Was ist Heimat? Liebe Gemeinde, was ist für Sie „Heimat“? Der Ort und die Gegend Ihrer Geburt ? Der Ort, am dem Sie sich bisher im Leben am wohlsten gefühlt haben? Die Gegend, aus der Ihre Vorfahren stammen? Vor 70 Jahren mussten viele Tausende ihre Heimat verlassen – bei Nacht und Nebel, in Angst um ihr Leben, ungewiss, was auf sie zukommen wird. Was einem die Heimat bedeutet, hängt sicher auch davon ab, was viele zurücklassen mussten: große Gehöfte, stattliche Landgüter, Forsthäuser, große Bestände an Tieren, weite Flächen an Land. Aber auch die Kirchen und Friedhöfe im Ort, die vertrauten Menschen, mit denen man Jahre oder Jahrzehnte das Leben im Ort geteilt hatte. Heimat verlieren heißt: Von all diesen Wurzeln getrennt zu werden, alles zurücklassen, was einem vertraut war und Schutz und Geborgenheit bot. Was man aufgebaut und erarbeitet hat oder von den Vorfahren weitergeführt hat. Was das in einem Menschenherz bewegt, kann wohl kaum jemand ganz nachempfinden, der das nicht selbst erlebt hat oder in Erzählungen von seinen Eltern und Großeltern immer wieder gehört hat. Wie in einem roten Faden kann man durch die Bibel und die Geschichtsbücher verfolgen, dass immer wieder große Volksgruppen verjagt, verschleppt und gehasst wurden oder aus Verzweiflung aufbrechen an andere Orte, um dem Elend und dem drohenden Tod zu entrinnen. Mose flieht mit dem hebräischen Volk aus Ägypten, später werden Tausende aus Israel ins Exil nach Babylonien getrieben. So könnte man durch die Jahrhunderte blicken und weltweit einen Punkt nach dem anderen benennen, wo Menschen auf der Flucht sind. Heute steht das Flüchtlingselend Hunderttausender im Mittelpunkt der politischen Nachrichten. Und die Probleme um dieses Thema wachsen weiter. Die Zahl der Betroffenen wird leider weiter steigen. In unserem Land haben wir Jahrzehnte hinter uns, in dem Flucht bedeutete: Vom Osten in den Westen Deutschlands zu kommen. Aber da war kaum jemand mit dem Leben bedroht. Es war die Unzufriedenheit mit schlechten Lebensbedingungen und der Ärger über einen Staat, der seine Bürger kontrollierte und ihnen keine Reisefreiheit bot. Gemessen daran war das, was vor 70 Jahren in Europa und heute in vielen Ländern der Welt an Fluchtbewegungen passiert, viel dramatischer. Und immer, wenn man in die Geschichte hineinschaut, waren die Flüchtlinge unbeliebt, nicht willkommen, sie störten die Lebenswelten derer, denen es gut ging im Lande. Zeitzeugen können aus ihrem Erleben erzählen. Wir müssen – gerade auch in unserem Land – immer wieder uns erinnern lassen, dass viele von uns auch Flüchtlinge waren, von anderen aufgenommen wurden. Die Tausende, die im 3. Reich ins Exil gingen, nach England oder USA oder in anderen Ländern Zuflucht fanden. Natürlich müssen wir gleichzeitig versuchen, die Verhältnisse in Syrien, im Irak, in afrikanischen Ländern und den vielen anderen Gebieten, wo Menschen unterdrückt werden, zu verbessern. Aber dennoch gilt gleichzeitig die Aufforderung, die an vielen Stellen der Bibel genannt wird: Nehmt den Fremden auf in euer Mitte, gebt den Hungernden Brot, seht in dem anderen Menschen ZUERST das Geschöpf Gottes, der genauso ein Recht auf Liebe und Zuwendung und zum Leben hat. Flüchtlingspolitik ist ein schwieriges Feld ‐ gewiss. Dass trotz vieler Verhandlungen die Europäische Union da noch wenig erreicht hat, ist ein Zeichen des Dilemmas, dass einer gerne mit dem Finger auf den anderen zeigt: Tu Du mehr. Vorher mache ich nichts. So werden Menschen im freien Teil der Welt vielfach durch den Behördendschungel der Länder hin und her geschickt und verstehen die Welt nicht mehr. Es ist beschämend, dass sie nun neue Mauern und Hürden erleben. Aber schauen wir nicht nur auf die politischen Gremien und den Streit um Verteilung und Zuständigkeiten. Helfen wir mit, im Kleinen unseres täglichen Lebens Zäune der Ablehnung und Mauern des Hasses einzureißen. Diejenigen, die vor 70 Jahren durch halb Europa getrieben wurden, unsere noch lebenden Zeitzeugen und unsere Vorfahren, sind auch nicht mit Freude aufgenommen worden, aber sie haben doch in hohem Maße Hilfe fürs Überleben erhalten. Sie haben hart gearbeitet auf den Höfen und Landgütern zum Beispiel in Schleswig‐Holstein, aber sie hatten ein Dach über dem Kopf und ausreichend Nahrung. Während die heutigen Hilfsbedürftigen meist nicht arbeiten dürfen, obwohl sie das möchten. Frau R. hat uns vor ein paar Tagen erzählt, dass sie immer ein Gesangbuch und eine Bibel bei sich hatte. Und das hat vielen zum Überleben auch geholfen, dass sie wussten – bei aller Gefahr und Entbehrung auf der Flucht: Gott ist an unserer Seite. Nichts ist gewiss und planbar im Voraus – erst recht nicht 1945 und danach. Aber dieser Glaube ist für uns gewiss: Gott hilft uns, er führt uns an der Hand. Mitten in allem Sterben, das auch zur Flucht gehörte. Deshalb heißt Heimat für uns: Von klein auf zu lernen und darum immer wieder im Gebet zu bitten: Gott, sei Du mein Halt, mein Hort, meine Heimat inmitten aller Unplanbarkeit der politischen Geschichte. Gott führt uns nicht am Leid vorbei. Es gibt kaum eine Familie, die nicht um Tote im Krieg trauert. Aber Gott führt uns durch das Leid hindurch. Viele hätten den Weg in eine ungewisse Zukunft 1945 innerlich wohl nicht überlebt, hätten sie nicht diesen Glauben im Herzen gehabt: Gott führt uns nicht am Leid vorbei, aber er führt uns hindurch. Und so können wir uns daran halten: Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist bei uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag. Amen. Pfarrer Martin Garschagen
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