1 Dr. Ulrike Murmann Predigt am Silvester 2010 Jes 30, 15

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Dr. Ulrike Murmann
Predigt am Silvester 2010
Jes 30, 15-17: Durch Stillesein und Hoffen würdet ihr stark sein
Liebe Silvester-Gemeinde an St. Katharinen,
von Oscar Wilde stammt der wunderbare Satz: „Alle guten Vorsätze haben etwas
Verhängnisvolles: sie werden beständig zu früh gefasst“… Er hat ja so recht, denn
wie oft haben wir uns in den vergangenen Jahren schon vorgenommen, weniger zu
essen oder zu rauchen und stattdessen mehr zu Sport zu treiben oder gesünder zu
leben, und nur selten gelingt uns die Umsetzung dieser guten Absichten. Gehen Sie
mit neuen Vorsätzen in das kommende Jahr, liebe Gemeinde, oder haben Sie dieses
Ritual längst aufgegeben, da selbst der beste Vorsatz am 2. Januar schon nicht mehr
zu halten ist???
Irgendwie gehören die guten Vorsätze zu Silvester wie die Glück- und Segenswünsche zum neuen Jahr. Sie spiegeln die Erwartungen wider, die wir mit dem Kommenden verbinden, und zeigen an, dass wir nicht gedankenlos und leichtfertig über
die Schwelle treten, sondern durchaus selbstkritisch und bewusst.
Ich möchte Ihnen heute Nacht einen Wunsch mit in Ihr neues Jahr geben, der dem
Bibeltext für diesen Tag entnommen ist und von dem Propheten Jesaja stammt. Er
riet seinem Volk vor über 2500 Jahren: In der Ruhe und im Glauben findet ihr Kraft!
Wörtlich steht da: Wenn ihr umkehrtet und stille bliebet, so würde euch geholfen;
durch Stillesein und Hoffen würdet ihr stark sein.
Dieser Rat beruht natürlich auf den Einsichten, die Jesaja im Rückblick gewonnen
hat. Sein Jahresrückblick für Israel fällt ziemlich kritisch aus: Man hatte sich mit den
falschen Bündnispartnern eingelassen, hatte den falschen Göttern vertraut, hatte
alle Warnungen der Propheten in den Wind geschlagen mit den Worten: „Lasst uns
doch in Ruhe mit Gott, lasst uns in Ruhe mit seinen Weisheiten. Wir wollen hören,
was angenehm ist, und sehen, was das Herz begehrt“ (nachzulesen im AT bei Jesaja
im 30. Kapitel). Anstatt mit Ruhe und Besonnenheit auf die Probleme und Fehlentwicklungen ihrer Zeit zu reagieren, anstatt umzukehren und nach Alternativen zu
suchen, wählten sie noch schnellere Pferde und Wagen, und setzten auf die bis heute
nur allzu bekannte Devise: Wir müssen eben noch schneller, noch höher, noch weiter
jagen – größer werden und wachsen um jeden Preis.
Jesaja dagegen meint: Ihr rennt den falschen Mächten hinterher, haltet inne und
denkt nach. Wo wollt ihr hin und mit wem euch verbünden? Wem wollt Ihr Euer Vertrauen schenken? Worauf wollt ihr eure Zukunft bauen? Lehnt Gottes Angebot nicht
voreilig ab, er gibt euch die Kraft zum Guten und bewahrt euch in der Krise.
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Mehr Gottvertrauen – wäre das vielleicht ein Vorsatz für das kommende Jahr, wäre
das ein Vorsatz für Sie? Innehalten und öfter mal das Gespräch mit Gott suchen? Sich
mehr Zeit nehmen für die Fragen des Glaubens? Nicht nur hier und heute, sondern
regelmäßig: Nicht sinnlos rennen, rasen, rödeln, sondern sich be-sinnen und daraus
Kraft schöpfen, ähnlich wie es Konfuzius gesagt haben soll: In der Ruhe liegt die
Kraft. Jesaja meint: In der Ruhe und im Glauben findet ihr eure Stärke.
Eine bemerkenswerte Kraft hatten die Menschen, die im diesem Jahr das Schweigen
über den Missbrauch an Kindern und Jugendlichen gebrochen haben. Endlich haben
Menschen den Mut gehabt, öffentlich zu schildern, was ihnen angetan wurde in Familien, Kirchengemeinden und Schulen, durch Pfarrer und Lehrer, die sie zu Opfern
ihrer sexuellen Machttriebe gemacht haben. Das vergangene Jahr war für unsere
Kirchen in dieser Hinsicht ein bitteres Jahr und wir tun endlich, wozu Jesaja rät: Wir
schauen hin und klären auf, wir schämen uns, bekennen unsere Schuld und bitten
um Vergebung, wir kehren um, kehren um zu dem Gott, der unsere Kinder liebt, und
zwar um ihrer selbst willen, der ihre Würde schützen und ihr Vertrauen ins Leben
wecken will. Ich bin in unserem Kirchenkreis mitverantwortlich für die Aufklärung
von Missbrauchsfällen und hatte zeitweilig eine solche Wut im Bauch, habe tiefes
Entsetzen und größte Abscheu empfunden. Ohne den Glauben an den Gott, der die
Liebe ist und Böses zum Guten wenden kann, hätte mir die Kraft für diese Aufklärung gefehlt. Gott sei dank, dass uns endlich die Augen geöffnet werden und wir aufarbeiten, was geschehen ist, damit in Zukunft rechtzeitig eingegriffen wird.
