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Digitalisierung als Kontrollüberschuss von Sinn*
Dirk Baecker
Universität Witten/Herdecke
Digitalisierung als zunehmender Einsatz von Computern
Die einfachste Definition von „Digitalisierung” lautet: zunehmender Einsatz von Computern.
Das gilt für den Alltag, die Familie, das Büro, die Fabrik, die Landwirtschaft, die Schule, die
Wissenschaft, die Politik, den Krieg, den Journalismus, die Künste, den Tourismus, den
Sport, die Gesundheit und die Küche.
Etwas komplizierter wird es, wenn sich die Frage stellt, was Computer sind. Computer
sind Maschinen, die Rechenoperationen durchführen. Gestützt auf Programme und unterstützt
durch Datenspeicher werden Eingaben registriert, bearbeitet und in Ausgaben übersetzt.
Codes regeln, was als Eingabe gilt und was nicht. Und Algorithmen regeln, wie mit den
Daten umgegangen wird, die die Codes gewonnen haben.
Digitalisierung ist demnach der Prozess einer dreifachen Selektion, nämlich erstens der
Unterwerfung einer denkbaren Fülle von Information unter bestimmte Codes, zweitens der
Bearbeitung codierter Daten durch definierte Algorithmen und drittens die Ausgabe der
errechneten Daten an einer Schnittstelle entweder zu weiteren Computern oder zu analogen
Prozessen. Digitalisierung ist somit ein Prozess, der vielfach undurchschaubar ist: Man sieht
den Maschinen nicht an, wie sie codieren; man hat keinen unmittelbaren Zugriff auf ihre
Algorithmen; man weiß nicht, mit welchen Daten aus den Datenspeichern die Algorithmen
ihre aktuellen Daten abgleichen und kombinieren; und man kann nicht vorhersagen, was
anschließende digitale oder analoge Prozesse mit den errechneten Daten machen. Obwohl
Computer Maschinen sind, die auf der Basis von Wenn-Dann-Regeln und somit strikt
deterministisch operieren, bedeutet der zunehmende Einsatz dieser Maschinen eine
wachsende Undurchschaubarkeit der Welt.
Der Computer ist ein einfacher Fall von Komplexität. Hochgradig determiniert, produziert
er Intransparenz. Eine White Box nach innen, ist er eine Black Box nach außen. Man setze
diese Maschine in den oben genannten Bereichen menschlicher Aktivität ein, und man hat
eine Vorstellung davon, was Digitalisierung bedeutet. Digitalisierung bedeutet die
Intervention von Intransparenz in Aktivitäten jeglicher Art. Und Aktivitäten sind selber nichts
*
Erscheint in: Zukunftsinstitut (Hrsg.), Digitale Erleuchtung (Arbeitstitel), in Vorb.
–2–
anderes als Übersetzungen von Daten in Daten: die Anwendung bestimmter Regeln auf
bestimmte Weltzustände, um diese Weltzustände in andere Weltzustände zu verwandeln.
Digitalisierung, definiert als zunehmender Einsatz von Computern, ist die Einführung von
Abzählbarkeit (lat. digitus, Zeigestab und Zählfinger; vgl. Passig/Scholz 2015),
Berechenbarkeit und Steuerbarkeit in eine Welt, die darauf nur unzureichend vorbereitet ist.
Denn Kontrolle ist eins, die Vernetzung kontrollierter Vorgänge durch Kommunikation ein
anderes. Aus Abzählbarkeit, Berechenbarkeit und Steuerbarkeit wird Unüberschaubarkeit,
Unberechenbarkeit und Unvorhersehbarkeit. Deswegen hat sich die Kybernetik, die
Wissenschaft von der Steuerung beliebiger Prozesse im Medium bestimmter Maschinen, von
Anfang an unter die Überschrift von „Control and Communication” gestellt (Wiener 1948;
vgl. von Foerster 1974; Krippendorff 1979). Kommunikation wird hierbei verstanden als
Beziehung der Abhängigkeit zwischen unabhängigen Einheiten (Luhmann 1984); und
Kontrolle wird verstanden als Aufbau eines Gedächtnisses für die Interaktion eines
Beobachters mit einer Black Box (Ashby 1958; Glanville 1979). Wie gesagt, einfache
Komplexität.
Nichttriviale Kommunikation
Nun ist das alles, wenn man so will, nichts Neues. Die Maschinen sind neu; und die
Größenordnung der Durchsetzung physischer, organischer, mentaler, sozialer, kultureller und
technischer Prozesse mit diesen Maschinen ist neu, dramatisch neu. Aber der Zusammenhang
von Kommunikation und Kontrolle ist nicht neu. Vermutlich wäre die Digitalisierung gar
nicht möglich, wenn dieser Zusammenhang neu wäre. Neu ist jedoch wiederum, dass dieser
Zusammenhang erstmals als ein solcher gedacht und beschrieben werden muss. Die
Menschen kennen sich aus mit der Kommunikation mit Geistern und Göttern; sie kennen sich
aus mit der Kommunikation mit Menschen; und sie kennen sich aus mit der Kommunikation
mit einer Gesellschaft, die ebenso undurchschaubar ist wie Geister, Götter und Menschen. In
allen diesen Fällen gelingt beides, Kommunikation und Kontrolle, die Frage ist nur, wie es
gelingt, wenn es gelingt.
Auch die Bedingungen der Kommunikation sind jeweils dieselben. Eingaben werden auf
determinierte und dennoch unvorhersehbare Weise in Ausgaben übersetzt. Den Einheiten
wird jeweils ein Gedächtnis unterstellt. Geister, Götter, Menschen und die Gesellschaft
vergessen und erinnern sich auf jeweils unvorhersehbare Weise und reagieren deswegen je
unterschiedlich auf Anrufe, Impulse, Interventionen und Verbindungen. Und beides
zusammen, die Determiniertheit und die Fähigkeit zur unvorhersehbaren Reaktion dank
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Abruf eines von außen nicht einsehbaren Gedächtnisses, erfüllt die Bedingungen einer in der
Kybernetik sogenannten nicht-trivialen Maschine (von Foerster 1984). Nicht-triviale
Maschinen sind Maschinen, die zusätzlich zu einer (trivialen) Transformationsfunktion über
eine Zustandsfunktion verfügen und somit das Rechenergebnis der Transformation einer
Eingabe in eine Ausgabe durch die Abfrage des eigenen Zustands konditionieren, das heißt
die Ausgabe überraschend (da im Widerspruch zur berechenbaren Transformation stehend)
variieren können. Deswegen unterscheidet sich die Reaktion des Hundes, den ich trete, von
der Reaktion eines Steines, den ich trete. Der Hund kann seinen Zustand abfragen (Angst,
Wut, Spiel…), bevor (oder genauer: während) er reagiert, der Stein kann das nicht. Der Hund
reagiert nichttrivial, der Stein trivial.
