Gedanken zu Heimatlosigkeit und Gastfreundschaft

Man ist immer auf Kosten eines anderen frei.
A. Camus
Gedanken zu Heimatlosigkeit und Gastfreundschaft
Die Bilder von Frauen, Männern und Kindern hinter Stacheldrahtzäunen und militärisch abgesicherten
Grenzübergängen haben sich in den letzten Monaten unauslöschlich in unser Gedächtnis eingeprägt:
Bilder gnadenloser Unmenschlichkeit und Brutalität. Und dennoch - die Barrikaden an den politischen
Landesgrenzen werden für die Flüchtenden in aller Regel noch die geringste Behinderung auf ihrem
Weg in ein Leben in Sicherheit und Würde sein.
Die Grenzen in den Köpfen der Menschen auf „der anderen Seite des Zauns“ werden es nämlich sein,
die letztlich darüber entscheiden, wie dieser Weg enden wird. Das Leben jeder einzelnen Frau, jedes
einzelnen Mannes und jedes Kindes wird davon abhängen, ob wir auf dieser anderen Seite des Zauns
die Anstrengung auf uns nehmen, die Komplexität einer globalisierten Welt verstehen zu wollen. Ob wir
die Wechselwirkungen zwischen Wohlstand an dem einen (unserem) und Armut an dem anderen
(fremden) Ende der Welt erkennen wollen. Und ob wir uns endlich der unbequemen Tatsache stellen
wollen, dass die Freiheit der einen immer auf Kosten der anderen geht und unsere Verantwortung für
das Leben der anderen damit ein unhintergehbares Faktum für uns darstellt und keine Option. Ein
historischer Blick auf die Entwicklung der Grenzen in den Köpfen der Menschen ermutigt uns erst
einmal nicht. Das scheinen die beiden kaum bewältigbaren Aufgaben der Menschheit zu sein: sich die
Auswirkungen und komplexen Wechselwirkungen des eigenen Tuns und Unterlassens eingestehen zu
können und die daraus resultierende Verantwortung für andere nicht zu verleugnen. Andererseits: der
christliche Eine-Welt-Gedanke ist seit den frühen 1960er Jahren, also seit einem guten halben
Jahrhundert, ebenso im Gespräch geblieben wie ökologische Weltzugänge uns immer unüberhörbarer
in Erinnerung rufen, dass es an der allerhöchsten Zeit ist, diese beiden Grundprinzipien endlich zu
begreifen.
Es ist überwältigend mitzuerleben, wie viele Menschen seit vielen Wochen ihre Zeit, ihre Kompetenzen
und ihre monetären Ressourcen bereitstellen, weil sie nicht „Flüchtlinge“ sehen, sondern Menschen. Es
macht ungeheuer Mut gewahr zu werden, dass so viele unter uns bereits die Grenzen in ihren Köpfen
öffnen und über den Tellerrand ihrer eigennützigen Interessen hinausdenken. Und zu sehen, wie sie
damit immer mehr Menschen anstiften, selbst auch aufzustehen und mit „Flüchtlingshilfe“ mehr zu
meinen als eine herablassende Geste des Verteilens oder Verweigerns von Almosen: Nämlich uns allen
zu verstehen zu geben, dass „Flüchtlinge“ Gäste sind, in dem Sinn, in dem wir letztlich alle „Gast auf
Erden“ sind. Der Begriff Heimat verliert hier endlich seine in aller Regel unreflektiert tradierte
folkloristische oder nationalistische Bedeutung und findet wieder zu seiner genuin sozialen Bedeutung
zurück: Heimat ist kein geografischer oder politischer „Ort“ sondern in erster Linie das Ergebnis
zwischenmenschlichen Sozialisationserlebens. Es ist zutiefst verwoben mit unserer Identität, unserer
Persönlichkeit und unseren Vorstellungen über diese Welt, der wir ohne wechselseitiges Gewähren von
Gastfreundschaft (weil wir alle Gäste sind) sonst immer fremd bleiben würden. Fühl‘ dich wie zu
Hause, sagen wir zu Gästen und es ist uns klar, dass wir damit immer auch ihre Gewohnheiten einladen,
mit denen sie untrennbar „heimatlich“ verbunden sind – genauso wie wir. Unser Haus verändert sich
mit Gästen und wir uns mit ihnen und sie sich mit uns. Gott sei Dank! Die Welt wäre sonst ein lebloser
Ort, voller einander und der Welt entfremdeter Menschen. Geben wir einander Heimat, um selbst Teil
dieser Welt zu werden und uns in ihr zu beheimaten – für die begrenzte Zeit in der wir ihr Gast sind.
Evelyn Niel-Dolzer
Bei allem angebrachten Pessimismus hat sich in den letzten Monaten aber eines sehr deutlich gezeigt:
es bewegt sich etwas in unseren Reihen, man kann es Menschlichkeit nennen!