Steven Wineman Untermacht Seelisches Trauma als gesellschaftliche Normalität – Auswege aus dem System individueller, familiärer und politischer Gewalt mit einem Vorwort von Aurora Levins Morales Gewidmet ELISABETH Für Eric und die Welt, in die er hineinwächst Originalausgabe unter dem Titel "Power-Under – Trauma And Nonviolent Social Change" © 2003 Steven Wineman http://www.traumaandnonviolence.com Übersetzung und deutsche Ausgabe / korrigierte 1. Auflage © 2013 Karin Schnurpfeil viele Lebensbereiche, in denen er sich seiner Wirkgewalt und der Möglichkeit effektiven Handelns genau bewußt ist. Die Ohnmächtigkeit bleibt jedoch auf einer tieferen und grundlegenderen Ebene seelischer und emotionaler Realität bestehen und schwelt weiter. Wenn man auslösende Reize erlebt, schießt sie an die Oberfläche und zieht einen im selben Moment hinab auf diese tiefere Ebene, auf der man das Trauma so mühevoll begraben hat. Die Kraft und die Mittel, die man sonst im täglichen Leben kennt, schmelzen dahin. Ausbrüche traumatischer Wut können von dem traumatischen Ereignis selbst ganz abgekoppelt sein – weil viel Zeit vergangen ist, weil der Traumatisierte die Wut jetzt in einem ganz anderen Umfeld erlebt oder weil er sich des Zusammenhangs gar nicht bewußt ist. Doch selbst wenn man die Wut bewußt mit dem traumatischen Ereignis in Verbindung bringt, bedeutet das nicht, daß man sich auch der Macht gewahr ist, die man gerade verkörpert oder daß man die Wut auch konstruktiv ausdrücken kann. Wenn Herman die traumatische Wiederholung als "zwanghaft und hartnäckig" 106 bezeichnet, so trifft das auf die Erfahrung von Ohnmächtigkeit, die der Betroffene macht, ganz besonders zu. Bewußtsein ist zwar ein entscheidender Faktor, aber Bewußtsein alleine führt nicht automatisch dazu, daß das Trauma aufgelöst wird. Wenn nicht andere Hilfsmittel hinzukommen, kann es schlichterdings dazu führen, daß man bewußt leidet. Wenn das Trauma ausgelöst wird, kann der Betroffene erschreckend abrupt in den Zustand des Opferseins verfallen. Bewußt oder nicht, er ist zum Moment der Traumatisierung zurückgekehrt. Er macht die subjektive Erfahrung, daß ihm etwas Übles angetan wird – von einer Macht im Außen, gegen die er in keiner Weise ankommen und gegen die er nicht das Geringste unternehmen kann. Ist im einen Moment noch alles normal, so kann es passieren, daß einem die Dinge im nächsten entgleiten, innerlich und äußerlich. Von außen passiert schon wieder etwas, das man als zutiefst ungerecht und vollkommen verkehrt erlebt und das einem das Leben unerträglich macht. Innerlich erlebt man plötzlich Gefühle, die man vielleicht nicht einmal beschreiben kann und die von einem namenlosen Ort im Inneren kommen – einem Ort des Entsetzens. Bei diesen Gefühlen würde man am liebsten schreien, Dinge zerschlagen oder auf denjenigen einschlagen, der sie ausgelöst hat, oder sich selbst Gewalt antun, oder sich einfach in Luft auflösen. Eben noch ging es einem gut und war man im Fluß, im nächsten Moment geht man plötzlich unter. 2.3 Beispiele von Untermacht Wenn ohnmächtige Wut ausgedrückt wird, ist das so ähnlich, als schlüge jemand um sich, der gerade ertrinkt. Der Betroffene, der den Moment (oder viele Momente) der Traumatisierung wiedererlebt, ist gefangen in einem verzweifelten Kampf um sein seelisches Überleben. In diesem Zustand kann jemand nicht einschätzen, welche Folgen sein Handeln für andere hat. Und für jemanden, der sich ohnmächtig fühlt, der erlebt, daß ihm etwas angetan wird und daß er zutiefst ungerecht behandelt wird, liegt es normalerweise außerhalb des Vorstellungsvermögens, daß er für andere bedrohlich sein oder irgendeine Gefahr darstellen könnte. Das Umsichschlagen eines Ertrinkenden stellt eine echte Gefahr für jeden dar, der sich ihm nähert. Und das gilt auch für Wutanfälle traumatisierter Menschen in Situationen, in denen das Trauma akut ist. Das persönliche Erleben eines wutentbrannten Traumatisierten ist, daß ihm großes Unrecht angetan wurde und daß er verzweifelt versucht, sich zu verteidigen und den Ansatz irgendeines 106 Judith Herman, Die Narben der Gewalt, S. 63. 