10 | MM48, 23.11.2015 | MENSCHEN Umfrage Haben Sie nach den Anschlägen Angst? Christine Buchecker (52), Hausfrau, Luzern: «Genau das ist ja das Ziel der Terroristen: dass wir Angst haben. Deshalb muss man jetzt seine Ängste bekämpfen. Sonst spielt man den Terroristen in die Hände.» Der Eiffelturm als Friedenszeichen: Weltweit verleihen Menschen ihrem Mitgefühl Ausdruck. Terror in Paris Josef Zholi (24), Bauspengler, Luzern: «Angst habe ich nicht. Ich finde aber, dass man bei der Zuwanderung aufmerksam sein muss, wer da alles zu uns kommt. Hier braucht es eine bessere Überwachung.» Wie man jetzt die Hoffnung nicht verliert Eine Gesellschaft, die sich einpanzert, wird schwerfällig, sagt der Soziologe Ueli Mäder und rät zu mehr Besonnenheit. Text: Peter Aeschlimann Fabienne Weidmann (22), Studentin, Weisslingen ZH: «Ich vertraue den Behörden. Zudem wäre Angst die falsche Reaktion. Wenn wir unsere Freiheit einschränken, lassen wir die Terroristen gewinnen.» MENSCHEN | MM48, 23.11.2015 | 11 Was die Angst mit uns macht «Die soziale Brisanz dürfte sich eher verschärfen» Ueli Mäder, Fussballspiele werden abgesagt, Basel will die Sicherheits kontrollen bei Konzerten verstär ken. Ein Sieg für die Terroristen? Wenn das unsere Antwort auf die Anschläge in Paris ist, verlieren wir alle. Ein paar Beamte mehr an der Grenze führt im besten Fall zu einer kurzfristigen Selbstberuhigung. Wirksame Schritte sind das nicht. Im Gegenteil: Es besteht die Gefahr, dass die Gesellschaft durch diese Aufrüstung militanter wird und noch mehr Aggressionen geschürt werden. Eine Beruhigungspille, deren Wir kung sich ins Gegenteil verkehrt? Das ist ein bekanntes Muster: Man stellt mehr Detektive an, um Sozialhilfebezüger zu kontrollieren, obwohl das hauptsächlich zu einer Verteuerung des Systems führt. Weshalb tun wir diese Dinge, obwohl sie kontraproduktiv sind? So funktionieren einige Politiker: Populäre Massnahmen erhöhen die Chancen, wiedergewählt zu werden. Bild: Salvatore Di Nolfi/Keystone Die Menschen sind verunsichert, manche haben Angst. Wie ver ändert das unsere Gesellschaft? Eine gewisse Verunsicherung muss nicht per se schlecht sein. Wer sich eingesteht, dass er Angst hat, macht den ersten Schritt: Er setzt sich mit der Situation auseinander und lässt Gefühle zu. Wer sofort den Gockel stellt, um den Anschein zu erwecken, dass jetzt etwas unternommen wird, schiesst am Ziel vorbei. Wie wirkt die Angst auf die Psyche? Entweder ich ziehe mich zurück und nehme eine Abwehrhaltung ein. Oder ich trete die Flucht nach vorn an. Beides ist nicht produktiv. Eine Gesellschaft, die sich einpanzert, wird schwerfällig. Wer sich einen Köcher mit Giftpfeilen zulegt, um im Notfall sofort losschiessen zu können, wird über kurz oder lang selbst von diesen Pfeilen vergiftet. Wir müssen die Gepflogenheiten aushandeln, wie wir miteinander auskommen wollen. Sind die Ängste denn gerechtfer tigt? Schliesslich ist die Gefahr viel grösser, im Verkehr zu verunfallen. Die Ängste sind gut nachvollziehbar. Mit dem TGV sind wir von Basel aus in drei Stunden in Paris. Der Angriff ist sozusagen vor unserer Haustür erfolgt. Dennoch dürfen wir den Blick fürs Ganze nicht verlieren. In Syrien leiden täglich Tausende Unbeteiligter an den Folgen des Krieges. Das muss auch den Westen betreffen, der in erheblichem Masse dazu beiträgt, dass sich die Lebenssituation der Men schen in