Quellenblatt 1

RÖMISCHE RECHTSGESCHICH TE
WINTERSEMESTER 2015/16
PROF. DR . JOHANNES PLATSC HEK
I. Warum Römische Rechtsgeschichte? Warum Römisches Recht?
BGB § 162 Verhinderung oder Herbeiführung des Bedingungseintritts.
(1) Wird der Eintritt der Bedingung von der Partei, zu deren Nachteil er gereichen würde, wider
Treu und Glauben verhindert, so gilt die Bedingung als eingetreten.
D. 35,1,24 pr. (Iul. 55 dig.; Mitte 2. Jh. n. Chr.) / 50,17,161 (Ulp. 77 ed.; Anf. 3. Jh.)
Es ist in das ius civile übernommen worden: Wenn es durch denjenigen, der das Interesse daran
hat, dass die Bedingung nicht eintritt, geschieht, dass sie nicht eintritt, dann wird es so angesehen,
als wäre die Bedingung eingetreten.
(Julian:) Die meisten wandten das sowohl
auf Vermächtnisse
als auch auf Erbeinsetzungen an.
Nach diesen Vorbildern vertraten manche zu Recht,
dass auch Schuldversprechen verfallen,
(Ulpian:) Das wird
auf die (testamentarische) Freiheit,
auf Vermächtnisse
und Erbeinsetzungen angewandt.
Nach diesen Vorbildern
verfallen auch Schuldversprechen,
wenn es durch den Versprechenden geschehen ist, dass der Versprechensempfänger der
Bedingung nicht entspricht.
D. 40,7,3,16 (Ulp. 27 Sab.)
Ferner hat Julian im 16. Buch seiner Digesten geschrieben: Wenn der Arethusa (testamentarisch)
die Freiheit für den Fall gegeben worden ist, dass sie drei Sklaven gebiert, und es am Erben
gelegen hat, dass sie sie nicht gebiert (etwa weil er ihr ein Mittel verabreicht hat, dass sie nicht
empfängt), so werde sie sofort frei – denn worauf sollen wir noch warten? Dasselbe gilt, wenn der
Erbe veranlasst hat, dass sie eine Fehlgeburt hat, weil sie auch mit einer Schwangerschaft drei
Kinder gebären hätte können.
D. 18,1,50 pr. (Ulp. 11 ed.)
Labeo (1. Jh. n. Chr.) schreibt: Wenn du mir eine Bibliothek für den Fall verkauft hast, dass die
Gemeinde mir das Grundstück verkauft, worauf ich sie bauen würde, und es dann an mir liegt, dass
ich das von der Gemeinde nicht erlange, dann bestehe kein Zweifel, dass mit einer Klage mit
vorangestellten Worten (actio praescriptis verbis; nicht: Kaufklage) geklagt werden könne.
II. Frühe römische Rechtsgeschichte
1. Leges regiae – ius Papirianum
D. 1,2,2,2 (Pomp. sing. ench.)
Und so legte auch Romulus einige Gesetze der Volksversammlung zum Beschluss vor: So taten es
auch die nachfolgenden Könige. All diese Gesetze sind aufgezeichnet im Buch des Sextus Papirius,
der zu Zeit des Superbus, des Sohnes des Korinthers Demaratos, zu den ersten Männern des
Staates gehörte. Dieses Buch wird, wie wir bereits bemerkt haben, ius civile Papirianum genannt,
nicht aber, weil Papirius irgendetwas hinzugefügt hätte, sondern weil er die Gesetze, welche ohne
Ordnung verabschiedet worden waren, in eins zusammengefügt hatte.
Festus 247 s.v. parricidi quaestores
Parrici(di) quaestores wurden die genannt, welche gewählt zu werden pflegten, um die Kapitalstrafsachen zu untersuchen. Parricida(s) wurde nicht nur der bezeichnet, welcher seinen Vater
(parens) getötet hatte, sondern jeder, welcher einen beliebigen, nicht (dazu) verurteilten Menschen
tötete. Dass es sich so verhalten hat, legt auch das Gesetz des Königs Numa Pompilius nahe,
welches aus den folgenden Worten bestand: „Wenn jemand einen freien Menschen vorsätzlich
wissentlich tötet, so soll er parricidas sein“ (SI QVI HOMINEM LIBERVM DOLO SCIENS MORTI
DVIT, PARRICIDAS ESTO).
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D. 48,9,9 pr. (Mod. 12 dig.)
Als Strafe für parricidium ist nach Gewohnheitsrecht (mos maiorum) vorgesehen, dass der parricida mit Ruten blutig gegeißelt und hierauf in einen Sack eingenäht werde, zusammen mit einem
Hund, einem Hahn, einer Schlange und einem Affen: Daraufhin wird der Sack im tiefen Meer versenkt. So wird verfahren, wenn das Meer in der Nähe ist: Andernfalls wird der Mörder den wilden
Tieren vorgeworfen gemäß der Anordnung des vergöttlichten Hadrian.
