#4_2015 BIG DATA Die Digitalisierung rückt die Kunden ins Zentrum SOLVENCY II DAS MAGAZIN DER DEUTSCHEN VERSICHERER Das neue Aufsichtswerk rüttelt die Branche durch Wir werden sieben Jahre älter, als wir glauben. Wie das uns und die Gesellschaft verändert DAS ALTER? KOMMT SPÄTER. DANKE FÜR SIEBEN GESCHENKTE JAHRE Nachrichten ............................................................................ 04 TITEL Das Alter – kommt später: Wir werden durchschnittlich sieben Jahre älter, als wir denken. Wer so viele, meist gesunde Zusatzjahre vor sich hat, darf anders für die Zukunft planen: Zeit für Neues .......................... 08 Neustart: Auftakt zur neuen Serie: Wir stellen fünf Menschen vor, die noch mal durchgestartet sind – um endlich das zu tun, was ihnen wirklich am Herzen liegt ... 10 Mit 66 Jahren: Beine hoch und Fernsehen gucken? Von wegen! Unsere Infografik zeigt, was die Rentner von heute um- und antreibt......................................................................................... 20 Liebe Leserinnen, liebe Leser, Positionen # 4 _ 2 0 1 5 EDITORIAL ERFINDEN in einem Experiment haben US-Forscher ihren Mitbürgern zwei Fragen gestellt: Was schätzen Sie, wie alt Sie werden? Und: Wie alt ist der älteste Mensch, den Sie persönlich kennen? Die zwei genannten Zahlen unterschieden sich enorm, denn der Zugewinn an Lebensdauer in den westlichen Demokratien ist gewaltig. Wir alle werden immer älter. Und das immer schneller – was wir ebenfalls gewaltig unterschätzen. Dies ist einerseits eine frohe Botschaft. Und andererseits ein Thema, das alle Verantwortlichen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft nicht ruhen lassen darf. Wir Versicherer machen das Thema Demografie in den kommenden Monaten zu einem Schwerpunkt unserer Kommunikation mit der Gesellschaft. „Du lebst 7 Jahre länger, als Du denkst“, lautet das Motto unserer Initiative – und des Schwerpunkts dieser Positionen-Ausgabe. Wir sind zuversichtlich, mit vielfältigen Informationsangeboten und Formaten darüber ins Gespräch mit den Menschen im ganzen Land zu kommen. Und wir wollen das nicht mit erhobenem Zeigefinger tun, sondern mit erhellenden Geschichten und Informationen. Sieben Jahre! Das ist ein Geschenk, ist mehr Zeit für Familie, Partner, Reisen und Hobbys, vielleicht auch für Abenteuer oder die Erfüllung bislang unerfüllt gebliebener Lebensträume. Aber wissen Sie, was 7 Jahre Schuhe kosten, 7 Jahre drei Mal die Woche Espresso bei Ihrem Lieblingsitaliener? Oder auch 7 Jahre regelmäßiger Theaterbesuch? Auch dazu sollen Sie auf der Webseite 7-Jahre-länger.de eine Antwort bekommen. So schön die sieben Jahre auch sein mögen, das Ganze muss bezahlt werden. Hier kommt unser Angebot der lebenslangen Privatrente ins Spiel, das wir in diesem Zusammenhang nicht vergessen werden. Aber das ist, wenn Sie so wollen, eine etwas andere Geschichte. Und die erzählen wir ein anderes Mal. ALEXANDER ERDLAND Präsident des GDV Big Data: Die Chancen der digitalen Welt werden auf dem Versicherungstag 2015 am 25. November in Berlin ausgelotet. Wir zeigen, wie die Assekuranz diese Chancen nutzen kann .................................................... 22 Der Kunde rückt ins Zentrum: Big Data wird die Versicherungsbranche revolutionieren, sagt Martina Koederitz, Geschäftsführerin von IBM Deutschland. Das Interview ........... 26 Pro & Contra: Wie sinnvoll ist es überhaupt, Versicherungen per App abzuschließen? ...................................................................... ........................................... 31 »BIG DATA BEDEUTET EDEUTET CHERUNGSFÜR DIE VERSICHERUNGSBRANCHE MEHR ALS N – DAS WIRD EINE EVOLUTION LUTION.« EINE REVOLUTION.« MARTINA KOEDERITZ EDERITZ Geschäftsführerin IBM M Deutschland 36 Auf dem m Abflug: Warum sich Biathlon-Olympiathlon-Olympiasiegerin n Angela Henkel auf vergangenen angenen Erfolgen nicht ausruhen kann. 02 / 03 SCHÜTZEN Flüchtlinge: Menschen aus aller Welt kommen zu Hunderttausenden nach Deutschland, sie suchen und brauchen Schutz. Die Assekuranz hilft mit ........................ 32 Um den Globus: Kubaner versichern nichts und niemanden. Außer sie müssen ................. 35 Auf nach Amerika: Die Biathlon-Olympiasiegerin Andrea Henkel zieht es in die USA. Ihre Altersvorsorge muss sie deshalb komplett neu ausrichten. Warum? Das Interview ........................................................................ 36 REGELN 08 Vom Banker zum Brauer: Bereits mit Mitte 30 gab Martin Schupeta seine Bankkarriere auf, um etwas Neues zu starten: Jetzt braut er Craft Beer. Der Schaden und das Handy: Viele Schäden werden per Smartphone ausgiebig dokumentiert. Was bringt das? ..........................38 I N H A LT Die neue Aufsicht ...: Ein neues Regelwerk beaufsichtigt Europas Assekuranz. Dabei wirbelt Solvency II viele altvertraute Gewohnheiten durcheinander ........................... 40 ... und der oberste Aufseher: Warum Solvency II europaweit für mehr Fairness und Markt sorgt, erläutert Eiopa-Chef Gabriel Bernardino im Interview ...................... 44 Positionen #4_ 2 0 1 5 Kolumne: Forever young – was passiert, wenn das Wirklichkeit wird? Peter Glaser denkt schon mal vor ....................................................... 46 Zahlen bitte: Was Europas Versicherer so stark macht ...............................................................................47 Die schönste Versicherungssache der Welt: Das deutsche Gold kehrt heim ............................ 48 22 Big Data: Je mehr Daten vorliegen, desto besser können Versicherer Risiken einschätzen. Daten gibt ess jetzt zuhauf, nun kommt es darauf an, sie auch richtig zu in interpretieren. n NACH DEM RÜCKZUG Mehrere Lebensversicherer haben zuletzt ihre Policenbestände veräußert. Die Käufer hoffen auf Gewinn, die Kunden sind geschützt. UND WER HAT SCHULD? Verkeilen sich bei einer Massenkarambolage gleich Dutzende Autos, ist es fast unmöglich zu ermitteln, welcher Fahrer wie viel Mitschuld am Crash trägt. Daher reguliert die Assekuranz jetzt einfacher und gerechter: Schäden werden grundsätzlich in voller Höhe von den Haftpflichtversicherern der beteiligten Fahrzeuge übernommen. Die Verträge laufen natürlich weiter, sollte sich ein Versicherer aus einem Geschäftsfeld zurückziehen. Zuletzt war ein solcher Abschied vor allem bei Lebensversicherungen zu beobachten. Gleich mehrere Anbieter stellten das Neugeschäft ein, einige sortierten auch die bestehenden Policen aus: Skandia Deutschland verkaufte vergangenes Jahr 400.000 Verträge an die Heidelberger Leben. Danach trennte sich die niederländische Delta Lloyd von ihrem kompletten Deutschlandgeschäft; die 350.000 Kunden werden heute vom US-Rentenversicherungskonsolidierer Athene betreut. Und die Basler Leben verkaufte jüngst mehr als 100.000 Lebensversicherungsverträge an den neuen Anbieter Frankfurter Leben. Solche Käufer sind spezialisiert auf die Übernahme von Altverträgen und führen die Verträge für Kunden ohne Änderungen weiter. Dafür sorgt die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin). Sie verpflichtet die Käufer, Versprechen gegenüber den Kunden so einzuhalten, wie sie im Vertrag stehen. Kunden von Lebensversicherungen zahlen also weiter ihre Prämien, bekommen weiter Zinsen gutgeschrieben und weiterhin später eine garantierte Auszahlungssumme plus Überschussbeteiligung. Garantien auf eine erfolgreiche Kapitalanlagestrategie mit möglichst hohen Überschüssen für Versicherte bieten diese Spezialisten nicht. Dafür eine billigere Verwaltung: Vertriebsprovisionen fallen weg, häufig arbeitet die IT – da simpler – auch effizienter. Ob sich der Kauf alter Lebensversicherungen lohnt, wird sich erst in Jahren oder Jahrzehnten zeigen. Erfahrungen aus anderen Ländern helfen nur bedingt, da Garantiepolicen eine deutsche Besonderheit sind. Mit fondsgebundenen Policen bei Schaden- und Unfallversicherungen jedenfalls gab es bisher keine substanziellen Probleme. Für die BaFin sind diese Art Verkäufe noch Neuland, nicht alles im Aufsichtsrecht ist zweifelsfrei geklärt. Kay-Uwe Schaumlöffel, Leiter der Grundsatzabteilung für die Versicherungsaufsicht, stellt aber einen Punkt klar: Wenn sich ein Versicherer aus einem Geschäftsfeld zurückziehe, sei das keinesfalls ein „Versagen“. Vielmehr gehe es meist um bewusste strategische Unternehmensentscheidungen. 04 / 05 Protest von Kleinbauern gegen den Klimawandel im südafrikanischen Durban. Kleinbauern in Afrika und Asien können ihre Ernten gegen Umweltkatastrophen versichern. Umgerechnet 35 Euro pro Jahr und Hektar reichen dafür beim Kilimo-Salama-Projekt aus, das in Kenia, Tansania und Ruanda bald eine Million Kleinbauern vor Dürre- und Regenschäden schützt. Die 20 Länder mit dem weltweit größten Risiko, von Naturkatastrophen und Wetterextremen heimgesucht zu werden, setzen stattdessen auf transnationale Anleihen. Diese »Vulnerable 20«, wie sie sich nennen, wollen gemeinsam einen Pool für klimabezogene Risiken aufbauen. Der »V20 Climate Risk Pooling Mechanism« soll ähnlich wie eine Staatsanleihe aufgezogen werden. N AC H R I C H T E N SCHUTZ VOR KLIMARISIKEN 445 Mrd. $ 17 Bohrlöcher, 200 Häuser und drei Versicherer: In Böblingen werden Geothermie-Schäden reguliert. kostet Cybercrime die globale Wirtschaft jährlich. Mehr als die Hälfte dieser Summe entfällt laut einem AGCS-Report auf die zehn größten Volkswirtschaften, zu denen auch Deutschland zählt. Allianz-Tochter AGCS rechnet daher mit einer wachsenden Nachfrage für Cyberversicherungen. Weltweit könnte das Prämienaufkommen in den nächsten zehn Jahren auf 20 Milliarden Dollar steigen. 79 % der Versicherungskunden weltweit werden digital aktiv sein, prognostiziert die Unternehmensberatung Bain für das Jahr 2020. Deshalb werde sich der Onlineanteil am Neugeschäft mehr als verdoppeln. Der Boden hob sich, Risse spalteten Wände und Böden, Fenster und Türen verkeilten sich. Kein Erdbeben sorgte dafür, sondern schadhafte Bohrungen für Geothermie. Wasser war gleich bei 17 Bohrlöchern in die Hohlräume gelaufen und mit Gipskeuper in Berührung gekommen, wodurch dieser quoll und die Erde um bis zu einen halben Meter anhob. Und die 200 Häuser im schwäbischen Böblingen, die genau hier stehen. Nun haben sich die Beteiligten zusammengerauft. Die Situation ist kompliziert: Die Bohrfirma war damals bei gleich zwei Unternehmen versichert, zuletzt hingegen bei einem dritten Anbieter. Diese drei Unternehmen haben sich jetzt darauf geeinigt, außergerichtlich per Schiedsverfahren zu klären, wer in welchem Umfang für die Schäden aufkommt. Ein Gutachter sitzt schon dran und leistet die Vorarbeit für die Entscheidung. Positionen # 4 _ 2 0 1 5 DA REISST WAS EIN N AC H R I C H T E N DER TREND GEHT ZUM ZWEITKIND Positionen # 4 _ 2 0 1 5 China lockert seine Ein-Kind-Politik nicht zuletzt deshalb, um die Überalterung der Gesellschaft abzupuffern. Und setzt auf Lebensversicherungen. China verabschiedet sich von der Ein-Kind-Politik – nicht ohne den Hintergedanken, dass die Zweitkinder demnächst die rasch wachsende Zahl an Alten versorgen können. Die Behörden erwarten durch das Ende der EinKind-Vorgaben bis 2050 etwa 30 Millionen zusätzliche Arbeitskräfte. Dann wird es allerdings nach UN-Schätzungen bereits rund 440 Millionen Chine- sen jenseits des 60. Geburtstags geben, für deren Renten immer weniger Arbeitskräfte aufkommen müssen. Deshalb wird das Konzept „Lebensversicherung“ verbreitet: Jeder schützt sich selbst vor der Armut im Alter. Allerdings mangelt es vielen chinesischen Versicherern in diesem Bereich an Know-how. Sie holen sich fehlende Expertise über Produkte, Prä- VERSICHERER WERDEN ZU MOBILFUNKANBIETERN Mobilfunkanbieter, vor allem in Afrika und Asien, drängen immer mehr ins Versicherungsgeschäft und verkaufen Kleinbauern Policen gegen Ernteausfälle oder Unfallpolicen. Inzwischen drehen die Versicherer allerdings immer öfter den Spieß um. Jüngstes Beispiel: die Österreich-Tochter der Allianz. Der Versicherer ist jetzt selbst zum Mobilfunkanbieter geworden und verkauft Sim-Karten - sowie damit verbundene Handy-Versicherungen. Eingemietet hat sich das Unternehmen dazu übrigens im Netz der österreichischen Telekom-Tochter T-Mobile. mien und Technologien aus dem Westen, indem sie strategische Partnerschaften eingehen oder Unternehmen komplett übernehmen. Nehmen die Chinesen das Produkt Lebensversicherung an, kann Chinas mit zweistelligen Zuwachsraten boomender Versicherungsmarkt weiter wachsen. Bereits bei Jahresende könnte er der drittgrößte der Welt sein. DER WEG ZUR ERSTEN MILLION 51 Jah re 1 Mil lion Wer als Mann auf ein durchschnittliches Einkommen kommt, hat kurz vor seinem 51. Geburtstag seine erste Million Pfund verdient. Frauen müssen länger arbeiten, hat der Versicherer Prudential für Großbritannien errechnet: Erst kurz vor dem 70. Geburtstag überschreiten 70 Jahre n auch sie die Millionenschwelle. 1 Millio 06 / 07 370 MIO. € 870.000 Sturm- und Hagelschäden N AC H R I C H T E N 1 100 MIO. € 20 MIO. € Sachversicherung Wohngebäude, Hausrat, Industrie, Gewerbe und Landwirtschaft Positionen # 4 _ 2 0 1 5 1,6 MRD. € 500 MIO. € Reden Makler und Versicherer anein„Fertig“ wird ein so großes Projekt ander vorbei – oder warum muss die nie sein, da sich die VersicherungsKommunikation zwischen ihnen stanwelt weiterentwickelt – und damit die dardisiert werden? Plattform, die Technik, die Prozesse – und die Kundenanforderungen. Für HOLGER MARDFELDT: Ja, zum Teil alle Teilnehmer ist es im Moment vor herrschen babylonische Verhältnisse. allem wichtig zu zeigen, wie sehr dieBeide Seiten arbeiten unterschiedse Plattform die Arbeit von Maklern lich. Wenn ein Makler etwa mit 100 und von Versicherern erleichtert. Versicherern zusammenarbeitet, Der Wechsel zur gemeinsamen Plattwird er sich auf fast genauso viele form kostet Geld. Lohnt er sich? Makler-Extranets einlassen müssen. Dazu kommen Medienbrüche: Was HM: Ja. Das Einsparpotenzial durch der eine digital benötigt, Vermeidung von Dophat der andere nur in Papelarbeiten ist für alle pierform vorliegen – und Beteiligten interessant. umgekehrt. Das sorgt für Jetzt herrscht so etwas wie Doppelarbeit, Zeitverlust, Investitionssicherheit mit Frust und hohe Kosten Sogwirkung. nicht nur beim Makler, Liegt das daran, dass alle – auch bei den Versicherern. also Versicherer, Makler und Warum hat es dann so lange GDV – beim Erarbeiten der gedauert, bis das PilotproStandards beteiligt waren? jekt Maklerkommunikation HM: Offene KommunikaHolger Mardfeldt vom tion ist für den Erfolg imgestartet werden konnte, Versicherungskontor bei dem Sie mitmachen? Martens & Prahl in Kiel mer wichtig – insofern: ja. Was gibt es noch zu tun? HM: Ob Makler, GDV, Versicherer oder Hersteller HM: Es gibt noch einige von Maklerverwaltungsprogram„Eisblöcke“, die wir aus dem Weg räumen – jeder hat nach dem Trial-&-Ermen müssen. Wir müssen verbindliror-System versucht, selbst che, eindeutige Normen vereinbaren, die Basis für eine neue, gemeinsame die nicht von den Nutzern abgeändert und moderne Plattform zu legen. Der oder interpretiert werden können. Durchbruch waren erst die Normen Mitbestimmung ist ein weiteres des Brancheninstituts für ProzessThema: Wer die Plattform nutzt, soll optimierung, kurz BiPro. Da fanden auch mitentscheiden dürfen – also sich alle Marktteilnehmer wieder. auch wir Makler. Dritter Punkt: Wir Das war der große Hebel. brauchen verbindliche Spielregeln. Wie stark ist die Hebelwirkung jetzt? Was heißt „verbindliche Spielregeln“? HM: Sehr stark. Das hat zum einen HM: Spielregeln für die neue, digitale mit dem Megatrend „Digitalisierung“ Versicherungswelt. Um ein Beispiel zu tun, zum anderen damit, dass alle zu geben: Ab wann gilt ein Dokument miteinander kommunizieren und oder eine Kündigung als zugegangen? kooperieren. Bis Frühjahr 2016 läuft Wenn es im elektronischen Briefkasdas dazu gestartete Pilotprojekt ten des Adressaten eingeht oder erst, zur Maklerkommunikation. Nach wenn der Briefkasten von diesem Auswertung dieser Pilotphase sollen geöffnet und der Inhalt angesehen erste Normen „startklar“ sein. wird? Wenn es um die Deckung eines „Startklar“ heißt „fertig“? Industrieunternehmens geht, kann es dabei schon mal um zwei- oder dreiHM: Es wird bestimmt noch mehrestellige Millionensummen gehen. re Jahre dauern, bis alles rundläuft. Schadenaufwand 2014 in Deutschland: knapp 2 Milliarden Euro 350 MIO. € Jeder Versicherer hat sein eigenes IT-System – bislang. Makler und Pilotprojektteilnehmer HOLGER MARDFELDT über den langen Weg zu einer gemeinsamen Plattform. SCHÄDEN DURCH NATURKATASTROPHEN Quelle: Naturgefahrenreport 2015, GDV AUSZUG AUS BABYLON GRAPH ZAHL 90.000 Elementarschäden 175.000 Sturm- und Hagelschäden 5.000 Überschwemmungsschäden Kfz-Versicherung Voll- und Teilkasko TITEL DU LEBST SIEBEN JAHRE LÄNGER, ALS DU DENKST 08 / 09 Wir rechnen falsch. Denn wir leben sieben Jahre länger, als wir glauben. Zeit, die wir sinnvoll und bei guter Gesundheit gestalten können. Damit das klappt, müssen wir schon heute die Weichen dafür stellen. TEXT: ELKE SPANNER U te Sanders hatte sich das anders vorgestellt. Da lebt ihre Mutter schon in derselben Stadt, wäre also eigentlich die perfekte Babysitterin für ihren Sohn Lennart, vier Jahre alt und schwer verliebt in die Oma. Doch die ist einfach nie da. Gerade ist sie mal wieder mit ihrem Wohnmobil unterwegs, in Kroatien dieses Mal. Davor war sie schon in Südspanien, den Frühling hatte sie weitgehend in der Türkei verbracht. Nur zu Hause in Hamburg ist sie selten. Als Babysitterin für Lennart fällt die Oma aus. „Kann die nicht einfach mal eine richtige Großmutter sein?