Die eigentliche Überraschung des Prozesses der Digitalisierung ist, dass Maschinen
beginnen, nichttrivial zu reagieren, obwohl Maschinen als technische Einrichtungen gelten,
die kausal kontrolliert, also berechenbar funktionieren, solange sie nicht kaputt sind (aber
auch das ist ein trivialer Zustand, selbst wenn es schwerfällt, die Ursache für den Fehler zu
finden). Zum Verständnis des Prozesses der Digitalisierung benötigt man nicht nur einen
Begriff für nichttriviale Maschinen, wie ihn die Kybernetik einführt, sondern darüber hinaus
ein nicht-triviales Verständnis von Technik und Technologie (etwa im Sinne von Simondon
1958).
Und die zweite Überraschung ist, dass Kommunikation neu gedacht werden muss. Galt
Kommunikation bisher als vertrauter Vorgang, der mit Göttern über Gebete, mit Menschen
über Handlung und Verstehen und mit der Gesellschaft über kritische Beschreibung
einigermaßen vorhersehbare Verhältnisse schafft, so muss man jetzt entdecken, dass diese
vorhersehbaren Verhältnisse darauf zurückzuführen sind, dass es gelungen ist, die
Zustandsfunktionen aller Beteiligten aufeinander einzustellen, miteinander abzustimmen und
Abweichungen zu sanktionieren. Man entdeckt, dass man die Bedingungen der
Kommunikation mit ihrem Inhalt verwechselt beziehungsweise die Zustandsfunktion der
Beteiligten ihrer Transformationsfunktion unterworfen hat. Die vergangenen Jahrhunderte
haben Geister und Götter, Menschen und Gesellschaft, Kultur und Technik trivialisiert.
Paradox ist, dass ausgerechnet das Auftreten eines neuen Typs von Maschinen dazu zwingt,
Geister, Götter, Mensch und Gesellschaft, Kultur und Technik zu enttrivialisieren, um
verstehen zu können, unter welchen Bedingungen Trivialisierung möglich ist. Trivialität wird
als Funktion von Nichttrivialität entdeckt. Das ist neu. Nicht neu ist die Nichttrivialität selber.
–4–
Das Theorem des Verweisungsüberschusses von Sinn
Ein Verständnis des Prozesses der Digitalisierung fällt Soziologen einfacher als anderen. Ihr
Forschungsgegenstand, die Gesellschaft, ist der komplexe und überdies nur reflexiv zu
verstehende Gegenstand schlechthin. Seine Erforschung ist selbst ein gesellschaftlicher
Vorgang, verändert also den Forschungsgegenstand. Schon Auguste Comte, der den Begriff
der Soziologie eingeführt hat, hat mit der Unterscheidung von Statik und Dynamik sozialer
Vorgänge auf die Komplexität hingewiesen, die die Dopplung von zeitlicher Entwicklung
und je aktueller Abstimmung mit gleichzeitig existierenden anderen sozialen Phänomenen
jedem einzelnen sozialen Phänomen, sei es eine Familie, ein Arbeitsplatz, eine politische
Entscheidung oder ein Forschungsthema, auferlegt (Comte 1839). Nur zögerlich folgen die
Naturwissenschaften dem Beispiel der Soziologie. Nicht einmal die Erforschung ähnlich
komplexer und möglicherweise ebenfalls reflexiver Gegenstände, des Gehirns, der Sprache
und des Bewusstseins, kann dazu motivieren, sich auf diese Komplexität auch begrifflich
einzulassen.
Allerdings setzt ein soziologisches Verständnis der Digitalisierung voraus, dass man sich
auf den Kontext der Gesellschaft einlässt. Dieser Einschränkung verdanken sich die
folgenden Überlegungen. Nicht behauptet wird damit, dass nicht auch ein anderes
Verständnis von Digitalisierung möglich ist. Im Folgenden geht es explizit um Fragen der
Kommunikation mit Maschinen. Digitalisierung wird als Prozess der Einführung und
Durchsetzung rechnender Maschinen in sozialen Praktiken aller Art verstanden, vom Alltag
über die Organisation bis zu den Massenmedien. Der Begriff einer tendenziell nichttrivialen
Maschine definiert den Einstieg in die Frage danach, wie Kommunikation mit diesen
Maschinen möglich ist. Diese Frage ist konkret als Frage nach den Schnittstellen zwischen
analogen und digitalen Strukturen und Prozessen, zwischen Körper, Bewusstsein, Maschine
und Gesellschaft zu verstehen, jedoch nur zu beantworten, wenn man ein hinreichendes
Verständnis von Kommunikation hat. Dieses hinreichende Verständnis ist insofern abstrakt,
als eine Theorie der Kommunikation nicht mit den Inhalten der Kommunikation verwechselt
werden darf. Eine Theorie der Kommunikation, sagt Heinz von Foerster (1974), darf keine
Kommunikabilia enthalten. Ich weiß nicht, was es heißt, sich zu unterhalten, wenn ich weiß,
worüber ich mich unterhalte. Das ist seit Friedrich Schleiermachers „Versuch einer Theorie
des geselligen Betragens” bekannt (Schleiermacher 1798; siehe auch Simmel 1908). Aber
was heißt das?
Niklas Luhmann hat ein einfaches Theorem vorgeschlagen, um sich einer Theorie der
Kommunikation im Kontext einer Gesellschaftstheorie der Kultur zu nähern. Er spricht vom
–5–
„Verweisungsüberschuss von Sinn”, den jede Kommunikation enthält (Luhmann 1997, S.
409). Jede Geste, die ausgetauscht wird (vgl. Mead 1934), jeder Satz, der gesagt und gehört
wird, jeder Befehl, der gegeben und befolgt oder verweigert wird, jede Liebeserklärung, die
eine Intimität anbahnt oder erschwert, jede Zahlung, die ausgegeben oder eingespart wird,
verweisen auf ihren jeweiligen Sinn im Kontext eines auch anders möglichen Sinns. Das ist
nicht etwa die Belastung möglicher Eindeutigkeit mit dem Übel der Uneindeutigkeit. Sondern
es ist die Voraussetzung dafür, dass Kommunikation überhaupt möglich ist. Nach der Geste
müssen andere Gesten möglich sein, nach dem Satz andere Sätze, nach dem Befehl andere
Befehle, nach der Liebeserklärung weitere Liebeserklärungen, nach der Zahlung eine andere
Zahlung. Deswegen enthält jeder Sinn einer Handlung, eines Erlebens, einer Praxis den
Verweis auf einen mitlaufenden, komplementären, widersprechenden oder auch
gleichgültigen Sinn. Sinn ist inhärent unruhig, immer auf dem Sprung und bedarf besonderer
Vorkehrungen, um für den Moment festgehalten werden zu können
(White/Fuhse/Thiemann/Buchholz 2007; Fontdevila/Opazo/White 2011). Und deswegen
konnte Ludwig Wittgenstein in seinen Überlegungen zum Tractatus logico-philosophicus
einen Sinnbegriff festhalten, der „Sinn“ (engl. sense) als wahr-falsch, als Erschließung eines
logisch geschlossenen Raums versteht und von der „Bedeutung“ (engl. meaning) einer
entweder wahren oder falschen Behauptung einer Tatsache in jedem konkreten Einzelfall
unterscheidet (Wittgenstein 1914–1916, S. 188). (Mit Luhmann hätte man sich für die
umgekehrte Übersetzung entschieden, aber das soll uns hier nicht bekümmern.)
