Predigt über die Gewissheit (Titus 3,4-7) am 1. Weihnachtstag 2015 I. Wer am ersten Weihnachtstag in die Kirche kommt, muss damit rechnen, mit Theologie traktiert zu werden und weniger eingängige Texte vorgesetzt zu bekommen. So war es immer, so soll es auch heute sein. Aber manchmal ist die schwerere Kost ja nahrhafter. Deshalb lese ich uns zunächst noch einmal den Predigttext, Verse aus dem kaum bekannten, weit hinten im Neuen Testament untergebrachten Brief des Paulus an Titus. Wer dieser Titus war, muss uns nicht interessieren. Versuchen wir lieber, uns vorzustellen, wir selbst wären die Adressaten dieser Verse – besser gesagt dieses einen langen, überlangen Verses. Tief muss man Luft holen, um ihn in einem Zug vorlesen zu können: „Als aber erschien die Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes, unseres Heilands, machte er uns selig – nicht um der Werke der Gerechtigkeit willen, die wir getan hatten, sondern nach seiner Barmherzigkeit – durch das Bad der Wiedergeburt und Erneuerung im Heiligen Geist, den er über uns reichlich ausgegossen hat durch Jesus Christus, unsern Heiland, damit wir, durch dessen Gnade gerecht geworden, Erben des ewigen Lebens würden nach unsrer Hoffnung. Das ist gewiss.“ Sie hören: Man kann diesen einen Vers nicht in einem Zug vorlesen – zu lang, zu verschachtelt, zu kompliziert, zu theologisch, zu anspruchsvoll, zu abständig ist er. Dieser Vers enthält den ganzen Schatz der christlichen Glaubenstradition, alles, was über das Heil, über den tieferen Grund der Weihnachtsfreude zu sagen ist, wie in einer Nuss, aber die ist nicht zu knacken, zu hart das Sprachgehäuse, zu streng in Form und Formulierung. Und mündet dann in diesen drei schlichten Worten: „das ist gewiss“. Was ist gewiss? Dieses: „Als aber erschien die Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes, unseres Heilands, machte er uns selig – nicht um der Werke der Gerechtigkeit willen, die wir getan hatten, sondern nach seiner Barmherzigkeit – durch das Bad der Wiedergeburt und Erneuerung im Heiligen Geist, den er über uns reichlich ausgegossen hat durch Jesus Christus, unsern Heiland, damit wir, durch dessen Gnade gerecht geworden, Erben des ewigen Lebens würden nach unsrer Hoffnung.“ Das ist gewiss! Ist es das? II. Ich gehe einmal dem Motiv der Gewissheit nach. Vielleicht erschließt von ihm aus rückwirkend der Sinn des Ganzen oder zumindest eines erheblichen Teils von ihm. Denn sicherlich ist Gewissheit etwas, das uns heute noch unbedingt angeht, die Suche nach Gewissheit, das Leiden an der Ungewissheit – mit weitreichenden Folgen für jeden einzelnen und unsere Gesellschaft. Wir leben in ungewissen Zeiten. Die Scheingewissheiten der Vergangenheiten haben sich aufgelöst. Die eindeutigen Zuordnungen, die früher Sicherheit boten oder scheinbar boten, sind verloren. Wir leben in einem befremdlichen Dazwischen. Es geht uns gut – wir sind voller Sorge. Wir feiern Weihnachten wie jedes Jahr – aber es ist viel zu warm. Wir haben Frieden – unsere Welt ist voller Gewalt. Wir sind zu Hause – viele Flüchtlinge kommen auch in unsere Stadt. Wir empfinden Dankbarkeit und Schrecken. Wie können wir da leben? Wie können wir da glauben? Wie können wir Orientierung finden? Eine Möglichkeit, darauf eine Antwort zu finden, besteht in der Rückkehr zu den alten Werten, den alten Geboten, dem traditionellen Christentum, dem christlichen Abendland. Das wäre nicht ganz falsch, aber es wäre noch nicht richtig. Denn hier drohen zwei Fehler. Zum einen der Fehler des Pseudokonservatismus: das sind Menschen, die das christliche Abendland beschwören, ohne sagen zu können, was es ist, worin es besteht, wofür es steht, wie sie selbst in ihrem eigenen Leben seiner Substanz gerecht zu werden versuchen; für sie ist das christliche Abendland nur ein inhaltlich leerer Identitätsmarker, bloß eine aggressive Parole. Der zweite