Servius, In Vergili buc. 4,43
In den Gesetzen des Numa ist vorgesehen, dass, wer aus Unachtsamkeit (imprudens) einen Menschen getötet hat, für das Leben des Getöteten den Verwandten in der Versammlung einen Widder
darreiche. (…)
IG I3 104 Z. 11 (Gesetz Drakons von Athen, 621 v. Chr)
Und wenn jemand nicht aus Vorsatz (ek pronoias) jemanden tötet, dann soll er verbannt sein.
Lex XII tab. 8,24a
SI TELVM MANV FVGIT MAGIS QVAM IECIT, ARIETEM SVBICITO.
Wenn ein Wurfgeschoß mehr aus der Hand entgleitet als dass er es geworfen hat, dann soll er
einen Widder leisten.
2. Zwölftafelgesetz – Lex duodecim tabularum
D. 1,2,2 (Pomp. sing. enchir.)
Als dann die Könige vertrieben worden waren …, verloren alle diese (Königs-)Gesetze ihre Geltung,
und abermals begann das römische Volk mehr nach ungewissem Recht und irgendwelchen
Gewohnheiten zu leben als nach gesetztem Recht. Das nahm es fast zwanzig Jahre lang hin.
Damit dies nicht länger andauerte, wurde später beschlossen, zehn Männer mit einer vom Volk
verliehenen Amtsgewalt zu bestimmen, die von den griechischen Städten Gesetze erbitten und das
Gemeinwesen auf Gesetze gründen sollten. Sie schrieben die Gesetze auf elfenbeinerne (eherne?)
Tafeln und stellten sie vor der Rednerbühne auf, damit sie ganz leicht zur Kenntnis genommen
werden konnten.
Auch hatte man den zehn Männern in diesem Jahr die höchste Rechtsmacht im Gemeinwesen verliehen, damit sie die Gesetze, wenn nötig, verbessern wie auch auslegen konnten und damit gegen
sie, anders als bei den übrigen Magistraten die Anrufung der Volksversammlung nicht möglich
war. Sie bemerkten aber selbst, dass manches in jenen ersten Gesetzen fehlte, und daher fügten
sie im folgenden Jahr diesen Tafeln zwei weitere hinzu. Deshalb sprach man nach dieser Ergänzung
vom "Zwölftafelgesetz".
Bei dieser Gesetzgebung war, wie manche berichten, ein gewisser Hermodorus, ein in Italien im
Exil lebender Mann aus Ephesus, Ratgeber der zehn Männer.
Liv. 3,31,8 (über das Jahr 454 v. Chr.)
Da man sich wegen der Gesetze verständigte, und nur wegen des Gesetzgebers die Meinungen
auseinandergingen, wurde eine Kommission nach Athen geschickt, die aus Sp. Postumius Albinus,
A. Manlius und P. Sulpicius Camerinus bestand.
Und ihnen wurde aufgetragen, die berühmten Gesetze Solons abzuschreiben und sich über die
Verfassungen der anderen Staaten Griechenlands, ihre Sitten und die bei ihnen bestehenden
Rechte zu informieren.
D. 47,22,4 (Gai. 4 leg. XII tab.)
Sodales sind diejenigen, die zum selben Kollegium gehören. Die Griechen nennen das Hetairie.
Diesen ermöglicht das (Zwölftafel-)Gesetz, sich nach Belieben eine Satzung zu geben, solange sie
nicht gegen etwas aus dem öffentlichen Gesetz verstoßen. Diese Vorschrift scheint aber aus dem
Gesetz des Solon übertragen zu sein, wo es heißt:
(griech.) ‚Wenn der Demos oder die Mitglieder der Phratrien oder die Priester der heiligen
Speisungen (?) oder die Mitglieder der Tisch-, Grabes- oder Kultgemeinschaft oder die auf
Beutezug oder Handelsreise gehen, irgendetwas untereinander festsetzen, soll das wirksam sein,
wenn nicht die öffentlichen Gesetze entgegenstehen.‘
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Cic. leg. 2,59
Es gibt noch weitere Vorschriften in den Zwölf (Tafeln) über die Beschränkung des Aufwands und
der Totenklage bei Bestattungen, die in etwa aus den Gesetzen Solons übernommen sind. (...)
Nachdem also der Aufwand auf drei Tücher, eine kleine purpurfarbene Tunika und zehn
Flötenspieler beschränkt worden war, beseitigte das Gesetz auch die Totenklage:
'DIE FRAUEN SOLLEN SICH DIE WANGEN NICHT ZERKRATZEN UND EBENSOWENIG SOLLEN
SIE DEN BESTATTUNGS-LESSUS HABEN.'