“, schimpft Ute Sanders. Das Alter kommt später Eine richtige Großmutter, was soll das sein? Sind das die Frauen mit weißem Dutt und Käthe-KrusePuppe auf dem wuchtigen Sofa, wie früher in den Kinderbüchern? Diese Bücher müssen umgeschrieben werden, denn solche Großmütter lernen kleine Kinder kaum mehr kennen. Wer heute ins Rentenalter wechselt, hat die grauen Haare übertönt, reist ins Ausland und trifft sich mit Freunden zum Walken im Park. Die heutigen Senioren sind oft das, was mal die Mittvierziger waren: agil, mobil – und viel gesünder, als man sich das früher hätte vorstellen können. „Das gefühlte Alter ist deutlich nach unten gegangen“, sagt der Trendforscher Peter Wippermann. „Die Menschen fühlen sich zumeist zehn bis 15 Jahre jünger, als es im Personalausweis steht.“ Das Alter kommt später. Irgendwann. Noch vor 100 Jahren wurden Männer im Durchschnitt nur 47,4 Jahre alt, Frauen auch nur bescheidene 50,6 Jahre. Inzwischen leben die Menschen durchschnittlich fast doppelt so lange. Heute 42-jährige Frauen haben laut Zahlen des Statistischen Bundesamtes Destatis eine Lebenserwartung von im Schnitt 88 Jahren, Männer › Positionen # 4 _ 2 0 1 5 JETZT GEHT’S LOS TITEL des gleichen Jahrgangs von mehr als 83 Jahren. Und die Lebenserwartung steigt sogar noch weiter, sowohl für Männer als für Frauen. Angekommen ist diese Erkenntnis noch nicht. Das haben Zukunftsforscher des Munich Center for the Economics of Aging (MEA) herausgefunden, als sie 2012 bundesweit 3.676 Menschen im Alter von 26 bis 60 Jahren dazu befragten, wie sie ihre eigene Lebenserwartung einschätzen. Das Ergebnis hat selbst die Wissenschaftler verblüfft: Frauen glauben, dass sie rund 80 Jahre alt werden. Und Männer rechnen mit etwas mehr als 75 Jahren. Dabei werden sie – über alle Altersgruppen gemittelt – als Frauen 87,42 und als Männer 82,17 Jahre alt (siehe Grafik unten). Bereits heute werden wir also sieben Jahre älter, als wir denken. Dahinter steckt ein ebenso simpler wie verständlicher Denkfehler: Wer in seiner Jugend erfährt, dass er – statistisch gesehen – etwa 75 oder 80 Jahre alt werden wird, nimmt diese Werte als Richtschnur. Und übersieht dabei ein entschei- »WARUM ICH MICH MIT 57 JAHREN SELBSTSTÄNDIG GEMACHT HABE? GANZ EINFACH: ICH WOLLTE KEINE CHEFS MEHR, DIE ALLES BESSER WISSEN.« dendes Detail: Diese Zahlen beziehen sich auf die Generation der Großeltern, der aktuell Alten. Wenn sie selbst alt geworden sein werden, können sich die Durchschnittswerte verschoben haben – und genau das passiert. Wer heute geboren wird, kann – wiederum im statistischen Durchschnitt – als Junge mit 87 Lebensjahren und als Mädchen sogar mit 91 Jahren rechnen. › WIR LEBEN SIEBEN JAHRE LÄNGER, ALS WIR DENKEN … Tatsächliche und gefühlte Lebenserwartung der Deutschen klaffen auseinander Quelle: Statistisches Bundesamt, Munich Center for the Economics of Aging (MEA), „Subjective Life Expectancy and Private Pensions“ , 2012 Positionen # 4 _ 2 0 1 5 80,34 Jahre 87,42 Jahre Durchschnittliche Lebenserwartung 75,83 Jahre 82,17 Jahre Selbstgeschätzte Lebenserwartung … DENN DIE LEBENSERWARTUNG STEIGT STETIG Alter Entwicklung der durchschnittlichen Lebenserwartung einjähriger Kinder 95 90 85 80 75 70 65 Heute 42-Jährige (Rente 2040) werden im Schnitt … 60 55 87,9 Jahre 83,4 Jahre 50 1910 1920 1930 1940 Quelle: Generationssterbetafeln des Statistischen Bundesamts 1 Million 1950 1960 1970 1980 1990 2000 2010 10 / 11 MONIKA FUNSCH Beraterin für späte Neustarter Positionen # 4 _ 2 0 1 5 TITEL M onika Funsch ist die Meisterin des Neustarts. Mehrmals stand sie vor dem beruflichen Nichts: nach 16 Jahren Familienpause etwa oder als ihr Chef seine Firma verkaufte. „Ich frage mich, woher ich immer wieder die Kraft genommen habe“, sagt Funsch, eine neue Stelle zu finden, sich zu beweisen und hochzuarbeiten. Eigentlich kennt die 69-Jährige die Antwort: „Ich hatte ein Ziel vor Augen, deshalb habe ich alle Hürden genommen.“ Die Versicherungskauffrau war Chefsekretärin und auch Personalchefin, bis sie nach dem letzten Jobverlust 2003 beschloss, sich selbstständig zu machen. „Ich wollte keine Chefs mehr, die alles besser wissen.“ In ihrem „Top Forty“-Büro in Bad Homburg im Taunus berät Funsch seitdem Menschen jenseits des 40. Geburtstags, die sich beruflich verändern wollen. Aber sich nicht recht trauen. „Routine untergräbt Kompetenzen“, findet Funsch. Ihre Kunden würden vergessen, welche Potenziale in ihnen steckten. Dann fragt Funsch: „Wer bin ich? Was motiviert mich? Was kann ich? Wo will ich hin?“ Und begleitet ihre Klienten über den Neustart hinaus. Funsch kennt die Ängste ihrer Klienten aus eigener Erfahrung. Schließlich ist sie selbst erst mit 57 Jahren Unternehmerin geworden, irritiert beäugt von Freunden und Bekannten. „Die heute Älteren sind teils in vorbestimmten Lebensläufen gefangen“, sagt Funsch. Diese Erwartungen abzuwerfen sei ein ebenso nötiger wie schwieriger Befreiungsprozess, der einen pfleglichen Umgang mit sich selbst erfordere: „Wir haben ja schon ein Leben gelebt.“ Aber dieses Leben sei mit 50 oder 60 Jahren ja nicht beendet, auch nicht die Lust auf neue Herausforderungen. Ein Neustart sei immer möglich, sagt Monika Funsch und rät: „Traut euch, öfter etwas Verrücktes zu machen!“ Birgit Haas TITEL Positionen # 4 _ 2 0 1 5 Höchste Zeit umzudenken. Dass wir immer älter werden, liegt auch im medizinischen Fortschritt begründet. Wir sind einfach gesünder. Noch zu Beginn des vorigen Jahrhunderts sind viele Menschen an Infektionskrankheiten wie Tuberkulose gestorben. Heute können die einst lebensgefährlichen Infektionen gut mit Antibiotika behandelt werden. Hinzu kommt: Viele Erkrankungen, die früher zumindest die Lebensqualität stark eingeschränkt haben, hat die Medizin heute gut im Griff. Wer Verschleißschmerzen im Hüftgelenk spürt, ist nicht mehr dazu verdammt, den Rest seiner Tage auf dem Sofa zu sitzen. Er bekommt ein neues Hüftgelenk implantiert. Und weiter geht’s. Außerdem hat sich der Lebensstil rasant verändert. Die meisten Berufe sind körperlich weniger belastend, weil mühsame Tätigkeiten von Maschinen übernommen werden. Die hygienischen Bedingungen sind gut, das Wasser kommt, sauber, aus der Leitung. Wird es im Winter eisig, drehen wir einfach die Heizung hoch, das Essen gibt es bequem im Supermarkt. Und dann halten sich viele Menschen noch bewusst durch Sport körperlich fit. Warum sollten diese Menschen sich zur Ruhe setzen, nur weil sie ins Rentenalter kommen? Mit 65 Jahren beginnt längst nicht mehr der Lebensabend, wie es früher melancholisch hieß, sondern ein neuer Lebensabschnitt. Das ist ein echtes Ge- 12 / 13 100 KERZEN JOACHIM OTTO Auf nach Görlitz D ie Russen und mit ihnen der Krieg rückten immer näher: Vier Jahre zählte Joachim Otto, als seine Familie 1945 die schlesische Heimat verließ und gen Westen floh. Dort blieb er, studierte Marketing und arbeitete danach in Ludwigsburg für die Bausparkasse Wüstenrot. Als sich sein Arbeitsleben dem Ende zuneigte, kehrte Otto zurück und suchte in Lauban – auf polnisch heute: Luban – nach seinen Wurzeln. Was er fand, sammelte er in einem Buch. So kam Joachim Otto erstmals nach Görlitz: Keine deutsche Stadt liegt näher dran, nur 23 Kilometer sind es bis Luban, hier in Görlitz wollte er sein Buch vorstellen. Womit er nie gerechnet hatte: Otto verliebte sich in die Stadt, fühlte sich wie verzaubert. „Ich bin anschließend mit meiner Frau Angela und unserer damals 14-jährigen Tochter insgesamt sieben Mal nach Görlitz gefahren.“ Und zog ein Jahr später endgültig 600 Kilometer gen Nordosten. Tochter Aniela war einverstanden und, ebenso wichtig, Ottos damals erst 42-jährige Gattin fand bei der Görlitzer Wüstenrot-Vertretung einen Job. Acht Jahre ist das nun her, die Tochter ist aus dem Haus und studiert in Weimar – nicht bevor sie für ihre Eltern dieses Häuschen fand, mit grünem Garten und als Kulisse die Landeskrone, der Görlitzer Hausberg. Joachim Otto beschränkt sich nicht darauf, den Garten in Schuss zu halten. Der 74-Jährige kümmert sich gemeinsam mit seiner Gattin um seine drei Ferienwohnungen in der Görlitzer Altstadt. Ist dort gerade nichts zu tun, setzt er sich an den Schreibtisch und schreibt am nächsten Buch. Sein „Görli und Gregorek “ wird an Görlitzer Gymnasien als Lehrstoff für den Polnischunterricht eingesetzt. Jetzt arbeitet Otto an seinem nächsten Projekt: das Buch als Theaterstück auf die Bühne zu bringen. Ingo Kramer Den eigenen Weg finden Zeit also, sich den eigenen Weg zu suchen, Nischen zu finden, langgehegte Wünsche endlich umzusetzen. Nicht jeder wird 600 Kilometer in Deutschlands östlichste Stadt ziehen wie Joachim Otto (siehe Porträt links), seine gut gehende Konditorei verkaufen wie Rüdiger Nehberg (siehe Seite 17) oder seine Bankkarriere dreingeben, um Bier zu brauen wie Martin Schupeta (Seite 19) › 6611 TITEL schenk - wenn man die gewonnenen Jahre für sich als Chance erkennt. Denn im Alter ist noch vieles an persönlicher Entwicklung möglich. Es gibt nicht die eine Rolle des Lebens, die man in jungen Jahren für sich findet und immer weiterspielt. Im Gegenteil: Aktuelle Studien zeigen, dass sich die Persönlichkeit auch und gerade im höheren Alter noch stark verändern kann. Da tut sich erstaunlich viel, sagt Jule Specht, Professorin für Entwicklungspsychologie an der FU Berlin: „Bis zu 25 Prozent aller Menschen verändern ihre Persönlichkeit im hohen Alter noch einmal deutlich“, interessanterweise als Gegenbewegung zur früheren Ich-Findung. Der werden nämlich enge Grenzen gesetzt: Junge Menschen steigen in den Beruf ein, gründen Familien – das alles setzt eine gewisse Angepasstheit voraus. Im Alter hingegen gibt es diese Sachzwänge nicht mehr. Da braucht man schlichtweg nicht mehr so angepasst zu sein. Entsprechend vielfältig verläuft die persönliche Entwicklung. Viele alte Menschen, die früher zum Beispiel überkontrollierend waren, verfallen nun in ein entspanntes Laissez-Faire. Wem es wichtig war, die Mahlzeiten zu festen Zeiten einzunehmen, genießt es jetzt vielleicht, sich durch den Tag treiben zu lassen. Oder auch umgekehrt: Manche Menschen, die das Leben immer genommen haben, wie es kam, wünschen sich im Alter mehr Struktur und Kontrolle. Andere Werte halten Einzug ins Leben. „Es gibt im hohen Alter nicht mehr den einen vorgegebenen Weg, sondern viele individuelle“, sagt Entwicklungspsychologin Specht. 2014 4360 2005 2333 1995 899 1985 158 1965 Quelle: Bundespräsidialamt Positionen # 4 _ 2 0 1 5 »ZURÜCK NACH LUDWIGSBURG, WARUM? ICH HABE IN GÖRLITZ MEINE WURZELN GEFUNDEN.« So viele Glückwunschkarten verschickt der Bundespräsident an 100-Jährige zu ihrem runden Geburtstag BEATRIX WIRBELAUER Rock’n’Rollerin Positionen # 4 _ 2 0 1 5 TITEL S tatt zu lamentieren, was im Alter nicht mehr geht, lebt Beatrix Wirbelauer lieber vor, „was in der dritten Lebenshälfte noch alles möglich ist“. Bassspielen lernen und Rockkonzerte geben, zum Beispiel, oder mit 60 Jahren ein berufsbegleitendes Studium der Kulturgeragogik zu starten, also der kulturellen Arbeit mit älteren Menschen. Teil des Studiums ist ein Praxisprojekt: „Wir sollten Ältere dafür gewinnen, ihre Komfortzone zu verlassen und kulturell aktiv zu werden“, sagt Wirbelauer. So wurde sie vor drei Jahren ihr „eigenes Versuchskaninchen“ im Kulturprojekt Rock. Rockmusik hat Wirbelauers Jugend geprägt, nicht nur beim heimlichen Hören von Piratensendern, auch auf Konzerten von The Who, den Rolling Stones oder den Small Faces. Aber selbst musizieren? Dafür war die Zeit erst jetzt reif: „Mein Projekt soll Rockfans meiner Generation motivieren, selbst Rockmusik zu machen.“ Mit ihrem Konzept „Never too old for Rock’n’Roll“ fahndete sie nach Kooperationspartnern – und erntete reihenweise Absagen. Rock’n’Roll-Rentner – sowas gibt‘s doch gar nicht! Als die Music Academy in Düsseldorf trotzdem einen Versuch wagte, standen schnell 50 Senioren auf der Anmeldeliste. Mittlerweile proben allein in Düsseldorf vier „60 plus“-Bands. Eine davon heißt „Faltenrock“, hier zupft Beatrix Wirbelauer den Bass und singt – kürzlich übrigens im Kölner Hardrock Café. „Auftritte waren ursprünglich nicht geplant“, sagt sie, „aber jetzt machen sie einfach unglaublich viel Spaß.“ André Schmidt-Carré – solche Neustarts werden wahrscheinlich eine Ausnahme bleiben. Doch auch im Kleinen bieten sich viele neue Möglichkeiten. Vielleicht ist jetzt endlich Zeit für den Spanischkurs, für den man nach Dienstschluss immer zu müde war. Für eine längere Reise. Oder für den eigenen Garten – in der Natur zu werkeln statt im Büro zu sitzen, bringt ein ganz anderes Lebensgefühl. Vielleicht entdeckt man auch den Sport ganz neu für sich. Auch da ist jenseits der 65 Jahre noch einiges drin: Die Amerikanerin Harriette Thompson ist im Alter von 92 Jahren noch Marathon gelaufen, und der Japaner Yuichiro Miura hat mit 80 Jahren den Mount Everest bestiegen. Extreme, gewiss. Doch auch Beispiele dafür, was im Alter noch alles geht. Selbst untrainierte Rentner können mit Freunden durch den Park walken. Und für geübte Wanderer ist eine Alpenüberquerung auch im hohen Alter noch drin. »ICH LEBE GERN SELBST VOR, WAS IN DER DRITTEN LEBENSHÄLFTE NOCH ALLES MÖGLICH IST.