50 ® Leseprobe – www.untermacht.de Gleichgewichts wiederzuerlangen. Aber diejenigen, die vom Toben des Traumatisierten betroffen sind, erleben ihrerseits, daß sie ungerecht behandelt werden, daß derjenige sich unerträglich verhält und manchmal auch, daß die Person übergriffig wird oder eine Gefahr darstellt. Die Ironie liegt in der Tatsache, daß jemand, der aus schierer innerer Ohnmacht handelt, sehr wohl eine enorme Macht über jeden haben kann, der ihm über den Weg läuft. Es ist diese Dynamik, die ich als Untermacht bezeichne. Den Begriff der Untermacht habe ich erstmals vor ca. 15 Jahren entwickelt. Er basierte größtenteils auf meinen Begegnungen mit psychisch Kranken, bei denen eine Borderline-Persönlichkeitsstörung diagnostiziert worden war. Aus Sicht der professionellen Behandler waren dies immer die schwierigsten Patienten, nicht weil ihre psychische Erkrankung schwerwiegender gewesen wäre als die anderer Patienten, sondern aufgrund ihres Verhaltens. Sie neigten zu einer Kombination aus Selbstzerstörung (in Form von Selbstmordversuchen, Selbstmordandrohungen und Selbstverstümmelungen) und explosivem Ausdruck von Ärger, insbesondere gegen die Angestellten der Klinik. Ihr Muster war es, das Personal in Gut und Böse zu spalten, ihren Zorn gegen die "bösen" Angestellten zu richten und zu versuchen, die Guten dafür zu gewinnen, sich mit ihnen gegen die Bösen zu verbünden. Der frappierende Gegensatz zwischen der faktischen Macht der Borderline-Patienten und der Wirkung, die sie auf die behandelnden Therapeuten ausübten, fiel mir immer mehr auf. Die Macht, die sie als chronisch psychisch Erkrankte tatsächlich innehatten, war derjenigen ihrer Behandler weit unterlegen. Hinzu kam, daß die meisten Borderliner Frauen waren, was ihren realen Anteil an gesellschaftlicher Macht noch geringer macht. Subjektiv gesehen hatten diese Patientinnen sich in einer Position der Hilflosigkeit und Ohnmacht arrangiert und waren Opfer. Ihre ständigen Beschwerden und ihr explosiver Ärger waren fast immer selbstschädigend. Sie verstrickten sich in Machtkämpfe mit den Angestellten, die sie unmöglich gewinnen konnten und die zu gewinnen sie auch gar nicht erwarteten. Ich arbeitete mit einer Patientin, die sich allwöchentlich in einer Litanei über die schlechte Behandlung erging, die sie durch anderes Personal erfuhr. Anschließend ließ sie mich wissen, daß ich nichts tun oder sagen könne, daß ihre Situation irgendwie verändern oder bessern könne. Das Bemerkenswerte war die Wirkung dieser Patientinnen auf das behandelnde Personal. Sie riefen enormes Mißbehagen, Hilflosigkeit, Verachtung und nicht selten reaktive Wut107 auf seiten der Klinikangestellten hervor, auf allen Etagen. Die bloße Erwähnung des Begriffs Borderline ließ die meisten Ärzte sichtlich schaudern (und tut es noch). Mir ist keine andere psychiatrische oder psychotherapeutische Etikettierung bekannt, die eine solche Reaktion hervorruft. Die Negativität, die der Diagnose "Borderline" anhängt, ist so ausgeprägt, daß Judith Herman die Anwendung dieser Diagnose in der Praxis als "wohlformulierte Beleidigung" bezeichnet.108 Eines der Kennzeichen von Untermacht ist, daß der Ausdruck ohnmächtiger Wut diejenigen, denen er gilt, so oft selbst in einen Zustand innerer Ohnmacht versetzt. Im Falle der Borderline-Patienten ist die Klinikbelegschaft in einer Position, in der sie objektiv mehr Macht hat. Sie hat fast immer eine ganze Reihe von Möglichkeiten zur 107 Siehe van der Kolk in "Die Vielschichtigkeit der Anpassungsprozesse nach erfolgter Traumatisierung", der bemerkt, daß Borderline-Patienten "im allgemeinen den Brennpunkt der Wut und Frustration der Therapeuten bilden", Traumatic Stress, S. 193. 