Gott greifbar machen, ein urmenschlicher Wunsch

Gott greifbar machen, ein urmenschlicher Wunsch
Christian Hagen
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Gott greifbar machen, ein urmenschlicher Wunsch
Christian Hagen
Liebe Gemeinde,
manch einer sagt, er wolle das Alte Testament nicht lesen. Es sei ihm zu blutrünstig, zu
kriegerisch, zu archaisch; das Gottesbild darin sei mindestens fragwürdig. Manch einer meint
vielleicht sogar, das Alte Testament sei durch Jesus überholt und unnötig geworden. Ich
stelle diesen beiden Aussagen ein klares NEIN! entgegen. Das Alte Testament ist nicht
überholt. Wir können es nicht verwerfen. Es ist Teil der Offenbarung Gottes. Ohne das Alte
Testament verstehen wir rein gar nichts, weder von Christus noch von der Welt noch von
uns selbst als Menschen.
Ich möchte deshalb Mut machen, das Alte Testament zu lesen und die Geschichten, die
erzählt werden, auf sich wirken zu lassen – es mag uns manchmal blutig erscheinen, aber
nur, weil es so schonungslos ehrlich ist. Es mag hin und wieder brutal wirken – aber nur, weil
es den Menschen durch und durch kennt; bis ins tiefste Mark seiner Seele. Diese Predigt hier
soll Euch allen ein bisschen Appetit machen auf die Schriften, über die wir leider viel zu
selten predigen.
Schauen wir uns die Geschichte Ex 32, 1-24 an und lassen wir uns in sie hinein führen. Gott
hatte zuvor die Hebräer („Ibrim“ bedeutet so viel wie Sklave) aus Ägypten befreit und mit
Seinem Volk den ewigen Bund geschlossen, hatte ein paar Anordnungen gegeben und nun
Mose zu sich auf den Berg eingeladen. Moses bleibt ein Weilchen bei Gott und das Volk wird
unruhig. Was ist, wenn unser Anführer nicht zurückkehrt? Wer gibt uns Sicherheit? Woran
können wir uns festhalten? – Fragen, die auch wir uns manchmal stellen.
Und dann, heureka, kommt dem Volk die grosse Idee. „Kommt, wir giessen uns Gott.“ In
vielen Übersetzungen heisst es, sie wollten sich Götter machen - plural. Das ist nicht richtig.
Sie wollten sich einen Gott machen – singular1. Dabei hatten sie nicht vor, sich einen
Gegengott zu schaffen, einen Götzen. Nein, sie verlangten nach einem Abbild des
wahrhaften und lebendigen Gottes. Sie waren unsicher geworden. Sie wollten an diesem
Gott, der sie befreit hatte, festhalten. Aber Gottes Zusagen allein genügten ihnen nicht. Sie
brauchten einen Gott wie die anderen Völker; einen Gott, den man anfassen und betasten
kann. Das war ihr Abfall! Nicht, dass sie sich von Gott abgewendet hätten, sondern dass sie
versuchten, ihn in ein Objekt einzusperren, ihn an ein Ding zu binden und an einen Ort. Gott
war ihnen einfach zu weit entfernt, zu unfassbar, nicht greifbar genug. Sie wollten sich Gott
vor den Karren spannen können. Machen wir das nicht auch ganz oft?
Dass das Volk an Gott festhalten und nicht von ihm abrücken wollte, zeigt übrigens auch die
Opferfeier, die veranstaltet wurde. In Vers 5 sehen wir, dass Aaron das Kalb baut und dann
sagt: „Morgen ist ein Fest für den HERRN!“ Alle Opfer werden für den HERRN gebracht –
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der Ausdrück „Elohim“ ist auch ein Synonym für den EINEN Gott.
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Brandopfer und Heilsopfer. Nur war ihr Gott jetzt vermeintlich in diesem Gussbild verewigt.
Etwas, das man betasten und angreifen kann. Etwas, das man mit sich führen kann durch die
Ödnis der Lebenswanderung.
Faszinierend finde ich, wie opferbereit diese Menschen waren. Um sich Gott in Gussform
anzufertigen, rissen sie sich ihren Schmuck von den Ohren und warfen ihn in den
Schmelzofen. Welchem Gott opfern wir unser Hab und Gut?
Sehr schwierig zu übersetzen ist der siebte Vers. Geradezu eingeschnappt klingt es da, wenn
Gott zu Mose in Vers 7 wörtlich sagt: „das Volk, dass DU aus Ägypten heraufgeführt hast,
hat´s verdorben!“ So ähnlich höre ich manche Paare miteinander reden. „Du hast mir alles
verdorben. Jetzt hab ich keine Lust mehr.“ Normalerweise sagt Gott übrigens, dass die
Hebräer das Volk sind, das Er aus Ägypten geholt hat. In diesem Zusammenhang aber (und
auch später noch) sagt Er zu Moses: „Geh, steig hinab, denn das Volk, das du aus Ägypten
heraufgeführt hast, hat´s verdorben.“ So ähnlich geht es mir als Elternteil manchmal auch.