Die einfachste Voraussetzung für diese Unruhe ist das mitlaufende Gegenteil zu dem, was
man gerade tut, erlebt, will oder befürchtet. Wer sich zuwendet, kann sich auch abwenden;
wer Ja sagt, kann auch Nein sagen; wer eine Kommunikation annimmt, kann sie auch
ablehnen. Negierbarkeit ist daher die gleichsam technische, weil durch einen fast
automatischen Akt realisierbare Voraussetzung von und für Kommunikation (Luhmann
1975a, 1975b). Die Kommunikation mit Geistern, Göttern, Menschen und Maschinen ist nur
möglich, wenn sie auch abgelehnt werden kann. Deswegen ist der Widerstand gegen die
Einführung des Computers im Alltag, in Organisationen verschiedenen Typs und in
gesellschaftlichen Praktiken aller Art eine wesentliche Voraussetzung ihrer Einführung. Im
Medium der Ablehnung nähert man sich autonom, das heißt unter weitgehender Sicherung
oder auch Neuentdeckung der eigenen Unabhängigkeit der Abhängigkeit von Maschinen.
Verweisungsüberschuss von Sinn heißt unter diesen Bedingungen nicht einfach, dass jede
Kommunikation, jede Handlung, jedes Erleben unter einer „Informationsflut“ (Toffler 1970)
zu leiden haben, sondern darüber hinaus, dass jede Kommunikation, jede Handlung, jedes
Erleben angesichts neuer Verweisungsmöglichkeiten auf Sinn in einem bislang unbekannten
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Medium reformatiert und respezifiziert werden müssen, das heißt ihre Identität nur unter der
Bedingung erhalten, dass sie wie immer flüchtig, kursorisch oder intensiv, implizit oder
explizit auf die von ihnen durch das Insistieren auf der eigenen Möglichkeit ja abgelehnten
Möglichkeiten Bezug nehmen. Das kann ignorant indifferent, panisch fundamentalistisch
oder pluralistisch tolerant geschehen, wird jedoch in jedem Fall beobachtet und hat auch
insofern Effekte.
Aus diesem Theorem des Verweisungsüberschusses von Sin kann man eine
Gesellschaftstheorie ableiten, die es ermöglicht, die Digitalisierung als den Anbeginn einer
neuen Medienepoche zu verstehen. Das hat den Vorteil, dass sie sich als Medienepoche mit
früheren Medienepochen vergleichen lässt. Das ist ja wissenschaftlich immer die Pointe.
Verstehen kann man nur, wenn man das bislang Unverständliche mit bereits Verstandenem
vergleicht. Luhmanns Theorem lautet daher vollständig: Gesellschaft ist die Art und Weise,
wie der Verweisungsüberschuss von Sinn, den bestimmte Kommunikationsmedien
generieren, formatiert, das heißt in eine Struktur und eine Kultur des Umgangs mit
Kommunikation übersetzt wird. Und ein Umgang mit Kommunikation ist nichts anderes als
eine Kontrolle von Kommunikation, das heißt ein Gewinn von verwertbaren Erfahrungen
(„Gedächtnis”) im Zuge der Kommunikation.
Luhmann hat dieses Theorem am Beispiel der Schrift, des Buchdrucks und der Computer
durchgespielt (Luhmann 1997, S. 410ff.). Schrift, Buchdruck und Computer werden hierbei
als Verbreitungsmedien der Kommunikation verstanden, das heißt als Medien, die
sicherstellten, dass Kommunikation in Raum und Zeit auch Abwesende beziehungsweise
Spätere erreicht. Der Verweisungsüberschuss resultiert daraus, dass in jeder einzelnen
Kommunikation der Gedanke daran mitläuft, was auch und woanders und früher oder später
geschrieben, gedruckt und errechnet werden kann. Neben Verbreitungsmedien der
Kommunikation kennt die Soziologie auch Erfolgsmedien der Kommunikation wie Macht,
Geld, Recht, Wahrheit, Glauben und Schönheit sowie Wahrnehmungsmedien wie Licht,
Klang, Geruch und Tastsinn sowie Beobachtungsmedien wie Kausalität, Rationalität und
Komplexität, die jeweils ihren eigenen Verweisungsüberschuss generieren und ihrer eigenen
Formatierung bedürfen, um durchgesetzt werden zu können, doch will und muss ich diese
hier einklammern, weil die Soziologie erst in zartesten Ansätzen über eine
Gesellschaftstheorie verfügt, die diesen Medien in ihrem Zusammenhang gerecht wird.
Luhmann beschränkt sich, wie gesagt, auf die Beispiele der Schrift, des Buchdrucks und
der Computer, doch genügt dies für die hier gestellte Frage, weil es die Möglichkeit eröffnet,
die gesellschaftliche Einführung und Durchsetzung der Computer als eine Medienepoche der
Gesellschaft zu verstehen und mit den früheren Medienepochen der Schrift und des
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Buchdrucks zu vergleichen. Die Soziologie gewinnt damit Anschluss an eine kultur- und
medienwissenschaftliche Forschung, wie sie vor allem von Marshall McLuhan angeregt
worden ist (McLuhan 1962, 1964; vgl. Innis 1950, 1951; Goody 1977, 1986; Ong 1977,
1982), die zusätzlich zu Schrift, Buchdruck und Computer auch die Einführung und
Durchsetzung der Sprache berücksichtigt und somit vier Medienepochen der menschlichen
Gesellschaft unterscheiden und beschreiben kann, die orale und tribale Gesellschaft, die
antike Schriftgesellschaft, die moderne Buchdruckgesellschaft und die postmoderne
Computergesellschaft. Das ist eine historisch denkbar grobe Unterteilung, die sich jedoch
heuristisch überraschend gut bewährt hat (Kelly 1990; Castells 1996; Robertson 1998, 2003;
Serres 2012).
