe dann, so Sori, eine Nahtoderfahrung gehabt im Himalaya und ein spontanes "Kundalini-Erwachen". Er sei dann Schüler eines berühmten Zen-Meisters gewesen, bevor dann seine Suche bei seinem Meister Papaji in einer endgültigen glückseligen Erleuchtung ein Ende gefunden habe. Die von seiner Assistentin und in Madhukars Büchern präsentierte Biografie folgt damit einem Muster, das sich bei vielen spirituellen Lehrern wiederholt. Almut-Barbara Renger: Oftmals ist sie von bestimmten Formeln geprägt, diese Erzählung, dieses Narrativ der eigenen Erleuchtung, das bestimmte Elemente aufnimmt, wie sich etwa schon in den Legenden, die sich an der Figur des historischen Buddha haften, finden oder an anderen Figuren haften, die legendarischen Charakters sind, die zur Stilisierung dieser Heiligen oder, man könnte jetzt sagen: Erleuchteten, dienen. Erzählerin: Almut-Barbara Renger ist Professorin für Religionswissenschaften an der FU-Berlin und gab ein Buch heraus mit dem Titel: Zitator: Erleuchtung. Kultur- und Religionsgeschichte eines Begriffs. Erzählerin: Sie weist darauf hin, dass "Erleuchtung" nur aus ihren jeweiligen Kontexten heraus zu verstehen sei, also nicht mittels abstrakter Definitionen. Auffällig sei an den Biografien so genannter "Erleuchteter", dass sie auf bestimmte Erzählmuster zurückgriffen. In den Kulturwissenschaften werden sie "Narrative" genannt: Almut-Barbara Renger: Und dazu gehört z.B., dass in frühster Kindheit dem Kind etwas widerfahren ist, das sich deuten lässt als eine Disposition hin zu besonderer religiöser Erfahrung, dass es eine Episode längerer Krankheit gab oder in der Jugend einen schweren Unfall und dass es daraufhin zu einer Krise gekommen sei, an die sich eine Wende hin zum Positiveren geschlossen habe, bis es dann am Ende irgendwann gleichsam Peng gemacht hat und ein Erwachen oder sogar eben ein Erlebnis stattgefunden hat, das als Erleuchtung gewertet wird. Erzählerin: Auf ein ähnliches Narrativ beziehen sich auch Madhukar und andere spirituelle Lehrer. Zunächst gewisse Ahnungen in der Kindheit. Dann Sinnsuche in jungen Jahren, Begegnung mit dem Tod etwa in Nahtoderlebnissen, kurzes Erwachen. Es 4 folgen Verzweiflungseinbrüche – oft genannt die "dunkle Nacht der Seele". Schließlich: Verstetigung der Erleuchtung, eigene Lehrtätigkeit. Sori: Vielleicht habt ihr euch auch gefragt, was machen die hier für einen Wirbel. Das machen wir auch deswegen, weil dieses Geschenk, was er uns schenkt, einfach so kostbar ist. Wundert euch nicht, wenn Madhukar reinkommt und sich der eine oder die andere vor ihm verbeugt. Erzählerin: Seine Schülerinnen haben sich sehr tief verbeugt, so dass sie auf dem Boden lagen vor dem charmant lächelnden und mit vor der Brust zusammengelegten Händen sanft nickenden, ganz in weiß gekleideten Madhukar. Madhukar: Die Menschen verbeugen sich in Wirklichkeit nicht vor mir, schon gar nicht vor mir als Person, sondern eher vor ihrem Selbst, vor sich selbst. In dem Moment ist so etwas wie ein Mut da, loszulassen und Respekt auszudrücken. Es geht um den Respekt der Menschen vor dem Absoluten. Es geht nicht um mich als Person. Erzählerin: Was uns Menschen daran hindert, in die göttliche Seligkeit einzutauchen? Madhukar: Die Obsession, permanent Gedanken nachzulaufen und uns unseren Emotionen auszuliefern. Erzählerin: Die "Anhaftungen", die Identifikationen mit dem empirischen Ich, das Festhalten an Gefühlen, Ängsten, Hoffnungen, vor allem auch die Verabsolutierung des kritischen Denken, des Verstandes verbaue uns den Weg in die Glückseligkeit. Madhukar: Der Geist hat keinen Zugang zu dieser absoluten Wahrheit. Und dennoch nutzen wir natürlich unseren Intellekt, um uns auszurichten, um das zu begreifen. Es ist jedem möglich, auch einem ganz einfachen Menschen, diese Erkenntnis zu sein und zu leben. Erzählerin: Und Madhukar sorgt dafür, dass die zu ihm kommenden Menschen bereit sind für die Erleuchtung. Wie? Madhukar: Indem sie nicht annehmen, dass sie irgendwo hinkommen müssen, sondern ergründen, was bereits hier ist, was in ihrem Leben immer schon da war, jenseits von den Erscheinungen. 