Im Zusammenhang der Missbrauchsfälle ist unsere Hamburger Bischöfin zurückgetreten und hat damit eine Konsequenz gezogen, die ihr notwendig schien. Es war einer von vielen Rücktritten 2010 – neben Bischöfin Käßmann und Bischof Mixa, Horst
Köhler und Ole von Beust, und vielen weiteren Politikern. Die zum Teil freiwilligen,
zum Teil unfreiwilligen Rücktritte haben die politische Landschaft verändert und
stellen uns z.B. in Hamburg im kommenden Jahr vor neue Herausforderungen. Zugleich hinterlassen sie eine ambivalente Wirkung: Einerseits verdienen sie Respekt
und legen eine Konsequenz an den Tag, wie sie in öffentlichen Debatten oft gefordert
wird. Andererseits aber bleibt eine gewisse Irritation und einige Menschen fragen
sich: Ist das in Ordnung, kann man sich so aus der Verantwortung ziehen, in die man
gewählt worden ist?
Wie jedes Jahr also verursachen die politischen Jahresrückblicke einen disparaten
Gesamteindruck: Da waren die Naturkatastrophen in Haiti und Pakistan, das Öl im
Golf von Mexiko und eine furchtbare Tragödie auf der Love-Parade in Duisburg. Aber
auch die Rettung der chilenischen Bergleute, eine heitere, spannende Fußball-WM
und der wirtschaftliche Aufschwung, der in Deutschland wieder mehr Arbeitsplätze
geschaffen hat. War es nun ein gutes, oder war es ein schlechtes Jahr?
Wie fällt Ihr Rückblick an diesem Abend aus, liebe Gemeinde, Ihre ganz persönliche
Bilanz? Was ist Ihnen gelungen? Wo haben Sie Glück gehabt? Was erfüllt Sie in der
Erinnerung mit Freude, welches Erlebnis bewahren Sie dankbar in Ihrem Herzen? --
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- Was ist nicht gelungen, wo sind Sie gescheitert, wofür schämen Sie sich, was ist
unerledigt geblieben? Wen oder was haben Sie verloren, von wem mussten Sie Abschied nehmen? Wen haben Sie neu kennen gelernt, wer hat Ihnen besonders geholfen und gut getan?
Bei manchem wird sich Gutes und Schlechtes die Waage halten, bei manchem wird
ein Ungleichgewicht bleiben, das dem einen eine heitere Gelassenheit beschert, dem
anderen eine dunkle Beschwernis. Ich frage mich manchmal, wird sich wohl am Ende unseres Lebens eine Ausgewogenheit einstellen? Werden sich Glück und Unglück, Gesundheit und Krankheit, Gewinne und Verluste, Freude und Schmerz die
Waage halten?
Ich bin ja fest davon überzeugt, dass ich eines fernen Tages vor unseren Gott treten
werde und mit ihm zusammen auf mein Leben schaue: Was wird dann sein? Werde
ich alles in seine Hände legen können, damit er es zum Guten wendet und das versöhnt, was auf Erden unversöhnt bleiben musste?
Was uns am Ende aller Zeiten verheißen ist, das erleben wir in Ansätzen in einer solchen Nacht, wenn wir unser vergangenes Jahr vor Gott bringen in der Stille, im Gebet, im Gespräch mit denen, die wir um uns haben. Wir blicken zurück in der Hoffnung, die Bilanz möge in Ordnung sein, das Geleistete möge beachtet und belohnt
werden, und alles, was wir ertragen oder erleiden mussten, möge nicht sinnlos sein.
Wir geben das vergangene Jahr in Gottes Hand, und werden so frei für das kommende. Für 2011 erbitten wir seinen Segen, damit gelinge, was wir uns in gutem Sinne
vornehmen. Vielleicht mögen Sie ja tatsächlich dem Ratschlag Jesajas folgen und
öfter mal innehalten und in der Ruhe die Kraft spüren, die Gott Ihnen geben möchte.
Gott segne Ihnen das neue Jahr. Amen.
Der du die Zeit in Händen hast,
Herr nimm auch dieses Jahres Last
Und wandle sie in Segen.
Nun von dir selbst in Jesus Christ
Die Mitte fest gewiesen ist,
führ uns dem Ziel entgegen.
Der du allein der Ewge heißt
Und Anfang, Ziel und Mitte weißt,
im Fluge unsrer Zeiten;
bleib du uns gnädig zugewandt,
und führe uns an deiner Hand,
damit wir sicher schreiten. (Jochen Klepper, EG 64, 1.6.)