Wessen kann ich mir gewiss sein?

Jakob Zanker
Wessen kann ich mir gewiss sein?
Die Frage wirkt beinahe ein wenig anzüglich, zielt sie doch einerseits direkt auf einen
Grundpfeiler unserer Gesellschaft, nämlich den Glauben daran, die Vergangenheit, die
Gegenwart und die Zukunft exakt überwachen zu können, und somit auch andererseits auf das
Schicksal jedes Einzelnen, der sein Leben darauf ausrichtet, möglichst viel zu wissen, also
theoretisch vorzudenken, um dann von der praktischen Anwendung nicht überrascht zu
werden, sprich beruflich, persönlich etc. erfolgreich zu sein. In unserer Gesellschaft bildet
Wissen eine Grundvoraussetzung für ein reibungsloses Funktionieren. Von der simplen
Gewissheit eines Unternehmers, dass der Arbeiter auch am nächsten Morgen noch pünktlich
erscheinen wird, des Arbeiters wiederum, dass es für ihn auch morgen noch Arbeit geben
wird, bis zur Gewissheit internationaler Investoren, die, manchmal scheint es wie im Casino,
Geld in der Höhe von ganzen Länderhaushalten hin- und herschieben, um Rendite zu machen,
alles steht und fällt mit der mathematischen Berechenbarkeit weltweiter Vorgänge. Fehlt wie
jüngst zum Beispiel die Sicherheit, dass Öl auch noch morgen in gleicher Menge und zu
gleichem Preis verfügbar ist oder dass die Bahn Menschen und Güter pünktlich von A nach B
befördert, so kommt das System, wenn auch nicht gleich ins Trudeln, so doch ein wenig zum
Erzittern, und wenn auch nicht gleich alle Menschen davon unmittelbar betroffen sind, so
doch einige wenige umso mehr, und der Einzelne bekommt, so oder so, schnell eine
Vorahnung davon, wie sensibel das System doch in Wirklichkeit selbst auf kleinste nicht
vorhersehbare Abweichungen der Norm reagiert.
Der kritische, zeitgenössische Freidenker aber fragt weiter: Wessen kann ich mir wirklich
gewiss sein? Leben wir tatsächlich organisiert wie in einer Maschine, in der es keine Wunder
mehr gibt, weil alles erklärbar geworden ist, oder wäre nicht eher eine andere Reaktion
angebracht: Verblüfftes Staunen über die unglaublichen Phänomene, die in scheinbarer
Ordnung jederzeit und überall ablaufen. Nun haben ersichtlich nicht alle Menschen solch ein
Weltbild der Skepsis: Für eine Mehrheit ist die Frage eher sonderbar, vor allem weil sie
negativ formuliert ist: Sie impliziert ja, dass gerade die Unsicherheit der Normalzustand, und
Gewissheit etwas sei, das erst mühsam freigelegt werden muss, also eine Vorstellung gerade
konträr zu unserer alltäglichen Erfahrung. Und so argumentiert der Pragmatiker, der
erfolgreich mitten im Leben steht, auch zu Recht: „Es funktioniert doch alles! Ist das nicht
Beweis genug?“ Worauf man mit Bert Brecht entgegnen möchte: „Es ist nur ein Zufall …
Zufällig bin ich verschont. Wenn mein Glück aussetzt, bin ich verloren.“ Den misstrauischen
Menschen jedenfalls fordert diese Frage geradezu heraus, und für ihn lohnt eine kritische
Überprüfung des Fundaments unseres Lebens: Gehen und stehen wir auf sicherem Grund?
Kann ich mir gewiss sein, dass es so ist, wie es mir erscheint?