108 Judith Herman, Die Narben der Gewalt, S. 172. – Anm. d. Ü.: Die BorderlineStörung wird inzwischen als 'Emotionale Instabilität', genauer 'Emotional instabile Persönlichkeitsstörung des Borderline-Typs' bezeichnet. www.untermacht.de – Leseprobe ® 51 Verfügung, die vielleicht wenigstens bis zu einem bestimmten Grad zu helfen vermögen. Die persönliche Reaktion jedoch, die man gewöhnlich von professioneller Seite erhält, ist die, daß der Borderline-Patient ein hoffnungsloser Fall und der Behandelnde ihm gegenüber machtlos ist – eine Reaktion, die sich dem Begriff des Borderline eingeprägt hat. Dusty Miller stellt fest: "Viele Psychologen, Psychiater und Psychotherapeuten sind der Ansicht, daß die Schädigung des Selbst beim BorderlinePatienten irreparabel ist."109 Borderline-Patienten handeln also aus einer Position extremer Ohnmächtigkeit heraus, geben aber dem Behandler das Gefühl, vollkommen ohnmächtig zu sein. Als ich diese Beobachtungen zum ersten Mal machte, hatte ich nicht die leiseste Ahnung, daß zwischen Borderline-Symptomatik und Trauma irgendein Zusammenhang besteht. In den letzten 15 Jahren erkennen die seelenheilkundlichen Disziplinen jedoch zunehmend, daß eine der Hauptursachen der BorderlinePersönlichkeitsstörung in einer schweren Traumatisierung liegt. 110 Der Versuch des Borderliners, einen greifbaren Übeltäter auszumachen, die Spaltung seiner Welt in scharf abgegrenzte gute oder bösartige Charaktere, seine feste Überzeugung, daß ihm etwas angetan wird oder er Opfer ist, seine Selbstmißhandlungsmuster und seine wiederkehrenden Ausbrüche ohnmächtiger Wut sind allesamt Anzeichen eines unaufgelösten Traumas. Genauso wenig war mir vor 15 Jahren bewußt, daß ich selbst traumatisiert worden war oder daß das Konzept der "Untermacht" auf mich persönlich zutreffen könne. Seitdem habe ich meine eigene Anfälligkeit für ohnmächtige Wut erkannt und akzeptiert. Eine meiner Reaktionen, wenn das Trauma ausgelöst wird, ist der emotionale Rückzug. Die schwächere Form dieses Muster ist, daß ich kalt, schroff und distanziert werde. Eine extremere Form ist, daß ich versteinere und die Kommunikation für eine Stunde oder länger einstelle. Das passiert fast ausschließlich in nahen Beziehungen. Das auslösende Moment kann ein länger bestehendes Problem in der Beziehung sein, es kann aber auch eine scheinbar harmlose Bemerkung oder eine Geste sein, auf die ich nicht vorbereitet bin und dir mir ein Gefühl gibt, als sei ich angegriffen oder verraten worden. Meine persönliches Erleben in diesen traumatischen Zuständen ist, daß die Situation ausweglos ist und ich nichts daran ändern kann. Nichts, daß ich tun oder sagen könnte, würde vom anderen so verstanden werden, wie ich es meine; es auszusprechen würde die Situation ohnehin nicht lösen, da ich aus der Verzweiflung heraus spreche. Es gibt keine Möglichkeit, meine Gefühle auszudrücken, gleichzeitig sind sie unerträglich. Mein Körper fühlt sich unglaublich schwer an, weswegen es mir auch unmöglich vorkommt, mich irgendwie zu bewegen. Gleichzeitig rasen meine Gedanken im Kreis herum und führen nirgendwohin. Ich fühle mich vollkommen niedergedrückt und zur Bewegungslosigkeit verurteilt durch meine Gedanken, durch die körperliche Schwere und den Eindruck, daß ich vollkommen alleine bin auf der Welt. Alles was ich will ist, in Ruhe gelassen zu werden; gleichzeitig sehne ich mich verzweifelt nach Trost und Verständnis, weiß aber, daß das unmöglich ist. Ich würde am liebsten verschwinden, und das scheint in diesem Zustand der einzige Ausweg zu sein. Manchmal verdichtet sich dies zu dem Gedanken und dem Wunsch zu sterben. xxxx 109 Dusty Miller, Women Who Hurt Themselves, S. 160. 