« Aber mit wem? Nun kommt auch die Zeit, Freundschaften zu überdenken. Denn auch die Beziehungen verändern sich, wenn man älter wird: In jungen Jahren wünschen sich die meisten Menschen einen großen, vielfältigen Bekanntenkreis. Sie wollen mit anderen zusammen Lebenserfahrung sammeln und Wissen erlangen. Im Alter hingegen lebt man mehr im Hier und Jetzt. Da will man nicht in etwas investieren, was sich erst in zehn Jahren womöglich auszahlen kann. Emotionale Bindungen werden wichtiger. Lieber schöne Momente als ein großes Wissensnetzwerk. Besser ein kleiner, enger Freundeskreis statt unzähliger Bekannter. › 14 / 15 VERORTET Wer wird im Jahr 2040 wo wie viel Rente bekommen? Und was kann man sich davon leisten? Eine neue deutschlandweite GDV-Studie klärt auf. 3.443 € ROSTOCK 1.417 € 3.723 € S 1.494 € 41,1% 40,1% HAMBURG 3.775 € 1.502 € SALZGITTER 39,8% FRANKFURT (ODER) 7.907 € 3.849 € 2.839 € 35,9% SOLINGEN 1.554 € 40,4% 7.242 € 2.589 € 35,8% WEIMAR 3.618 € 1.464 € HOF 40,5% 8.335 € 2.923 € LK MILTENBERG 4.678 € 35,1% 1.846 € OSTALBKREIS 39,5% LK SÄCHSISCHE SCHWEIZ-OSTERZGEBIRGE 8.711 € 2.767 € 31,8% 8.109 € 2.773 € 34,2% MÜNCHEN 6.009 € 2.023 € 33,7% MÜNCHEN 6.009 € 2.023 € 33,7% STADT/LANDKREIS Durchschnittliche Kaufkraft des Einkommens der letzten fünf Berufsjahre (Preise von 2014) Rentenkaufkraft im Zugangsjahr 2040 (Preise von 2014) Wie viel Rente bleibt vom Einkommen (gewichtet nach Kaufkraft) Ingenieur Sozialpädagogin ohne Kinder geb. 1973 zwei Kinder geb. 1973 Quelle: Prognos-Institut im Auftrag des GDV TITEL LK NORDFRIESLAND ag mir, wo du wohnst – und ich sage dir, wie es aussieht mit deiner Rente. Ob sie hoch ausfällt oder niedrig, und ob sie über den Monat reicht. Das hat das PrognosInstitut im Auftrag des GDV herausgefunden, als es die Rentenperspektiven 2040 ermittelte – für konkrete Berufsgruppen und heruntergebrochen bis auf die Ebene der 402 Landkreise und kreisfreien Städte. Das Ergebnis zeigt, wie stark unsere Rente davon abhängt, wo wir leben. Und es zeigt, wie unterschiedlich viel man sich mit demselben Betrag leisten kann, abhängig davon, wo man wohnt. Eine Sozialpädagogin mit zwei Kindern bekommt beispielsweise in Weimar 1.449 Euro Rente im Monat – das sind 269 Euro weniger als ihre Zwillingsschwester in Hamburg (1.718 Euro). Doch entscheidend ist, was sich die beiden dafür leisten können. Die Unterschiede in der Rentenkaufkraft zeigt unsere Karte: Der Abstand zwischen den Schwestern schrumpft hier auf 40 Euro, weil das Leben in der Hansestadt deutlich teurer ist. Die Kaufkraft kann Unterschiede aber auch verstärken: Bei fast gleicher Rente kann sich in München ein Ingenieur ein Drittel weniger leisten als im ebenfalls bayerischen Hof. Man sieht, die Region macht den Unterschied. Positionen # 4 _ 2 0 1 5 DIE DEUTSCHLANDKARTE setzt vierteljährlich wichtige Zahlen aus der Versicherungslandschaft prägnant ins Bild. Hier liegen Chancen wie Herausforderungen, für den Einzelnen ebenso wie für die gesamte Gesellschaft. Die verändert sich, wenn es mehr ältere als jüngere Menschen gibt. Die Arbeitswelt, das Gesundheits- und Rentensystem haben sich in einer Zeit entwickelt, in der das Zahlenverhältnis umgekehrt war und die Jüngeren die Versorgung der Älteren erwirtschaften sollten. Das funktioniert heute nicht mehr ohne weiteres. Positionen # 4 _ 2 0 1 5 TITEL Auskommen mit dem Einkommen Nehmen wir die Rente: In den 1970er-Jahren lag die durchschnittliche Rente eines Arbeitnehmers noch bei rund 60 Prozent seines vorherigen Erwerbseinkommens. Diese Zeit ist lange vorbei. Die Prognos AG ist in Modellrechnungen auf Zahlen gekommen, die nachdenklich stimmen (siehe Seite 17): Ein Ingenieur, der 2040 in der Sächsischen Schweiz in Rente geht, muss dann – was die Kaufkraft angeht – mit weniger als einem Drittel seines letzten Arbeitseinkommens auskommen. Eine Verkäuferin, die zwei Kinder großgezogen hat und 2040 auf Sylt in Rente geht, erhält zwar die Hälfte ihres bisherigen Lohns, das summiert sich allerdings auf bescheidene 930 Euro – umgerechnet auf die heutige Kaufkraft dieser Rente. Diese Zahlen fordern jeden einzelnen, sich fürs Alter über die Rente hinaus abzusichern. Es fordert uns als Gesellschaft, die Rente weiterzuentwickeln, um Versorgungslücken zu schließen. Und es fordert uns, eine Arbeitswelt zu ermöglichen, die Menschen mit Mitte 60 nicht einfach aus dem Berufsleben kickt. Denn viele Senioren »JEDEN TAG KLEINE BRÖTCHEN – IRGENDWANN HAT MICH MEIN JOB ALS KONDITOR NICHT MEHR GEFORDERT.« 16 / 17 FÜR EINEN NEUSTART IST ES NIE ZU SPÄT Jahr für Jahr machen sich Hunderttausende Deutsche selbstständig. Viele Gründer bringen tiefe Einblicke ins Arbeitsleben und jahrzehntelange Erfahrungen mit, denn fast jeder zehnte Existenzgründer in Deutschland ist zwischen 55 und 65 Jahre alt. 915.000 9,2 % der Gründer sind älter als 54 Jahre TITEL Existenzgründungen gibt’s in Deutschland (2014) RÜDIGER NEHBERG Dschungelkönig O hne Nahrung, ohne Kompass und ohne Waffe seilt er sich von einem Hubschrauber ab in den Dschungel. Mit 68 Jahren. Die nächste Stadt erreicht Rüdiger Nehberg Wochen später, zerschunden, ansonsten aber quicklebendig. So viel Abenteuer umweht Nehberg, dass gern vergessen wird, dass er 25 Jahre lang in Hamburg eine Konditorei mit 50 Mitarbeitern aufgebaut und geführt hat. Für das Abenteuer blieben damals nur die Urlaubswochen. Die „Torten gegen Torturen“ einzutauschen, wie Nehberg scherzt, sei ihm trotzdem leichtgefallen. Der Beruf habe ihn nicht mehr gefordert. „Jeden Tag kleine Brötchen, alles war zur Routine geworden.“ Doch wenn der gebürtige Bielefelder zurückblickt auf seine erste Lebenshälfte, ärgert ihn nur eines: dass er seine Abenteuer nicht früher mit Sinn aufgeladen hat. Das änderte sich erst, als er seine Konditorei verkaufte und sich für die Rechte der Yanomami-Indianer im Amazonas- becken einsetzte. 18 Jahre lang kämpfte er mit spektakulären Aktionen für ihre Rechte – bis ein akzeptabler Frieden ihr Überleben sicherte. „Solche Erfolge geben mir Kraft und Energie.“ Heute engagiert sich Nehberg mit Ehefrau Annette in seinem Verein Target für das Ende der weiblichen Genitalverstümmelung in der islamischen Welt, auch hier gibt es erste Erfolge. Am Ziel sieht sich Nehberg erst, wenn er mit dem saudischen König ein Banner in Mekka aufhängt: „Weibliche Genitalverstümmelung ist Sünde. Sie beleidigt Allah und den Islam“. Als Nehberg im Oktober in Saudi-Arabien war, kam er diesem Ziel nicht entscheidend näher. „Aber Rückschläge drängen mich nicht aus der Spur, sondern spornen meine Kreativität an.“ Er hat ja nicht mehr endlos Zeit, wird demnächst 81. Im Januar fliegt Rüdiger Nehberg daher wieder nach Saudi-Arabien. Muss sein, sagt er: „Das geordnete Leben daheim würde mich einschläfern.“ Michael Prellberg werden sich wegen ihrer mageren Rente gar nicht leisten können, mit Mitte 60 in den Ruhestand zu gehen. Andere werden, weil sie sich fit fühlen, nicht wechseln wollen. Sie arbeiten einfach weiter, suchen sich Minijobs oder bleiben länger bei ihrem Arbeitgeber. Gut so, denn viele Unternehmen sind auf die älteren Mitarbeiter angewiesen. In den meisten Branchen wachsen zu wenige junge Fachkräfte nach. Im Hamburger Hafen zum Beispiel fährt immer noch ein Lotse Schiffe über die Elbe, der inzwischen 78 Jahre alt ist – es gibt einfach zu wenige Nachwuchskräfte, die alle Schichten abdecken können. Dadurch ändert sich auch die Struktur in den Unternehmen: Die Belegschaften altern. Der Chef des 78-Jährigen ist übrigens 84 Jahre alt. Wohnen in den eigenen Räumen Oder nehmen wir das Beispiel Wohnen: Im höheren Alter haben die Menschen andere Bedürfnisse als in jungen Jahren. Selbst wenn die vielzitierten Alten-WGs wohl ein Großstadtphänomen bleiben werden, wie Zukunftsforscher Peter Wippermann prophezeit: Keine Ausnahme, sondern die Regel wird es sein, dass die meisten Menschen so lange wie möglich in den eigenen Räumen leben wollen – und trotzdem den Wunsch haben, sich sicher und aufgehoben zu fühlen. Die Großfamilie aber, in der das früher selbstverständlich war, ist Vergangenheit. Also muss dem Bedürfnis nach Sicherheit anders Rechnung getragen werden. › Positionen # 4 _ 2 0 1 5 Quelle: KfW-Gründungsmonitor In diese Lücke dringt die Technik vor: Die Industrie entwickelt Apps, die Gesundheitsdaten wie den Blutdruck messen und bei bedenklichen Werten selbstständig den Arzt informieren. Sie forscht an Sensoren, die in Kleidungsstücke eingenäht werden und bei Stürzen Alarm schlagen, und an Notfallsystemen für Menschen, die zu Hause leben. „Die Menschen werden durchtechnisiert“, sagt Zukunftsforscher Wippermann. „Die Fürsorge, die man früher über das soziale Umfeld und die Familie erfuhr, wird immer mehr technologisch ausgeglichen.“ Für ein lebenswertes Leben TITEL Wo liegen die natürlichen Grenzen dieser Entwicklung? Wird das mit der Alterung immer so weitergehen, ist nach oben hin alles offen? Nein, sagt K. Lenhard Rudolph, Wissenschaftlicher Direktor des Leibniz-Instituts für Alternsforschung in Jena. Nicht das maximale Alter der Menschen steigt kontinuierlich, so dass die Lebenserwartung irgendwann weit jenseits der 100 Jahre liegen wird. Sondern es steigt die Anzahl der Menschen, die ein sehr hohes Alter erreichen können. Die medizinische Forschung geht deshalb nicht dahin, dem Alter ein Schnippchen zu schlagen, sondern es lebenswert zu erhalten. Es gilt, die sogenannten Alterskrankheiten in den Griff zu bekommen, die eine natürliche Folge der hohen Lebenserwartung sind – altersdement zum Beispiel kann nur werden, wer überhaupt ein entsprechendes Alter erreicht. Auch das ist eine große Herausforderung, vor der die heutige Gesellschaft steht, sagt Leibniz-Forscher Rudolph: „Unser Ziel muss es sein, die Gesundheitsspanne zu verlängern. Damit das lange Leben auch wirklich lebenswert bleibt.“ Die Mutter von Ute Sanders jedenfalls genießt ihr Leben als Seniorin in vollen Zügen. Neulich hat sie aus Kroatien angerufen. Schön sei es da, hat sie ihrer Tochter gesagt. Unsere Titelgeschichte bildet den Auftakt zu einer neuen Serie, die „Positionen“-Leser über das kommende Jahr begleiten wird. Im Rahmen der GDV-Initiative „Du lebst 7 Jahre länger, als Du denkst“ stellen wir Menschen vor, die ihre Zeit nutzen, um sich auf das für sie Wesentliche zu konzentrieren – egal wie alt sie sind. Positionen # 4 _ 2 0 1 5 DA KOMMST DU NICHT RAN Jährliche Entgeltpunkte Als Bezugspunkt beim Berechnen von Renten dient der „Eckrentner“, der 45 Jahre bis zur Rente voll durchgearbeitet hat. Er legt die Latte auf 100 Prozent. Unser Beispiel zeigt, wie weit – und warum – eine Verkäuferin mit Kind von diesen 100 Prozent entfernt ist. 120% immer vollzeitbeschäftigt: der rechnerische „Eckrentner“ 100% 80% 60% 40% Beispiel: Berufslaufbahn Verkäuferin mit Kind 20% 0% Alter 20 Schule Sch le und nd Ausbildung 30 KinderKinder erziehung 40 geringfügige Beschäftigung 50 ArbeitsArbeits losengeld 60 70 sozialversicherungsso ial ersicher ngs pflichtige Beschäftigung Quelle: Prognos-Institut im Auftrag des GDV 18 / 19 MARTIN SCHUPETA Brauer TITEL U nd wenn es schiefgeht? Martin Schupeta wirkt nicht besorgt. „Scheitern ist erlaubt.“ Schließlich tritt fast jede Woche ein neuer Brauer an, der auf „Craft Beer“ setzt, handgemachtes Bier mit besonderem Geschmack. Was in Hipster-Kneipen angesagt ist, soll demnächst einziehen in die Regale gut sortierter Supermärkte. Geht es nach Schupeta, steht dort seine Marke „Von Freude“. Für sie hat der Hamburger eine veritable Karriere bei den Bankhäusern Trinkaus & Burkhardt und Berenberg hinter sich gelassen. Große Mittelständler hat er betreut, „das hat Spaß gemacht“. Gut bezahlt war es zudem, warum hat er das aufgegeben für ungewisse Einkünfte und Aussichten sowie lange Arbeitstage? „Ich bin ein Typ, der gern seine eigenen Entscheidungen trifft.“ Und nicht, wie als Banker, anderen zu Entscheidungen rät. An Craft Beer ist Schupeta eher zufällig gekommen. Gebraut hat er schon früher, in einem Kochtopf in seiner Küche. Dann hörte er von einer verstaubten Hobbybrauanlage, billig abzugeben. 100 Liter Bier hat er damit gebraut, aus dem Supermarkt Leergut geholt und per Hand gereinigt. Die Flaschen hat er an Freunde und Gastronomen verteilt. Die Resonanz war so gut, dass er sich gedacht hat: Da geht was. In „Von Freude“ investiert Schupeta seine Ersparnisse aus Bankertagen. Die größte Herausforderung sei derzeit, seine Biere regelmäßig verfügbar zu haben. „Wir gehen das Ganze unternehmerisch an – und lassen die Händler nicht hängen“, sagt Schupeta. Die Angst, dass der Hype um Craft Beer schnell schal werden könnte, hegt der Brauer nicht. Selbst wenn: „Es gibt nichts Gutes – außer man tut es“, zitiert er Erich Kästner. Für ihn gibt es noch einiges zu tun, Martin Schupeta ist ja erst 37. Michael Prellberg Positionen # 4 _ 2 0 1 5 »ICH TREFFE GERN MEINE EIGENEN ENTSCHEIDUNGEN.« VON WEGEN RUHESTAND Immer etwas zu tun: Heute sind Rentner aktiver als jemals zuvor. INFOGRAFIK: KLAUS MEINHARDT Genügend Ruhesitze Zahl der Rentner (1. Juli 2014) Positionen # 4 _ 2 0 1 5 TITEL Erwerbstätige 60- bis 64-Jährige Erwerbstätige 65- bis 69-Jährige davon Frauen: 11.005.707 Bundesgebiet gesamt: 19.021.114 davon Männer: 8.015.407 Wofür sich Rentner engagieren Frauen: „Ich kümmere mich um meine Enkel“ „Ich helfe im Haushalt oder im Garten“ Männer: „Ich betreue pflegebedürftige Angehörige oder Freunde“ „Ich engagiere mich für die Gesellschaft“ Frauen: Männer: Welche Eigenschaften schreiben Jugendliche den Rentnern zu Familienorientierung 93% Pflichtbewusstsein 91,4% Fleiß und Ehrgeiz 76,4% Soziales Engagement 56,1% Kreativität 36,2% Toleranz 36,1% 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% 20 / 21 52% 28% 6% 2005 Lebenslanges Lernen Studierende insgesamt: 1.979.043 1.941.405 2.025.307 2.121.178 2.217.294 2.380.974 2.499.409 2.616.881 2.698.910 2006/07 2007/08 2008/09 2009/10 2010/11 2011/12 2012/13 2014/15 16.750 14% 2014 2013/14 16.580 16.189 15.988 Gasthörer und Studierende ab 65 Jahren an deutschen Hochschulen: 14.696 15.670 15.395 14.575 14.673 Für den Ruhestand nehmen sich die Deutschen viel vor Wünsche für die Zeit ab 65 Jahren 58 % Hobbys 43 % Reisen treiben 38 % Sport en ultur erleb 34 % K ieren mtlich engag ehrena % 8 2 erlernen Neues 19 % Quellen: Destatis, Shell, KoerberStiftung, FAZ/Johanniter-Unfallhilfe, BMAS, Deutsche Rentenversicherung Die Rente kann warten DAS GEZÄHMTE RISIKO Warum zahlen Versicherte den Tarif, den sie zahlen? Weil die Assekuranz sehr früh gelernt hat, Daten zu erfassen und auszuwerten. Der wahre Ursprung von Big Data steckt im Bemühen um angemessene Policen. TEXT: DENNIS SCHMIDT-BORDEMANN 22 / 23 Gefahr erkannt, Schaden gebannt Damit wird sich auch das Angebot der Assekuranz ändern. Weltweit sind 15 Milliarden Gegenstände an das Internet angeschlossen – Maschinen, Autos, Feuermelder und Kühlschränke. In den nächsten fünf Jahren soll sich diese Zahl mehr als verdreifachen. Alle diese Dinge sondern einen Strom von Daten ab. Auf Wunsch des Kunden könnte sich der Versicherer mit dem Datenstrom aus dessen Haus verbinden, um etwa den baldigen Ausfall eines Geräts frühzeitig zu erkennen oder den Kunden mit erweiterten Dienstleistungen zu unterstützen. „Versicherer werden dann nicht mehr erst Leistung erbringen, wenn ein Schaden passiert ist, sondern sie helfen, Schäden zu vermeiden“, sagt Werner Schmidt, Vorstand der LVM Versicherung. Das Verhindern von Schäden – seit jeher im Interesse der Versicherer – wird immer einfacher und wichtiger. Auch bei Lebensversicherungen bekommt die Prävention mehr Gewicht. „Wer durch Gesundheitsdaten – zum Beispiel von einem Handy oder Armband – rechtzeitig Blutdruckspitzen erkennen und dadurch einem Herzinfarkt vorbeugen kann, wird dem Kunden einen deutlichen Zusatznutzen geben“, sagt Thomas Weilbacher, zuständig für das Risikomanagement bei der Allianz Lebensversicherung in Stuttgart. › › WISSEN STATT RATEN: DEM RISIKO AUF DER SPUR 1671 Die Anfänge der Versicherungsmathematik Um die Aufrüstung zu finanzieren, wollen die Niederlande Leibrenten verkaufen. Regierungschef Johan de Witt nutzt Sterbetafeln und die Wahrscheinlichkeitsrechnung, um dafür optimale Zinssätze zu ermitteln. 