5 Erzählerin: Die Erleuchtung selbst kann nicht gezielt herbei geführt werden. Sie ist letztlich "Gnade", also ein Geschenk, auf dessen Empfang sich der Suchende vorbereiten, kann. Madhukar: Für mich ist ein wichtiges Mittel in meinen Veranstaltungen, die "Yoga der Stille" heißen, so wie der Titel schon sagt, die Stille: Ich sitze dann mit den Menschen, gehe mit denen in eine tiefe Stille. Erzählerin: ... die unterbrochen ist durch Instruktionen wie "Bauchatmung" oder "Präsenz" oder "Alles ist da" und dergleichen, bevor Madhukar "Om" intoniert. Atmo: OM, OM ... Madhukar: Ich bin dann eher ein Vertreter des reinen Advaita, aus meiner Tradition schon heraus, meines Meisters, seines Meisters etc.. Erzählerin: Ein sehr bekannter "Erleuchteter" ist Eckhart Tolle. Seine Bücher sind internationale Bestseller. Tolle erlebte, so seine Selbstauskunft, spontan die eigene spirituelle Transformation und ist seitdem weltweit unterwegs, anderen Menschen dabei behilflich zu sein. Bereits die bloße Lektüre seiner Bücher erleuchtete zum Beispiel den spirituellen Lehrer Anssi. Er ist heute einer von etwa 200 Lehrern und Lehrerinnen im deutschsprachigen Raum, die sich für erleuchtet halten – meistens sind es Lehrer und schnell werden es mehr. Pro Lehrer gibt es dann zwischen 50 und 100, manchmal deutlich mehr Schüler und Schülerinnen – mehr als zwei Drittel sind weiblich – die meisten zwischen 35 und 50 Jahre alt, so eigene Recherchen und Auskünfte des Szene-Kenners Roland Heine: Roland Heine: Man könnte das als spirituelles Marketing bezeichnen. Marketing durchzieht unser aller Leben und wenn man eine bestimmte Leistung kaufen will oder anbieten will, man muss sich da an bestimmte Regeln auch halten. Erzählerin: Roland Heine meint "Angebot und Nachfrage". Zitator: Zweistündige Satsangs, Wochenend-Workshops, mehrstufige Lehrgänge in Klöstern, längere Retreats in den Alpen, auf Sylt, in Indien und Sri Lanka. 6 Erzählerin: Für den kleinen Geldbeutel gibt es diverse Online-Erleuchtungs-Kongresse. An ihnen nehmen nach Angaben der Veranstalter bis zu 10.000 Menschen teil. Das Veranstaltungsduo "Mindheart" berichtet von 30.000 Euro Netto-Erlös. Im Internet gibt es – quasi als "Appetizer" – Gratis-Interviews mit den spirituellen Meistern unter anderem in "Jetzt TV". Roland Heine: Man könnte die Rolle des Lehrers in der westlichen Welt als spirituellen Dienstleister bezeichnen. Erzählerin: Und der braucht Geld zum Leben und verdient es – anders als die steuerprivilegierte kirchenchristliche Konkurrenz – auf dem freien Markt der Sinn- und Erleuchtungssuchenden. Almut-Barbara Renger: Ich würde eher davon ausgehen, dass es sinnvoll ist, von Akteuren zu sprechen, die sich als beleuchtet, ja beleuchtet, die sich als erleuchtet bezeichnen oder als erleuchtet bezeichnet werden. Erzählerin: Almut-Barbara Renger ist als Religionswissenschaftlerin berufsbedingt skeptisch. Der Begriff "Erleuchtung" stammt eigentlich aus dem westlich-abendländischen Kulturkreis. Bei Platon steht "Erleuchtung" zunächst in erkenntnistheoretischen Kontexten und meint so etwas wie einen Geistesblitz, ein plötzliches Licht der Vernunft. Musik Zitator: Unterwegs aber, als Saulus sich bereits Damaskus näherte, geschah es, dass ihn plötzlich ein Licht vom Himmel umstrahlte. Er stürzte zu Boden und hörte, wie eine Stimme zu ihm sagte: Saulus, Saulus. Erzählerin: Kurzum: Es haut ihn um. Danach ist er ein paar Tage blind. Heute würden Erleuchtete vielleicht