Und was ist überhaupt mit Gewissheit gemeint? Ein Beispiel, um in die Diskussion
einzusteigen: Wir werden wohl der Aussage unseres Nachbarn bezüglich der aktuellen
wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland weniger Glauben schenken als z.B. der
Prognose des IFO-Instituts, das heißt, wir halten deren Vorhersage für „sicherer“ als die
unseres Nachbarn, dem wahrscheinlich leicht Fehler unterlaufen. Wo liegt nun der
Unterschied dieser zwei doch augenscheinlich so verschiedenen Herangehensweisen? Beiden
gleich ist die Vorstellung, dass es etwas außerhalb des Menschen gibt, das es zu erkennen gilt,
wobei wir dabei einer wissenschaftlichen, auf diese Thematik spezialisierten
Forschungseinrichtung mehr Kompetenz zusprechen als unserem Nachbarn, wenn es darum
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geht, diese äußere Faktoren erst einmal klar und deutlich zu erkennen, dann korrekt in
Beziehung zu setzen und schließlich die angebrachten Schlussfolgerungen zu ziehen.
Menschen besitzen also scheinbar unterschiedliche Fähigkeiten, die Wirklichkeit zu erkennen.
Aber heben wir nun den Sachverhalt zur weiteren Betrachtung auf eine abstraktere Ebene.
Wie im Beispiel gezeigt, meint Gewissheit bestimmte Dinge mit einem höchstmöglichen
Grad an Objektivität, das heißt neutral, so wie die Dinge tatsächlich sind, von einer außerhalb
liegenden Welt ins menschliche Bewusstsein zu übertragen. Ich kann bspw. einen Würfel aus
unendlich vielen Perspektiven betrachten. Niemand wäre jedoch so naiv, ihn für ein flaches
Quadrat, so wie er ja auch erscheinen kann, zu halten, oder zu erschrecken, weil er manchmal
größer und manchmal kleiner „ist“ (je nachdem von welcher Distanz aus ich ihn betrachte).
Die einzig richtige Vorstellung eines Würfels (bzw. die, von der man bequemlichkeitshalber
davon ausgeht, sie sei es) ergibt sich nur aus der Summe aller Beobachtungen: Es handelt sich
um einen räumlichen Würfel mit immer gleicher Ausdehnung, gleichen Kantenlängen,
möglicherweise abgerundeten Ecken o.ä. usw.
Diese Feststellung ist dennoch problematisch. Wir haben zwar mehrere Beobachtungen zu
einer allgemeineren zusammengefasst, objektiv im strengen Sinne waren wir aber nicht. Per
definitionem meint Objektivität die „Unabhängigkeit der Beschreibung eines Sachverhalts
vom Beobachter“. Wollen wir so vorgehen, legen wir unseren Würfel auf den Tisch, gehen
aus dem Raum und schließen die Tür. Wir haben uns als Beobachter vom zu beschreibenden
Objekt entfernt. Wie sieht der Würfel nun aber objektiv aus, wenn wir ihn gar nicht mehr
betrachten dürfen? Es fällt auf, dass die sooft geforderte „Objektivität“ mehr ein künstliches
Konstrukt ist, das sich so – wie im Modell mit dem Würfel – eigentlich gar nicht anwenden
lässt, ähnlich wie wenn ich definieren würde: X sei der Geschmack einer Portion Spaghetti,
aber bevor ich sie esse. Was wir wahrnehmen ist immer mit dem Beobachter verknüpft.
Beides zu trennen wäre unsinnig, wie das Spaghetti-Beispiel verdeutlicht.
Wessen kann ich mir also gewiss, im Sinne von objektiv Wahrnehmbarem, sein, wenn
Beobachtung immer mit dem Beobachtenden verknüpft ist, und somit abhängig von ihm, mal
so, mal so, erscheint? Woher nehmen wir im Normalfall den Maßstab, nach dem wir
entscheiden: Wer hat recht? Ich möchte noch tiefer in die Problematik einsteigen und mich
dem Gebiet der Erkenntnistheorie widmen.
