Predigt vom 15. November 2015 von Pfarrerin Sibylle Forrer Liebe Gemeinde „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ schreit der Psalmbeter im 22. Psalm, den wir vorhin als ersten Lesungstext hörten. Es ist ein Schrei äusserster Verzweiflung. Ein Schrei in grösster Not. In Todesangst. Solche Schreie waren auch am Freitagabend in Paris zu hören. Schreie von Menschen, die in einem vermeintlich sicheren Land ihren Abend geniessen wollten – auf der Terrasse eines Restaurants, bei einem Fussballspiel, an einem Konzert. Das Grauen kam aus dem Nichts. Plötzlich waren sie da, die jungen Männer mit den Kalaschnikows und eröffneten kaltblütig das Feuer. Wahllos. Ihr einziges Ziel: Möglichst viele Opfer. „Allahu akbar“, also „Gott ist gross“, sollen sie geschrien haben. Mittlerweile wurde mit an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit bestätigt, dass die Attentäter der Terrormiliz „Islamischer Staat“ angehören, einer Gruppe von Extremisten, die alles ausrotten wollen, was nicht ihrem religiösen Fundamentalismus entspricht. Was seit längerem vermutet wurde, ist nun also eingetroffen: Sie sind hier, die Terroristen. Hier in Europa. In unserem Nachbarland. Praktisch vor unserer Haustüre. Wie sie hierhergekommen sind, darüber wird zurzeit wild spekuliert. Vielleicht erst kürzlich mit den gewaltigen Flüchtlingsströmen. Vielleicht lebten sie schon seit Jahren unauffällig als Schläfer in Europa und warteten nur auf einen entsprechenden Befehl. Sicher ist einzig: Sie sind hier. Und sie sind viele. Die mit perverser Perfektion orchestrierte Anschlagswelle am Freitagabend lässt ein riesiges Netzwerk vermuten. Und das macht grosse Angst. Sie sind hier und sie greifen an. Der Anschlag auf die Menschen in Paris ist ein Anschlag auf uns alle. Es ist ein Anschlag auf unsere demokratischen Werte, auf ein Leben in Freiheit, darauf, dass ich glauben und denken darf, was ich will, dass ich meine eigene Meinung haben und diese auch kundtun darf, dass ich so leben kann, wie ich es möchte. Es ist ein Anschlag auf die Sicherheit, in der wir uns wähnen, das Leben, das wir führen, indem wir abends sorgenfrei ausgehen können in ein Restaurant, ein Konzert, an ein Fussballspiel. Dies alles wollen sie uns nehmen, was wir uns in Europa hart erkämpft haben: Freiheit, Demokratie, Sicherheit. Und das macht ungeheuer wütend. Angst und Wut – Gefühle, die uns alle wohl seit Freitagabend immer wieder erschüttert haben. Es sind verständliche und nachvollziehbare Gefühle angesichts des entsetzlichen und feigen Verbrechens, das Paris und ganz Frankreich in den Ausnahmezustand versetzt hat. Schon wenige Stunden nach den Anschlägen bahnten sich diese Angst und Wut in den sozialen Netzwerken ihren Weg. Gewisse Exponenten der politisch Rechten rieben sich – so hatte man das Gefühl – teilweise geradezu die Hände, und sahen die Anschläge als Bestätigung ihrer Forderung, die Grenzen zu schliessen. Wer solches fordert, vergisst, weshalb all diese Menschen flüchten: Weil sie tagtäglich den Terror erleben müssen, den Paris gestern erschüttert hat. Wie diese Woche in Beirut, wo Dschihadisten über 40 Menschen durch Bomben in den Tod gerissen haben. Nur ist dieses Ereignis den westlichen Zeitungen kaum eine Erwähnung wert. Es ist mittlerweile trauriger Alltag im Nahen Osten. Und weit weit weg. Liebe Gemeinde Was am Freitagabend in Paris geschehen ist, ist eine unfassbare Tragödie, die sprachlos und vor allem betroffen und traurig macht. Das Leid der betroffenen Menschen ist unermesslich. Diese Tragödie, die neben Trauer und Ohnmacht auch Angst und Wut hervorruft, fordert Europa, fordert alle Menschen, die in einer Demokratie leben wollen, fordert uns heraus. (Pause) Herausfordernd sind auch die Worte Jesu aus der Bergpredigt, die wir als zweiten Lesungstext hörten. Wobei: Herausfordernd ist wohl untertrieben, sie scheinen angesichts der aktuellen Geschehnisse geradezu als eine Zumutung. „Leistet dem, der Böses tut, keinen Widerstand“, „liebt eure Feinde und die, die euch verfolgen“. Wir alle kennen diese Gebote der Vergebung und Feindesliebe, die wohl tatsächlich von dem historischen Jesus gesprochen wurden. Sie gehören zum festen Repertoire dessen, was man gemeinhin als typisch christlich bezeichnet. So schön und nobel diese Worte in Zeiten des Friedens klingen, so grotesk und fast schon makaber werden sie, wenn sie konkret werden. Den feigen Mördern von Paris vergeben? Ihnen keinen Widerstand leisten? Sie lieben und für sie beten? Das ist unmöglich. Hier überfordert uns Jesus ganz klar. Hier stellt er einen unmenschlichen Anspruch an uns. Diese Forderung Jesu scheint eine unrealistische