von Nahtoderlebnissen sprechen. Die Bibel erklärt so die plötzliche Konversion – wie aus dem Christenverfolger Saulus der Mitbegründer des Christentums Paulus wurde und autorisiert ihn so. Die Namensänderung gehört, wie auch heute, zum Erleuchtungsnarrativ. Christliche Heilige schreiben sich ähnliche Erleuchtungserlebnisse zu – etwa Franz von Assisi, Hildegard von Bingen oder Theresia von Avila. Sie betonen, das Glück des Erlebten überschreite alles Sagbare, was sie nicht davon abhält, wortreich davon zu berichten: 7 Zitator: Gott prägt Sich Selbst dem Innersten der Seele so tief ein, dass, wenn sie hernach wieder zu sich selbst kommt, sie in keiner Weise Zweifel hegen mag. Erzählerin: In quasi-säkularisierter Variante erleben Philosophen ihre Erleuchtung. Zitator: Ich sah ringsum mich eine andere Welt und ward ein anderer Mensch. Erzählerin: So knüpft der Philosoph Rousseau an das Muster "Erleuchtung" an, um die Bedeutung seiner Einsicht hervorzuheben, dass Wissenschaft und Vernunft den Menschen nicht gut und glücklich machen. Die Konstruktion von "Erleuchtung" bezieht sich auch hier auf ein Erzählmuster, ist Teil eines Narrativs. Almut-Barbara Renger: Erfahrungen werden generiert aus den sozio-kulturellen Kontexten heraus, in denen die Akteure stehen, in denen sie sich bewegen. Erzählerin: Während im Kirchenchristentum "Erleuchtung" an Bedeutung verliert, erfährt sie im Zuge des Orientalismus im 19. und 20. Jahrhundert eine Aufwertung, die bis in die New-Age-Bewegung der 1980er-Jahre anhält. Almut-Barbara Renger: In diesem New-Age ist zu beobachten, dass institutionalisierte, herkömmliche Autorität gegenüber eher eine Distanz eingenommen wird zu Gunsten von neuen Repräsentanten von einer erhofften ganz anderen Autorität. Sondern es wurden andere Vorbilder gesucht. Und diese Vorbilder stammten zum Teil zumindest aus Asien. Erzählerin: Und dorthin pilgerten auch die spirituell Suchenden und trafen in Poona auf Bhagwan, Papaji, Balsekar und andere, denen Erleuchtung zugeschrieben wird. Die in Indien frisch erleuchteten Westler kamen nun zurück und lehren ihrerseits Advaita. Einige reisen dann auch mit ihren besser betuchten erleuchtungswilligen Schülern nach Indien, um dort in Vier-Sterne-Hotels Retreats zu veranstalten. Almut-Barbara Renger: Um diesem weit verbreiteten Irrtum, dass der Begriff "Erleuchtung" in den Westen gekommen sei, vorzubeugen, ist zu sagen, er stammt gewissermaßen aus dem sogenannten Westen. Erzählerin: ... resümiert Almut-Barbara-Renger. 8 Almut-Barbara Renger: Und dieser Begriff hat sich durch christliche Missionierung, Kolonialisierung, Globalisierung nach Übertragung auf asiatische Kontexte durchgesetzt. Die Herkunft ist aber der europäische Raum. Erzählerin: Etwas zugespitzt: Die New-Age-Spirituellen und Advaita-Anhänger reisten mit ihrer "westlichen" Erleuchtungserwartung nach Indien, ließen sich quasi indisch aufladen und kamen zurück in den Westen und glauben nun, sie partizipierten an der Weisheit des Orients – oder an der dort beheimateten "ewigen" Wahrheit, am Göttlichen. Musik Christian Meyer: Ich denke, dass in mir die westlichen Einflüsse viel zu stark sind, als dass ich mich als einen Vertreter des Advaita verstehen könnte. Erzählerin: Die vermeintlich indischen Wurzeln lassen einige Akteure aus der Satsang-Szene weit hinter sich. Der Diplom-Psychologe, Diplom-Volkswirt und Psychotherapeut Christian Meyer orientiert sich in seinen Bemühungen um das Erwachen seiner Klienten eher an der neueren Psychotherapie des Westens. Zitator: Ziel seiner Arbeit ist die Verbindung des Aufwachens mit der Psychotherapie. Erzählerin: ... so die Klappentexte seiner Bücher. Zwischen "Erwachen" und "Erleuchtung" unterscheiden Christian Meyer und die meisten Lehrer nicht. Christian Meyer: Die Empirie besagt ganz klar: In meinen Retreats und Seminaren wachen jedes Mal einer, zwei oder auch mal zehn oder zwanzig Menschen auf. Das heißt, Erleuchtung findet jede Woche statt. Erzählerin: So trifft man in Christian Meyers Seminaren in Berlin auch auf entspannt dauerlächelnde Menschen, die sich bei ihm bedanken. Sie scheinen bei ihm gefunden zu haben, was sie suchten. Bei Meyer geht es eher schlicht und unprätentiös zu. Yogaübungen hält Christian Meyer für sinnvoll, Stille mit tiefer Bauchatmung auch, längere Meditation eher nicht. Christian Meyer: Bei den Leuten, die meditieren und so weiter hört man alle zehn Jahre vielleicht mal etwas, dass jemand einmal eine tiefere Erfahrung gemacht hat. Aber von Aufwachen und Erleuchtung? Es ist so, dass in den letzten Jahren mehr und mehr, weil sie von mir hören, Menschen zu mir kommen, die zehn Jahre meditiert haben und anderes und dann plötzlich entdecken, wie einfach das ist, in diese Tiefe und Unendlichkeit zu 9 fallen und Erfahrungen machen, die sie in ihrer ganzen Praxis in Meditation nicht haben machen können. Erzählerin: Der oder die Meditierende, so Christian Meyer, wird zum Beobachter der Gefühle. Es geht also letztlich um Kontrolle. Diese entspricht zwar den Anforderungen der modernen Gesellschaft, führt aber auch zum Verlust der Lebendigkeit und steht im Gegensatz zum erleuchtungsdienlichen Loslassen des Ichs, seiner Identifikationen und Selbstbilder. Gegenüber der Tradition des Advaita, also der altindischen Einheitslehre, geht er auf Distanz: Christian Meyer: Im Avaita gibt es eine Tendenz, die so sagt, dass man sich nicht mehr berühren ließe von dem Leid anderer, vom Krieg und dem Hunger und der Welt als solcher und dem, was geschieht und was die Menschen anstellen in dieser Welt sich nicht mehr berühren oder nicht mehr an sich herankommen ließe. Das würde mir überhaupt nicht gefallen. Erzählerin: Der von ihm lancierte Weg ist, wie etwa auch in der christlichen Mystik, der des gezielten Kontrollverlustes, des Lassens und der Hingabe: Christian Meyer: Ich will nicht mehr, dass alles nach meinem Wollen, dass es nach meiner Nase geht, sondern ich bin bereit, mich einzulassen auf das Leben, auf den Augenblick und bin bereit, den Augenblick so zu akzeptieren, wie er ist. Zitator: Wer bist du, wenn du jetzt deine Geschichte vollständig los lässt? Mit Fragen dieser Art soll das "Loslassen" erfahren werden. Ziel ist das innere Stillwerden. Musik Erzählerin: Mit ähnlichen Übungen wurde Christian Meyer erleuchtet in einem Seminar seines Lehrers Eli Jaxon-Bear. Ausgangspunkt war eine Art Trance-Übung, in der sich der Suchende tief in ein Gefühl fallen lassen solle. Christian Meyer gelang es: Christian Meyer: Man kann nicht sagen, was da gefallen ist. Ich habe das Gefühl, dass ich da gefallen bin. Das ist keine visuelle Angelegenheit, sondern eine Erfahrung des inneren Sinkens. Nicht körperlich. Mit dem Körper hat das nichts zu tun. Der Körper tritt mehr und mehr in den Hintergrund und dann habe ich gemerkt, wie der Atem sich verändert hat. Und irgendwann wurde das Fallen langsamer und langsamer und wurde dann langsam, es kam zum Stillstand und zu einer Art Schweben. Und in dem Augenblick war es komplett still. Der Verstand war vollkommen still, eine unendliche Stille und ein unendlicher Frieden, Grenzenlosigkeit, der Beginn eines neuen 10 Daseins – und das ist seitdem geblieben. Die Stille geht manchmal in den Hintergrund, wenn wichtige Dinge zu tun sind, dann geht sie in den Hintergrund, und dann kommt sie wieder in den Vordergrund. Erzählerin: Hier ist es wieder, das beglückende Unsagbare, über das die Erleuchteten so beredt Auskunft geben und was die Sehnsüchte spirituell Suchender beflügelt: Frieden, Stille, Glück. Liebe, Grenzenlosigkeit, Zerfließen