Fehler, der droht, ist der damit verwandte Konservatismus der Furcht: es ist eine Wendung nach rückwärts, nicht weil man dort etwas hätte, was einen beglückte, tröstete oder orientierte, sondern weil man Angst vor der Zukunft hat, Angst vor dem Neuen, Angst vor den Fremden. Ein solcher ängstlicher Konservatismus wäre noch nicht christlich, denn als Christen sollen wir doch gewiss sein, ohne Furcht und deshalb auch friedlich. Der Konservatismus der Angst dagegen ist voller Ressentiment, ja Hass. Nur wer ohne Furcht ist, kann anderen offen und tolerant begegnen. III. Vielleicht hilft es an dieser Stelle, an eine alte Unterscheidung zu erinnern, die Martin Luther vorgenommen hat: die Unterscheidung zwischen Sicherheit und Gewissheit. Der Mensch sucht nach Sicherheit, aber im letzten wird er sie nicht finden. Sein Äußeres und inneres Leben bleibt unsicher, ungesichert. Damit muss er zu leben lernen. Das Bestreben nach Sicherheit nun – darin liegt eine besondere Tragik des Menschen – hindert ihn daran, das Leben anzunehmen und seine Unsicherheiten auszuhalten. Das Streben nach Sicherheit macht ihn hart und kalt, wiegt ihn in falscher Sicherheit. Deshalb soll der Christ, so Luther, nicht nach scheinbaren Sicherheiten streben und in ihnen sein Heil suchen, sondern er soll nach Gewissheit streben. Gewissheit ist etwas anderes als Sicherheit. Sie ist ein inneres Gegründetsein, ein seelisches Vertrauen, das die äußeren Unsicherheiten nicht abstellt, nicht verdrängt, sondern sich ihnen stellt, sie durchlebt, weil sie sich in einem ganz anderen Zusammenhang gehalten weiß. Das Leben eines Christen soll nicht sicher sein, sondern gewiss. Das ist ein Leitsatz des alten Protestantismus, das ist noch mehr ein Leitsatz für uns, die wir in unserem Leben zwar ungleich mehr Absicherungen genießen, denen aber die alten religiösen Sicherheiten abhandengekommen sind. Wir haben eine Sicherheit, wie sie Menschen noch nie hatten, aber wir haben keine Gewissheit. Wahrscheinlich deshalb machen wir uns so viele Sorgen, sind so leicht zu irritieren, sind wir so nervös und anstrengend, manchmal auch aggressiv. Denn wir brauchen nicht nur Sicherheit, sondern eben auch Gewissheit. IV. Wie finden wir Gewissheit? „Als aber erschien die Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes, unseres Heilands, machte er uns selig – nicht um der Werke der Gerechtigkeit willen, die wir getan hatten, sondern nach seiner Barmherzigkeit. Das ist gewiss.“ Vielleicht mag es ein Weg zur Gewissheit sein, nicht nach neuen Sicherheiten zu suchen, aber auch nicht zu grübeln und zu spekulieren, sondern sich frei und froh auf diese Spur zu begeben, auf die Spur der Freundlichkeit und der Menschliebe (der „Philanthropie“, wie es im griechischen Original heißt) Gottes. Sie leuchtet hell in diesen Festtagen. Sie lässt sich aber auch in unserem alltäglichen Leben finden und selbst gehen. Und wer es versucht, in Freundlichkeit und Menschenliebe zu leben, anderen so zu begegnen, dem begegnet vieles, was unmittelbar Sinn ergibt, Fragen beantwortet, neue Horizonte eröffnet. Viele erleben das gegenwärtig in der Flüchtlingshilfe: Helfen macht glücklich, Helfen führt in die Begegnung, Helfen eröffnet Horizonte, Helfen mindert die Angst, Helfen schenkt Anteil an der Menschenfreundlichkeit Gottes, Helfen schenkt Gewissheit. In einem anderen Brief hat Paulus geschrieben: „Seid niemandem etwas schuldig, außer dass ihr euch untereinander liebt; denn wer den andern liebt, der hat das Gesetz erfüllt.“ Gewissheit finden wir nicht durch Gesetze der Sicherheit, nicht durch die Gesetzlichkeiten des Pseudokonservatismus oder des Konservatismus der Furcht. Gewissheit finden wir dann, wenn wir den Spuren der Freundlichkeit und Menschenliebe folgen, den Spuren, die vom Weihnachtsfest in unser alltägliches Leben führen.
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