Die Voraussetzung für die heuristische Brauchbarkeit einer historisch groben
Unterscheidung ist die strikte Orientierung am genannten Theorem des
Verweisungsüberschusses (Baecker 2001, 2007). Man kann die Sprache, die Schrift, den
Buchdruck und den Computer als dominante Verbreitungsmedien der Kommunikation
bezeichnen, weil sie jeweils einen Verweisungsüberschuss produzieren, der alle anderen
sozialen Phänomene unter einen Anpassungsdruck setzt. Indem Verbreitungsmedien der
Kommunikation variieren, was andernorts, früher oder später und dann eben auch hier und
jetzt kommuniziert werden kann, setzen sie jede einzelne Kommunikation unter einen
Vergleichsdruck mit den sozialen Phänomenen, die jeweils in den Blick kommen
beziehungsweise abhängig vom Verständnis der Situation und vom Geschick oder Trotz der
Beteiligten in den Blick genommen werden. Deswegen ist das Theorem der sozialen
Differenzierung eine der wichtigsten Entdeckungen jeder soziologischen Forschung: Jedes
soziale Phänomen ist nicht nur abhängig von sich selbst, sondern auch von dem, was es nicht
ist. Diese Differenz strukturiert es, indem es das soziale Phänomen in eine Beziehung zu
anderem setzt, und kultiviert es, indem es sich in seiner Identität aus dieser Beziehung
gewinnt.
Sprache, Schrift und Buchdruck
An den Beispielen der Sprache, der Schrift und des Buchdrucks kann ein Verständnis des
Theorems des Verweisungsüberschusses von Sinn gewonnen werden, das sich in einem
nächsten Schritt auf das Beispiel der Digitalisierung anwenden lässt. Mit jedem Medium geht
es um die Produktion eines Verweisungsüberschusses, der die einzelne Kommunikation unter
einen Kontingenzdruck setzt und mit Komplexität konfrontiert, aber jedes einzelne Medium
tut dies auf eine jeweils spezifische Art und Weise. Deswegen muss man die Medientheorie
–8–
mit einer Gesellschaftstheorie oder zumindest einer Sozialtheorie, in jedem Fall jedoch mit
einer Kommunikationstheorie kombinieren. Und man darf dabei, wie gesagt, nicht nur
Verbreitungsmedien in den Blick nehmen, sondern ähnliche Fragen, worauf ich hier jedoch
verzichte, auch für Erfolgsmedien der Kommunikation, Wahrnehmungs- und
Beobachtungsmedien stellen. Ebenfalls außen vor lasse ich hier die Berücksichtigung einer
Evolutionstheorie der Gesellschaft, die beschreiben kann, dank welcher Selektions- und
Restabilisierungsmechanismen die Gesellschaft auf die Variation neu eingeführter Medien
reagieren kann (vgl. Luhmann 1997, Kap. 3).
Luhmann hat dies, wie gesagt, exemplarisch vorgeführt (Luhmann 1997, S. 410ff.). Da er
auch Überlegungen zu einer soziologischen Sprachtheorie vorgelegt hat, kann das Theorem
hier für alle vier bisherigen Medienepochen der menschlichen Gesellschaft durchgespielt
werden. Das Theorem postuliert, dass die menschliche Gesellschaft auf den spezifischen
Verweisungsüberschuss, den jedes Verbreitungsmedium produziert, reagiert, indem es den
Vergleichsraum möglicher Kommunikation erweitert oder auch einschränkt (siehe die These
einer „kapitalistischen” Gesellschaft als Fixierung jeglichen Sinns auf Geld und Gewinn), auf
dieselbe Art und Weise reagiert. Für den Umgang mit jedem Verweisungsüberschuss muss
eine Strukturform gefunden werden, die die Akzeptanz der Verteilung der jeweiligen
Möglichkeiten der Kommunikation sicherstellt; und es muss eine Kulturform gefunden
werden, die die Identität eines sozialen Phänomens in der Differenz zu anderen sicherstellt,
das heißt die Verdichtung des verteilten Sinns auf die jeweilige Situation mitträgt. Das
jeweilige Medium und sein Verweisungsüberschuss unterscheiden sich, die Reaktion auf den
neuen Verweisungsüberschuss durch die Formatierung einer Struktur und Kultur der
Gesellschaft ist dieselbe und die jeweils gefundenen Struktur- und Kulturformen
unterscheiden sich wiederum. Das Ergebnis dieser Versuchsanordnung ist ein einfacher
sozialer Algorithmus mit unterschiedlichen Eingaben und Ausgaben.
Zu bedenken ist überdies, dass die Medienepochen der Gesellschaft einander nicht nur
ablösen, sondern auch überlagern. Selbst wenn neue Probleme im Umgang mit Schrift und
Buchdruck gelöst werden müssen, bleiben auch die alten Formen der Lösung des Problems
der Sprache relevant, selbst wenn sie weitgehend recodiert werden.
Der Verweisungsüberschuss der Sprache ist ein mindestens doppelter. Zum einen
ermöglicht die Sprache die explizite Kommunikation eines Nein und erzwingt unter
Umständen die explizite Kommunikation eines Ja, die beide zuvor im Medium der
Wahrnehmung allenfalls indirekt kommuniziert werden konnten, durch Hinwendung und
Abwendung. Mit der Sprache verliert die Kommunikation die Eindeutigkeit (Evidenz) der
Wahrnehmung und die Mehrdeutigkeit von Hinwendung und Abwendung, die sie durch eine
–9–
entsprechende Semantik, Syntax und Pragmatik eines möglichen, aber korrigierbaren Jas und
eines möglichen, aber korrigierbaren Neins erst wiedergewinnen muss, bevor sich die
Kommunikation flächendeckend auf die Sprache einlassen kann (Luhmann 1997, S. 221ff.).
Und zum anderen ermöglicht es die Sprache, über Abwesende als Abwesende zu reden, und
erzwingt so ein Verständnis von „Gesellschaft” als Relation von Anwesenden zu
Abwesenden jenseits des jeweiligen Wahrnehmungshorizonts (Luhmann 1975, S. 18).
Luhmann hat sich zur Kulturform der tribalen Gesellschaft nicht geäußert, aber ihre
Strukturform beziehungsweise Differenzierungsform als segmentäre Differenzierung
beschrieben, innerhalb derer Ähnliches, nämlich der Gebrauch von Sprache, auch an
unterschiedlichen Stellen, in anderen Stämmen, unterstellt werden kann (Luhmann 1997, S.
634ff.). Zur Kulturform kann man ergänzen, dass die Gefahren der Verwendung einer
expliziten und damit missverständlichen Sprache vermutlich aufgefangen wurden, indem die
tribale Gesellschaft nicht nur zwischen Stämmen differenziert, sondern weitere Grenzen
zwischen Plätzen, an denen Männer reden (Ältestenrat), und Plätzen, an denen Frauen reden
(Brunnen), zwischen Dorf und Wildnis, zwischen Gartenbestellung und Jagd, zwischen
festlichem Rausch und alltäglichem Trott als Form der Verdichtung des Sinns jeder einzelnen
Handlung auf ihren Zusammenhang mit anderen Handlungen entwickelte (Turner 1969;
Leach 1976). Die Kulturform der Stammesgesellschaft ist eine topologische und territoriale.
