FRAU MIT ZWEI KÖPFEN TRIFFT MANN OHNE MUND Zur Deutschsprachigen Erstaufführung von Roland Schimmelpfennigs An und Aus AN UND AUS (Probenfoto) »Wer mit Ungeheuern kämpft«, schrieb Nietzsche, »mag zusehen, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird.« Von den Monstern unseres Energiezeitalters und der Liebe zwischen einer Biene und einem Wal erzählt Roland Schimmelpfennig in seinem Stück »An und Aus«, das Burkhard C. Kosminski in Mannheim zur deutschsprachigen Erstaufführung bringt. Ein kleines Hotel am Hafen. Jede Woche treffen sich hier drei Paare und mieten sich für ein paar Stunden ein Zimmer. Während Frau Z. mit Herrn A. im Bett liegt, betrügt Herr Z. sie nebenan mit Frau Y.. Und in Zimmer Nr. 3 schläft Herr Y. mit Frau A.. Keiner ahnt, was im Nachbarzimmer geschieht. Die verheirateten Frauen und Männer, die sich heimlich treffen, haben ihren außerehelichen Geschlechtsverkehr perfekt organisiert. Alles läuft nach Plan, wie auf einem Großflughafen. Denn jedes Paar hat seine festen Rituale. Das erzählt der Junge mit der Brille, der hier Hotelportier ist und dem Mädchen mit dem Fahrrad Liebesbotschaften simst. Sie nennt ihn Wal und er nennt sie Biene. Am liebsten würden sie noch heute heiraten. Aber wie in der Ballade von den zwei Königskindern begegnen sie sich nie. Weil er am Hafen arbeitet und sie auf einem Berg wohnt. Nichts kann diese heimlichen Montagsaffären erschüttern, es sei denn ein Naturereignis. Und plötzlich beginnen im Hotel die Glühbirnen zu flackern, gehen aus und wieder an. Danach ist nichts mehr wie zuvor. Frau Z. betrachtet sich im Spiegel: Sie hat jetzt zwei Köpfe und Herr A. bemerkt voller Verzweiflung, dass er ohne Mund dasteht. Frau A. fängt an zu weinen: In den Armen von Herrn Y. fühlt sie sich uralt wie ein Stein. Panisch flieht Frau Y. wie eine Motte vor dem schwarzen Regen und Herr Z., der kurz vor dem Ersticken ist, schnappt nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. Der erste Teil des Stücks (»An«) endet mit einem Beben, Blackout und der totalen Finsternis. Im zweiten Teil (»Aus«), der am selben Abend und Monate später spielt, sitzen die Ehepaare im Kerzenschein inmitten ihrer verwüsteten Wohnungseinrichtungen. Unfähig mit ihrem Partner über ihr Schockerlebnis zu sprechen, werden ihre Ängste immer alptraumhafter. Herr Z. sieht sich als toten Fisch auf einer Wiese, der von einer Katze gefressen wird. Die beiden Köpfe seiner Frau beginnen sich gegenseitig zu zerfleischen. Frau A. versteinert und setzt Moos an, während sich Herr A. mit einer Scherbe den Mund aufschneidet. Aber anstatt seine innere Stimme zu finden, sprudeln nur die Namen der Produkte heraus, die sie einmal reich und glücklich gemacht haben. Und Herr und Frau Y. sitzen in ihrem kaputten Haus, in das es hineinregnet und wünschen, sie AN UND AUS (DSE) könnten noch einmal die Zeit zurückdrehen. Wie Traumatisierte ringen sie mühsam nach Worten. Erschrocken über die eigene Monstrosität versuchen sie zu verstehen, was mit ihnen geschehen ist. Ihr Innerstes hat sich auf einmal nach außen gekehrt und dafür hat der Autor verstörende Bilder gefunden. Schimmelpfennigs »Theater der Narration« besteht aus monologischer Beschreibung, Erzählung und einer komplexen Bildsprache. Das Bild von der »Frau mit den zwei Köpfen«, die sich zerfleischen, steht für einen inneren Zustand, für Selbsthass und Schuldgefühle und erinnert zugleich an das Baby mit den zwei Köpfen, das nach Hiroshima geboren wurde. Mit Hokusais Holzschnitt »Die Welle«, den der Junge im Hotel betrachtet und der Frage des Mädchens, ob man »den Schatten eines Vogels fotografieren« könne, assoziiert Schimmelpfennig den Tsunami und Fallout vom 11. März 2011 in Japan, ohne je die Worte Atomkatastrophe oder Fukushima zu verwenden. Schimmelpfennig arbeitet gerne mit Gegensätzen und Antonymen. Der Titel An und Aus meint den Kippschalter des Stromnetzes, die Zweiteilung des Stücks und die beiden gegenläufigen Erzählstränge. Den ausgepowerten, älteren Paaren, die sich in ihren Affären emotional aufladen wollen, steht die Lebensenergie und Liebessehnsucht der Jungen gegenüber. Die Biene und der Wal begegnen sich nur mit Hilfe ihres Smartphones, das ist sehr heutig und gleichzeitig wie von einem anderen Stern. Ihre Liebe bleibt unerfüllt, aber reicht wie im Märchen über den Tod hinaus. An und Aus entstand als Auftragsarbeit für das Nationaltheater in Tokyo. Man kann das Stück als eine Beschreibung der gegenwärtigen japanischen Gesellschaft lesen, die Technikgläubigkeit zur Ersatzreligion ausrief und deren Wohlstand auf billigem Atomstrom basiert. Aber An und Aus ist auch ein surreales Märchen über die metaphysische Verzweiflung von uns Modernen, die wir wie Höhlenbewohner in unseren Wohlstandshöllen leben. Ein Jahr nach Fukushima schrieb Bruno Latour in Anlehnung an Mary Shelleys Frankenstein, dass wir nicht so tun können, als habe das von uns geschaffene Monster nichts mit uns zu tun, wir können nicht einfach nach Hause gehen. Wenn wir nicht wollen, dass sich die modernen, von uns geschaffenen Techniken gegen uns wenden und uns bedrohen wie Frankensteins Monster, dann müssen wir uns um sie sorgen und sie so behandeln, als wären sie unsere Kinder. Es gibt keine Alternative: »Love your monsters.« ib von Roland Schimmelpfennig Premiere am Sa, 09. Januar 2016 um 20.00 Uhr im Schauspielhaus anschließend Premierenfeier im Theatercafé Regie Burkhard C. Kosminski | Bühne Florian Etti | Kostüme Lydia Kirchleitner | Musik Hans Platzgumer | Choreografische Mitarbeit Jean Sasportes Licht Nicole Berry | Dramaturgie Ingoh Brux Mit Katharina Hauter, Anne-Marie Lux, Hannah Müller, Ragna Pitoll; Reinhard Mahlberg, Sven Prietz, Fabian Raabe, Stefan Reck Nächste Vorstellungen Do, 14. und Sa, 23. Januar 2016 Karten unter Tel. 0621 1680 150 | [email protected] oder unter www.nationaltheater-mannheim.de
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