1654 Die Geburtsstunde der Wahrscheinlichkeitsrechnung Der französische Universalgelehrte Blaise Pascal untersucht, warum bei einem Spiel mit drei sechsseitigen Würfeln im Ergebnis die Summe 11 häufiger auftritt als die Summe 12 – obwohl beide Ergebnisse intuitiv gleich wahrscheinlich sind. 1654 ERFINDEN Funktioniert die Analyse, lassen sich Kunden besser ansprechen. Wer online einen Flug nach Thailand gebucht hat, kann auf passende Versicherungen für seine Reise aufmerksam gemacht werden. Einer Kundin, die stolz bei Facebook ein Foto ihres neuen Fahrrads zeigt, lässt sich eine Diebstahlversicherung offerieren. Und werdende Eltern, die sich bei einem Schwangerschaftsportal angemeldet haben, können mit passenden Informationen versorgt werden. Ein Analyseprogramm könne die Kunden oft besser verstehen als die Vermittler, sagt Dietmar Kottmann, Digital- und Versicherungsexperte der Beratungsgesellschaft Oliver Wyman. „Das wird den Kundenkontakt massiv verändern und helfen, neue Märkte zu erschließen.“ Positionen # 4 _ 2 0 1 5 S ie wollte neue Kunden anwerben – und besiegelte so fast den eigenen Konkurs. Als die Nürnberger Brandassecurations-Anstalt 1783 außer den Bürgern der Reichsstadt auch die Bewohner der umliegenden Dörfer gegen Feuer versicherte, bezahlten alle die gleiche Prämie. Doch während es in Nürnberg alle zwei Jahre brannte, gab es drumherum monatlich Brände. Das wurde teuer – und auf alle Versicherten umgelegt. Die Nürnberger verließen die Brandassecuration daraufhin scharenweise. Damals wie heute gilt: Wer Menschen gegen ein Risiko versichert, muss wissen, wie groß dieses Risiko ist. Deshalb zählt die Assekuranz zu den frühesten Sammlern von Daten (siehe Zeitleiste unten). Bis heute sind Versicherer vorne dabei, wenn es darum geht, Daten zu sammeln und auszuwerten, um etwa die Risiken des Klimawandels, der Globalisierung von Handel und Produktion, des technologischem Fortschritts und von Cyberangriffen einschätzen. Nur so können sie sinnvollen und bezahlbaren Schutz anbieten. Doch „Daten ergeben nicht gleich ein klares Bild, sondern eine Vielzahl an Mustern – die man erkennen und richtig interpretieren muss“, sagt Volker Gruhn, Professor für Software-Engineering an der Universität Duisburg-Essen. Zumal immer neue Datenquellen dazukommen: Menschen bewegen sich im Internet, sie posten bei Facebook oder Twitter und übertragen Gesundheitsdaten über Handys. Einiges davon lässt sich nutzen, um Risiken besser zu berechnen. Aus dem immensen Haufen an Datengeröll filtern die Versicherer bisweilen winzige Partikel wertvoller Informationen heraus. Dafür kommen neue Methoden in der Datenverarbeitung zum Einsatz, sogenannte Advanced Analytics. Genauso wichtig sind Experten, die Ergebnisse zu interpretieren verstehen. Sonst werden Bezüge gesehen, wo keine sind. Nach dem Motto: wo weniger Störche, da weniger Kinder. „Um solche Fehlschlüsse zu vermeiden, braucht es eine engmaschige Kontrolle“, sagt Guido Bader, Vorstand der Stuttgarter Versicherungsgruppe. 1671 Neue Datenquellen verbessern nicht nur den Service, sondern – das zeigt die Geschichte – sorgen auch für mehr Kunden. Denn je mehr Daten vorliegen, desto besser ist das Risiko abschätzbar. Auch deshalb werden heute bei jeder betriebsärztlichen Untersuchung Dutzende unterschiedlicher Laborwerte erhoben. „In den 1930er-Jahren wurden noch 40 Prozent der Antragsteller bei der Risikolebensversicherung wegen eines Krankheitsbildes abgelehnt“, sagt Achim Regenauer, Chief Medical Officer der Munich Re. „Heute sind es nur noch ein bis zwei Prozent.“ Die Prämie, die zu mir passt Positionen # 4 _ 2 0 1 5 ERFINDEN Dank der Daten lässt sich das Risiko überdies genauer zuordnen: Je mehr Informationen es über den einzelnen Kunden gibt, desto passender kann die Prämie auf ihn zugeschnitten werden. Das allerdings bedroht die Idee der Versichertengemeinschaft: „Wenn wirklich das Risiko jedes Einzelnen bewertet wird, dann teilen wir die Risiken nicht mehr“, sagt zum Beispiel die Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, Christiane Woopen. Dies wäre, so fürchtet sie, das Ende der Solidarität in der Versichertengemeinschaft. Der Trend geht tatsächlich zu individualisierteren Policen, wie eine Oliver-Wyman-Umfrage unter 200 internationalen Versicherern zeigt – umstritten ist allerdings, ob er tatsächlich die Grundidee der Versicherung zerstören kann. Der Munich-Re-Experte Regenauer hält diese Sorge für übertrieben. Dass man Krankheits- oder Todesrisiken mittels Big Data exakt bestimmen kann, sei ein weit verbreiteter Irrglaube: „Wenn das stimmen würde, müssten auch die Lottozahlen vorhersagbar sein.“ Auch Stuttgarter-Vorstand Bader hält die Sorgen für überzogen. „Unterschiedliche Risiken unterschiedlich zu bewerten war schon immer Teil des Versicherungsgeschäfts“, sagt Bader. Und das müsse auch so sein. „Denn wer spürt, dass er zu viel zahlt, versichert sich sonst woanders – oder gar nicht.“ Bereits im 18. Jahrhundert wurden Beiträge bei der Risikolebensversicherung nach Altersgruppen gestaffelt. Heute zahlt der Porsche-Besitzer aus Berlin eine höhere Kfz-Prämie als der Dacia-Fahrer aus Münster, aber der Risikoausgleich in der Gemeinschaft funktioniert trotzdem. Durch Big Data bekommt die Individualisierung allerdings eine neue Dimension: Welche Risiken sind verhaltens- und welche genetisch bedingt? Inwieweit führen Risiken, für die ich als Individuum nichts kann, zu höheren Prämien? Das bewegt viele, ebenso die Frage, ob und inwieweit Big Data genutzt werden kann, um Menschen zu kontrollieren und zu manipulieren. Die Bundesdatenschutzbeauftragte Andrea Voßhoff sieht den Datenschutz „existenziell gefährdet“. Allerdings nicht durch die deutschen Versicherer. Sie wollen und müssen die Daten ihrer Kunden schützen, denn Daten dürfen in Deutschland grundsätzlich nur zweckgebunden erhoben werden – und in der Regel auch nur direkt beim Kunden. Eine wilde Datensammelei im Internet ist rechtlich nicht zulässig. Ausländische Anbieter sind kaum an diese Standards gebunden. Zum Ärger der deutschen WISSEN STATT RATEN: DEM RISIKO AUF DER SPUR 1693 Die erste wissenschaftliche Sterbetafel Der englische Forscher Edmond Halley erstellt die erste wissenschaftliche Sterbetafel und nutzt Vorarbeiten seines Landsmannes John Graunt und des Breslauer Pfarrers Caspar Neumann. Halley nutzt seine Sterbetafeln unter anderem, um ein optimales Prämienniveau für eine Lebensversicherung zu bestimmen. 1693 1700 1713 1713 Die Große Zahl Jakob Bernoulli entdeckt das „Gesetz der Großen Zahl“: Die Wahrscheinlichkeit eines zufälligen Ereignisses kann umso genauer vorhergesagt werden, je größer die beobachtete Masse ist. Versicherer brauchen daher große Datenmengen, um Risiken möglichst präzise bestimmen zu können. 24 / 25 Assekuranz, denn viele Kundenwünsche gehen weit über das hinaus, was hierzulande gesetzlich erlaubt ist. „Wir geraten im globalen Wettbewerb ins Hintertreffen“, ärgert sich LVM-Vorstand Schmidt, „weil bei uns Entwicklungen und Dienstleistungen ausgebremst werden, die in anderen Märkten ganz selbstverständlich entstehen.“ Der Souverän der Daten Schmidt plädiert für mehr Datensouveränität – beim Kunden: „Er muss selbst entscheiden, wer Daten zum Beispiel aus seinem Haus oder seinem Auto erhalten darf.“ Diese Daten müssten durch sichere Systeme gut geschützt sein und dürften nur für die vereinbarten Zwecke zwischen dem Kunden und dem Unternehmen verwendet werden. Es dürfe nicht darum gehen, mit den Daten zu handeln und Geld zu verdienen. Wohl aber darum, Versicherungen neu zu denken – aus Sicht der Kunden. „Das Internet erfordert einen einfachen und leichten Zugang zu Produkten“, sagt Schmidt. „Die Kunden wollen sich mit wenigen Klicks ein Produkt zusammenbauen, das gleichzeitig möglichst bedarfsgerecht und individuell sein soll.“ Eine Vielzahl an Studien zeige, dass Kunden sich immer mehr online informieren, Angebote vergleichen und bei einfachen Produkten diese auch im Internet kaufen wollen – während sie komplexere Probleme gerne mit einem Kundenberater besprechen möchten. Um diesen Vorteil zu nutzen, müssen sich die Versicherer auf Big Data einlassen. Wyman-Berater Kottmann beobachtet eine gewisse Skepsis – begründet im Wissen um das eigene Know-how, denn bei Datenerfassung und Risikobewertung liegt die deutsche Assekuranz weltweit vorn. In Big Data zu investieren sorgt erst einmal für mehr Kosten, während der Nutzen auf sich warten lässt. Kottmann fordert den Versicherern trotzdem den Mut ab, „mit guten und bewährten Techniken zu brechen“. Denn wer die Entwicklung falsch deutet, kann – wie einst die Nürnberger Brandassecurations-Anstalt – schnell in Richtung Konkurs trudeln. › Drei Zettabyte an Informationen flossen allein 2014 durch die weltweiten Datenkanäle – etwa drei Mal so viel wie es Sandkörner an den Stränden der Welt gibt. › 1756 Altersdifferenzierte Versicherungsprämien Der britische Mathematiker James Dodson entwickelt auf Basis von Sterbetafeln erstmals altersabhängige Lebensversicherungsprämien. Seine Erkenntnisse krempeln den Lebensversicherungsmarkt völlig um: 1762 setzt die neu gegründete Equitable Life Assurance Society Dodsons Ideen um. Andere Gesellschaften folgen. 1756 1782 Weil‘s nicht nur unter den Nägeln brennt Da Londons Feuerversicherer bei Kunden strikt nach dem Brandrisiko differenzieren, bekommen die Betreiber von Zuckerraffinerien keine Police mehr. Ihr Risiko gilt als nicht versicherbar. Also versichern sie sich selbst: Ihre Phoenix Fire Assurance wächst zu einem der weltgrößten Feuerversicherer heran. 1782 - 1783 Neue Risiken, neue Chancen: IBMDeutschlandchefin Martina Koederitz sieht eine „Revolution“ für Versicherer. WISSEN STATT RATEN: DEM RISIKO AUF DER SPUR 1783 Nürnberg muss neu rechnen Wo London zu stark differenziert, unterscheiden die Nürnberger zu wenig: Kunden in der Stadt zahlen für ihre Feuerversicherung die gleiche Prämie wie Kunden auf dem Land – obwohl die Brandgefahr auf den Dörfern viel höher ist. Scharenweise verlassen die Städter daraufhin die Versicherung, die prompt ihre Prämien anpasst. 1800 1839 Entwicklung der Versicherungsmedizin Die Gothaer stellt als erste Lebensversicherung in Deutschland Vertrauensärzte ein, um festzustellen, welche Personen zu normalen Bedingungen versichert werden können – und in welchen Fällen ein Risikozuschlag notwendig ist. In den 1870er-Jahren beginnen die ersten Versicherer, ihre medizinischen Erkenntnisse statistisch auszuwerten. 26 / 27 »DER KUNDE BRAUCHT DAS GEFÜHL: DIE VERSICHERUNG KÜMMERT SICH UM MICH« Deutschlands IBM-Chefin MARTINA KOEDERITZ legt der deutschen Assekuranz einen Perspektivwechsel nahe: weg vom Policen-Verkäufer und hin zum Service-Anbieter. Big Data rückt die Kunden in den Mittelpunkt. Frau Koederitz, Versicherer gehören zu den Erfindern von Big Data. Seit Jahrhunderten sammeln sie große Datenmengen und werten sie aus, um Risiken und Beiträge zu kalkulieren. Ist die Digitalisierung für sie ein Heimspiel? MARTINA KOEDERITZ: Versicherer wie auch Banken haben tatsächlich sehr früh angefangen, Unterlagen zu digitalisieren und ihre Prozesse elektronisch voranzutreiben. Jetzt aber geht es darum, aus den digital vorliegenden Daten auch Mehrwerte zu generieren: neues Wissen und neue Ansätze, die Versicherer nutzen können, um Risiken besser zu erkennen und abzuschätzen. Oder um die Beziehung zum Kunden auf eine andere Plattform zu stellen: Bisher schließt der Kunde eine Versicherung ab und braucht sie dann hoffentlich nie. Jetzt jedoch sehen die Versicherer, dass neue Anbieter in den Markt drängen, die sich sehr wohl überlegen, wie sie Informationen, Daten, Wissen besser nutzen für einen ständigen Austausch und Kontakt mit dem Kunden. Fehlen den Versicherern die passenden Angebote für diese neue Welt? MK: Die Frage wird sein, wie schnell Versicherer mit den vorliegenden Daten Dienstleistungen entwickeln, damit der Kunde das Gefühl hat: Die Versicherung kümmert sich um mich, selbst wenn gerade nichts akut anliegt. Die zweite Herausforderung liegt darin, neue Versicherungsmodelle und -möglichkeiten zu offerieren. Dazu gehören kurzfristig abschließbare Versicherungen per App für bestimmte Großveranstaltungen, Konzerte oder falls ich beispielsweise zwei Tage wandern gehen möchte. „Pay as you go“-Dienstleistungen also, und nicht Verträge, die für ein halbes Leben gelten. Das ermöglicht mehr Interaktion mit vorhandenen sowie potenziell neuen Kunden. Sind Versicherungen als Produkte nicht zu komplex, um in der plakativen Welt des Internets angeboten zu werden? MK: Es wird mehr Versicherungen geben, die sich schnell online oder per App abschließen lassen. Und andere, für die Beratung nötig ist. Bei Lebensoder Gesundheitsversicherungen geht es eher um die Transparenz der Varianten, um Informationsgenauigkeit, Risikobewertung, um das Abwägen: Was gefällt mir besser und was weniger gut? Gleichwohl wird man durch Datenanalyse künftig selbst schwierige Sachverhalte in Algorithmen packen können – und damit das Produkt vereinfachen. Je intuitiver die Services werden, desto höher ist die Chance, Kunden zu gewinnen. Wenn ich eine Krankenversicherungspolice danach aussuchen müsste, wie gesund ich mich ernähre, wie viel Sport ich treibe und welche Vorerkran› Positionen # 4 _ 2 0 1 5 Z ahlen und Daten gibt es heute mehr als genügend. Entscheidend ist, was man damit anfängt. Denn mit Big Data ändert sich die Rolle der Kunden und das Selbstverständnis der Versicherungsbranche als Dienstleister. Wohin führt die Digitalisierung? „Positionen“ hat eine Expertin in Sachen Big Data befragt: Martina Koederitz, die Deutschlandchefin von IBM. ERFINDEN INTERVIEW: MICHAEL PRELLBERG UND THOMAS WENDEL • FOTO: PHILIPP KÜLKER › 1852 Es brennt überall – aber anders Das Sun Fire Office beginnt, Bauart und Brandursachen von Gebäuden in verschiedenen Regionen zu erfassen. Dabei stellt man fest, dass die Brandgefahr etwa in indischen und chinesischen Metropolen geringer ist als in europäischen oder amerikanischen Großstädten. 