Man bewegt sich in Zonen und weiß, welche Kommunikation jeweils angebracht
beziehungsweise, markiert durch Fetisch und Totem, unangebracht ist.
Der Verweisungsüberschuss der Schrift besteht in der erzwungenen Ausweitung und
ungewohnten Präzisierung (Datierung) der Zeithorizonte Vergangenheit und Zukunft. Leben
tribale Gesellschaften in einer breiten Gegenwart, die in eine unmittelbar erinnerte und eine
ferne, in den Mythos zurückweichenden Vergangenheit sowie einer Zukunft der ewigen
Wiederkehr eingebettet ist, so wird mit der Einführung der Schrift politische und
wirtschaftliche Planung möglich. Davon profitiert die Entstehung neuer Reiche in
Mesopotamien, China, Ägypten, Mittelamerika und Afrika. Der neue Verweisungsüberschuss
resultiert insbesondere im antiken Griechenland und Rom nicht nur daraus, dass man
Kommunikation durch eine alphabetische (nicht mehr ideographische) Schrift aus ihrem
bisherigen Fluss der Laute herauslösen und stillgestellt „analysieren” kann (aus Adjektiven
und Verben werden Substantive…), sondern auch daraus, dass eine rekursive Bezugnahme
der Kommunikation auf Kommunikation möglich wird, die nicht mehr durch die mündliche
Auffassungsgabe beschränkt, sondern tendenziell endlos wird.
Die Gesellschaft entwickelt zur Bewältigung dieses Verweisungsüberschusses eine
Hierarchie sozialer Schichten, die es erlaubt, den Umgang mit Schrift auf die Oberschichten
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und deren Belange (Politik, Ökonomie, Philosophie, Theologie) zu beschränken und mittlere
und untere Sozialschichten davon zu entlasten. Parallel zu dieser Strukturform der
Gesellschaft (Stratifikation) entwickelt sich eine Kulturform, die mit der Denkfigur des Telos
(etwa in der Formulierung „Vollendung im Ziel”, Aristoteles, Metaphysik 1021b 20) die
Gesellschaft anhand der Frage des Angemessenen und Unangemessenen zu verdichten und
durch die Unterscheidung von Psyche, Oikos, Polis und Kosmos zu begrenzen vermag
(Luhmann 1997, S. 410). Wieder ist es wichtig, dass die Gesellschaft im Umgang mit der
Schrift nicht etwa fixiert wird, sondern eine Ordnung findet, die Annahme und Ablehnung der
Kommunikation ermöglicht und Entscheidungen darüber, was teleologisch jeweils passt oder
nicht passt, also „perfekt” oder „korrupt” ist, ermöglicht und variabel hält. Leidenschaftliche
Götter, ein unberechenbares Schicksal, eine listige Vernunft (metis) und eine nicht im
Einzelfall, sondern prästabilierte Ordnung sorgen für hinreichend viele Freiheitsgrade der
Entwicklung eigener Pläne und des Umgangs mit den Plänen anderer.
Zur Kommunikation mit (sprechenden) Menschen und mit (launischen) Göttern der
tribalen und antiken Gesellschaft kommt mit der Einführung und Durchsetzung des
Buchdrucks der Verweisungsüberschuss einer Kommunikation mit der Gesellschaft selber,
die im Publikum der alphabetisierten, also lesenden und schreibenden Bevölkerung
zunehmend augenfällig und somit auch begriffsfähig wird. Die politisch und juristisch als
koinonia politike und societas firmierende Gesellschaft weitet sich zur bürgerlichen
Gesellschaft, deren Programm nicht mehr auf Exklusion aller politisch und juristisch nicht
Eingeschlossenen, sondern auf Inklusion aller durch Kommunikation Erreichbaren beruht.
Der Verweisungsüberschuss ist ein unmittelbares Produkt des Schreibens und Lesens selber,
nämlich der Möglichkeit, sich „kritisch” zu jedem beliebigen Gegenstand einer möglichen
Debatte oder auch nur Aufmerksamkeit zu eignen. Humanismus und Aufklärung befördern
eine Partizipation der ihre „Meinungen” entwickelnden Bevölkerung, die schließlich
demselben Kriterium einer „vernünftigen” Beurteilung jeder Meinung unterworfen werden
muss, das diese Partizipation erst hervorgerufen hat.
Die Strukturform der aus der Bewältigung des Verweisungsüberschusses hervorgehenden
modernen Gesellschaft ist die Differenzierung der Funktionssysteme der Gesellschaft, die es
ermöglicht, die allgegenwärtige und allfällige Kritik in die „rationalen” Bahnen der
politischen Opposition, der ökonomischen Konkurrenz, der theoretisch und methodisch
begründeten Entdeckung, des individuell beglaubigten Glaubens, der passioniert begründeten
Liebe und der nicht mehr an Nachahmung, sondern an neuen Formen orientierten Kunst zu
lenken (Luhmann 1997, S. 707ff.). Jedes dieser Funktionssysteme profitiert ebenso wie das
jetzt erst erfundene Individuum von einer Kulturform des unruhigen Gleichgewichts, die es
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erlaubt, den ständigen Wechsel der Formen als Erhaltung von Identität zu behaupten
(Luhmann 1997, S. 410f.). Die Gesellschaft wird im wahrsten Sinne des Wortes „modern”,
nämlich Modus im Kontext von Modalitäten. Die relative, immerhin Mobilität ermöglichende
Statik der stratifizierten Gesellschaft wird auf eine mediale Dynamik umgestellt, in der nicht
Herkunft und Stand, sondern Kompetenz im Umgang mit Medien Prestige und Einfluss
gewähren (Parsons 1977).
Ihre dynamische Stabilität gewinnt die moderne Gesellschaft nur noch daraus, dass sie
sich im Modus der Beobachtung zweiter Ordnung, das heißt im Spiegel von Öffentlichkeit,
Märkten und Kritik, kontrolliert. Beobachter zweiter Ordnung können Beobachter erster
Ordnung jederzeit auf Fehler, Übersehenes, Vergessenes und Ausgeschlossenes aufmerksam
machen, müssen sich jedoch ihrerseits dasselbe von weiteren Beobachtern zweiter Ordnung
gefallen lassen. Das Ergebnis ist eine einigermaßen disziplinierte Engführung dieser Art von
Beobachtung auf das jeweils Durchsetzbare, das seinerseits funktional und kulturell, etwa
durch Verweise auf Legitimität, Knappheit, Gerechtigkeit und anderes konditioniert werden
kann.
