Die Korrektur der (geschlossenen) Gesellschaft

Die Korrektur der (geschlossenen) Gesellschaft
Die Diagnose „geschlossener Gesellschaft(en)“ findet sich in vergleichbarer Form in vielen
klassischen wie gegenwärtigen soziologischen Ansätzen. Während sich einige Theorien eher
dadurch auszeichnen, die Diagnose zu verfeinern, sahen sich andere durch sie immer schon dazu
aufgefordert, über Korrekturen nachzudenken. Eine erste und bis heute wirkmächtige Tradition
hat ihren Beginn zweifellos bei Marx, der in den aufzudeckenden Widersprüchen des Alten (des
Kapitalismus) bereits den Keim des Neuen sah. Angelegt ist eine solche Bewegung schon im
Drei-Stadien-Gesetz von Auguste Comte, dem Namensgeber der Soziologie. Doch das Vertrauen
in die „Autokorrektur“ gesellschaftlicher Genese findet theoretisch wie empirisch inzwischen
wenig Rückhalt.
Andere Ansätze sehen schon mit der Diagnose von Geschlossenheit die Möglichkeit zur
Korrektur gleichermaßen limitiert. Jedwede Korrekturmaßnahme stünde, so etwa bei Luhmann,
stets vor der hohen Hürde der Anschlussfähigkeit eigensinniger Systeme. Allenfalls das Recht
käme als „Immunsystem“ der Gesellschaft in Frage (vgl. Luhmann 1993). Zuvor unbekannte
oder zumindest unbearbeitete Störungen und Konflikte böten Anlässe zur internen Ausbildung
von Antikörpern, hier in Form von kontrafaktisch stabilisierten Erwartungen. Zwar könnten
etwa Protestbewegungen Gesellschaft durchaus alarmieren, aus der Entrüstung, die diese zu
erregen wüssten, folge aber kein dauerhafter Strukturaufbau; sie seien „praktisch ratlos“. Helfen
könne, so Luhmann (1997: 405), nur das Recht.
Die Rechtssoziologie hat sich über lange Zeit auf diejenigen Einheiten fokussiert, denen
Korrekturanfragen in aller Regel zugetragen und zugetraut wurden: dem Staat und eben dem
Recht. Diese Zurechnungen scheinen in einer globalisierten Weltgesellschaft theoretisch wie
empirisch an Plausibilität verloren zu haben. Auf der Suche nach in diesem Sinne
weitreichenderen Korrekteuren ist man bei den sogenannten „Instanzen zivilgesellschaftlicher
Gegenmacht“ fündig geworden: (Neue) Protestbewegungen, Digitale Kollektive, NGOs u.v.m.,
deren weltweit über die Medien verbreitete öffentliche Kritik als sehr viel wirksamer erachtet wird
als der Einsatz der „Instrumente der Staatenwelt“ (vgl. Teubner 2010).
Schaut man sich die Korrekturstrategien von Organisationen und Netzwerken wie Anonymous,
Blockupy oder Correct!v an, so wird schnell deutlich, dass der Vorwurf praktischer Ratlosigkeit an
ihnen vorbeizielt. Dennoch mangelt es hierzu an systematischer Forschung – in konzeptioneller
wie empirischer Hinsicht – wie sie sich Korrektur konkret vollzieht: (Wie) Lässt sich die
Korrektur der Gesellschaft organisieren? An wen richten neue wie klassische Instanzen wie was?
Landen derartige Ansprüche – nach Übersetzungskaskaden (Renn 2006) – letzten Endes wieder
im Recht und/oder im Wahrnehmungsbereich der Nationalstaaten? Versprechen sich die neuen
Korrekteure womöglich mehr vom Recht als es Teile der Rechtssoziologie tun?
Übernehmen private, etwa philanthropische Initiativen zunehmend vormals hoheitliche
Funktionen? Haben Korrekturmaßnahmen ihrerseits wieder so etwas wie unbeabsichtigte
Nebenfolgen? (Osrecki 2015)
Sofern von weltweit verbreiteter Kritik die Rede ist: Welche Rollen spielen die hierzu
notwendigen (Massen-)Medien? Von welchen Öffentlichkeitskonzeptionen wird hierbei
Gebrauch gemacht? Ist es die Aufgabe der Soziologie, solche Korrekturmaßnahmen kritisch zu
beobachten? Oder fällt ihr dabei sogar eine aktivere Rolle zu?
Man kann Luhmanns Rede vom Recht als dem Immunsystem der Gesellschaft aber auch anders
lesen. So erschiene das Recht gerade nicht als Korrekturbeauftragter, sondern als -verhinderer. Es
immunisiert, so ließe es sich ausbuchstabieren, (geschlossene) Gesellschaft gegen weitreichende
Korrekturanliegen. In diesem Sinne interessiert sich die Sektionsveranstaltung zudem für die
„Korrekturabwehrstrategien“ geschlossener Gesellschaft.
Auch auf dieser Seite wiederholt sich das bereits beschriebene Muster: Das Recht gilt eher als
Klassiker in der Aufrechterhaltung von Herrschaftsstrukturen. Insbesondere im digitalen
Zeitalter kämen hierzu vielfach eher technische Instrumente zum Einsatz: Staatlich verordnete
Troll-Armeen, unternehmerisches Astroturfing, Derailing etc. (Irmisch 2011; Ertl 2015). Sieht
man sich bei den jüngsten Krisen an, wie Rechte eingeschränkt und Sonderbefugnisse
ausgeweitet werden, lässt sich auch bezüglich der Abwehr von Gesellschaftskorrektur nicht
erkennen, dass das Recht seine Ordnungskraft eingebüßt hätte. Insofern lassen sich beinahe alle
oben formulierten Fragen auch hier wieder stellen: (Wie) Lässt sich die Verhinderung von
Gesellschaftskorrektur organisieren? Welche Rolle spielt das Recht und wird diese durch medialtechnische Initiativen eher ergänzt oder doch ersetzt? Und haben auch
Korrekturverhinderungsmaßnahmen unbeabsichtigte Nebenfolgen?
Kurze Abstracts – die DGS wünscht 2.400 Zeichen (ohne Leerzeichen) – senden Sie bitte bis
zum 30.4.2016 an [email protected] (für die Sektion Rechtssoziologie).
Literatur
Ertl, Sarah (2015): Protest als Ereignis. Zur medialen Inszenierung von Bürgerpartizipation. Bielefeld: transcript.
Irmisch, Anna (2011): Astroturf. Eine neue Lobbyingstrategie in Deutschland? Wiesbaden: VS Verlag für
Sozialwissenschaften.
Luhmann, Niklas (1993): Das Recht der Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Luhmann, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2 Bände. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Osrecki, Fran (2015): Fighting corruption with transparent organizations: Anti-corruption and functional deviance in
organizational behavior. In: Ephemera: Theory & Politics in Organization 15 (2), S. 337–364.
Renn, Joachim (2006): Übersetzungsverhältnisse. Perspektiven einer pragmatistischen Gesellschaftstheorie.
Weilerswist: Velbrück Wissenschaft.
Teubner, Gunther (2010) Selbst-Konstitutionalisierung transnationaler Unternehmen? Zur Verknüpfung ‚privater‘
und ‚staatlicher‘ Corporate Codes of Conduct, S. 1449-1470 in S. Grundmann, B. Haar & H. Merkt (Hrsg.),
Unternehmen, Markt und Verantwortung. Festschrift für Klaus J. Hopt. Berlin: de Gruyter.
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