1839 1852 1890 Beginn der maschinellen Datenverarbeitung Die US-amerikanische Zensusbehörde lobt einen Wettbewerb aus, wie ihre Datenmengen schnell und sinnvoll ausgewertet werden können. Hermann Hollerith gewinnt, seine Lochkartenmaschine kommt erstmalig bei der Auswertung des US-Zensus 1890 zum Einsatz. ERFINDEN Positionen # 4 _ 2 0 1 5 kungen es in meiner Familie gibt – da würde ich ebenso wenig durchblicken wie bei den Mobilfunkpaketen: weil die Angebote kaum vergleichbar sind. Was habe ich als Kunde dann von Big Data? MK: Hinter Big Data als Geschäftsmodell stecken ja personalisierte Dienste und Angebote. Das heißt immer: Ich habe die Qual der Wahl. Das suchen die Menschen ja im Internet: Wer den für mich besten personalisierten Service offeriert, bekommt meinen Zuschlag. Für die Anbieter wird es darum gehen, ihre Tarife einfach und transparent zu erläutern. Dadurch erhalten sie die höchste Akzeptanz beim potenziellen Kunden. Die Unternehmen müssen sich überlegen, wie viel Informationen sie bereitstellen, wie aktiv sie in Userforen und in ihren Callcentern sind. Unternehmen müssen also lernen, ihre Produkte verstärkt aus Kundensicht zu entwickeln? MK: Früher hat man eine Versicherung entwickelt und sie dann auf den Markt gebracht. Das reicht heute nicht mehr. Es stellen sich neue Fragen: Wer wird das Produkt kaufen? Was macht unseren Service besonders wichtig für denjenigen, der ihn nutzen soll? Der Kunde rückt ins Zentrum der Geschäftsmodelle. Da haben wir in Deutschland grundsätzlich ein bisschen Nachholbedarf, weil wir eine Wirtschaft haben, die sich traditionell stark an Unternehmenskunden orientiert … ... und weniger an den Endverbrauchern. MK: Das ändert sich gerade. Wenn sich erst einmal autonome Autos auf unseren Straßen bewegen, dann werden auch andere Versicherungen nachgefragt. Dann will der Fahrer vielleicht neuartige Dienstleistungen haben. Wie bewerten wir in einer digitalen Welt den Verlust von Daten? Wie Cyberrisiken? Es sind völlig neue Betätigungsfelder, für die Versicherer ihre Angebote nicht nur weiter-, sondern »DIE ANBIETER MÜSSEN IHRE TARIFE EINFACH UND TRANSPARENT ERLÄUTERN. DADURCH ERHALTEN SIE DIE HÖCHSTE AKZEPTANZ BEIM POTENZIELLEN KUNDEN.« teils auch neu entwickeln müssen. Das ist mehr als eine Evolution, das ist eine Revolution. Nehmen wir die Medizin. Wenn Big Data uns mit Informationen versorgt, muss ich viele Abläufe neu gestalten: wie ich Arzneimittel entwickele, wie personalisierte Medikation und Behandlungen ablaufen sollen. Das alles wird sich in den Krankenversicherungstarifen widerspiegeln. Sind die Versicherer bei diesem Wandel besonders exponiert? MK: Ja, absolut. Da das Produkt de facto schon digital ist, sind Versicherer und Banken besonders gefährdet durch neue Marktteilnehmer, die schnell die Schnittstelle zu ihren Kunden besetzen können. Wenn morgen ein branchenfremdes Unternehmen kommt und eine Versicherung anbietet, die digital extrem schnell abgeschlossen werden kann – gerade, wenn keine intensiven Prüfungen nötig sind –, dann ist diese Schnittstelle einfach zu kapern. Dagegen sollten Versicherer ihre Marke stellen, weil daran ja das Vertrauen der Kunden gekoppelt ist. Die Kunden sollen in kontinuierlicher Interaktion spüren: „Du kannst uns vertrauen, wir gehen zwar neue Wege, bleiben dabei aber ein verlässlicher Partner.“ Nehmen die Versicherer diese Herausforderung an? MK: Das hängt davon ab, wie schnell ein Unternehmen ein Geschäftsmodell drehen und zugleich die Unternehmenskultur grundlegend verändern kann. Es ist leicht, zu sagen, „Ja, wir wollen diese neue Schnittstelle besetzen“. Die entscheidende Frage lautet: wie? Kommt dieser Wandel eher von innen oder von außen, über den Zukauf von Unternehmen? MK: Entscheidend ist, Freiräume für Innovationen zu schaffen. Ob man das jetzt als Spin-off im eigenen Unternehmen organisiert oder ob man strategische Partnerschaften eingeht – entscheidend ist, die Geschwindigkeit zu erhöhen. Alle wollen eine agile, offene Unternehmenskultur. Allerdings, das muss ich jedoch einräumen, spielt in unserem Wirtschaftsumfeld IT noch eine eher untergeordnete Rolle. Das ist jetzt sehr bescheiden. IBM hat es schließlich geschafft, sich vom Hardware-Anbieter zum Dienstleister komplett umzustülpen. MK: In meiner Branche bringt jede Dekade eine neue technologische Revolution. Das war in den 1980er-Jahren der PC, in den 1990er-Jahren das Internet, und im vergangenen Jahrzehnt haben sich Software und Service stark entwickelt. 2002 haben wir die Beratungssparte von PricewaterhouseCoopers akquiriert und im selben Jahrzehnt Hunderte von Software-Firmen. Damit haben wir von außen Innovationspotenzial ins Unternehmen geholt. Wir akquirieren weiter, setzen aber stark auf Partnerschaften. Unternehmen müssen sich also in jedem Fall nach außen öffnen? MK: Davon bin ich überzeugt. Wenn ich an die Geschwindigkeit der Entwicklung von neuem Know-how denke, kann das alles eigentlich nicht mehr nur aus einem Unternehmen kommen. Ist das in den Chefetagen angekommen? Oder halten manche Manager WISSEN STATT RATEN: DEM RISIKO AUF DER SPUR 1894 Sicherheitsforschung In den Vereinigten Staaten gründen die Feuerversicherer mit den Underwriters Laboratories eine erste Forschungseinrichtung. Sie untersucht in nur fünf Jahren mehr als 1.000 Produkte auf ihre Brandsicherheit und beginnt damit, Sicherheitsstandards zu entwickeln. 1890 1894 1900 1941 Der Beginn des Computerzeitalters In Deutschland und den USA werden die ersten programmgesteuerten Rechenautomaten entwickelt. Die Technologie macht während des Kriegs rasante Fortschritte. Bereits 1954 wird das erste Rechenzentrum eines deutschen Versicherers gegründet. 28 / 29 Digitalisierung noch immer für ein reines IT-Thema? MK: Da ist sehr viel passiert in den letzten Monaten. Wer heute Digitalisierung als IT-Thema auffasst, dem kann ich nur sagen: Aufgabe nicht verstanden. Wer als Vorstandsvorsitzender nicht sieht, dass die Digitalisierung das komplette Unternehmen verändern wird, sieht die Digitalisierung als Bedrohung und nicht als Chance, sich zu verändern und sich zu entwickeln. Herrscht Angst in den Chefbüros? MK: Unternehmenslenker sind per se keine ängstlichen Menschen. Aber einigen fehlt das technologische Wissen. Sie unterschätzen die Geschwindigkeit der Veränderungen. Hinzu kommt: Die Deutschen haben nicht diese Affinität zur IT. Wir reden lieber von Autos, von unseren Maschinen- und Anlagenbauern, von unseren Industriekonzernen. Denen geht es ja gut. Vernachlässigen wir daher die digitale Herausforderung? MK: Die Herausforderung ist gigantisch. Die digitale Gesellschaft braucht zum Beispiel dringend Rahmenbedingungen dafür, wie das Geschäft organisiert sein muss. Und wir brauchen eine digitale Agenda nicht nur für Deutschland, sondern für Europa – ansonsten verpassen wir die Anforderungen in anderen für uns wichtigen Märkten. Deutschland ist zu klein, um Stan- ERFINDEN Positionen # 4 _ 2 0 1 5 Eine digitale Agenda für ganz Europa hält IBM-Deutschlandchefin Martina Koederitz für unverzichtbar, um verbindliche Standards für Datenschutz und -sicherheit zu schaffen. dards zu setzen. An diesen Standards fehlt es – sei es beim Datenschutz, bei der Datensicherheit oder in Sachen Cybersecurity. Viele deutsche Mittelständler denken bei Industrie 4.0 nur an automatisierte Fabriken und vernetzte Produktion. Radikal neue Geschäftsmodelle, wie die der US-Internetunternehmen Airbnb, Uber, Netflix oder Dropbox, sind hingegen kundenorientiert. Erst jetzt fangen solche Geschäftsmodelle an, auch in die produktorientierte deutsche Industrie einzuziehen. Müssen Unternehmen fürchten, Kunden zu verlieren, wenn sie die Digitalisierung nicht offensiv angehen? MK: Ich bin überzeugt, dass Digitalisierung und die Nutzung von neuen kognitiven Systemen nicht als IT-Thema verstanden werden, sondern als ganzheitliche Veränderung des Unternehmens in neuen Ökosystemen und in einer veränderten Kultur: Dieser Wandel wird für die Versicherungswirtschaft eine Chance darstellen – dafür gibt es beeindruckende nationale und internationale Beispiele in der Zusammenarbeit zwischen der Assekuranz und IBM. Wenn ich es aber plakativ ausdrücken soll: Ihr und unser aller größter Wettbewerber ist: nichts zu tun. Wir sollten gemeinsam und aktiv die Zukunft gestalten. Cyberspionage ist eine Kehrseite der Digitalisierung. IBM ist als US-Konzern betroffen von der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, der die Vereinigten Staaten zum unsicheren Terrain für europäische Daten erklärt hat. Zehrt das am Vertrauen der Kunden? MK: Wir sind seit 104 Jahren im Geschäft – niemand in der Branche hat so viel Vertrauen erzeugt wie wir. In Europa sind die größten Versicherer und Banken unsere Kunden, gerade weil wir verantwortungsvoll mit ihren Daten umgehen – und wir sie › › 1969 Raketenstart für Computerchips Bei der ersten bemannten Mondmission reist ein moderner Computerchip mit. Der Bordcomputer der Mondfähre Apollo 11 verfügt über einen Speicher von gerade einmal 74 Kilobyte. Aber die Entwicklung schreitet rasant voran: Bereits neun Jahre später sind auf den Schreibtischen deutscher Versicherungsvermittler die ersten Personal Computer (PC) zu sehen. 1941 1990 Die große Vernetzung Das Internet wird für kommerzielle Zwecke geöffnet. Es verändert nicht nur die gesamte Kommunikation der Menschheit, sondern wird auch zu einem gigantischen Datenschatz. 1969 Positionen # 4 _ 2 0 1 5 ERFINDEN »EINIGE DER UNTERNEHMENSLENKER UNTERSCHÄTZEN, MIT WELCHER GESCHWINDIGKEIT SICH TECHNOLOGIEN VERÄNDERN.« in europäischen Rechenzentren speichern. Die Fragen lauten doch eher: Wie kann Datenschutz in so einer stark vernetzten, sich schnell verändernden Welt überhaupt noch annähernd hergestellt werden? Wie befähige ich den Einzelnen in dieser digitalen Welt, verantwortungsvoller zu partizipieren, anstatt darauf zu warten, dass er von Anderen, vom Staat, geschützt wird? Wie können die Digitalanbieter ihre Angebote und Produkte von Grund auf – Stichwort „Embedded Security“ – sicherer machen? Wer macht Security zu einem Markenkennzeichen? Welcher Versicherer läuft da vorneweg? MK: Alle großen Versicherungen haben einen vertrauensvollen Namen, das ist ein ganz großes Plus. Aber wird die Millennium-Generation das noch genauso schätzen? Welche Werte sind für sie entscheidend? Das wird spannend. Die Versicherer sind kaum darauf vorbereitet, dass Loyalität nicht mehr der entscheidende Faktor bei der Wahl einer Versicherung ist. Sondern dass schnell gewechselt wird, wenn der Service nicht mehr attraktiv ist. Hat das Vermögen, attraktive Dienstleistungen anbieten zu können, auch etwas mit Diversity – einer Vielfalt beim Personal – zu tun? MK: Kreativität und Innovationspotenzial haben immer mit Diversity MARTINA KOEDERITZ Die Betriebswirtin stieg 1987 nach ihrem Studium als Systemberaterin bei IBM ein. Nach mehreren Managementstationen im Konzern wurde die heute 51-Jährige 2011 Vorsitzende der Geschäftsführung von IBM Deutschland. zu tun. Anderes Denken und andere Ansichten zuzulassen – dafür brauche ich mehr als nur IT-Techniker. Der Erfolg von IBM beruht auch darauf, dass wir Diversity seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts in unseren Werten, in unserer Strategie verankert haben. Wenn wir über alles Digitale nachdenken, ist es ja gerade die Vielfältigkeit, die den Anwender so begeistert. Wenn Vielfältigkeit in den Märkten das differenzierende Element ist, muss ich mir überlegen, wie ich in einem Unterneh- men Vielfältigkeit im Denken erzeuge. Nur so erhalte ich die größtmögliche Plattform für neue Ideen, Kreativität und Innovationspotenziale. Wie erzeuge ich diese Vielfältigkeit? MK: Zu Diversity gehört das zielorientierte gemeinsame Arbeiten an Aufgaben, ein soziales Netzwerken, damit die Mitarbeiter sich über ihre Bereichsgrenzen hinweg austauschen und so voneinander lernen können. Bei IBM haben wir seit Jahren unsere eigene Social-Media-Plattform. Alle 380.000 Mitarbeiter weltweit können mit jedem rund um den Globus jederzeit chatten, reden, Erfahrungen austauschen. Die Mitarbeiter bauen damit ihr eigenes berufliches Netzwerk auf. Inzwischen ist das ein riesengroßer Wissenspool. Das alleine wird kaum ausreichen. MK: Richtig. Ich muss den Mitarbeitern auch den Freiraum geben, über Aufgaben und Bereichsgrenzen hinweg voneinander und miteinander zu lernen. Einige Menschen streben nach Führungs-, andere nach Fachaufgaben. Für beides muss ich offen sein – ebenso für Einflüsse von außen, denn sie machen Unternehmen innovativer und erfolgreicher. Erfahrung wird zudem weniger wichtig. Wissen ist inzwischen so schnell überholt, dass ich eher darauf schaue, wer hat Ambitionen, wer hat Neugierde, wer zeigt eine gewisse Risikobereitschaft. Das hält ein Unternehmen agil und jung im Denken. Es sorgt dafür, dass eben nicht nur die eingefahrenen Wege verfolgt werden. Wenn wir diese eingefahrenen Wege verlassen, wohin wird uns der Prozess der Digitalisierung führen? MK: Der Weg ist das Ziel. Früher ging es darum, wie wir besser und schneller werden. Jetzt geht es darum, die Zukunft neu zu gestalten. Und das Tag für Tag. WISSEN STATT RATEN: DEM RISIKO AUF DER SPUR 1997 Das Big-Data-Problem Die Forscher Michael Cox und David Ellsworth berechnen, dass herkömmliche Computertechnik bei der Verarbeitung der Datenmassen an Grenzen stößt. Neue Lösungen läuten eine neue Ära in der Datenanalyse und -verarbeitung ein. 2007 Digitalisierung der Informationen 94 Prozent aller weltweit erfassten Daten sind digital abgespeichert. Zwei Jahrzehnte zuvor waren noch 99,2 Prozent analog gespeichert. Die Digitalisierung führt durch immer weiter verbesserte Datenanalyse zu neuen Erkenntnissen. 1990 1997 2000 2007 30 / 31 PRO& CONTRA Schnell übers Handy eine Versicherung abzuschließen, reizt viele Menschen. Diese Kunden wollen keinen Vertrag auf Dauer, sondern Schutz für diesen einen Anlass. Öffnet sich hier ein neuer Markt für die Assekuranz – oder eher eine Sackgasse? JÖRG GÜNTHER Versicherungsexperte und Partner bei der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG Versicherungsschutz für ein paar wenige Tage direkt per App beantragen, den Versicherungsschein per Mail erhalten und sofort abgesichert sein: klingt einfach. Gut und vernünftig ist es deshalb noch lange nicht. Falsche Sicherheit: Die Versicherungssummen sind in vielen Fällen ungenügend. Bei einer Unfallversicherung ist mit 50.000 Euro der Schutz viel zu gering, falls wirklich was passieren sollte. So werden Verbraucher in Sicherheit gewogen, obwohl keine Sicherheit besteht. Überflüssige Policen: Beliebt sind auch Versicherungen, auf die Verbraucher gut verzichten können, wie zum Beispiel der Kita-Ausflug-Schutz. Der Versicherer spielt bei diesen Angeboten mit den Ängsten der Eltern, denn die Kinder sind bereits über den Veranstalter versichert. Überhöhte Preise: Die Preise für den Schutz für wenige Tage betragen meist nur ein paar Euro, wie beim „Wiesnschutz“ für das Münchner Oktoberfest. Verbraucher werden so zum Kurzzeit-Abschluss verführt. Rechnet man die Kosten allerdings auf ein Jahr hoch, kostet diese Wiesn-Unfallversicherung 2.200 Euro. Viel zu teuer. Günstiger wäre es, eine Unfallversicherung gleich für 365 Tage abzuschließen. Ein weiteres Manko: Oft gilt der Schutz nur genau für das Event, für das er abgeschlossen wurde. Etwa der Unfallschutz extra für ein Fußballspiel: Die Versicherung gilt inklusive An- und Abreise zu diesem Spiel. Verletzen sich Kunden aber am selben Tag abends in der Wohnung, besteht kein Versicherungsschutz mehr. Das kann mit einer vollwertigen Versicherung nicht passieren. Fazit: Solange die Preise so hoch und die Versicherungssummen so niedrig sind, machen Kurzzeit-Versicherungen für Verbraucher keinen Sinn. CONTRA HERMANN-JOSEF TENHAGEN Chefredakteur des gemeinnützigen Online-Verbrauchermagazins „Finanztip“ Positionen # 4 _ 2 0 1 5 Kunden wollen Entscheidungen schnell in die Tat umsetzen. Versicherer sind nun in der Pflicht, Angebote zu schaffen, die diesen Ansprüchen gerecht werden. Kurzfristige Versicherungsabschlüsse über Apps lohnen sich. Tatsächlich sind die Abschlusszahlen bei den Versicherern bislang jedoch überschaubar. Das könnte sich bald ändern: Die Kunden wollen in der Situation entscheiden – etwa beim Skifahren, im Fußballstadion oder wenn sie das neue Smartphone in Händen halten und es versichern möchten. App-Abschlüsse bieten vor allem eins: kurzfristige Sicherheit, falls die Versicherung zur jeweiligen Situation vergessen wurde. Auch für die Anbieter wird dieses Metier immer interessanter, weil sie hierdurch als serviceorientiert wahrgenommen werden. Ist die Produktpalette groß und die Möglichkeit des Abschließens quasi immer vorhanden, steigt damit die Kundenzufriedenheit. Darüber hinaus zeigen sich die Unternehmen als moderne Partner, die die neuen digitalen Interaktionskanäle bestmöglich nutzen. Es sollte nicht verschwiegen werden, dass die Kunden über die App im Gegensatz zu klassischen Tarifen bislang noch höhere Beiträge zu entrichten haben, dafür jedoch einen geringeren Versicherungsschutz genießen. Doch genau dieser Missstand könnte sich bald ändern. Der mittelbare Erfolg von Versicherern wird künftig noch stärker von der Kundenorientierung sowie den Möglichkeiten digitaler Kommunikation abhängen. Apps werden hier ein wichtige Baustein sein: Die traditionellen Werte, die beim Kunden nachgefragt werden, verschieben sich. »Immer da, immer nah« wird abgelöst von »Nah bei Bedarf«. PRO ERFINDEN ÜBER APP VERSICHERT – IST DAS SINNVOLL? MEHR ALS 800.000 FLÜCHTLINGE ERREICHEN 2015 DEUTSCHLAND Es wird eng: 300 Flüchtlinge sind in der Alfred-Fischer-Halle im nordrhein-westfälischen Hamm untergebracht. Nicht nur für die Erfordernisse des täglichen Bedarfs ist gesorgt – Versicherungen sorgen ebenfalls für Schutz. 