... Lucius Aelius (vermutete), lessus sei ein Klagegeheul, wie das Wort selbst andeutet. Das halte
ich umso mehr für richtig, weil das Gesetz Solons eben dieses verbietet.
SIG, Nr. 1218 (Bestattungsgesetz aus Ioulis auf Keos [Ägäische Inseln; 5. Jhd. v. Chr.])
Dies (sind die) Gesetze über die Verstorbenen. [Gemäß] Folgendem soll man den Toten bestatten.
In dr[e]i weißen Gewändern, nämlich einem Unterbett, einem Laken [und] einer Decke, aber es soll
auch gestattet sein, in weniger (Gewändern); die drei Hüllen sollen insgesamt [nicht] mehr wert
sein als 100 Drachmen. ... Man soll den verhüllten Toten schweigend [bis zum] Grab [tragen]. --Bußen für Diebstahl
Gell. 11,18,3
Er [= Solon] setzte in seinem Gesetz fest, dass Diebstahl nicht wie vorher bei Drakon mit dem Tode,
sondern mit der doppelten Buße zu ahnden sei.
Gai. 3,189 f.
Die Buße für handhaften Diebstahl war nach dem Zwölftafelgesetz eine Bestrafung an Leib und
Leben. Denn ein Freier wurde ausgepeitscht und demjenigen, den er bestohlen hatte, zugesprochen. ... Gegen einen Sklaven wurde gleichermaßen auf Auspeitschung erkannt.
Aber später wurde die Härte der Strafe missbilligt, und sowohl im Falle des Sklaven als auch in
dem des Freien wurde durch das Edikt des Prätors eine Klage auf das Vierfache eingeführt.
190 Die Buße für nicht-handhaften Diebstahl wurde durch das Zwölftafelgesetz auf das Doppelte
festgelegt, und daran hält sich auch der Prätor." f
Macr. 1,4,19
'WENN ER (IN DER) NACHT EINEN DIEBSTAHL BEGANGEN HAT, SO SOLL ER ZU RECHT
GETÖTET SEIN, WENN ER (DER BESTOHLENE) IHN TÖTET.' (SI NOX FVRTVM FAXIT, SI IM
OCCISIT IVRE CAESVS ESTO) ...
Abstandsflächen
D. 10,1,13 (Gai. 4 leg. XII tab.)
Man muss wissen, dass bei der Grenzziehungsklage
jenes zu beachten ist, was in gewisser Weise nach
dem Vorbild des Gesetzes geschrieben wurde, das
in Athen angeblich Solon eingebracht hat: (griech.)
'Wenn jemand eine Einfriedung neben einem
fremden Grundstück baut, soll er die Grenze nicht
überschreiten;
bei einer Mauer soll er einen Fuß Abstand halten;
bei einem Wohngebäude zwei Fuß.
Wenn er er einen Graben oder eine Grube gräbt,
soll er so viel Abstand halten, wie ihre Tiefe beträgt;
wenn einen Brunnen, eine Klafter.
Einen Ölbaum oder einen Feigenbaum soll er neun
Fuß von dem fremden (Grundstück) entfernt
pflanzen;
die anderen Bäume fünf Fuß.'
P. Hal(ensis) 1 Col. IV/V, Z. 79-97 "Alexandrinische Dikaiomata" (nach 259 v. Chr.)
Aus dem Stadtrecht:
Betreffs Anpflanzung, Hausbau und Tiefgrabung.
Wenn jemand eine Einfriedung neben einem
fremden Grundstück baut, soll er die Grenze nicht
überschreiten.
Wenn er ... außerhalb der Stadt baut, so soll er,
wenn es eine Mauer ist, einen Fuß,
wenn ein Wohngebäude, zwei Fuß Abstand halten.
Wenn er aber innerhalb der Stadt baut, ...
Wenn er aber einen Graben oder eine Grube gräbt,
soll er so viel Abstand halten, wie ihre Tiefe beträgt,
und wenn einen Brunnen, eine Klafter,
bei der Anpflanzung eines Ölbaums oder Feigenbaums soll er neun Fuß von dem fremden
(Grundstück) entfernt pflanzen,
bei anderen Bäumen fünf Fuß.
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Talion
Fest. 496 Lindsay
Die Talion wird in den Zwölf (Tafeln) nach Verrius folgendermaßen erwähnt:
WENN ER EIN KÖRPERGLIED AUSGERISSEN HAT, WENN ER NICHT MIT IHM ZU EINEM
AUSGLEICH KOMMT, SOLL TALION SEIN
(SI MEMBRVM RVP<S>IT, NI CVM EO PACIT, TALIO ESTO).