Wenn ein Kind brav und artig ist, dann ist es auch mein Kind oder zumindest unser Kind.
Wenn ein Kind aber einen „Seich“ macht, ist es ganz schnell nur noch „Dein Kind“. Dann sagt
Mann schon schnell mal zu seiner Frau: „Hast Du gesehen, was Dein Kind schon wieder
gemacht hat? Usw.“
Dieses Volk ist halsstarrig, sagt Gott; wörtlich: „es ist hart von Nacken!“ V9 Wer einen steifen
Hals hat oder einen harten Nacken, der kann weder nach links noch nach rechts schauen.
Der schaut einfach immer geradeaus in die Richtung, in die er immer schon geschaut hat. Er
hat quasi Scheuklappen vor den Augen oder einen Tunnelblick. Was aber heisst das in
diesem Zusammenhang? Ich glaube, im Buch des Habakuk haben wir eine Antwort auf diese
Frage. Da steht in Hab 2, 3-4:
Die Weissagung wird ja noch erfüllt werden zu seiner Zeit und endlich frei an den Tag kommen und
nicht ausbleiben… Siehe, wer halsstarrig ist, der wird keine Ruhe in seinem Herzen haben; der
Gerechte aber wird seines Glaubens leben.
Der Halsstarrige hat keine Ruhe im Herzen, weil es ihm an Vertrauen mangelt. Für unsere
Bibelstelle heisst das: Das Volk wollte einen sichtbaren Gott haben. Es war nicht bereit, auf
die Zusagen allein zu vertrauen, sondern wollte etwas haben, auf das es sich fixieren konnte.
Der Gerechte aber, der aus Glauben lebt, der ist nicht halsstarrig, nicht so verkrampft. Er ist
lockerer. Für mich hat es ja schon fast etwas Psychosomatisches an sich, so eine
Nackenstarre.
Über die Verhandlungen Mose mit Gott möchte ich hier nicht sprechen. Darüber habt Ihr
bestimmt schon genug Predigten gehört. Ich möchte lieber noch auf die zwei Personen Mose
und Aaron eingehen und diese beiden etwas beleuchten.
Zuerst Mose: Man muss sich das vorstellen. Da hat Gott ihm voller Wut gesagt, dass das Volk
richtig Mist gebaut hat und Gott jetzt Schluss macht. Moses aber besänftigt den Zorn Gottes.
Das Wörtchen für Zorn im Hebräischen („aph“) übrigens ist das gleiche Wort, das man für die
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Nase oder das Schnauben verwendet. Der körperliche Ausdruck für Zorn ist also das
Schnauben. Und wenn Gott zürnt, meint das Alte Testament, sei das wie das wilde
Schnauben eines gefährlichen Wesens – vergleichbar vielleicht noch am Ehesten mit einem
Stier.
Wie auch immer. Mose besänftigt den schnaubenden Gott. Er macht das sehr geschickt und
eloquent. Aber als er selbst den Berg runter läuft und sieht, was da unten passiert - da dreht
er selber durch. Da schnaubt er selber vor Wut wie ein wilder Stier! Die zwei Tafeln des
Zeugnisses, auf die Gott selbst geschrieben hat, die einzigen beiden Tafeln, für die das gilt,
zertrümmert er in einem Anfall. Da hat Mose von Gott diese unbezahlbaren Tafeln
bekommen, die wertvollsten Gegenstände der Welt – und er haut sie einfach kaputt. Und
dann klebt er sie nicht zusammen oder versucht sie zu retten. Nein, nix da. Stattdessen
zermalmt er das goldene Kalb, mischt das Pulver ins Wasser und lässt das Volk diese Brühe
schlucken. Als würde er damit zeigen wollen: „Euer Gottesbild ist aus Euch
herausgekommen, aus Euren Gedanken und Ideen. Und dahin soll es zurückkehren, indem
ihr es ausschlürft.“ Die Suppe, die ihr euch eingebrockt habt, trinkt ihr jetzt aus.
Und was macht Aaron? Aaron, von Gott erwählt zum Sprachrohr des Moses. Aaron, der
erste Hohepriester. Aaron, der später den ersten und schönsten aller Segenssprüche
aussprechen darf: „Der Herr segne und behüte dich. Der Herr lasse Sein Angesicht leuchten
über dir und sei dir gnädig. Der Herr erhebe Sein Angesicht auf dich und schenke dir
Frieden.“ Aaron, von dem sich alle Hohepriester her ableiteten. Dieser Aaron plant, entwirft
und giesst das Kalb. Natürlich unter dem Druck des Volkes, aber trotzdem. Es heisst da, dass
sich das Volk über ihm versammelte. Man kann sich das vielleicht so vorstellen, dass Aaron
im Staub sitzt und sich das Volk um ihn schart und ihn von oben herab umgibt und bedrängt.