32 / 33 SIE BRAUCHEN SCHUTZ Überall in Deutschland entstehen Flüchtlingsheime. Tausende Gebäude gilt es zu versichern. Die Assekuranz nimmt die Herausforderung an. Und kommt ihrer Verantwortung gegenüber den Menschen und der Gesellschaft nach. geschäftsführung des Gesamtverbands der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV). Im Mittelpunkt steht der Schutz der Menschen. „Versicherer sehen ihren Auftrag darin, Flüchtlingen eine sichere Unterbringung zu ermöglichen. Das verlangt von uns eine besondere Aufmerksamkeit“, sagt von Fürstenwerth. Wenige Objekte, viel Arbeit „Wir haben viel Arbeit mit den relativ wenigen Objekten“, erklärt Klaus Zehner, Vorstand der Sparkassenversicherung in Stuttgart. „Das ist der Sache aber auch angemessen“, sagt Zehner. Die Versicherung arbeitet eng mit den Kommunen zusammen und hat derzeit 400 Objekte im Bestand, die von Asylsuchenden genutzt werden – die meisten in Baden-Württemberg, Hessen und Thüringen. Es werden laufend neue Objekte in den Bestand aufgenommen. „Die Unterbringung von Flüchtlingen betrachten wir als gesamtgesellschaftliches Thema“, sagt auch Hermann Kasten, Vorstand der VGH-Versicherungen aus Hannover. Wie bei jedem anderen Objekt auch werden mögliche Gefährdungen jeder einzelnen Flüchtlingsunterkunft gesondert beurteilt. Ausschlaggebend dafür ist, wie sicher die Unterkunft ist, in welchem Zustand sich das Gebäude befindet und wie viele Menschen wie lange dort leben. „Unsere Statistiken zeigen, dass der Schadenaufwand deutlich höher liegt, wenn Häuser nur kurzzeitig von wechselnden Personen genutzt werden“, sagt Jörg von Fürstenwerth vom GDV. Das gilt für Touristen, Montagearbeiter, Studenten oder Flüchtlinge gleichermaßen. › Positionen # 4 _ 2 0 1 5 J etzt kehrt wieder Leben ein ins vierstöckige Gebäude im Bonner Zentrum. Im Spätsommer fuhren Lastwagen auf den Schulhof, auf dem zwei Jahre lang kein Kind mehr spielte, weil die PestalozziSchule wegen zu niedriger Schülerzahlen schließen musste. Helfer verwandelten die Klassenzimmer in Wohn- und Schlafstätten und stellten Container mit Dusch- und Sanitäranlagen ab. Jetzt leben etwa 120 der mehr als 2.200 Flüchtlinge in Bonn hier – bis sie ein neues Zuhause finden. Ähnlich wie in Bonn geht es in vielen deutschen Kommunen zu. Behörden und freiwillige Helfer arbeiten mit Hochdruck daran, den Neuankömmlingen ein Dach über dem Kopf zu geben. Dabei geht es nicht allein darum, ausreichend Wohnraum, Betten, Schränke und Lebensmittel zur Verfügung zu stellen. Eine herausragende Rolle spielt das Thema Sicherheit. Gibt es Fluchtwege in der Unterkunft und Evakuierungspläne in fremden Sprachen? Sind ausreichend Rauchmelder und Feuerlöscher vorhanden? Weder Schulen, noch Baumärkte, Turn- oder Lagerhallen sind dafür gebaut, dass Menschen dauerhaft in ihnen leben. Versicherer achten deshalb darauf, dass wichtige Sicherheitsvorkehrungen getroffen und eingehalten werden. Der Zuzug hunderttausender Menschen bedeutet auch für die Assekuranz Überstunden. „Wir schätzen, dass die Zahl der versicherten Flüchtlingsunterkünfte inzwischen im fünfstelligen Bereich liegt, hinzukommen zigtausend private Wohnungen“, sagt Jörg von Fürstenwerth, Vorsitzender der Haupt- SCHÜTZEN TEXT: HEIMO FISCHER »WIR HABEN VIEL ARBEIT MIT DEN RELATIV WENIGEN OBJEKTEN, DAS IST DER SACHE ABER AUCH ANGEMESSEN.« KLAUS ZEHNER, Positionen # 4 _ 2 0 1 5 SCHÜTZEN Vorstand Sparkassenversicherung Stuttgart, zu Flüchtlingsheimen Kommen weitere Gefahren hinzu – etwa im Falle einer Überbelegung –, erhebt der Versicherer unter Umständen einen Risikozuschlag. Die Sparkassenversicherung orientiert sich zum Beispiel am Flüchtlingsaufnahmegesetz Baden-Württembergs. Das sieht eine durchschnittliche Wohn- und Schlaffläche von mindestens sieben Quadratmetern pro Person vor. Diese Mindestfläche ist auch aus einem anderen Grund notwendig: Sind die Menschen zu dicht gedrängt untergebracht, fehlt es an Rückzugsmöglichkeiten für diejenigen, die nach Wochen der Flucht angespannt sind und in eine ungewisse Zukunft schauen. „Das kann belastend sein und aggressiv machen“, erklärt Michael Deuschle, Leiter der Arbeitsgruppe für stressbezogene Krankheiten am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim. Alle gleich behandeln Außer in Sammelunterkünften werden Flüchtlinge auch in privaten Wohnräumen untergebracht. Bei diesen mache es keinen Unterschied, ob eine Flüchtlingsfamilie einzieht oder ein einheimisches Paar mit Kindern, so die Sparkassenversicherung. Woher die Menschen kommen, ist für die Versicherer dabei unerheblich. Die Grundlagen der Police können sich jedoch ändern, wenn ein Gebäude zuvor nicht als Wohnhaus gedient hat – wie zum Beispiel bei Sporthallen, Lagerräumen oder Flugzeughangars. Ziehen dort Menschen ein, müssen die Versicherer die Risiken neu bewerten. Schließlich wird nun in Räumen, in denen das gar nicht vorgesehen war, plötzlich geraucht und täglich gekocht, es werden elektrische Hausgeräte betrieben. Die Tätigkeiten der Versicherer enden nicht bei der Absicherung von Gebäuden und Einrichtungen. Auch die Gegen den Hunger Im bayerischen Zirndorf werden Essenspakete an Flüchtlinge ausgegeben. ehrenamtlichen Helfer müssen versichert sein. So decken die Berufshaftpflichtversicherer vieler niedergelassener oder in Kliniken angestellter Ärzte in vielen Fällen auch ehrenamtliches Engagement ab. Pensionierte Ärzte wiederum haben die Möglichkeit, eine Berufshaftpflicht für gelegentliche ärztliche Tätigkeit abzuschließen. Auch Flüchtlinge können aus Versehen Schäden anrichten – zum Beispiel als Fußgänger oder Radfahrer im Straßenverkehr. „Deshalb ist zumindest der Privathaftpflichtschutz wichtig“, sagt Peter Meier, Vorstand der Nürnberger Allgemeine Versicherungs-AG. Flüchtlinge und ihre Familien können wie jeder andere Bürger diese Verträge abschließen, selbst wenn das Anerkennungsverfahren noch nicht abgeschlossen ist. Natürlich steht die Versicherung nicht an oberster Stelle bei ihnen, aber über Gruppenverträge für Kommunen können auch Flüchtlinge unkompliziert versichert werden. Bei der Allianz erhalten Flüchtlinge für drei bis fünf Euro im Monat eine Privathaftpflichtversicherung. Verdienen soll an dem Abschluss niemand. Die Vertreter erhalten keine Provision, wenn sie einen dieser Gruppenverträge vermittelt haben. Bevor Neuankömmlinge an Versicherungen denken können, muss zunächst die Existenzgrundlage gesichert sein. Viele der GDV-Mitgliedsunternehmen haben Hilfsprojekte gestartet oder stellen Mitarbeiter ab, die sich um Flüchtlinge und ehrenamtliche Helfer kümmern. Die Allianz beispielsweise vermittelt Bewerbungstrainings und Integrationskurse für Flüchtlinge. „Wir unterstützen damit ihren Integrationsprozess ins tägliche Leben unseres Landes“, sagt Alexander Vollert, Vorstandschef der Allianz Versicherungs-AG. Bücher zum Deutschlernen Die Eingliederung ist auch der VGH-Stiftung wichtig. Mit dem niedersächsischen Bibliotheksverband stattet sie Büchereien flächendeckend mit Unterrichtsmaterial aus, um Flüchtlingskindern das Deutschlernen zu erleichtern. Denn diese sollen möglichst bald in eine Schule gehen, um zu lernen – und nicht, um dort zu wohnen. 34 / 35 UM DEN GLOBUS: KUBA Das Schöne am Sozialismus: Der Staat sorgt für seine Bürger. Daher schließen Kubaner selten private Versicherungen ab – es sei denn, sie treten in Kontakt mit dem Rest der Welt. REISEVERSICHERUNG Seit Mai 2010 müssen Kubaner vor einer Reise ins Ausland eine Reiseversicherung abschließen. Dasselbe gilt für alle Touristen, die die Insel besuchen. Diese Versicherung kann sowohl über die kubanische Asistur als auch über ausländische Versicherer abgeschlossen werden. Das hat dazu geführt, dass Assekuranzen aus Ländern, in denen viele Exil-Kubaner leben, spezielle Abkommen mit dem kubanischen Staat vereinbaren, um auf der Insel Versicherungsschutz anbieten zu können. Dabei richten sich die Strukturen und Normen der Joint Ventures nach kubanischen Regeln. Besonders erfolgreich ist der spanische Dienstleistungskonzern Mapfre. Seine Reiseversicherung deckt Unfälle, Gepäckverlust und Krankheiten ab und enthält auch eine Haftpflichtversicherung. INTERNATIONALE KURIERDIENSTE Die auf der Insel zurückgebliebene Familie mit Geld, Dokumenten und diversen anderen Dingen zu versorgen, ist für die meisten ausgewanderten Kubaner eine Selbstverständlichkeit. Diese Marktchance haben verschiedene international operierende Kurierdienste erkannt. Den Absendern ist dabei vor allem wichtig, wie verlässlich die Lieferung ankommt – das wiederum ist abhängig davon, wie gut das Unternehmen mit dem kubanischen Staat harmoniert. Gegen den Verlust der Sendung können sich die Absender versichern. Einer der Kuriere, der eine Vertrauensbasis aufgebaut hat, ist übrigens die Deutsche-Post-Tochter DHL. SCHÜTZEN STAATSVERSICHERUNG Kubaner kennen eigentlich nur ein Versicherungsunternehmen – den Staat. Er übernimmt beispielsweise die Kranken- oder Ausbildungsversicherung, und das fast kostenlos. Auch das Rentensystem läuft komplett über den kubanischen Staat. Die beiden staatlichen Versicherer sind dem Finanzministerium untergeordnet. Esicuba, gegründet 1963, richtet sich insbesondere an Geschäftskunden, am häufigsten werden laut Geschäftsbericht Lastentransportversicherungen nachgefragt, recht häufig auch die obligatorischen Reiseversicherungen (siehe unten). Esicuba „operiert in allen Versicherungsbereichen, mit Ausnahme von Leben, Kfz und Landwirtschaft“. Darum kümmert sich Esen, gegründet 1978. Bei Esen können Kubaner sich auch gegen dauerhafte oder temporäre Invalidität versichern. Positionen # 4 _ 2 0 1 5 SEGUROS? NO, GRACIAS. Der kubanische Sozialismus hat es sich zur Aufgabe gemacht, für alle Eventualitäten vorzusorgen. Daher würde jedes Versicherungsangebot, das über das staatliche Sicherungsnetz hinausweist, im Prinzip auf eine Lücke des Systems hinweisen und wäre gewissermaßen eine Art Systemkritik. Die Logik dahinter: Je weniger Versicherungen nötig sind, desto besser läuft scheinbar das System. Daher versichern Kubaner nichts und niemanden, wenn sie nicht müssen, nicht einmal das eigene Auto. Dafür müssen sie zwar jährlich die Zulassung erneuern – und dafür auch bezahlen –, aber eine Haftpflichtversicherung ist keineswegs obligatorisch. Solch ein Schutz ist nicht einmal für Mietwagen verpflichtend. Zugucken statt Mitfahren: Biathletin Andrea Henkel auf Heimatbesuch in der Skihalle Oberhof. SCHNEE VON GESTERN Ihre Altersvorsorge lässt die Biathlon-Olympiasiegerin ANDREA HENKEL in Deutschland zurück – um sie in Amerika wieder aufzubauen. Ein Gespräch über Neuanfänge. TEXT: JUDKA STRITTMATTER FOTO: HAGEN WOLF E in sonniger Tag in Oberhof, Andrea Henkel kommt pünktlich ins „Café Iglu“, das zur hiesigen Skihalle gehört. „Ich bin Andrea“, sagt sie freundlich und unaufgeregt – Sportlerin halt. Dass diese zarte Person jahrelang so erfolgreich mit einem Gewehr rumhantiert hat, kann nur glauben, wer sie selbst im Fernsehen oder an der Loipe gesehen hat. Zwei Olympiasiege hat die Biathletin eingefahren, acht Mal Gold bei Weltmeisterschaften, 46 Weltcup-Triumphe. Letztes Jahr hat sie Schluss gemacht mit der aktiven Karriere, den US-Biathleten Tim Burke geheiratet und seinen Namen angenommen. Sie zieht mit ihm in seine Heimat, nach Lake Placid. Wenn jetzt die Biathlonsaison anläuft, wird Andrea Henkel nicht mehr dabei sein. Frau Henkel, Sie sind eine äußerst beliebte Sportlerin, eine Mischung aus nationalem Eigentum und Local Hero für Thüringen. Und trotzdem kehren Sie dem Sport und Deutschland den Rücken. Verstehen das die Leute? ANDREA HENKEL: Das hört sich so hart an! Leider kann ich meinen Sport nicht bis ins Rentenalter betreiben, außer- »ICH WÄRE VIELLEICHT AUCH EINE GUTE SEKRETÄRIN GEWORDEN. ABER ICH MÖCHTE MICH WEITER VIEL BEWEGEN – UND WERDE JETZT PERSONAL TRAINER.« ANDREA HENKEL Biathlon-Olympiasiegerin dem bin ich ja nicht aus der Welt. Die Leute um mich herum wissen, dass ich meinen eigenen Kopf habe und verstehen, warum ich nach Amerika ziehe. Ich mache das ja nicht, um sie zu ärgern. Außerdem: Es ist sehr schön in meiner neuen Wahlheimat! Aber auch sehr fremd, oder? AH: Ich bin ja schon seit sieben Jahren immer mal wieder in Lake Placid und habe schon ein kleines Netzwerk dort, mit dem ich mich wohl fühle. Aber muss es denn wirklich so weit weg sein? AH: Meine Oma fragte auch: Muss es denn unbedingt ein Amerikaner sein? ständig bleiben. Ich wäre vielleicht auch eine gute Sekretärin geworden, aber ich möchte mich auch weiter viel bewegen und mit Menschen arbeiten, die mein Interesse für gesunde Ernährung und Bewegung teilen. Auf Englisch ist das natürlich noch mal eine Extra-Herausforderung, und da habe ich durchaus noch Potenzial nach oben! Aber neulich habe ich meine Schwester schon auf Englisch angeredet – vielleicht ein gutes Zeichen. Kann man als Olympiasiegerin eigentlich mehr Geld von seiner Kundschaft verlangen? AH: Ich denke, ich kann nur so viel von meinen Klienten verlangen, wie meine Arbeit wert ist. Meine Olympiasiege machen mich aber sehr glaubwürdig, wenn es um sportliches Training geht. Außerdem brauche ich nicht so viel, um glücklich zu sein, keine 15 Autos vor der Tür. Schlecht soll es mir und meinem Mann natürlich auch nicht ge- hen. Wir wollen ein Haus bauen in Lake Placid, und dort möchte ich auch mein Personal-Training-Studio einrichten sowie nutzbare Außenanlagen, um mit meinen zukünftigen Klienten vor Ort zu trainieren. Müssen Sie überhaupt arbeiten oder könnten Sie auch den ganzen Tag Fliegenfischen gehen? AH: Ich habe es nicht durchgerechnet, ob ich bis ans Ende meines Lebens durchkommen würde. Aber ich habe natürlich gut gespart in all den Jahren und könnte auch sicher die Füße eine Weile ruhiger halten. Aber arbeiten – das will ich für mich. Von 100 auf Null, damit würde ich nicht zufrieden sein, das weiß ich. Für den täglichen Bedarf würde mein angelegtes Geld eventuell reichen, aber ich will ja auch weiterhin schöne Reisen machen, ein paar Mal im Jahr nach Deutschland fliegen. Und Kinder will ich auch haben. Ist die Altersvorsorge dann überhaupt noch ein Thema für Sie? AH: Daran habe ich schon recht früh gedacht. In Form von