In allen drei Fällen dieser Medienepochen darf jedoch die jeweils gelungene Suche nach
einer neuen Struktur- und Kulturform der Gesellschaft nicht darüber hinwegtäuschen, dass
jeder neu auftretende Verweisungsüberschuss wie eine Katastrophe im mathematischen Sinn
(Thom 1980) wirkt, die die Modalitäten der bisherigen Systemreproduktion überfordert, eine
strukturelle und kulturelle Desorientierung auslöst, innovative Übertreibungen und
kulturkritische Widerstände auf den Plan ruft und nur in einem experimentellen Prozess auf
neue Modalitäten der Systemproduktion enggeführt werden kann. Man kann zwar sagen, dass
die neue Modalität eine Modalität „desselben” Systems ist, weil sie anders nicht gefunden
werden könnte, aber das ändert nichts daran, dass die Aktualität der neuen Modalität im alten
Zustand allenfalls als Potentialität, wenn nicht gar im Modus einer unbekannten Alternative
mitgeführt wurde. Hierarchien lassen sich auf Hackordnungen, Funktionssysteme auf die
Unterscheidung von Erfolgsmedien, kritische Öffentlichkeiten auf launische Publika und
Wachstumsökonomien auf providentiell geordnete Fortschrittspfade zurückführen, aber das
ändert nichts daran, dass in jedem Einzelfall neue Orientierungsmuster und Semantiken
entwickelt werden müssen, die nicht ohne einen Durchlauf durch „Krisen” aller Art gefunden
werden können.
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Der Übergang zur nächsten Gesellschaft
Auffällig ist, dass Kultur-, Medien- und Sozialwissenschaften erst im Übergang zu einer
postmodernen oder nächsten Gesellschaft einen hinreichenden Begriff auch der modernen
Gesellschaft entwickeln. Ein Verständnis der Digitalisierung und ihrer strukturellen und
kulturellen Voraussetzungen und Folgen ist nur möglich, wenn die spezifische Dynamik
früherer Gesellschaften verstanden worden ist. Denn Digitalisierung heißt mindestens, für alle
Probleme, die die tribale Gesellschaft mit Grenzziehungen, die antike Gesellschaft mit
Mitteln der Teleologie und die moderne Gesellschaft in der Form einer funktional
spezifizierbaren Rationalität gelöst haben, neue und andere Lösungen zu finden. Erst wenn
die nun „alt” werdenden Institutionen, Theorien, Ideologien und Probleme verstanden worden
sind, kann man mit Peter Drucker formulieren: „The central feature of the next society, as of
its predecessors, will be new institutions and new theories, ideologies and problems”
(Drucker 2001). Ich vermute, dass Luhmann, der in seinem Buch „Die Gesellschaft der
Gesellschaft” hellsichtige Formulierungen für die Kommunikation mit Computern gefunden
hat (Luhmann 1997, S. 302ff.), dieses Buch nur insofern als die abschließende Arbeit an einer
Theorie der modernen Gesellschaft verstanden hat, als nur diese (oder eine alternative, sich
demselben Anspruch stellende) Theorie es ermöglicht, den Übergang von der modernen zu
einer nächsten Gesellschaft zu beobachten.
Das Problem des Verweisungsüberschusses einer Gesellschaft, in der elektronische
Medien die Rolle eines neuen dominanten Verbreitungsmediums der Kommunikation
übernehmen, hat Luhmann genau genug beschrieben (Luhmann 1997, S. 411f.):
Ob die Erfindung des Computers, die ja zunächst nur die
Kontrollmöglichkeiten im Sinne des Vergleichs von Information mit Gedächtnis
nochmals erweitert, daran [nämlich an der Erfindung von Werten als „Formen
der Selbstbestätigung von Kultur”, db] etwas ändern kann, ist nicht sicher
vorauszusehen. Damit bleibt auch offen, was auf diese Möglichkeiten hin als
Kultur kondensieren wird. Dass der Computer das durchschnittliche
Erfüllungsniveau von Erwartungen steigern kann, wenn er zugleich
Erwartungen speichert, ist eher unwahrscheinlich. Erreichbar ist eine bessere
und raschere Organisation von Komplexität. Damit können auch Erwartungen
besser vorgetestet werden, bevor sie gespeichert werden – aber doch immer
nur mit Hilfe der Technik vergleichender Kontrolle, also immer nur
vergangenheitsbezogen. Es ist kaum zu befürchten, dass dies zu einer
errechneten Kultur führen wird, denn Sinnformen kondensieren nur in der
– 13 –
Kommunikation selbst. Eher wird man annehmen müssen, dass die
Beschleunigung der Kontrolloperationen dasjenige Moment sein wird, auf das
die Kultur reagieren muss – und dies dann wohl mit einem Verzicht auf eine
Positivwertung zeitlicher Beständigkeit. Strukturelle Analysen dieser Art haben
jedoch nur exemplarischen Wert. Sie erfassen bestenfalls einzelne
Perspektiven, die dem Gesamtkomplex der modernen Kultur nicht gerecht
werden, ihn nicht auf ein Grundproblem reduzieren können.
Das Problem des Verweisungsüberschusses von Sinn der nächsten Gesellschaft ist nicht mehr
nur der Referenzüberschuss der Sprache (Verweise auf Abwesendes), der Symbolüberschuss
der Schrift (Verweise auf Vergangenheit und Zukunft) und der Kritiküberschuss des
Buchdrucks (Verweise auf jederzeit intervenierende Beobachtung zweiter Ordnung), sondern
ein Kontrollüberschuss, der dadurch entsteht, dass zunehmend jede denkbare Kommunikation
mit Eingaben an und Ausgaben durch Maschinen kombiniert werden kann, deren
Datenspeicher, Vernetzung und Algorithmen (s.o.) einerseits undurchschaubar und unter der
Bedingung der Beteiligung der Maschinen an Kommunikation anderseits nicht ohne Weiteres
ablehnbar ist. Kann man die Ergebnisse einer Suchmaschine oder die Gefolgschaft durch
einen Freund noch ablehnen und auf das Absetzen eines Posts oder Tweets und die Vornahme
einer Verlinkung noch verzichten, so befinden sich der Börsenhändler vor seinen Terminals,
die Ärztin vor ihren Monitoren, der Architekt mit seinen Ergebnissen einer Statikberechnung
oder die Soldatin mit ihrer Datenbrille nicht in einer so komfortablen Situation. Sie müssen
Informationen annehmen und Entscheidungen treffen, ohne die Quelle und Qualität der Daten
überprüfen zu können (siehe exemplarisch Knorr Cetina/Bruegger 2002).
