Brexit: ein Sprung ins Dunkel

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Brexit:
ein Sprung
ins Dunkel
Ein Austritt Großbritanniens aus der EU
hätte weitreichende Folgen für die
Wirtschaft zahlreicher Mitgliedsstaaten,
insbesondere aber für die Finanzbranche.
Warum es bei einem möglichen „Brexit“
nur Verlierer gäbe.
Von Sylvia Schreiber und Jacques Docquiert
—
E
r ist Franzose und könnte
ungewöhnlicher kaum sein.
„Die Briten haben recht,
die EU ist zu bürokratisch,
hat zu viele Akteure und ist
viel zu disparat“, schimpft
der Ökonomieprofessor
am Collège de France und der London
School of Economics, Philippe Aghion,
„überall herrscht Frustration. Europa
braucht eine neue Governance, Cameron bringt es in Bewegung.“ Ein Europa
der zwei Geschwindigkeiten sollte es
sein, wenn es nach ihm geht, mit einem
festeren Euro-Kern und einer flexiblen
Nicht-Euro-Zone, dazu weniger Bürokratie und mehr Wettbewerb.
So sehen es auch viele Briten, die voraussichtlich noch in diesem Jahr per
Referendum über den Verbleib oder den
Austritt ihres Landes aus der EU abstimmen sollen, also über den sogenannten „Brexit“, den „british exit“. Premier
David Cameron hat ihnen die Volksab-
stimmung versprochen, denn die Stimmung auf der Insel ist „voller Misstrauen
gegen die EU“, so das Wirtschaftsmagazin The Economist.
Höchst ungewiss ist der Ausgang des
Votums. Umfragen sagen ein Kopf-anKopf-Rennen voraus. Der Austritt eines
Mitgliedslandes aus der EU wäre historisch einmalig, auch weil niemand weiß,
wie viele Nachahmer es unter den europaskeptischen Mitgliedsstaaten geben
würde. Unlängst hat bei einem Forum des
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European Policy Center (EPC) in Brüssel der britische Industrieverband cbi
ein Rechenexempel vorgestellt, wonach
die EU jeder britischen Familie ein Plus
von durchschnittlich 900 Pfund Sterling (rund 1500 Euro) jährlich in der
Haushaltskasse bringt – durch zollfreie
Importgüter, durch Arbeits- und Handelsmöglichkeiten. In welchem Maße
jedoch ganze Märkte, Forschungskooperationen und Investitionen bei einem
„Brexit“ wegfielen und wie viel genau
der kleine Mann weniger im Geldbeutel
hätte, weiß niemand zu sagen.
Es wäre auf jeden Fall ein Sprung ins
Dunkle: Mögliche Einkommensverluste
für das gesamte Land von bis zu 14 %
jährlich – durch neue Zollschranken
außerhalb des EU-Binnenmarkts, neue
Außenhandelsbarrieren und den Verlust von Marktanteilen – summierten
sich auf rund 300 Milliarden Euro bis
zum Jahr 2030, hat der Ökonom Gabriel
Felbermayr vom ifo-Institut berechnet.
„Genau kann es niemand beziffern, denn
wir wissen auch nicht, was die EU den
Briten künftig an Kooperationskosten
in Rechnung stellen würde, damit diese
weiterhin auf den kontinentalen Märkten präsent sein könnten“, sagt er. In
einer gemeinsamen Studie mit der Bertelsmann-Stiftung hat der ifo-Ökonom
aufgelistet, welche Branchen auf beiden Seiten unter einem Austritt besonders leiden würden – Maschinenbau,
Automobil-, Pharma-, Chemie-, Lebensmittel-, aber vor allem die Finanzbranche. Deutschland, Frankreich und die
Niederlande, die wichtigsten Investitions- und Handelspartner der Briten,
verlören nicht nur Absatzchancen; sie
müssten nach einem Brexit auch auf
jeden Fall mehr in die EU-Kasse einbezahlen: jeder rund 8 % mehr pro Jahr.