des Ichs, Alles, Nichts, Einheit, Harmonie, wer will, nennt es Gott oder das Göttliche. Zitator: Das Leben im Erleuchtungsgeist ist Leben im göttlichen, kosmischen Bewusstsein, ist ein Leben ohne Leiden, ein Leben im Eins-Sein, in und mit allem, was ist. Ohne dass da etwas ist. Erzählerin: So wird die spirituelle Lehrerin Rania auf ihrer Internetseite vorgestellt. Rania reist ohne festen Wohnsitz durch die Lande und gibt Satsangs – etwa in der Yogaschule von Salzkotten. Gegen 25 Euro "Energieausgleich" – so heißt szeneüblich der Eintritt – macht sie so etwas wie göttliche Energieübertragungen. Rania: Ich selber benutze dafür keine Namen, weil der Verstand kollabiert ist, er hat fristlos gekündigt. Erzählerin: Rania hat kein festes Erleuchtungsprogramm. Rania: Ich durfte einen Einblick bekommen in einer Nahtoderfahrung, wo eben genau das, was wir als Seele bezeichnen, in einem unglaublichen Tempo aus dem Körper herausgeschossen ist in dieses Licht. Erzählerin: Rania – bereits als Kind hellfühlig – erzählt über ihre Erleuchtung. Rania: Und nach dieser Erfahrung gab es vier Monate lang so eine ganz köstliche Glückseligkeit und ein Frieden, so wie er heute auch ist, aber es ist dann erst einmal wieder verschwunden. Und wenn man dann in der christlichen Mystik nachschaut, dann findet man da viele Hinweise – oder auch beim Buddhismus, bei Buddha, das ist so, bevor der Mensch sich wirklich in Gott auflöst, dass es da so eine "dunkle Nacht der Seele" gibt. Erzählerin: Als Kind Andeutung einer spirituellen Begabung, Nahtoderfahrung, Erwachen, "dunkle Nacht der Seele", dann die endgültige Erleuchtung. 11 Almut-Barbara Renger: "Das große Schweigen", "Die große Stille", das Unbeschreibliche, das NichtAussprechbare, das, was sich jeder Schilderung entzieht, dieses Etwas wird in verschiedensten Kulturen, in Literaturen, in verschiedensten und sehr disparaten Zusammenhängen beschrieben. Erzählerin: Und gehört zu den Narrativen, denen die Auskünfte der Akteure entsprechen. Doch das Stereotype, das wiederkehrende Konstruktionsmuster der Biografien und Erleuchtungsereignisse ist für sie kein ernst zu nehmender Einwand und kein Grund zu zweifeln. Im Gegenteil: Sie bestätigen die Authentizität des Erlebten. Alle Erleuchteten erleben Ähnliches. Und wenn doch einmal Zweifel aufkommen sollten, können auch diese als Bestätigung vereinnahmt werden. Die Argumentation funktioniert etwa so: Mit Zweifel, Angst und Kritik wehrt sich das Bewusstsein gegen den eigenen Bedeutungs- und Kontrollverlust. Es wehrt sich gegen die absolute Wahrheit, gegen die beglückende Stille. Es will festhalten an der unglücklich machenden Illusion, dass das empirische Ich das "wahre Selbst" sei und die empirische Wirklichkeit, das "wahre Sein". Das Unaussprechliche entzieht sich jeder Überprüfung. Kritik wird vereinnahmt. So immunisieren sich die Akteure gegen Einwände. Hinzu kommt: Die Sehnsucht nach Lebenssinn, nach der großen Stille, dem beglückenden Verschwinden des Ichs im Nichts und Alles bleibt. Sigmund Freud verstand diese Sehnsucht übrigens als "Regression", als eine Art beglückenden Rückfall in einen kindlichen Zustand, in der es noch keine Grenze gibt zwischen Ich und Außenwelt. Doch zu dieser Erklärung trieb Freud zweifellos der "kritische Geist", der sich mit seiner Verschleierungstaktik gegen seine Erleuchtung wehrt. Musik Rania: Es war sehr aus dem Nichts heraus, wie es passiert ist, aber es findet sich in allem, in der christlichen Mystik, im Sufismus, im Buddhismus, im Hinduismus, im Advaita. Ich kann die Quelle in allem mittlerweile entdecken und auch benennen. Und der Weg dahin geht durch ein inneres Sterben der Schleier, die sich vor unseren Geist gelegt haben. Musik ***** 12
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