Poesiefestival Berlin 2015 Colloquium „Die Zukünfte der Dichtung“ | 21. Juni | 13 Uhr Abteilung „Mehr als ein Ich“ | Key Note Tristan Marquardt Beim Blick auf das kollektive Schreiben scheint mir trotz der diversen Umsetzungen, die diese Form literarischer Produktion bereits gefunden hat, nachwievor entscheidend zu sein, dass es auf eine grundsätzliche Weise in Frage steht. Als jemand, der das kollektive Dichten mit derselben Selbstverständlichkeit praktiziert wie das eigenständige, sieht man sich mit beharrlicher Regelmäßigkeit mit zwei Zweifeln konfrontiert. Der eine liegt darin begründet, dass im hiesigen Literaturbetrieb ganz im Gegensatz etwa zu großen Teilen der Literaturtheorie die Vorstellungen von Autorschaft immer noch und immer wieder aufs Neue von den Konzeptionen der Klassik und Romantik durchzogen sind. Genieästhetik, Originalität und überhaupt alles, was das literarische Arbeiten als einen einzigartigen schöpferischen Akt versteht, sind vor allem deshalb so witterungsfeste Kategorien, weil sie auf dankbar unterkomplexe Weise zu erklären scheinen, wie Texte in die Welt kommen und wann das seine Berechtigung hat. Natürlich nimmt kaum noch jemand den Geniebegriff guten Gewissens in den Mund, und doch sind Literturvermarktung, -kritik und allzu häufig auch das Selbstverständnis der Literat_innen ohne die neoliberale Adaption der Genieästhetik nicht zu erklären. Der andere Zweifel ist demgegenüber ein sekundärer. Er bezieht sich auf die Vermutung, dass die Kooperation von mehreren Dichter_innen zwangsläufig dazu führen muss, dass Kompromisse eingegangen werden, die die Qualität des Produktes beeinträchtigen. Kollektiv verfasste Texte, so lautet ein ebenso beharrlicher Vorwurf, würden einerseits zu auffälliger Diversität im Ausdruck neigen und andererseits die Spitzen des Einzelnen glätten, um von mehreren als ‚eigen’ bezeichnet werden zu können. Dass solche Vorwürfe Wege sind, über etwas sprechen zu können, das sich offenbar den vorhandenen Kategorien zum Umgang mit Literatur immer wieder entzieht, wird einem dann klar, wenn man der Kritik das Wissen verweigert, dass es sich um einen kollektiv verfassten Text handelt. Noch nicht ein einziges Mal sind mir in einem solchen Fall dieselben Vorwürfe begegnet; sie scheinen mit den Texten selbst wenig zu tun haben. Vor nicht allzu langer Zeit habe ich bspw. gemeinsam mit Tabea Xenia Magyar einen Lyrikpreis erhalten, wo die Jury bass erstaunt war, als sie erfuhr, dass die anonymisiert eingereichten, prämierten Texte zusammen verfasst waren. Für mich, der in Gruppenzusammenhängen literarisch groß geworden und für den Literatur in erster Linie soziale Praxis ist, war das kollektive Schreiben ein logischer Schritt, andere Ausdrucksmöglichkeiten zu finden und Anderes auszudrücken. In der Vielzahl lassen sich, so meine praktische Erfahrung, Dinge sagen, die sich in der Einzahl nicht sagen lassen. Schreibt man zu zweit, stellt man fest, dass sich dabei nicht zwei Weisen des Schreibens zusammenfinden, sondern dass eine dritte entsteht. Da das Unterfangen als Experiment angelegt ist, wird man selbst experimentierfreudiger, steuert Material bei, das schon von sich aus weniger ‚eigen‘ ist. Das Schreiben zu zweit ist die Keimzelle einer doppelten Idee des Kollektiven: Das ‚Eigene‘ auszudrücken, schränkt man dafür ein, auf die Suche nach einem ‚Gemeinsamen‘ zu gehen, das gerade nicht in der Addition der Positionen, sondern in ihrem Dialog und ihrem Konflikt liegen wird. Die Texte sind prozessualer, weniger abgeschlossen, und wenn sie gelingen: kommunikativer. Dabei stellen sie nicht zuletzt auch in Frage, was das ‚Eigene‘ überhaupt sei. Schreibt man zu acht, zehnt oder zwölft, wie wir es mit G13 tun, multiplizieren sich diese Vorgänge. Online-Dokumente werden Baustelle und Müllhalde; man braucht Scheren, Wände und Geduld. Dass so etwas funktioniert, ist alles andere als selbstverständlich, denn es setzt selbstverständlich Rücksicht auf Andere und Vertrauen aufs Ungewisse voraus. Was es speist, ist der Glaube an Pluralität. Und das geht auch live. Noch kaum haben die Literaturveranstalter_innen erkannt, welches Potenzial spontanes kollektives Dichten auf der Bühne hat. Ich kann aus Erfahrung berichten, dass die Übung, die so etwas braucht, ihr Gegenstück in einer kaum gekannten Aufmerksamkeit des Publikums hat, jedes Wort wird verfolgt. Und dabei geht es nicht um Unterhaltung, sondern letztlich um Partizipation an der Produktion, Literatur als sozialer Praxis. Hier sind Wege zu beschreiten, die jenseits ohnehin schon bühnenaffiner Formate wie dem Slam liegen, und sie sind wie viele Pfade des kollektiven Schreibens aufgrund des beschriebenen und zu verabschiedenden Unbehagens ihm gegenüber noch kaum begangen.
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