Hat die moderne Gesellschaft sich in Folge von Humanismus, Religionskritik und
Aufklärung weitgehend auf die Annahme reduziert, dass sich an Kommunikation keine
Geister, Götter, Tiere und Pflanzen, sondern nur Menschen beteiligen können, so muss die
nächste Gesellschaft diese Askese zugunsten der Beobachtung revidieren, dass sich auch
Maschinen beteiligen können. Hatte die moderne Gesellschaft im Rahmen liberaler
Konzeptionen das Individuum als undurchschaubar, subjektiv und idiosynkratisch definiert,
um hinreichende Freiheitsgrade für die Unberechenbarkeit medialer Kommunikation zu
gewinnen, so nehmen Maschinen im Zuge ihrer Enttrivialisierung zunehmend die gleiche
Position ein. Die nächste Gesellschaft ist auf diese „Katastrophe” nur insofern vorbereitet, als
sie im Begriff der Kommunikation, lange Zeit unterschätzt, einen Grundbegriff der
Beschreibung nichtkausaler, sondern eigenselektiver Formen des Sicheinlassens auf und des
Umgangs mit Abhängigkeiten vorfindet (Baecker 2005a, 2005b), die es nun ermöglichen,
– 14 –
sich mit der Frage zu beschäftigen, wie Schnittstellen funktionieren, die Komplexitäten
miteinander auf eine ihrerseits komplexe Art und Weise in strukturelle Kopplungen
überführen.
Möglicherweise hilft es beim Versuch, die neue Medienepoche einer Gesellschaft der
Kommunikation mit und von Computern zu verstehen, wenn die Epochenschwelle selber
nicht auf die Einführung von Computern, sondern auf die Einführung und gesellschaftsweite
Durchsetzung von Elektrizität und damit auf die Jahrzehnte 1860 bis 1910 datiert wird
(Asendorf 1989). Dies zumindest ist McLuhans Hypothese. Die neue Katastrophe sind nicht
die Rechenvorgänge des Computers, sondern die Möglichkeit weltweit instantaner
Verbindungen, die alle traditionellen Puffer und Filter für Raum und Zeit, etwa Reisezeiten,
nationale Grenzen, Vorstellungen familiärer Planung und ehelicher Treue,
Entwicklungszeiten unternehmerischer Investitionen, Erprobungs- und Auswertungszeiten
politischer Programme oder geduldige Arbeit an wissenschaftlichen Ideen unterläuft. Die
Konnektivität, die Computer und ihre Netzwerke weltweit, wenn auch weder umfassend noch
überall mit denselben technischen Standards und Zugriffschancen einführen (Schmidt/Cohen
2013), ist nach dieser Deutung bereits eine Form der Zähmung der Instantaneität, nämlich
ihrer Überformung durch das, was Hardware und Software jeweils zulassen – so sehr diese
Zähmung als Reduktion von Komplexität ihrerseits eine weitere Steigerung der Komplexität
inklusive neuer Katastrophen (Stichwort: Singularität) ermöglicht.
Setzt man die Epochenschwelle bei der Einführung und Durchsetzung der Elektrizität an,
geraten technische, künstlerische, wissenschaftliche und intellektuelle Auseinandersetzungen
seit den 1860er Jahren, etwa inklusive der Neurophysiologie, der allgemeinen und speziellen
Relativitätstheorie, der abstrakten Kunst und ihrer kunsthistorischen Untersuchung, des Films
und der Filmtheorie, der Bewusstseinsphilosophie, der Psychoanalyse, der Semiotik und nicht
zuletzt der Neufassung des logischen Raums durch Ludwig Wittgenstein und die
Grundlagenkrise der Mathematik in den Blick, die allesamt auch dann als Bundesgenossen
einer Arbeit am Verständnis des Übergangs von einer modernen zu einer nächsten
Gesellschaft aufgefasst werden können, wenn sie keinerlei gesellschaftstheoretische
Ambitionen hegen. Auf diese Entwicklungen können sich eine Kybernetik, eine
Kommunikationstheorie und eine Systemtheorie stützen, die Zeitgenossen des Computers
sind, aber auf Konzepte, Modelle und Formalismen angewiesen sind, deren Geschichte bis zu
Leibniz zurückreichen.
Die Sachlage einer Bestimmung der Voraussetzungen und Folgen der Digitalisierung wird
dadurch komplizierter, doch zugleich werden die Ressourcen reichhaltiger. Man sieht dann
auch, dass dem Kontrollüberschuss der Computer und ihrer Netzwerke nicht einfach
– 15 –
nachgegeben wird, sondern dass ihm eigene Kontrollversuche der Menschen, der sozialen
Situationen, der kulturellen Reflexion entgegengesetzt werden. Menschen werten ihre
unverwechselbare Körperlichkeit, ihre Verletzlichkeit, aber auch ihre Fähigkeiten in
Extremsituationen auf, soziale Situation bis tief hinein in die Welt der Organisation entdecken
unter dem Stichwort „agiles Management“ neue Spontaneitätspotentiale und kulturelle
Reflexion feiert das dezidiert Unprogrammierbare. Das geschieht nicht in schlichter
Entgegensetzung zum Computer, sondern nimmt diesen in die Erprobung spezifisch
menschlicher, sozialer und kultureller Wirklichkeiten mit hinein. Aber das ändert nichts
daran, dass Unterschiede zwischen analogen und digitalen Vorgängen, zwischen Software,
Hardware, Wetware und Lifeware präzise in den Blick genommen und immer wieder neu
ausgereizt werden. Vielleicht geht es darum, wie Tim Berners-Lee vermutet, das Netz als
einen Ort zu etablieren, „where the whim of a human being and the reasoning of a machine
coexist in an ideal, powerful mixture“ (Berners-Lee 1999, S. 158), aber dann will man auch
wissen, wo das eine aufhört und das andere beginnt.
Komplexität im Netzwerk
Digitalisierung wird damit als eine Medienepochenschwelle der gesellschaftlichen
Entwicklung kenntlich, die mit den Folgen der Einführung früherer dominanter
Verbreitungsmedien der Kommunikation verglichen, jedoch nicht auf sie reduziert werden
kann. Die nächste Gesellschaft muss dieselben Probleme des Verweisungsüberschusses eines
anderen Mediums mit der Erfindung und Erprobung anderer Struktur- und Kulturformen der
Gesellschaft beantworten.
Was lässt sich bisher über eine mögliche Strukturform und eine mögliche Kulturform der
nächsten Gesellschaft sagen, wenn wir uns für die Suche nach möglichen Antworten nicht auf
ein deduktives Schema der Theorie berufen können, sondern an die Experimente und
Tendenzen der Gesellschaft selber halten müssen? Bei der Antwort auf diese Frage hilft ein
weiteres Theorem der Systemtheorie, das darin besteht, die Dynamik der Gesellschaft im
Sinne ihrer Unvorhersehbarkeit und Unberechenbarkeit zu akzeptieren und dennoch
beziehungsweise explizit im Medium dieser Unvorhersehbarkeit und Unberechenbarkeit nach
„Eigenwerten” zu suchen, in denen die rekursiven Funktionen der Systemreproduktion unter
Aufrechterhaltung von Nichtlinearität ihre Ankerpunkte und Wiedererkennbarkeit gewinnen
(von Foerster 1976).