Ein einleuchtendes Modell dafür, wie Wahrnehmung funktioniert, hat Descartes vorgelegt. Er
argumentiert so: Als Mensch, so scheint es, besitze ich ein singuläres Bewusstsein. Ich fühle
mich – im Normalfall - als eine Person und nicht als zwei oder drei. Intuitiv schließen wir,
dass es irgendwo in uns auch dieses eine Zentrum geben müsse, das unser Bewusstsein enthält
(Descartes schlug die Zirbeldrüse vor). An diesem fließen alle Informationen von den
Sinneszellen des Körpers zusammen, es erstellt daraus ein Bild der Welt und kann darin
bewusst eingreifen. Es ist dies eine dualistische Antwort auf das Leib-Seele-Problem: Geist
und Materie existieren nebeneinander und können interagieren. Somit wären Behauptungen,
die Objektivität postulieren, prinzipiell jedenfalls kein Problem.
Die moderne Hirnforschung zeigt uns aber etwas anderes. Weder gibt es ein Zentrum, an dem
alle Nervenbahnen zusammenfließen, und das als Zentrum unser „Ich“ beherbergen könnte,
noch funktioniert unser Gehirn überhaupt auf eine solch „geordnete“ Art und Weise. Es ist
zwar noch möglich, den Weg der Informationen von den Sinnesorganen kommend
nachvollziehen, im Gehirn angekommen, verschalten sich diese aber über eine endlose Zahl
an Neuronen auf viele verschiedene Wege, die sich in unterschiedliche Hirnareale ausbreiten
und sich in ihrer Aktivität gegenseitig so bedingen, dass sich schließlich selbst aus einfachsten
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Reizmustern und scheinbar „primitiven“ Nervensystemen Gehirnaktivitäten ergeben, die in
keinster Weise zu überblicken sind. Manche Forscher ereifern sich sogar zu behaupten, wir
würden den „Neuronalen Code“, also das Prinzip, nach dem unser Gehirn funktioniert,
niemals entschlüsseln können.
Dieses Verständnis vom menschlichen Gehirn als biologischem Organ, das aus einer
evolutionären Folge von Mutation und Selektion mit dem Ziel, einen Überlebensvorteil zu
erhaschen, hervorgegangen ist, macht es zwar möglich, dass wir dadurch die Fähigkeit
erhalten haben, objektive Aussagen über unsere Umwelt zu machen, da sich der Organismus
zwecks höherer Überlebenschancen immer mehr seiner Umgebung anpassen müsste, eine
Garantie ist es aber nicht.
Während diese Einschränkung der menschlichen Wahrnehmung inzwischen weitgängig
akzeptiert ist, gehen andere sogar noch weiter: Die These des Konstruktivismus ist, dass
Wahrnehmung grundsätzlich Interpretation und Konstruktion ist. Nicht der Reiz bestimmt die
Welt, sondern was das Gehirn mit diesem Reiz macht, genauer, wie es die Gesamtsumme
aller Reize deutet und in Beziehung setzt. Die Schlussfolgerung, der man im Alltag unterläuft:
weil mir etwas so scheint, oder zugespitzer: weil es allen so scheint, deshalb ist es auch so, ist
unlogisch. Wir stehen niemals in direktem Kontakt zu unserer Umwelt, sondern die Umwelt
befindet sich gewissermaßen in unserem Gehirn selbst und nur da, dort nämlich, wo sie
konstruiert wird. Wir haben keine Möglichkeit, direkt mit ihr in Kontakt zu treten, sondern
immer nur über den Umweg unserer Wahrnehmung, auf deren Ablauf wir keinen Einfluss
haben. Meine Wahrnehmung ist somit wirklich meine persönliche Wahrnehmung: Abhängig
von physikalisch-chemischen Gesetzen, meinem vorgegebenen organischen Aufbau und
erlernten Gehirnstrukturen. Ein Beispiel das Ernst von Glasersfeld anführt: Man kann durch
ein Sieb bspw. Steinchen sieben. Versetzt man sich in die Lage eines einzelnen Steins, der
durch eines der Löcher fällt, also auf kein Hindernis stößt, ist es unmöglich, irgendeine
Aussage darüber zu machen, was ihm widerfahren ist. Er merkt nur: Gerade eben waren
neben mir noch andere Steine, jetzt sind sie weg. Die Folgerung ist an sich eine allzu triviale
Erkenntnis: Man sieht immer nur das, was man sieht, das, was man nicht sieht, sieht man
nicht. Und was dieses „Nicht sehen“ ist, können wir nie erfahren. Der Konstruktivismus
gesteht damit zwar ein, dass es etwas außerhalb von uns geben muss, ein Medium, in dem wir
leben, aber wie dieses Medium geschaffen ist, darüber können wir keine Aussage machen.