Treffer ins Finanzherz
Dabei wird die Schar der EU-Kritiker
auf der Insel immer illustrer. Nicht
nur Rechtspopulisten, Konservative,
einige Industrieleute und sogar Kabinettsmitglieder werben offen für das
„Raus“. Inzwischen wetten auch internationale Hedgefonds auf den „Brexit“. Sie zielen auf das wirtschaftliche
Herz des Landes: das globale Finanzzentrum London. Dort arbeiten mehr
Menschen als die Stadt Frankfurt Einwohner hat. Der Austritt, so wurde am
Rande einer Tagung des Finanzdienstleisters Bloomberg in Frankfurt diskutiert, würde deutlich weniger Regulierung
aus Brüssel bedeuten und profitablere
Bankgeschäfte ähnlich wie in Hongkong oder Singapur. Doch die Hasardeure könnten sich verkalkulieren:
Große Geld- und Versicherungshäuser – und mit ihnen mehrere Zehntausende Finanzexperten – haben für den
Ernstfall schon angekündigt, London
zu verlassen, um die Transaktionen mit
den europäischen Kunden dann vom
Festland aus zu führen. Davon profitieren würden die Börsenplätze Paris,
Frankfurt und Luxemburg. Für ein solches Szenario spricht, dass sich das
Klima im krisengeschüttelten Finanzgewerbe in Richtung „mehr Regulierung
und Sicherheit gedreht hat, also Richtung EU“, weiß Ökonom Felbermayr. Der
gewichtige Finanzplatz London indes
würde zerschlagen, die Gewinner auf
dem Festland aber blieben fragmentiert. Verlierer auf allen Seiten.
Auch die USA sähen die Briten lieber
drinnen als draußen. Amerika würde
beim „Brexit“ seinen Brückenkopf zu
Europa verlieren. Ein einflussloses und
isoliertes Großbritannien wäre für Amerika wenig wert. Deshalb spenden USGroßbanken wie Goldman Sachs und
JP Morgan auch im Stillen sechsstellige
Summen an die Pro-EU-Kampagne. Der
große Unbekannte im riskanten Poker
um das Referendum bleibt jedoch der
sprichwörtliche Mann von der Straße.
Zwar befeuern die vielen EU-Krisen
seine Brüssel-Skepsis ständig, doch
am Ende könnte auch der britische
Pragmatismus siegen, der mit einem
Sprichwort sagt: „Besser mit dem Teufel, den man kennt, als mit einem, den
man nicht kennt.“
•
Les scénarii d’un divorce
L
e départ d’un pays de l’Union
constituerait une première
dans l’histoire européenne.
Les traités fondateurs n’évoquaient pas cette possibilité
et c’est seulement en 2009 que le traité de Lisbonne en prévoit et en décrit
les modalités. Son article 50 indique
que “tout État membre peut décider,
conformément à ses règles constitutionnelles, de se retirer de l’Union”.
Il ajoute que “l’Union négocie et conclut
avec cet État un accord fixant les modalités de son retrait, en tenant compte
du cadre de ses relations futures avec
l’Union”, le pays concerné ne participant pas aux débats au cours desquels l’Union arrête sa stratégie.
Les deux parties sont cependant
condamnées à s’entendre pour organiser leurs nouvelles relations. Dans
une étude de mai 2015, la Fondation Robert Schuman envisage sept
options, en ajoutant immédiatement
“qu’aucune ne paraît entièrement
satisfaisante pour le Royaume-Uni”
ni pour ses partenaires. Le premier
cherchera, en effet, à conserver les
avantages que lui apportent certaines politiques communes, sans
pour autant que ses anciens partenaires soient disposés à lui offrir
cette opportunité. L’auteur de l’étude
écarte ainsi la possibilité pour
Londres de bénéficier d’un statut
particulier lui garantissant les avantages de l’Union sans les contraintes,
de rejoindre l’AELE l’association de
libre-échange associée à l’UE, de
s’inspirer de la voie de la Suisse ou
de tenter de négocier un accord de
libre-échange ou une union douanière avec l’Europe. Il lui resterait
alors une dernière option : devenir, à
la date de son retrait, un État tiers vis
à vis de l’UE, au même titre que les
États-Unis ou la Chine. Il serait ainsi
libéré de l’obligation de mettre en
œuvre les règlements, les directives,
les décisions et les traités de l’Union.
Mais ce vide devrait contraindre
Westminster à adopter une longue
série de nouvelles lois nationales
concernant la concurrence, la protection des consommateurs et de l’environnement, l’agriculture, la pêche...
“L’élaboration de cette nouvelle législation poserait de sérieux problèmes
de politique intérieure et prendrait
beaucoup de temps”, conclut l’étude.
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