Die grössten Verkehrsprobleme bestehen nicht am Gotthard

Die grössten Verkehrsprobleme bestehen nicht am
Gotthard, sondern in den Agglomerationen
Daniel Brélaz, Stadtpräsident Lausanne, Nationalrat
Seit mehr als 20 Jahren räumt der Bundesrat dem Gotthard die erste Priorität ein. Zuerst mit
dem Bau der neuen Eisenbahnlinie und nun mit dem zweiten Strassentunnel. Diese
Vorstellung «Gotthard über alles» war im 13. Jahrhundert verständlich, sie ist es aber heute
nicht mehr. Denn die grossen Verkehrsprobleme bestehen nicht am Gotthard, sondern rund
um die grossen Städte.
Wir müssen die knappen finanziellen Mittel dort investieren, wo sie die grösste Wirkung
erzielen. Und das ist nicht der Gotthard, wo sich an bestimmten Tagen der Freizeitverkehr
staut, sondern das sind die Stadtregionen, wo die Arbeitspendler tagtäglich im Stau stecken.
Dort bilden sich 90% der Staus, beispielsweise zwischen Lausanne und Genf sowie rund um
Yverdon, La Chaux-de Fonds, Basel oder Zürich. Dort bestehen die wirklichen
Verkehrsprobleme, dort muss investiert werden.
Werden am Gotthard 3 bis 4 Milliarden Franken für einen «Pannenstreifen» vergeudet, fehlt
dieses Geld andernorts. Der Gotthard-Tunnel konkurrenziert die Agglomerationsprojekte.
Denn jeder Franken in der Bundeskasse kann nur einmal ausgegeben werden.
Wir in der Westschweiz werden seit Jahren mit Versprechen vertröstet. Tatsache ist, dass
unzählige Projekte in der Westschweiz finanziell in keiner Art und Weise gesichert sind. Der
Gotthard aber hat eine gute Infrastruktur für die 17‘000 Fahrzeuge pro Tag – so viel Verkehr
haben wir täglich auf zahlreichen Quartierstrassen in Lausanne und auf der Autobahn rund
um Lausanne sind es über 100‘000 Fahrzeuge pro Tag! Ähnliche Verhältnisse existieren
auch in der Deutschschweiz, deshalb wenden sich namentlich die Stadtpräsidenten von Bern
und Zürich sowie von Genf gegen die zweite Röhre.
Eine zweite Gotthardröhre, die im besten Fall eine minimale Verflüssigung des
Freizeitverkehrs bringen würde, ist nichts anderes als eine riesige Geldverschwendung. In
den urbanen Regionen dagegen fehlen die Mittel für die Verbesserung und den Unterhalt der
Strasseninfrastruktur. Auch brauchen der öffentliche Verkehr sowie Fahrrad- und
Fussverkehr zusätzliches Geld.
Das Schweizer Volk hat bereits Milliarden für die NEAT am Gotthard gesprochen und so
seine Solidarität mit der italienischen Schweiz eindrücklich unter Beweis gestellt. Mit der
neuen Eisenbahnalpentransversale rückt das Tessin so nahe an die übrige Schweiz wie nie
zuvor. Es ist zu erwarten, dass ein beträchtlicher Teil der Tessiner Autofahrer in Zukunft mit
dem Zug reisen werden, so wie das seit der Eröffnung des Lötschberg-Basistunnels die
Walliser tun.
Und noch etwas: An das Versprechen, vier Spuren zu bauen, und nur zwei zu benutzen, tönt
wie ein Hohn auf unsere Verkehrsprobleme in der Westschweiz. Hier bezahlt uns niemand
einen solchen Pannenstreifen. Und was das Versprechen angeht, so habe ich es einmal so
gesagt: Dieses Versprechen entspricht dem eines Trinkers. Es kann langfristig nicht
eingehalten werden, denn der Druck der Lastwagen- und Autolobby sowie der Europäischen
Union wird riesig sein.
Bern, 12. Januar 2016