Und das sagt nicht, was es heißen soll - meines Erachtens, weil es bekannt ist: Es erlaubt nämlich
das Gesetz gleichartige Rache."
Dem. 24 (Rede gegen Timokrates), 139-141
[Über die Gesetze von Lokroi Epizephyrioi (griech. Stadt in Süditalien)]
Ich will euch, ihr Herren Richter, darlegen, wie man in Lokroi Gesetze gibt. ... Wenn jemand dort
ein neues Gesetz beantragt, stellt er den Antrag mit einem Strick um den Hals, und wenn das Gesetz
gut und nützlich erscheint, bleibt der Antragsteller am Leben und geht von dannen, wenn aber
nicht, stirbt er durch den Strick.
[140] Und sie wagen es nicht, neue Gesetzesanträge zu stellen, sondern beachten genauestens
das Althergebrachte. In vielen langen Jahre, ihr Herren Richter, soll ein einziges neues Gesetz von
ihnen erlassen worden sein. Es gab nämlich ebendort ein Gesetz, dass, wenn einer ein Auge
ausgeschlagen hatte, er zu erleiden hatte, dass ihm selbst ein Auge ausgeschlagen wurde, und es
gab keinerlei Möglichkeit einer Schätzung in Geld. Es heißt, dass ein Feind seinem Feind, der nur
ein Auge hatte, gedroht hatte, er werde ihm dieses eine Auge ausschlagen. Der Einäugige war von
dieser Drohung sehr verängstigt, und weil er das Leben, sollte ihm solches zustoßen, nicht mehr
für lebenswert hielt, soll er es gewagt haben ein Gesetz einzubringen, dass, wer jemandem, der
nur noch ein Auge hat, dieses ausschlägt, den Verlust beider Augen erleiden muss, auf dass beide
dasselbe Unglück zu ertragen hätten. Und dieses eine Gesetz sollen die Lokrer in mehr als
zweihundert Jahren erlassen haben.
Codex Hammurapi (18. Jh. v. Chr.)
(§ 196) Wenn ein Bürger ein Auge eines Bürgers zerstört, so soll man ihm ein Auge zerstören.
(§ 197) Wenn er einen Knochen eines Bürgers bricht, soll man ihm einen Knochen brechen.
(§ 198) Wenn er ein Auge eines Palasthörigen zerstört oder einen Knochen eines Palasthörigen bricht, soll
er eine Mine Silber zahlen.
(§ 199) Wenn er ein Auge eines Sklaven eines Bürgers zerstört oder einen Knochen eines Sklaven eines
Bürgers bricht, soll er die Hälfte seines Kaufpreises zahlen.
(§ 203) Wenn ein Bürger die Wange eines Bürgers, der ihm gleichsteht, schlägt, so soll er eine Mine Silber
zahlen.
(§ 209) Wenn ein Bürger eine Tochter eines Bürgers/einer Bürgerin schlägt und bei ihr eine Fehlgeburt
verursacht, so soll er zehn Scheqel Silber für ihre Leibesfrucht zahlen.
(§ 210) Wenn diese Frau stirbt, so soll man ihm eine Tochter töten.
(Übers. H.-D. Viel 2002)
Ex. 21,23-27
Ist weiterer Schaden entstanden, dann musst du geben: Leben für Leben, Auge für Auge, Zahn für
Zahn, Hand für Hand, Fuß für Fuß, Brandmal für Brandmal, Wunde für Wunde, Striemen für
Striemen. Wenn einer seinem Sklaven oder seiner Sklavin ein Auge ausschlägt, soll er ihn für das
ausgeschlagene Auge freilassen. Wenn er seinem Sklaven oder seiner Sklavin einen Zahn
ausschlägt, soll er ihn für den ausgeschlagenen Zahn freilassen." (Einheitsübers.)
Jos. Ant. 4,8,35
Wer jemanden verstümmelt, soll Gleiches erleiden, indem er (des Körpergliedes) beraubt wird,
dessen er den anderen beraubt hat, es sei denn, der Verstümmelte will Geld nehmen. Das Gesetz
ermächtigt den Verletzten selbst, den Schmerz, der über ihn gekommen ist, (in Geld) zu schätzen,
und erlaubt es, solange er nicht allzu hart sein will."
Mt 5,38-42
[Und (Jesus) lehrte sie, indem er sagte:]
'Ihr habt gehört, dass gesagt wurde: Auge für Auge und Zahn für Zahn.
Ich aber sage euch: Stellt euch dem Bösen nicht entgegen!
Sondern wenn dich jemand auf deine rechte Wange schlägt, dann wende ihm auch die andere zu.
...‘