Krisenregionen verschlech tert. Wir müssen uns fragen, was wir unternehmen können für eine gerechtere Ressourcenverteilung. Welche Politik braucht es, welchen Umgang mit der Migration? Mit den Flüchtlingen importiere man die Gewalt, behaupten jetzt manche Politiker. Ist die Verunsicherung gross, ver leitet das zum Gebrauch einfacher Bilder. Dass man pauschalisiert und reflexartig Ruhe und Ordnung postu liert, als ob das hilfreich wäre. Es gibt keine Alternative: Wir müssen diffe renzieren. Leider werden Politiker, die weniger auf den Putz hauen, sogar als Schwächlinge diffamiert. Wie behalten wir in dieser Situation eine Willkommenskultur? «Its getting better all the time», haben die Beatles gesungen, und ich möchte dem zustimmen. Ich habe aber auch den Eindruck, dass sich die soziale Brisanz in den nächsten Jahren eher verschärfen dürfte. Was mich positiv stimmt: Menschen sind lernfähig. Wenn wir auf die Welt kommen, realisieren wir, dass andere schon da sind. Das kann fast eine narzisstische Verletzung sein, verleiht uns aber auch eine soziale Orientierung. Brigitte Muggler (55), Bibliothekarin, Effretikon ZH: «Ich habe keine Angst. Ich vertraue und glaube an Gott. Alles liegt in seiner Hand. Was immer passiert: Wir sollten uns die Freiheit nicht nehmen lassen.» Ueli Mäder (64) ist Professor für Soziologie an der Universität Basel. Er beschäftigt sich unter anderem mit Fragen der Konfliktforschung. Zeno Fischer (73), pensionierter Staatsangestellter, Luzern: «Zum Glück ist der Fanatismus noch nicht bei uns angekommen. Ich wünsche mir, dass die Jungen genauso frei aufwachsen können, wie ich das konnte.» Radenka Milovanovic (30), Kindergärtnerin, Weinfelden TG: «Ich wür- de derzeit sogar nach Ägypten reisen. Auch Autofahren ist gefährlich. Überall auf der Welt kann einem etwas passieren. Aber das Risiko ist gering.» 12 | MM48, 23.11.2015 | MENSCHEN Damit die Terroristen ihre Ziele nicht erreichen, müssen wir unser gewohntes Leben einfach weiterführen. Einverstanden? Es hilft auf jeden Fall, wenn wir ge lassen bleiben und eine verstehende Haltung einnehmen. Weshalb han delt jemand so und nicht anders? Diese Bereitschaft, etwas verstehen zu wollen, gehört für mich zu einer offenen Gesellschaft. Haben Sie nach den Anschlägen in Paris Angst? Migrosmagazin.ch Umfrage Letzte Woche fragten wir: Für wie gut halten Sie die Englischkenntnisse der Schweizer? 49 % Geht so. Wir müssen noch viel daran arbeiten. 28 % Mittelmässig. Aber das genügt. 15 % Peinlich. Wenige könnten sich im Alltag durchschlagen. 8 % Sehr gut, ich sehe keinen Handlungsbedarf. Inwiefern können wir dabei aus der Geschichte lernen? Im Kalten Krieg fürchtete man sich vor der Atombombe. Es ist keines wegs selbstverständlich, dass diese Eskalation ausblieb. Es gab Momen te, da schrammte die Welt haar scharf an einer Katastrophe vorbei. Nur weil einzelne Entscheidungs träger besonnen reagiert haben, blieb uns das Schlimmste erspart. Eine Besonnenheit, die man dieser Tage bei Politikern vermisst. Das ist für mich in der Tat schwer nachvollziehbar. Frankreich hat als Kolonialmacht vor gar nicht so langer Zeit schlimmste Verbrechen in Nordafrika begangen. Was nach der Intervention der USA im Irak passierte, ist ebenfalls bekannt. Wer jetzt Kriegsrhetorik bemüht, unter liegt einem Selbstbetrug. Es scheint, Verstärkter Polizeischutz: Bewaffnete Beamte markieren