Vielleicht ist auch ein anderes Beispiel geläufiger: Mehrere blinde Menschen sollen das
Aussehen eines Elefanten beschreiben. Der erste befühlt nur die Beine, der zweite nur den
Rüssel usw. Die Folgerungen werden nun, egal wie sie konkret aussehen mögen, mit
Bestimmtheit widersprüchlich und unvollständig sein.
Durch diese denkerische Grundlage ergeben sich einige Veränderungen. Sobald ich
Objektivität leugne und eingestehen, dass jegliche Aussage immer nur eine mögliche
Konstruktion der Realität ist, die ich persönlich treffe, ergibt sich, dass (1) ich die
Verantwortung für meine Aussagen trage und (2) „Wahrheit“ (also ein Kriterium um
verschiedene Aussagen untereinander zu vergleichen) nur noch im Trial & Error Verfahren
durch Anwenden der Realitätskonstruktionen und den sich damit ergebenden positiven bzw.
negativen Folgen herausgefunden wenden kann. Das Unterscheidungszeichen ist nicht mehr
möglichst hohe Objektivität, sondern Nutzen: Laut Heinz von Foerster ist der
Konstruktivismus damit eine Theorie, die Ethik schon in sich birgt. Zugespitzt könnte man
sagen: Wir begeben uns mit konstruktivistischen Gedanken von einer Welt, in der sich
Menschen wegen „Wahrheiten“ die Köpfe einschlagen, in eine Welt, in der die Menschen
gemeinsam eine Möglichkeit des Zusammenlebens erarbeiten und diese dann in der
praktischen Anwendung leben.
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Um wieder auf unsere Ursprungsfrage zurückzukommen: Wessen kann ich mir mit diesem
Ausgangspunkt gewiss sein? Eindeutig ist nun die Konsequenz, dass damit nicht mehr die
objektive Sicherheit gemeint sein kann, solche kann es nach konstruktivistischem Ansatz
nicht geben. Dennoch gibt es aber neben all diesen theoretischen skeptischen Überlegungen
eines, was diese nicht angreifen und nicht angreifen können: Nämlich die Gewissheit, die mir
persönlich tagtäglich widerfährt: dass ich lebe, atme, dass ich Gefühle habe, unendlich viele
Eindrücke aus meiner Welt empfinde: Töne, Farben, Gerüche, Geschmäcker, willentlich mein
Handeln kontrollieren kann, um mit anderen Menschen in Kontakt zu treten. Denn selbst
wenn dies alles Illusion wäre, ich empfinde es als real.
Wie ich finde, ist dies ein sehr sympathischer Ansatz, mit dem Problem der Gewissheit
umzugehen. Denn man besitzt damit zum Teil Sicherheit, nämlich das subjektive Erleben, das
jeder einzelne lebt, zum anderen Teil aber entgehen wir der Gefahr, uns im Glauben an
„Wahrheit“ (zum Beispiel in Manifestation einer Theory-Of-Everything oder allzu sehr
anmaßenden Menschen, die nicht nur glauben, im Besitz der alleinigen Weisheit zu sein,
sondern leider auch mit passender Macht ausgestattet sind, diesen ihren Segen über die
Menschheit zu verteilen) einseitig zu verirren, und somit den Zauber, der unserer Welt
innewohnt, nicht mehr wahrzunehmen. Ist dies auch die Weisheit vieler großer Denker, wie
Aristoteles es ausdrückt: So meidet denn jeder Kundige das Übermaß und den Mangel und
sucht und wählt die Mitte, nicht die Mitte der Sache nach, sondern die Mitte für uns.
2006
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