110 Siehe Judith Herman, Die Narben der Gewalt; Bessel van der Kolk, "Die Vielschichtigkeit der Anpassungsprozesse nach erfolgter Traumatisierung", in Traumatic Stress; Dusty Miller, Women Who Hurt Themselves und Ronnie JanoffBulman, Shattered Assumptions. 52 ® Leseprobe – www.untermacht.de Da ich aber weiß, daß ich meinen Selbstmordgedanken keine Handlungen folgen lassen werde, ergibt sich daraus nur eine weitere Runde des sinnlosen Mich-imKreise-Drehens. Normalerweise bin ich mir während dieser versteinerten Zustände keines Zorns bewußt. Erst später, wenn ich es geschafft habe, die Unbeweglichkeit hinter mir zu lassen, wird mir klar, daß das auslösende Ereignis mich unglaublich wütend gemacht hat und daß die Wut, die ich in keiner Weise ausdrücken oder zeigen konnte, allem zugrundelag – den unerträglichen Gefühlen, der körperlichen Schwere und meiner Unbeweglichkeit. Was in diesen traumatischen Zuständen in mir passiert, ist eine Implosion. Die Folge meines Rückzugs in die Versteinerung ist, daß der andere völlig hilflos zurückbleibt. Niemand kann irgendetwas mit mir anfangen. Auf Fragen erhält man keine Antwort, auf Äußerungen keine Reaktion, jeder Versuch, sich mir freundlich oder besorgt zu nähern, wird schroff abgewiesen, und jeder Ausdruck von Frustration oder Ärger des anderen treibt mich noch weiter weg. Meine Partnerin, die emotionale Unterstützung von mir und Verbindung mit mir braucht, ist verlassen. All dies ist nicht meine bewußte Absicht. Wenn diese inneren Kräfte, die weit jenseits meiner Kontrolle liegen, mich im Griff haben, bin ich schlicht nicht in der Lage, irgendetwas anderes zu tun als das, was ich tue. So wird meine Ohnmacht zur Ohnmacht meiner Partnerin. Heute glaube ich, daß dieses Untermachtverhalten, das bei Borderline-Patienten so ausgesprochen deutlich hervortritt und das ich bei mir selbst am Werk gefunden habe, wenn ich diese Zustände gerate, ein normales und weit verbreitetes Phänomen ist. Es betrifft nicht nur eine Untergruppe stigmatisierter seelisch kranker Patientinnen, sondern findet sich in allen möglichen verschiedenen Formen bei allen möglichen Leuten, die Ohnmächtigkeit erfahren, wie ich anhand der vielen Beispiele, die noch folgen, zu zeigen versuche. 2.4 Bruno Bettelheim Wenn Menschen in untergeordneten Positionen, wie zum Beispiel die Insassen einer Psychiatrie, ohnmächtige Wut ausagieren, hat das zwar beachtliche Auswirkungen auf diejenigen, die ihnen überlegen sind und auf die diese Wut abzielt – dennoch wird die Situation aufgrund der realen äußeren Machtverhältnisse in vielerlei Hinsicht im Rahmen bleiben. Wenn jedoch jemand Untermacht ausagiert, der eine solche Machtposition selbst innehat, existiert keinerlei Beschränkung dieser Art mehr. Deshalb kann dies ganz beträchlichen Schaden anrichten. Betrachten wir das Beispiel eines berühmten Holocaust-Überlebenden: Bruno Bettelheim. Bettelheim war in den USA bekannt als Direktor der namhaften Orthogenic Schoolxxviii (Schule für Orthogenie) der Universität von Chicago, einer Heimschule für autistische und emotional gestörte Kinder, und schrieb mehrere Klassiker über seine Behandlungsmethode.111 Er schrieb auch über seine eigenen xxxxxx 111 Bruno Bettelheim, Liebe allein genügt nicht: Die Erziehung emotional gestörter Kinder, Ernst Klett, Stuttgart 1970; So können sie nicht leben: Die Rehabilitierung emotional gestörter Kinder, Ernst Klett, Stuttgart 1973; Die Geburt des Selbst: Erfolgreiche Therapie autistischer Kinder, Otto Kindler, München 1977; Der Weg aus dem Labyrinth: Leben lernen als Therapie, DVA, Stuttgart 1975 [alle Angaben Erstausgabe]. www.untermacht.de – Leseprobe ® 53
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