DAS WORT ZUM SABBAT am 5. Februar 2016 Von Rabbiner Avraham Radbil, Osnabrück Im heutigen Wochenabschnitt Mischpatim werden die meisten zwischenmenschlichen Gesetze der Thora aufgezählt. Wenn man die Thora irgendwie anders nennen wollte, würde einem bestimmt zuerst das Wort »Gesetzbuch« einfallen. Denn zum größten Teil besteht die Thora aus Geboten und Verboten. Wie jedes andere Volk besitzen also auch wir ein Gesetzbuch – wie die Deutschen das Grundgesetz, die Amerikaner ihre Bill of Rights, die Russen die Konstituziya. Wir haben die Thora. Doch gibt es einen gravierenden Unterschied zwischen den anderen Gesetzbüchern und der Thora. In allen anderen Verfassungen wird der Wert besonders auf die Rechte des Menschen gelegt. Zum Beispiel auf seine unantastbare Würde oder das Recht auf eine freie Meinungsäußerung. Die Thora hingegen konzentriert sich hauptsächlich auf die Pflichten des Menschen, zum Beispiel den Schabbat zu ehren oder den Nächsten zu lieben, »wie dich selbst«. Eigentlich könnte die Thora viele Gebote auch ganz anders formulieren. Wenn sie zum Beispiel einem Herren gebietet, seinen Sklaven gut zu behandeln. Es heißt dort unter anderem, dass er seinem Sklaven das Kissen überlassen soll, wenn nur eines im Haus ist, und stattdessen ohne schlafen soll. Einem Sklaven wird hingegen geboten, sich in seiner Arbeitszeit voll und ganz der Tätigkeit seines Herren zu widmen und keine einzige Minute für eigene Zwecke zu verwenden. Doch warum heißt es dort nicht: »Der Sklave hat das Recht, von seinem Herrn gut behandelt zu werden und sogar das Recht auf das letzte Kissen« oder »jeder, der einen Sklaven besitzt, hat Anspruch auf die gesamte Zeit und Kraft seines Sklaven. Falls der diese Zeit für eigene Zwecke nutzt, hat sein Herr ein Recht auf Entschädigung«. Klingt doch viel besser! Warum muss die Thora unbedingt alles in Form einer Pflicht formulieren? Die Antwort auf diese Frage gibt uns Rabbiner Eliyahu Eliezer Dessler. Er lebte in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Rabbiner Dessler sagte, dass man Rechte als Nehmen und Pflichten als Geben bezeichnen kann. Ein Beispiel macht deutlich, was er damit meint: Wenn ich ein Recht auf einen Parkplatz habe, haben alle anderen Menschen um mich herum die Pflicht, mir diesen freizuhalten. Das heißt, ich nehme mir das Recht, wobei die anderen mir dieses Recht geben, indem sie ihre Pflicht erfüllen. Also sind diejenigen, die sich auf ihre Rechte konzentrieren, die Nehmer. Und die, die sich auf ihre Pflichten konzentrieren, sind die Geber. Da uns die Thora von klein auf als Geber erziehen möchte, schreibt sie alles in der Form einer Verpflichtung. Aber wieso müssen wir unbedingt als Geber erzogen werden? Kommen wir zum Beispiel des Sklaven und seines Herrn zurück. Wie stellen sie sich ihre Beziehung vor, wenn jeder der beiden sich nur auf seine Pflichten konzentriert? Der Sklave arbeitet fleißig, und der Herr versorgt ihn mit allem, was er zur Verfügung hat. Solange es dabei bleibt, werden beide immer glücklich sein und in Frieden miteinander leben. Doch angenommen, der Sklave beginnt, nur auf seine Rechte zu achten und seinem Herrn bei jeder Kleinigkeit Vorwürfe zu machen: Dann wird auch der immer mehr Fehler in der Arbeit des Sklaven finden. So kann die Beziehung nicht funktionieren. Genauso ist es auch mit jeder anderen Beziehung, also in Freundschaften oder der Ehe. Solange jeder auf seine Pflichten schaut und versucht, dem anderen entgegen zu kommen, funktioniert es. Doch sobald eine der Parteien beginnt, nur zu nehmen, geht die Beziehung in die Brüche. Und das ist es, was die Thora erreichen möchte: uns zu beziehungsfähigen Menschen zu erziehen, zu Gebern.
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