Für die Suche nach einer Strukturform der nächsten Gesellschaft, das heißt nach einer
Form, in der die Verteiltheit der Kommunikation mit Maschinen zugelassen und ausgehalten
– 16 –
werden kann, fällt die vielfache Rede von einer „Netzwerkgesellschaft” ins Auge (Castells
1996; van Dijk 1999; Lehmann/Qvortrup/Walther 2007), in der das Netzwerk als hybride
Form der Kopplung heterogener Elemente begriffen werden kann (White 1992, 2008), die
sich der funktionalen Rationalität der modernen Gesellschaft nicht mehr fügt, von der
ständischen Form antiker Gesellschaft zu schweigen. Zwar wehren sich Organisationen, die
noch an übergreifenden Zielen orientierte Einheitssemantiken pflegen, sowie autokratische
politische Systeme mit Erfolg wenn nicht unbedingt gegen die Praxis lateraler Vernetzung, so
zumindest gegen deren Anerkennung als neues Differenzierungsprinzip, aber Ablehnungen
dieser Art sind, wie wir wissen, eher zu erwarten, als dass sie als Widerlegung der Hypothese
gelten müssen. Das Netzwerk ist im Singular und dadurch ermöglichten Plural die Ordnung
eines lokal, historisch, multifunktional und exklusiv profilierten Zusammenhangs möglicher
Kommunikation, der in seinen Grenzen unspezifisch und daher jederzeit irritierbar und
verknüpfbar agiert. Die unspezifischen Grenzen schließen Versuche einer identitären
Schließung nicht aus, doch kann damit nicht verhindert werden, dass jede group, in der
kulturanthropologischen Begrifflichkeit von Mary Douglas (1982), sich mit einem grid
konfrontiert sieht, dass die eigene Identität im Kontext von Alternativen zu bewerten zwingt,
wie attraktiv auch immer es dann wird, die eigene Gruppe zu verlassen oder ganz im
Gegenteil die Bindung in ihr und zu ihr zu steigern.
Für die Suche nach einer Kulturform der nächsten Gesellschaft, das heißt nach einer
Verdichtung des Sinns jeder Kommunikation im Kontext ihrer Kontingenz im Vergleich mit
gleichzeitigen Möglichkeiten der Kommunikation, gibt es ebenfalls einen Kandidaten für
einen Eigenwert, der sich in aktuellen Beschreibungen der Gesellschaft zunehmend bewährt,
nämlich die Denkfigur der Komplexität, jenes Inbegriffs ökologischer Zusammenhänge, die
sich weder auf Kausalität noch auf Vernunft zurückführen lassen, sondern sich einer immer
wieder überraschenden Selbstorganisation verdanken (Weaver 1948; Luhmann 1997, S.
134ff.; Cilliers 1998, 2007; Morin 2008). Es gibt viele Definitionen von Komplexität, doch
im vorliegenden Zusammenhang der Suche nach einer Kulturform der Kommunikation mit
Maschinen bietet es sich an, an die mathematische Definition komplexer Zahlen zu erinnern.
Komplexe Zahlen sind Zahlen, die „imaginär” zwischen zwei Werten oszillieren und somit
weder auf den einen noch den anderen reduziert werden können. Ein Beispiel ist √-1 = ± 1 0
i, beziehungsweise i2 = -1.
Als Kulturform eignet sich Komplexität im Sinne imaginärer Zahlen dann, wenn wir
mithilfe dieser Metapher festhalten, dass jede Kommunikation der nächsten Gesellschaft
Heterogenes übergreift und genau darin ihren sie absichernden Sinn ergreift. Körper und
Bewusstsein, Mensch und Maschine, Technik und Natur, Kultur und Gesellschaft, aber auch
– 17 –
Mann und Frau, Kunst und Kultur, Markt und Unternehmen, Politik und Öffentlichkeit und
so weiter beschreiben jeweils Tropen im Sinne von Jurij M. Lotman (2000, S. 53f.), die ein
Paar aufeinander nicht reduzierbarer Elemente beschreiben, die präzise unter der Bedingung
der Unreduzierbarkeit, wenn nicht sogar fallweisen Unvereinbarkeit und Inkommensurabilität
funktionieren. Sich darauf einzulassen und dies zu pflegen, könnte die Kultur der nächsten
Gesellschaft auszeichnen. Einstweilen gewinnt diese Kulturform ihre Prägnanz daraus, dass
sie die kosmologische und vernünftige Ordnung früherer Gesellschaften ablehnt und eine
offene Ökologie an ihre Stelle setzt. Wenn man sich jedoch überdies etwa den Erfolg
aktueller Performancekünste anschaut, die mit Maschinen und ihrer Kombinatorik ebenso
experimentiert wie im Unterschied dazu mit der Fragilität und Vulnerabilität von Menschen,
mit dem Verstummen von Sprache und mit Improvisationen, die den Eigensinn von
Kommunikation ausreizen, dann sieht man, dass in der Kunst die Faszination durch
Komplexität im Sinne überraschender und möglicherweise ephemerer Ordnung mindestens so
groß ist wie in der Wissenschaft.
Es wäre keine schlechte Pointe der Kommunikation mit Maschinen, wenn in diesem Sinne
das irritierbare Netzwerk und die unwahrscheinliche, wenn nicht sogar „unmögliche”, weil in
jedem Fall überfordernde Komplexität zu Denkfiguren unserer Orientierung in der nächsten
Gesellschaft werden. Das schließt wie angedeutet, die fundamentalistisch identitäre Ordnung
und die Sehnsucht nach Vernunft und Telos nicht aus, doch das erweitert nur die
Formatierung dieser Gesellschaft durch ihr eigenes Prinzip im Gewand ihrer Negation. Ohne
die Ablehnung des Verweisungsüberschusses wäre das Theorem des
Verweisungsüberschusses auch empirisch unvollständig.
Digitalisierung unter dem Fallbeil einer drohenden Automatisierung der Gesellschaft
erschließt sich somit ganz im Gegenteil als ein doppelter Turing-Test: Unter welchen
Bedingungen darf die Kommunikation mit Maschinen als eine Kommunikation gelten, die
auch eine Kommunikation mit Menschen sein könnte? Und unter welchen Bedingungen gilt,
dass auch die Kommunikation unter Menschen eine Kommunikation unter Menschen bleibt?
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