Lebensversicherungen, privater Rentenvorsorge oder anderen Anlagen. Leider werde ich in Deutschland einiges auflösen müssen, weil ich sonst in den USA zusätzliche Steuern darauf zahlen muss. Das hat US-Präsident Obama eingeführt, um das Geld der Einwohner im Land zu halten. Ich werde also auch der deutschen Versicherungswirtschaft teilweise den Rücken kehren und mich in Amerika für die Zukunft absichern müssen. Bestimmte Entscheidungen bedürfen gewisser Maßnahmen. Nach all den Jahren des Trubels – wird sich Lake Placid nicht seltsam still für Sie anfühlen? AH: Nun, ich freue mich drauf. Ich war immer viel unterwegs durch den Sport, jetzt möchte ich sesshaft werden. Natürlich werde ich es vermissen, dass ich nicht mal eben zum Geburtstag meiner Freunde und Familie um die Ecke gehen kann. Aber was den Trubel betrifft: Darauf kann ich verzichten. Ich bin meinen Fans und allen, die an mich geglaubt haben, unglaublich dankbar. So viele Jahre hatten sie mich im Winter in ihrem Wohnzimmer. Aber manchmal wurde es mir schon etwas eng, wenn man mich immerzu in den Arm nehmen wollte. Da kam ich mir schon mal vor wie im Streichelzoo. Positionen # 4 _ 2 0 1 5 Darauf konnte ich nur antworten: Die deutschen Jungs haben ihre Chance gehabt! Ihr Mann hat in einem Interview gesagt, er findet toll, wie Sie sich für Neues begeistern können. AH: Ja, das stimmt. Er hat mich auch für sein großes Hobby begeistert, das Fliegenfischen. Oder anders gesagt: für Camping mit frisch gefangenem Abendessen. Sie wollen in den Staaten als Personal Trainer arbeiten und machen derzeit eine Fitnesstrainer-Ausbildung. Wie kam diese Entscheidung zustande? AH: Ich wollte nicht etwas komplett Neues erlernen, dabei aber auch selbst- SCHÜTZEN 36 / 37 SCHÜTZEN Positionen # 4 _ 2 0 1 5 Das Handy als Kamera: Versicherte schicken gern „Beweisfotos“ ein – oft noch eines und noch eines, damit bloß kein Detail übersehen wird. 38 / 39 SIEHE FOTOS IM ANHANG Versicherte dokumentieren echte und angebliche Schadensfälle gern ausgiebig mit Fotos von ihren Handys. Und die Schadenregulierer? Müssen sich das alles angucken. E ine der wichtigsten Reliquien der deutschen Versicherungsbranche wird im Museum von Borussia Dortmund ausgestellt. In einer Vitrine des Borusseums liegt die legendäre Brille des BVB-Meistertrainers Jürgen Klopp. Das Titanflex-Modell ging im Februar 2011 im wilden Jubel über den 3:1-Sieg gegen den FC Bayern zu Bruch und wurde nach dem Spiel zum Härtetest für die Schadenregulierer. Gleich mehrere Betrüger reichten ein Foto der Brille bei ihrer Versicherung ein, gaben Klopps Lesehilfe als ihre eigene aus und forderten Schadenersatz. Die Fotos hatten sie aus dem Internet geladen. Einige ziehen fremde Fotos aus dem Netz, andere zücken ihre Smartphones, um angebliche Schadensfälle zu dokumentieren: Ein Betrüger kaufte in einem Internetauktionshaus für wenig Geld defekte Fahrradkomponenten. Ein gebrochener Carbon-Rahmen, ein Satz beschädigter Laufräder, dazu Kleinteile wie Bremsen und Sattel mit einigen Macken wurden zu einem vollständigen Fahrrad zusammengesetzt. Der Mann fotografierte sein Flickwerk, meldete den Diebstahl seines angeblich hochpreisigen Zweirads und machte einen Schaden von 5.000 Euro geltend. Die „Beweise“ von seiner Handykamera sendete er per E-Mail – siehe Fotos im Anhang. Das Handy, immer griffbereit Laut Digitalverband Bitkom nutzen mehr als sechs von zehn Bundesbürgern ab 14 Jahren ein Smartphone samt Kamera und haben ihre Handys im Alltag fast immer griffbereit. Diese Verbreitung hat, im Guten wie im Schlechten, „große Auswirkungen auf die Schadenabwicklung“, heißt es etwa bei der Debeka. Kaum ein Blechschaden, der nicht unverzüglich und umfassend per Handykamera festgehalten wird. Sie ist auch schnell bei der Hand, um bei einem Einbruch beschädigte Fensterscheiben und Möbel zu fotografieren, oder auch die Notreparatur einer geborstenen Wasserleitung. Wer seine Versicherer so fix mit Informationen versorgt, erwartet eine schnelle Reaktion. Deshalb sichtet die Debeka die Fotos umgehend und gibt mitunter bereits nach einem Telefonat den Auftrag zum Beseitigen der Schäden, sofern der Kostenvoranschlag – etwa von einer Kfz-Werkstatt – zum eingereichten Foto passt. Auch die Axa wertet die Smartphone-Schnappschüsse positiv: „Sie ersparen Besichtigungen und helfen bei der Aufklärung.“ Vorausgesetzt, die Fotos sind „aussagekräftig, das heißt, der Schaden ist erkennbar und einer lokalen Örtlichkeit zuzuordnen“. Geradezu dankbar sind Versicherer, wenn die Folgen von schweren Unwettern, Hagelschlag oder Flutkatastrophen fotografisch dokumentiert werden. Da ein Gutachter womöglich erst nach Tagen vorbeikommt, wird bei solchen Kumulschäden die lückenlose Dokumentation fast wichtiger als die sofortige Schadenmeldung. Angst, in Terabytes an Bildern zu ertrinken, haben die Regulierer nicht. Dann müsse eben die Speicherkapazität angepasst werden, heißt es lakonisch bei der R+V Versicherung. Und: Bei jedem einzelnen Foto könnten die Regulierer leicht nachvollziehen, ob es manipuliert worden ist. So wenig überzeugend die Aussage eines Versicherten ist, er hätte einen unerwarteten Schadenfall mangels Kamera nicht dokumentieren können – vertraglich ist er nicht dazu verpflichtet. Manche Menschen benutzen ihr Handy ja tatsächlich nur zum Telefonieren. Ratsam ist es aber, einen entstandenen Schaden direkt vor Ort zu dokumentieren. Positionen # 4 _ 2 0 1 5 SCHÜTZEN TEXT: HELMUT MONKENBUSCH REGELN Zum Jahreswechsel greift das neue europäische Aufsichtsregime Solvency II. Das sorgt für viel Bürokratie, neue Strukturen und zwingt die Versicherer, verstärkt darüber nachzudenken, was sie tun – und was sie künftig besser lassen. W ie das Wetter in 35 Jahren wird, weiß niemand. Trotzdem versuchen sich Klimaforscher daran, entscheidende Trends schon heute zu erkennen. „Was ich hier mache, ähnelt einer langfristigen Wettervorhersage“, sagt Nils Dennstedt, wobei er häufig sogar 80 Jahre in die Zukunft rechnet. Für besonders verlässlich hält der Leiter der versicherungsmathematischen Abteilung der Provinzial NordWest Lebensversicherung seine Prognosen nicht, wohl aber für unverzichtbar: Solvency II will es so. Positionen # 4 _ 2 0 1 5 Nonstop rechnen die Computer Solvency II heißt die europaweit größte Reform des Versicherungsaufsichtsrechts. Künftig muss jedes Unternehmen einschätzen, ob es finanziell ausreichend ausgestattet ist, um die Ansprüche seiner Kunden zu bedienen. Dabei hat jeder Versicherer allgemeine, branchen- und unternehmensspezifische Risiken zu betrachten. Für Lebensversicherer wie die Provinzial NordWest heißt das: Sie müssen auf Basis demografischer Annahmen regelmäßig vorrechnen, dass ihr Haus selbst extreme Ereignisse verkraften könnte, die statistisch nur alle 200 Jahre auftreten. „Die Zahlen zu liefern, die die Aufsicht künftig interessieren, ist zunächst einmal eine immense Rechenarbeit“, sagt Dennstedt. 24 Stunden liefen seine Computer nonstop, um einmal vollständig durchzurechnen, ob das Haus die neuen Solvenzkapitalanforderungen nach Maßgabe aller möglichen Modellannahmen erfüllt. Dank neuer Computer geht das jetzt zwar schneller, doch fertig ist Mathematiker Dennstedt mit den Berechnungen trotzdem so gut wie nie: „Sobald unvorhergesehene Ereignisse dazu kommen, wie derzeit die Diskussion um manipulierte Abgaswerte und deren Effekt auf die Kapitalmärkte, setzt man wieder neu an.“ Dabei ist Solvency II mehr als Technik und Formeln und Bürokratie. Wenn ab 1. Januar 2016 nach mehr als acht Jahren eines zwischendurch quälend langsamen Gesetzgebungsprozesses endlich ein einheitliches europäisches Aufsichtsregime für die Branche gilt, beginnt tatsächlich eine neue Ära: für Produktentwickler, für Kapitalanlagestrategen sowie für alle, die sich zu kümmern haben um die Regeln und Praxis guter Unternehmensführung, oder neudeutsch: Governance und Compliance. Solvency II wird die Praxis, Organisation und Kultur vieler Unternehmen substanziell verändern, vermutet Götz Treber, Leiter der Abteilung Risikomanagement beim Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV). „Solvency II schafft vor allem Transparenz über viele Zusammenhänge, die bisher nicht so offensichtlich waren“, sagt Treber. „Doch was die einzelnen Versicherer daraus machen, bleibt letztlich weiter ihre unternehmerische Entscheidung.“ Wobei sich zeigt: Sobald es weniger um das Was geht als um das Wie, sprießen aus einem juristischtechnischen Regelwerk auf einmal höchst menschliche Fragestellungen. Die Testphase läuft ab Auf die etwa Monika Köstlin passende Antworten sucht. Die Vorstandsvorsitzende des Kieler Rückversicherungsvereins muss nun eine Fülle von Meldungen an die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) übermitteln, die dem eigenen Geschäft nicht unmittelbar dienen. Die menschliche hinter dieser technischen Herausforderung: Köstlins Leiterin des Rechnungswesens muss nun alle drei Monate zusätzlich eine neu angeschaffte Software mit den Ergebnissen von Schadenabwicklungsdreiecken und anderen Modellberechnungen füttern. „So eine BaFin-Meldung ist nicht an einem Vormittag ausgefüllt“, sagt Köstlin: „Wir können aber auch niemanden nur für die Bedienung der Technik beschäftigen.“ Also versucht sie, sich irgendwie mit Bordmitteln durch das Meldewesen zu kämpfen. Einerseits fühlt Köstlin sich vor› 4 0 / 41 ALLES BLEIBT ANDERS Positionen # 4 _ 2 0 1 5 MONIKA KÖSTLIN blickt zuversichtlich in die Zukunft, obwohl die Regeln von Solvency II der Vorstandsvorsitzenden des Kieler Rückversicherungsvereins durchaus zusetzen. Köstlin vertritt zudem als geschäftsführender Vorstand des Verbands der Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit 160 Klein- und Kleinstversicherer. REGELN TEXT: OLAF WITTROCK REGELN Positionen # 4 _ 2 0 1 5 DIE DREI SÄULEN VON SOLVENCY II Säule I: Versicherer müssen über so viel Kapital verfügen, dass sie selbst extrem seltene Negativereignisse, wie Naturkatastrophen oder Börsencrashs, verkraften können. Wie hoch die Kapitalausstattung sein muss, hängt ab von den Risiken des Geschäftsmodells und der jeweiligen Kapitalanlagestrategie. Säule II: Versicherer müssen gegenüber der Aufsicht nachweisen, dass sie über kompetentes Führungspersonal verfügen. Säule III: Solvency II ist zugleich Aufsichts- und Frühwarnsystem. Damit es funktioniert, müssen Unternehmen über ihre Finanzlage, Risiken und wesentliche Geschäftsbereiche berichten – und zwar nicht nur der Aufsichtsbehörde, sondern auch der Öffentlichkeit. bereitet auf den Stichtag 1. Januar, hat die Kieler Rück doch an verschiedenen Testläufen der BaFin teilgenommen. Andererseits hat sie bisher kaum Rückmeldungen bekommen. Köstlin hat den Eindruck, als würden alle Beteiligten derzeit abwarten: Niemand will einen Fehler begehen, niemand sich zu weit aus dem Fenster lehnen. „Wer weiß, vielleicht wäre es besser, von Januar bis Mai eine Urlaubssperre zu verhängen“, scherzt Köstlin. Es liegt eine gewisse Bitterkeit in diesem Humor. Köstlin kennt in ihrer zweiten Tätigkeit als geschäftsführender Vorstand des Verbands der Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit die Nöte von bundesweit rund 160 Klein- und Kleinstversicherern. Die sollen eigentlich vom Solvency-IIRegelwerk schonender behandelt werden, „doch wurde bisher versäumt, diesen Grundsatz durch konkretere Ausgestaltungen ausreichend mit Leben zu füllen“. Kleinere Unternehmen wie die Kieler Rück fühlen sich nicht nur bei manchen Berechnungsfragen – der „Säule I“ des neuen Regimes – allein gelassen. Noch größere Unsicherheit herrscht bei ihnen über das, was die Aufsicht unter „Säule II“ vorschreibt: nämlich einen Nachweis darüber, dass das Führungspersonal in der Lage ist, mögliche Risiken zu kontrollieren. Dabei gerät die Kieler Rück schnell an Grenzen. Köstlin muss vier Schlüsselfunktionen besetzen, die unabhängig voneinander operieren sollen. Sie braucht also getrenntes verantwortliches Personal für Risikomanagement, für Compliance, für Versicherungsmathematik und für die interne Revision. Ihr Problem: Bei der Kieler Rück arbeiten bloß acht Leute. Zwei hauptberuflich und aufgrund der schlanken Struktur entsprechend umfangreich operativ tätige Vorstände, ein ehrenamtlicher Vorstand und fünf weitere Angestellte, von denen zwei überdies nur in Teilzeit beschäftigt sind. „Doppelte Kontrollinstanzen sind für uns nur schwer darstellbar“, sagt Köstlin. Woher die Kontrolleure nehmen? Ihr Plan sieht nun so aus: Die Versicherungsmathematik leitet sie selbst, Risikomanagement und Compliance werden bei einem Mitarbeiter gekoppelt und die interne Revision wird ausgelagert – wobei der Ehrenamtler als Ausgliederungsbeauftragter fungiert. „Wir gehen davon aus, dass diese Ausgestaltung auch bei der Aufsicht auf Akzeptanz stoßen wird“, sagt Monika Köstlin zuversichtlich. Immerhin hat sie inzwischen derart viele Protokolldokumentationen und Unternehmensleitlinien bei der Kieler Rück schriftlich fixiert, dass sie hofft, so den Solvency-IIAnsprüchen zu genügen. »DIE GEWÜNSCHTEN ZAHLEN ZU LIEFERN, IST EINE IMMENSE RECHENAUFGABE.« NILS DENNSTEDT, PROVINZIAL NORDWEST Dann gibt es noch die „Säule III“, das umfassende Meldewesen. „Für die Jahres- und Quartalsberichte sind jeweils Hunderte von Feldern auszufüllen“, sagt Sabine Pelzer, Leiterin des Risikomanagements bei der Deutschen Versicherungsund Rückversicherungs-AG (Darag). Die Darag hat sich auf den Run-off von Schaden- und Unfallversicherern spezialisiert, übernimmt also deren inaktives Geschäft in die eigene Bilanz. Auch für die Darag mit ihren immerhin 34 Mitarbeitern ist es schwierig, all die Ämter als separate Einheiten zu schaffen, die sich die Aufsicht zur internen Kontrolle wünscht. Versicherungsmathematik und Risikomanagement etwa sind im Alltag eng miteinander verzahnt. Die Aufsicht interessiert sich auch dafür, wer diese Aufgaben künftig wahrnimmt. Die Darag muss daher die Qualifikation ihres Führungspersonals nachweisen und melden, Lebenslauf und Führungszeugnis inklusive. Als Spezialversicherer findet sich die Darag zudem nicht in allen vormodellierten Standardansätzen wieder. Solvency II sieht in solchen Fällen eine entsprechende Würdigung des jeweiligen Risikoprofils im ORSA (Own Risk and Solvency Assessment) vor, was Pelzer durchaus begrüßt. Zugleich merkt sie an, dass es teilweise aufwen- Jetzt ist Pragmatismus gefragt Daher passiere inhaltlich weit weniger als formal, sagt Immo Querner, Finanzvorstand des drittgrößten deutschen Versicherungskonzerns Talanx. „In meinen Augen werden die faktischen Auswirkungen von Solvency II auf die Kapitalanlage von Versicherern vielfach überschätzt“, sagt Querner. Was die Aufsicht fordere, müsste die Branche sowieso aus eigenem unternehmerischen Interesse auch ohne Regulierung umsetzen. Solvency II zwingt die Branche, erstmals Risiken mit der entsprechenden Kapitalausstattung zu verknüpfen. Sinkt also beispielsweise das Anlagevermögen durch sinkende Aktienkurse oder Kreditausfälle, ohne dass sich die Verbindlichkeiten entsprechend reduzieren, hat der Versicherer ein Problem, weil sein Eigenkapital zunehmend angeknabbert wird. „Das sind asymmetrische Risiken, die Solvency II dem Grunde nach völlig richtig artikuliert“, sagt Querner, „gerade da Versi- NILS DENNSTEDT (oben links) ist bei der Provinzial NordWest Lebensversicherung AG als Leiter des Aktuariats auch für die Umsetzung von Solvency II zuständig. IMMO QUERNER (oben Mitte) ist Finanzvorstand des Versicherungskonzerns Talanx und engagierter Unterstützer der neuen Solvency-IIRegeln. SABINE PELZER (oben rechts) leitet als Chief Risk Officer seit 2011 das Risikomanagement der Deutschen Versicherungsund RückversicherungsAG (Darag). cherungen aufgrund der Deckungszusagen an ihre Kunden per se über einen hohen Verschuldungsgrad operieren.