Am Ende sagt Aaron dann zu Mose: Du kennst doch dieses Volk. Das heisst quasi: Was hätte
ich denn anderes tun können?
Und Gott hält dennoch an ihm fest? Wenn schon diese Glaubenshelden, die bis heute
verehrt werden, solchen Mist gebaut haben und Gott sie dennoch weiterhin gebrauchen
konnte – wie könnten wir dann daran zweifeln, dass Gott auch uns gebrauchen kann.
Ich hoffe, Du konntest Dich in dieser Predigt wiederfinden und die Tiefe und Schönheit der
alttestamentlichen Gedanken und Wendungen ein wenig erspüren. Lies doch den Text
nochmal zu Hause und stelle Dir die Frage: Welchen der Charaktere kann ich am besten
nachempfinden? Wer liegt mir am Nächsten? Bin ich eher wie Aaron und knicke unter Druck
leicht ein? Oder bin ich wie das Volk und mir mangelt es an Vertrauen? Halte ich mich lieber
an irdischen Dingen fest oder an göttlichen Verheissungen? Oder bin ich etwa wie Mose?
Zerbreche ich voller Zorn und Wut auch manchmal ein göttliches Geschenk?
In Herisau steht an vielen Hauswänden geschrieben: „Lies die Bibel!“
Ich würde das jedem von Euch auch empfehlen. Lies die Bibel! AMEN
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Ex 32, 1-22 in Auszügen
Übersetzung von Christian Hagen
 1 Das Volk aber sah, dass Mose lange nicht vom Berg herabkam. Da sammelte sich
das Volk über Aaron, und sie sprachen zu ihm: Auf, mache uns Gott, der vor uns
herzieht. Denn dieser Mose, der Mann, der uns aus dem Land Ägypten heraufgeführt
hat – wir wissen nicht, was mit ihm geschehen ist.
 2 Da sprach Aaron zu ihnen: Zerrt die goldenen Ringe ab, die in den Ohren eurer
Frauen, eurer Söhne und eurer Töchter sind, und kommt damit zu mir.
 3 Alles Volk, sie zerrten die goldnen Weihringe ab, die in ihren Ohren waren, und
kamen damit zu Aaron.
 4 Und er nahm sie aus ihrer Hand, bearbeitete sie mit dem Meissel und machte daraus
ein gegossenes Kalb. Da sprachen sie: Das ist dein Gott, Israel, der dich aus dem Land
Ägypten geführt hat.
 5 Und Aaron sah es und baute davor einen Schlachtstätte (Altar). Und Aaron rief und
sprach: Morgen ist ein Fest für den HERRN!
 6 Und früh am andern Morgen opferten sie Brandopfer und brachten Heilsopfer dar,
und das Volk setzte sich, um zu essen und zu trinken. Dann standen sie auf, um zu
feiern.
 7 Da redete der HERR zu Mose: Geh, hinab! Denn dein Volk, das du aus dem Land
Ägypten heraufgeführt hast, hat´s verdorben.
 8 Schnell sind sie abgewichen von dem Weg, den ich ihnen gebot, ein Gusskalb haben
sie sich gemacht, haben sich vor ihm verneigt, haben ihm geschlachtet und haben
gesprochen: Das ist dein Gott, Israel, der dich heraufholte aus dem Land Ägypten.
 9 Dann sprach der HERR zu Mose: Ich sehe dieses Volk, ja, ein Volk hart von Nacken
ist es.
 10 Nun, so lass mich, dass mein Zorn auf sie entflamme und ich sie vernichte – dich
aber mache ich zu einem grossen Stamm!
 11 Mose besänftigte das Antlitz des HERRN, seines Gottes …
 19 Und wie er sich dem Lager näherte, sah er das Kalb und die Tänze, da entflammte
der Zorn des Mose, er warf aus seinen Händen die Tafeln und zerschmetterte sie unten
am Berg.
 20 Er nahm das Kalb, das sie gemacht hatten, verbrannte es im Feuer, zermalmte es,
bis dass es stob, streute es aufs Wasser und gabs den Kindern Israels zu schlucken.
 21 Und Mose sprach zu Aaron: Was hat dir dieses Volk getan, dass du so grosse
Versündigung über es hast kommen lassen!
 22 Aaron sprach: Der Zorn meines Herrn möge nicht entbrennen. Du selber kennst das
Volk, wie es im Argen ist…
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