Utopie. Diese brisanten Worte Jesu haben vom Evangelisten Matthäus einen prominenten Platz innerhalb der kunstvoll komponierten Bergpredigt bekommen. Sie bilden den Abschluss der sogenannten Antithesen, in denen Jesus das jüdische Gesetz auslegt, - und diesen prominenten Platz haben sie nicht zufällig. Denn die Forderung nach bedingungsloser Vergebung und Feindesliebe ist die Quintessenz aller vorangehender Antithesen – ja, mehr noch: Sie ist die Quintessenz all dessen, was Jesus gesagt und getan hat. Für uns wird die Sache dadurch nicht leichter. Im Gegenteil. Hier wird der christliche Glaube ungemütlich. Hier fängt er an, weh zu tun. Hier fordert er uns ultimativ heraus. Jesu Forderung nach Vergebung und Feindesliebe hat nur ein Ziel: Frieden. Ein Zeichen des Friedens geht seit Freitagabend auch durch die Medien und das Internet. Ein bekannter Streetart-Künstler hat das Peace-Zeichen so gestaltet, dass darin der Eiffelturm zu sehen ist. Sie finden dieses Zeichen übrigens auch auf unserer Homepage. Das Zeichen ist die Erinnerung daran, dass nichts kostbarer ist in einer Gesellschaft als Friede. Und es ist ein Aufruf, sich für diesen Frieden einzusetzen – auch dann, wenn man angegriffen worden ist, wenn Angst die Seele umfangen hält, Trauer die Kehle trocken macht und Wut die Gemüter erhitzt. Friede bedeutet immer die Abwesenheit von Gewalt. Das hat Jesus deutlich zur Sprache gebracht, indem er das bis anhin geltende „Auge um Auge“ ausgehebelt hat. Vergeltung ist nie eine Option, einzig Vergebung ist eine. Und die Geschichte lehrt uns: Jesus hatte recht. Gewalt erzeugt immer Gegengewalt, Hass erzeugt Hass. Verstehen Sie mich richtig, ich bin nicht der Meinung, dass man den Terroristen, sei es der „Islamische Staat“ oder andere extremistische Gruppierungen keinen Einhalt gebieten soll. Selbstverständlich soll man mit aller Härte und allen verfügbaren Mitteln gegen diese Verbrecher vorgehen. Es gibt keine Entschuldigung für das, was sie getan haben und tagtäglich tun. Aber ich glaube, es ist an der Zeit, dass wir in Europa, in unserem Abendland, dem wir so gerne ein „christlich“ vorneanstellen, unseren Beitrag dazu leisten, dass in der Welt Frieden wird. Im konkreten Falle von Paris heisst das für mich, dass wir aufhören Feindbilder zu kreieren, sondern mit allen Menschen – überall auf der Welt – die sich für Freiheit und Demokratie einsetzen, zusammenzustehen; seien sie nun Christen, Moslems oder was auch immer. Es bedeutet, dass wir uns bewusst machen, dass jedes Menschenleben denselben Wert hat – ein getöteter Mensch ist immer einer zu viel; ob er nun in Beirut oder in Paris ums Leben kommt. Und dass wir endlich auch konsequent nach dieser Gesinnung handeln. Konkret heisst das, dass wir Menschen in Not weiter mit offenen Armen empfangen. Die Willkommenskultur, die in Teilen von Europa in den letzten Monaten gelebt wurde, ist – davon bin ich überzeugt – der grösste Feind der Dschihadisten. Den von Hass verblendeten Terroristen zu zeigen, dass sie uns zwar treffen, verwunden und in tiefe Trauer und Entsetzen stürzen können, uns jedoch niemals unsere demokratischen Werte, und die damit verbundene Solidarität mit allen Menschen, die unter Gewalt und Unterdrückung leiden müssen, nehmen können, ist der härteste Schlag gegen Extremismus. Liebe Gemeinde Unser aller Mitgefühl geht an die Opfer von Terror in Paris, in Beirut, überall auf der Welt. Ihr Leid und ihr Leiden machen uns sprachlos. Wir erhoffen uns für sie, um was der Beter im Psalm, den wir vorhin hörten, bittet: „Gott sei nicht fern, (…) eile zur Hilfe.“ „Gott ist gross“, sollen die Terroristen gerufen haben. Damit haben sie recht. Gott ist gross. Aber er steht – wie mein reformierter Kollege gestern im Wort zum Sonntag richtig bemerkt hat – nicht auf der Seite der Terroristen, die den Glauben völlig pervertiert haben. Gott steht nie auf der Seite der Gewalt und des Todes. Denn Gott ist weder Gewalt noch Tod. Gott ist Liebe, Vergebung und Leben. Gott ist die Kraft, die selbst das tiefste Dunkel hell werden lässt. So gross ist Gott. Mit den Worten Martin Luther Kings gesprochen, einem Menschen, der sich immer für Gewaltverzicht, Freiheit und Frieden eingesetzt hat: „Komme, was mag. Gott ist mächtig. Wenn unsere Tage verdunkelt sind und unsere Nächte finsterer als tausend Mitternächte, so wollen wir stets daran denken, dass es in der Welt eine große segnende Kraft gibt, die GOTT heißt. GOTT kann Wege aus der Ausweglosigkeit weisen. Er will das dunkle Gestern in ein helles Morgen verwandeln – zuletzt in den leuchtenden Morgen der Ewigkeit.“ Amen
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