Präsenz vor einem TGV im Zürcher Hauptbahnhof. als ob viele Mächtige nicht aus der Geschichte lernen wollten. Was nützt es zu sagen: «Jetzt erst recht!» Damit setzt man primär ein Zeichen: Wir lassen uns keine Angst machen, singen gemeinsam die «Marseillai se» und klatschen dem Militär zu, das es schon richten wird. Nur wie? Indem man ein paar Terroristen in die Luft sprengt, während anderswo bereits eine neue Zelle entsteht? An der sozialen Situation der Menschen in den Krisengebieten und Vorstäd ten, die Ursache für die Radikalisie rung ist, ändert sich so nichts. Einer Gesellschaft geht es dann gut, wenn es möglichst vielen gut geht. Welche Rolle spielen Solidaritätskundgebungen auf öffentlichen Plätzen oder auf Facebook? Jeder Schritt in die richtige Rich tung, sei er auch noch so klein, ist grundsätzlich positiv. Es zeigt, dass Menschen sich berühren lassen. Ich unterstelle niemandem, der auf Twitter den Hashtag #jesuisparis verwendet, dass er es nicht ernst meint. Aber manchmal wirkt es schon etwas oberflächlich. Viele Leute sind nun bereit, Freiheiten aufzugeben. Wohin führt diese Entwicklung? Das bereitet mir Sorge. Denn es steht viel auf dem Spiel. Wenn plötz lich überall Kameras stehen, verlei tet das unter Umständen dazu, sich nur noch dann sozial zu verhalten, wenn man unter Beobachtung steht – und sich überall sonst gehen lässt. Menschen sollen sich aber nicht nur sozial verhalten, weil ihnen sonst eine Busse droht. Ich habe das noch in der Schule erlebt, wo ich vom Lehrer geprügelt wurde. Es war ein Segen, als es allmählich wenigstens Argumente brauchte, weshalb etwas so und nicht anders war. Heute be steht die Gefahr, dass wir in stark disziplinierende Verhaltensmuster zurückfallen. Der Schutzmechanis mus wird zur Bedrohung. Anzeige Z. B. BASEL Himmlische Weihnachtsmärkte. 50%* GÜNSTIGER <wm>10CAsNsjY0MDQx0TW2MDcxMAQAT3VGYw8AAAA=</wm> Zeit für Vorfreude: Geniessen Sie jetzt die schönsten Märkte der Schweiz und Europas. sbb.ch/advent <wm>10CFXKoQ6AMAxF0S_q0re1W8skmVsQBD9D0Py_YuAQV53be9XAX2vbjrZXMEQoWRFGVY9BBDV6CTnZixpnCxI74Nl_P4mUKTzeh8AEHQAZiQ9EM3fjcJ_XAzerXut2AAAA</wm> * Zugfahrt (50%) nach Basel SBB und zurück, Transfer (50%) zum Barfüsserplatz und zurück, eine Portion Raclette (50%), eine Raclette-Spezialgewürzmischung «Sélection Heinz Margot» (50%), ein Biber à 16 cm in einer Geschenkverpackung (50%). Angebot gültig vom 26. November bis 23. Dezember 2015. MENSCHEN | MM48, 23.11.2015 | 13 Terror in Paris «Wenn wir jetzt unsere Werte mit Bomben und Drohnen verteidigen, treten wir sie mit Füssen» Thomas Hüsken (48) ist Ober assistent am Ethnologischen Seminar der Uni versität Luzern und spezialisiert auf Libyen und Ägypten. Thomas Hüsken, im September sagten Sie in einem Interview mit dem Migros-Magazin, den Kampf der Kulturen gebe es nicht. Sind Sie immer noch dieser Meinung? Unbedingt. Wir dürfen uns keine falschen Rückschlüsse erlauben. Der IS steht nicht für alle Muslime dieser Welt. Er propagiert eine extremis tische Lesart des Islam. Der Kampf der Zivilisationen ist eine Freund FeindMetapher, die empirisch falsch ist. Sie kanalisiert Angst und verwandelt diese in Vorurteile. Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie von den Anschlägen erfuhren? Zunächst war ich schockiert. Meine ersten Gedanken galten den Opfern und ihren Familien. Mir wurde aber auch sofort klar, dass diese Ereignisse die Debatte beeinflussen werden, wie wir mit den Problemen im Nahen Osten umgehen wollen. Billder: Arnd Wiegmann/Reuters, Samuel Trümpy Frankreichs Präsident François Hollande spricht von einem Krieg. Das ist verheerend. Gerade weil es die Gewaltspirale beschleunigt, in der wir uns befinden. Die Attentäter von Paris waren französische und belgische Staatsbürger, das dürfen wir nicht vergessen. Beide Länder müssen sich die Frage gefallen lassen, weshalb sich ein kleiner Teil ihrer Bürger radikalisieren lässt. Wie lautet Ihre Antwort? Frankreich hat massive gesellschaft liche Probleme, und zwar schon lange. Nicolas Sarkozy, selbst ein Einwande rerkind, hat in den 2000erJahren zu wenig für die Integration getan. Als es in den Vorstädten zu Aufständen kam, interessierte er sich kaum für die Ursachen der Unzufriedenheit. Er schlug vor, die Banlieues mit dem Dampfstrahler zu säubern. Also handelt es sich um eine reine Machtdemonstration? In den Zeitungen heisst es: «Wir schlagen zurück!» Das lässt sich poli tisch gut vermarkten. Letztlich führt es jedoch nur zu einer Eskalation. Frankreich muss zur Kenntnis neh men, dass die Probleme teils haus gemacht sind. In den Banlieues sind dschihadistische Milieus entstanden, die man nicht mehr so leicht los wird. Was schlagen Sie vor? Für Personen, die sich bereits radi kalisiert haben, sehe ich wenig Hoffnung. Da muss der Staat sämt liche Rechtsmittel aufbieten, um die Bevölkerung zu schützen. Die Mehrheit stellen aber Jugendliche mit Migrationshintergrund aus der Unterschicht. Diese Menschen brau chen Arbeit und eine Perspektive. Moritz Durrer (16), im Zwischenjahr, Luzern: «Wir sind kein Ziel dieser Terroristen. Ich wüsste nicht, warum sie die Schweiz angreifen sollten. Ich würde nach wie vor sogar in ein muslimisches Land reisen.» Was treibt die Terroristen an? Ihr Ziel ist primär die Eskalation. Sie wollen destabilisieren und Angst verbreiten. Der IS will einen Keil in unsere Gesellschaften treiben. Gelingt ihm das? Wenn wir uns vereinnahmen lassen, ja. Ein Vorbild könnte Norwegen sein. Nach den Anschlägen von Oslo und Utoya antwortete die Gesellschaft mit noch mehr Offenheit und Toleranz. Wenn wir hingegen unsere Werte mit Bomben und Drohnen verteidigen, treten wir sie mit Füssen. Dass solche Anschläge nichts mit dem Islam zu tun hätten, ist zum Mantra geworden. Es stimmt aber. In der Gleichsetzung der Muslime mit Gewalt steckt eine Form der Entmenschlichung. Das widerspricht den Werten der Auf klärung. Es sind die gesellschaftlichen Bedingungen, die Chancen und Prob leme von Menschen, die die Lesart und Praxis einer Religion bestimmen. Wir dürfen nicht zulassen, dass Extremisten unser Verständnis des Islam bestimmen. Ist es dafür nicht zu spät? Nicht, wenn man endlich ernsthaft Lösungen für eine funktionierende multikulturelle Gesellschaft erar beitet. Ein Ansatz wäre: rein in die Banlieues, Jugendarbeitslosigkeit bekämpfen! MM Eva-Maria Daldrop (35), Architektin, Zürich: «Das Risiko, bei einem Autounfall zu sterben, ist grösser, als Opfer eines Terrorakts zu werden. Schlimm wäre, wenn wir deswegen in einen Krieg verwickelt würden.» Fabian Würsten (32), Bauplaner, Frauenfeld TG: «Angst macht mir höchstens, dass man nun alle Muslime in einen Topf wirft. Und dass jeder, der einen Bart trägt, plötzlich als Terrorist gilt.»
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