“ Das ist keine neue Erkenntnis. Versicherer hätten vielmehr auch schon früher gut daran getan, sagt Querner, derartige Risiken zu beachten. Jeder Versicherer könne im Rahmen der Solvency-II-Vorgaben auch weiterhin so handeln wie er wolle. Die Unternehmen müssten nur die Risikokosten tragen und entsprechend viel Kapital dafür vorhalten. „Allerdings haben Versicherer mit ihren langfristigen Verbindlichkeiten auch klare Vorteile“, erklärt Querner. Wer wie Talanx das Kapital in Immobilien anlegt, in PrivateEquity-Fonds oder in Infrastrukturprojekte wie Stromnetze oder Windparks, der muss sich darauf einstellen, viele Jahre in den Investitionen festzuhängen, also nur schwerlich ohne Verluste an sein Geld zu kommen. Kein Problem, sagt Querner, „wir wissen ziemlich genau, wann wir das Geld wieder brauchen.“ Begrenzte Risiken Diversifikation ist ein weiteres Instrument, um Risiken zu begrenzen, ganz im Einklang mit Solvency II. Talanx hat in den vergangenen Jahren die Zahl seiner Vertragspartner für Kreditgeschäfte auf mehr als 800 vervierfacht. Das reduziere die Ausfallwahrscheinlichkeit deutlich, sagt Finanzvorstand Querner. Ergebnis: „Vieles von dem, was wir heute in der Anlagestrategie aus Eigeninteresse bereits umsetzen, entspricht auch dem, was Solvency II fordert.“ Wenn es bloß überall so einfach wäre. Positionen # 4 _ 2 0 1 5 dig sei zu erklären, wo die Standardformel passt und wo nicht. So sinnvoll der Einsatz mathematischer Modelle auch ist, die Darag setzt bewusst auf den Einsatz von Experten und deren Einschätzungen. Dabei erweist sich Solvency II, wenngleich von Juristen verfasst, grundsätzlich als geschmeidig. Die Versicherer sollen sich an die Prinzipien halten und sich nicht sklavisch an Paragrafen entlanghangeln. Das ist eine in ihrem Pragmatismus völlig neue Herangehensweise – gerade für das deutsche Aufsichtsrecht. REGELN 4 2 / 43 REGELN Positionen # 4 _ 2 0 1 5 »WIR SIND HART, ABER FAIR« Die europäische Versicherungsaufsicht Eiopa sorgt dafür, dass Solvency II ab 1. Januar 2016 umgesetzt wird. Behördenchef GABRIEL BERNARDINO schaut Kontrolleuren der einzelnen Länder genau auf die Finger. INTERVIEW: MICHAEL PRELLBERG 4 4 / 45 Positionen # 4 _ 2 0 1 5 REGELN H err Bernardino, von Neujahr an gang ins Regelwerk gefunden. Letztlich funktiogreift Solvency II. Auftrag erleniert die Balance, deshalb: Ja, Solvency II ist fair. digt! Lehnen Sie sich entspannt Obwohl das Regelwerk Staatsanleihen als superzurück? sicher einschätzt und Unternehmensanleihen als riskant? Der Markt sieht das anders. Und Solvency GABRIEL BERNARDINO: Im Gegenteil. Dieser Tag II will doch den Markt abbilden … markiert das Ende einer langen Reise – und den Auftakt zu einer neuen. In den vergangenen 15 GB: Das stimmt, da werden wir nachbessern. Allerdings werden Staatsanleihen bereits jetzt imJahren haben wir ein schlüssiges abgestimmtes Aufsichtsregime entwickelt; wahrscheinlich mer mit ihrem aktuellen Wert berücksichtigt – da brauchen wir weitere zehn Jahre, bis es umfassind wir nahe am Markt. Einige Versicherer gelten als „too big to fail“, was send implementiert ist und ein echter europaweiihnen hohe Kapitalreserven abfordert. Wie legititer Markt entsteht. mieren Sie diesen Aufschlag? Warum wird diese Reise so lange dauern? GB: Die nationalen Aufsichtsbehörden müssen GB: Auf Versicherungsseite steigen wir erst jetzt durch ihre Aufsicht dafür sorgen, dass jedes Unin die Debatte um „systemische Risiken“ ein. In ternehmen das Regelwerk wirklich beherzigt. der Finanzkrise 2008/09 haben wir gelernt, dass ein Versicherer wie AIG entscheidende EntwickUnd Eiopa hat dafür zu sorgen, dass die Behörden ihrer Aufgabe nachkommen. Noch ist Solvency II lungen innerhalb des Finanzsystems vorantreiein Regelwerk – es wird Jahre brauchen, bis es ben kann. Das können wir nicht ignorieren. Seitdem versuchen wir herauszuarbeiten, wann und selbstverständliche und gelebte Praxis ist. Dieser Prozess startet 2016. warum ein Unternehmen das System ins Wanken Ist das nicht zu spät? bringen kann. Ein erstes Ergebnis: Es kommt auf GB: Den strategischen Schwenk vom Regelwerk die Art der Aktivitäten an. Wenn ein Versicherer beispielsweise stark in Derivate investiert zur Aufsicht haben wir bereits 2014 gestartet, weil uns bewusst war, dass hat, kann das massive Auswirkungen auf das gesamte es jede Menge Fragen geben würde. Es gibt zwar Kritik System haben. Wer solche an Zahl und Umfang unseRisiken heraufbeschwört, sollte auch das Geld dafür rer Richtlinien, aber: Genau dort finden sich die Antworzurücklegen. Was passiert, wenn der erste ten auf die meisten Fragen. Versicherer aufgibt und er Sollte irgendetwas noch das Übermaß an Bürokratie nicht stimmig sein, klären und Kontrolle dafür verantwir das auf dem Weg. Wir wortlich macht? wollen einen europäischen Markt, in dem alle UnterGB: Wenn ein Versicherer Mann mit Übersicht: scheitert, liegt das niemals nehmen gleich behandelt Der Portugiese Gabriel Bernardino führt an Solvency II – oder irwerden und nach denselben die Eiopa seit 2011. Regeln spielen. Haben wir gendeinem anderen Regelwerk. Momentan gibt es zwei Gründe, warum dieses Ziel erreicht? Offen gesagt: Nein. Werden wir dieses Ziel denn je erreichen? ein Unternehmen untergehen kann: das eigene GB: Ich bin zuversichtlich. Solvency II legt die Geschäftsmodell und das niedrige Zinsniveau. Basis, jetzt sind die einzelnen Länder gefordert. Solvency II hilft, kann aber Firmenpleiten nicht In denen sich nicht nur das Verständnis von Aufvermeiden. Es setzt die richtigen Anreize, denn sicht unterscheidet, sondern auch Geschäftsmoes sorgt dafür, die Versprechen von Versicherern delle. Wie kann Solvency II allen gerecht werden? besser einschätzen zu können. Zehn Jahre soll die neue Reise dauern. Wo wird die GB: Mit Solvency II hat es so lange gedauert, weil Assekuranz stehen, wenn sie endet? wir allen gerecht werden wollen – nicht zuletzt den deutschen Lebensversicherern und ihren GB: Man kann nicht dieselben Produkte auf dieLangfristgarantien. Unsere Aufsicht muss stark selbe Art und Weise verkaufen, wenn sich die und mitunter hart sein – aber fair. Welt rasant ändert. Menschen nutzen heute ihr Ist es fair, wenn kleineren Versicherern derselbe Smartphone, um Versicherungen abzuschließen bürokratische Aufwand wie den großen abgeforoder ihre Altersvorsorge zu planen – daher braudert wird und deutsche Lebensversicherer, die chen die Versicherer neue Köpfe, die verstehen mit dem niedrigen Zinsniveau kämpfen, alle drei und umsetzen, was Kunden heute wollen. Dann Monate ihre Kapitalreserven anpassen müssen? wird sich die Assekuranz neu erfinden – und ich GB: Wir wissen um diese Probleme, sie haben Einbin zuversichtlich, dass ihr das gelingen wird. DIE JUGENDPILLE Positionen # 4 _ 2 0 1 5 KOLUMNE Was passiert, wenn ein Wirkstoff auf den Markt kommt, der das Altern verlangsamt und die durchschnittliche Lebenserwartung um etwa 50 Jahre anhebt? Dramatisches. S tellen wir uns vor: Im Jahr 2020 bringt ein kalifornisches BiotechUnternehmen einen Wirkstoff auf den Markt, der das Altern verlangsamt. Dank der Jugendpille können Menschen nun ohne weiteres 130 Jahre alt werden. Der Hersteller, Spitzname „Pill Gates“, wird rasch zum reichsten Mann der Erde. Die Verjüngung ist allerdings nicht rückwirkend zu haben. Als die Jugendpille aufkommt, kann ein 70-Jähriger seine verbleibende Lebenserwartung um gerade einmal drei Jahre verlängern. Ein 30-Jähriger kann bereits 30 Jahre älter werden. Und ein Neugeborenes kann die neue Lebenslänge voll ausschöpfen. Biologische Phasen wie Geschlechtsreife im zweiten oder weibliche Menopause im sechsten Lebensjahrzehnt lässt der Wirkstoff unverändert. Die Menschen werden immer älter und sehen dabei immer jünger aus. Wer ab 2020 die Jugendpille nimmt, kann 2090 – mit 80 Jahren – aussehen, wie man zuvor mit 40 ausgesehen hat. Es gibt auch keinen Grund mehr, mit 30 Jahren besonnener zu werden. Das Gefühl, jung zu sein, hält nun Jahrzehnte länger an, einschließlich der damit verbundenen Risikofreude. In Europa findet die Sekte der „Authentisch Alternden“ Zulauf, eine Gruppe von Pillenverweigerern. Durch radikale Gesetzesänderungen müssen die Rechtssysteme der sprunghaft angestiegenen Lebenserwartung angepasst werden – für jemanden, der 130 Jahre alt werden kann, ist die herkömmliche Dauer einer Haftstrafe wesentlich leichter zu verschmerzen. Das Aufschieben entwickelt sich zu einer neuen Lebensphilosophie. Zunächst überlagern die geburtenstarken Jahrgänge der 1960er-Jahre, die ins Rentenalter drängen, die langsam spürbaren Auswirkungen der Jugendpille – die Gesellschaft wird vehement älter. Um 2060 stoppt der seit Peter Glaser ist nicht nur bekennender Technikfreund, sondern auch Journalist und Schriftsteller. Der Gewinner des IngeborgBachmann-Preises schreibt regelmäßig Kolumnen, etwa für „Technology Review“ – und jetzt für „Positionen“. einem Jahrhundert anhaltende Bevölkerungsschwund in den Industrienationen erstmals. Die Bevölkerungszahl erreicht wieder den Stand von 2010. Die Folgen der Jugendpille machen aus Reformen Revolutionen. Wirtschaftszweige wie Versicherungen und Banken, die ihre Geschäfte an einer nunmehr obsoleten Lebenserwartung ausgerichtet hatten, sehen sich mit drastischen Umwälzungen konfrontiert. Das Rentenalter wird jährlich um ein Jahr erhöht und 2059 drei Jahre lang bei 99 Jahren angehalten; schließlich wird es auf 110 Jahre festgelegt. Das Rentensystem wird vom Umlageverfahren wieder auf das vor der Rentenreform von 1957 betriebene Ansparsystem umgestellt. Die Kosten der Systemumstellung führen zu Renteneinbußen von weit über 50 Prozent und einer Protestbewegung, die in Aufständen einer transeuropäischen Rentnerguerilla gipfelt. Da mit einem zwölfjährigen Schulbesuch nicht mehr genug Wissen für die kommenden 110 Jahre zu vermitteln ist, wird das kaskadierte Bildungssystem eingeführt: 10 Jahre Unterricht, gefolgt von 20 Arbeitsjahren, dann eine neuerliche Schulzeit etc. Statt eines befürchteten Zerfalls der Generationensolidarität erweisen sich familiäre Bindungen als erstaunlich stark. Da zunehmend vitale ältere Familienmitglieder zur unentgeltlichen Kinderbetreuung zur Verfügung stehen, wird auch das Kinderkriegen wieder attraktiv. Im ersten Drittel des 22. Jahrhunderts erreichen die „Age Boomer“ die Grenzen ihrer Lebenserwartung. Nach einem Jahrhundert, in dem der Alterstod mancherorts zu einem fast exotischen Ereignis geworden ist, setzt ein massenhaftes Sterben ein. Es sei denn, irgendwer erfindet bis dahin die nächste Wunderpille. Aber das wäre dann eine ganz andere Geschichte. 4 6 / 47 EUROPA OBENAUF Europa ist der wichtigste Versicherungsmarkt der Welt – mit den meisten Beitragseinnahmen und ausgezahlten Leistungen. IM ZENTRUM DES GESCHEHENS Anteile der Kontinente am weltweiten Beitragsaufkommen VOM NEHMEN – UND VOM GEBEN Beitragseinnahmen und ausgezahlte Leistungen in Europa (2014) gesamte Beiträge ausgezahlte Leistungen 1.169 Mrd. € 943 Mrd. € Lebensversicherungsbeiträge ausgezahlte Lebensversicherungen 714 Mrd. € 630 Mrd. € Beiträge für alle anderen Versicherungen ausgezahlte Leistungen 455 Mrd. € 313 Mrd. € Nordamerika 29% 35% Europa 4% Z A H L E N, B I T T E Ozeanien und Afrika 4% JOBMOTOR ASSEKURANZ Zahl der Versicherungsunternehmen und ihrer Angestellten WO FINDE ICH MEINEN ANSPRECHPARTNER? Vertrieb von Lebensversicherungen im Ländervergleich Deutschland 548 Europa Unternehmen (unter Bundesaufsicht) 4860 Türkei WIE INVESTIEREN VERSICHERER DAS GELD IHRER KUNDEN? Das Portfolio der Assekuranz in Europa (2014) Unternehmen Frankreich 293.500 Angestellte bei Versicherern und Mittlerunternehmen Deutschland 13,0 % 7,8 % Investmentfonds Beteiligungen 6,5 % 13,6 % Aktien Darlehen und Hypotheken Schweden 3,4 % Immobilien Bankassekuranz 1.000.000 Direktversicherer Angestellte bei Versicherern Vertreter Makler 52,4 % 3,3 % Andere Anleihen andere Vertriebswege Quelle: „Insurance Europe – Key Facts“ (Insurance Europe, 2015); „Statistisches Jahrbuch“ (GDV, 2015) IMPRESSUM Herausgeber: Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e. V. V.i.S.d.P.: Christoph Hardt Konzeption und Realisierung: Axel Springer SE Corporate Solutions Projektmanagement: Christopher Brott Druck und Vertrieb: Möller Druck Redaktion: Jörn Paterak, Thomas Wendel (GDV); Michael Prellberg (Axel Springer) Autoren: Heimo Fischer, Flavia Gonzalez Castro, Birgit Haas, Ingo Kramer, Helmut Monkenbusch, Dennis SchmidtBordemann, André Schmidt-Carré, Christian Siemens, Elke Spanner, Judka Strittmatter, Olaf Wittrock Fotoredaktion: Anni Tracy Art-Direktion: Christian Hruschka, Stefan Semrau (twotype design) Layout: Christina Maria Klein, Uwe Holländer (twotype design) Litho: pixactly, Hamburg Lektorat: Anja Poerschke Redaktionsanschrift: Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e. V., Kommunikation, Wilhelmstraße 43 / 43 G, 10117 Berlin Telefon: 030 / 20 20 – 59 14 Fax: 030 / 20 20 – 69 14 Kontakt und Abo: [email protected] Bildnachweise: Mehmed Zelkovic/ Moment Open/ Getty Images: S. 1, 8-9 Martin Kess: S. 3, 18-19, 40-41 Hagen Wolf: S. 2-3, 36-37 Volker Hartmann/ dapd/ddp: S. 4 Alexander Joe/AFP/ Getty Images: S. 5 Bernd Weißbrod/dpa: S. 5 Wang Zhao/AFP/ GettyImages: S. 6 Sebastian Reimold/Action Press: S. 10-11, 44, 45 Pawel Sosnowski: S. 12-13 Marina Weigl: S. 14 Lars Berg/VISUM: S. 16-17 Oxford Science Archive/ Getty Images: S. 23 The Print Collector/ Getty Images: S. 24 Universal History Archive/ Getty Images: S. 24 Archive Photos/ Getty Images: S. 25, 28 Philipp Külker: S. 26, 29 SSPL/Getty Images: S. 26, 27 US National Security Agency: S. 28 NASA: S. 29 Michael Stuparyk/Toronto Star via Getty Images: S. 29 Chad Baker/Jason Reed/ Ryan McVay via Getty Images: S. 30 Ina Fassbender/dpa: S. 32-33 Marc Müller/dpa: S. 34 Robert Wolf: S. 38-39 The Federal Reserve Bank of New York: S. 48 PR: S. 2, 7, 31 (2), 42, 43 (2) Illustrationen: Michael Stach: S. 15, 35 Klaus Meinhardt: S. 10, 13, 17, 18, 20-21 Positionen # 4 _ 2 0 1 5 Südamerika und Karibik 28% Asien DIE SCHÖNSTE V E R S IC H E R U N G SSACHE DER WELT 32 Positionen # 4 _ 2 0 1 5 MILLIONEN EURO 674 FLÜGE FÜR 674 TONNEN GOLD NICHT IN FORT KNOX, SONDERN IN NEW YORK stapeln sich die Goldreserven der Deutschen Bundesbank. Nicht alle, aber immerhin 674 Tonnen – und die kommen jetzt nach Hause, in 674 Flügen. Denn mehr als eine Tonne Gold pro Flug sind nicht erlaubt. Nicht wegen des Gewichts, sondern wegen der Transportversicherer. 32 Millionen Euro müssen sie der Bundesbank zahlen, falls die wertvolle Fracht auf dem Weg abhandenkommt. Die ersten Flüge aus New York und Paris – wo ebenfalls Barren lagern – sind bereits in Frankfurt am Main eingetroffen, in fünf Jahren soll der letzte Goldflieger landen. Mehr Details verrät die Bundesbank ungern – höchstens, wie das deutsche Gold überhaupt nach New York gekommen ist. Mit Russenangst und Kaltem Krieg hat das nichts zu tun, die Wahrheit ist prosaischer: Die Exporte der Wirtschaftswunderjahre brachten Deutschland jede Menge Dollars ein, die bei der US-Zentralbank gegen Goldforderungen eingetauscht werden konnten. Seitdem liegen die Barren dort.
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