Artikel im „Tagesspiegel“ – Heiligabend 24.12.2015, Seite 4 „2015 hat Deutschland ein neues Gesicht gezeigt“ Bischof Markus Dröge über die Flüchtlingskrise Deutschland hat im Jahr 2015 mit seinem überwältigenden Engagement für Flüchtlinge ein neues Gesicht gezeigt. Ehrenamtliche haben oft bis über die eigenen Kräfte hinaus gearbeitet. Anders wäre die krisenhafte Situation auch nicht zu bewältigen. Allein im Bereich der Evangelischen Kirche in unserer Region werden etwa 8.000 Flüchtlinge in 100 Unterkünften betreut. „Weltcafés“ bieten Raum zu Begegnung, Patenschaften und medizinische Hilfe werden organisiert. Fast jede Kirchengemeinde ist aktiv. So sehr dieses Bürgerengagement auch gravierende Mängel des staatlichen Handelns offenbart, so offensichtlich ist, dass die deutsche Seele einen Sprung gemacht hat. Sie ist über den Schatten der german angst gesprungen und lässt sich aktiv auf die epochale Herausforderung ein. Am Heiligen Abend liegt es nahe, die christliche Prägung unserer Gesellschaft für dieses Engagement verantwortlich zu machen. Denn die Botschaft vom menschlichen Gesicht Gottes, geboren unterwegs in einem ärmlichen Stall, rührt seit 2000 Jahren die Herzen an und ist tief im kollektiven Gedächtnis unserer Gesellschaft verankert. Die beiden großen Kirchen sprechen beim Thema Flüchtlinge mit einer Stimme. Pegida dagegen hat ideengeschichtlich keine Chance, sich mit der Forderung nach Abschottung auf das Christentum zu berufen. Zu offensichtlich widerspricht der Versuch, ein neovölkisches Christentum zu propagieren, dem christlichen Bekenntnis. Schließlich haben die Kirchen in unserem Land durch historische Erfahrung ihre Lektionen gelernt. Es ist aber zu kurz gegriffen, den bewundernswerten Einsatz gradlinig mit der christlichen Botschaft zu verbinden. Als ich nach dem Brandanschlag auf die Autos aktiver Flüchtlingshelfer Ende September die betroffene Aktionsgruppe in Neuhardenberg besuchte, saßen in dem Kreis linksorientierte Aktivisten und gutbürgerliche Pensionäre aus dem Westen, Christen und Atheisten – und als einer unter vielen auch der evangelische Ortspfarrer. Ein Querschnitt der Zivilgesellschaft. Die christlichen Werte erklären nicht alles. Andere Motivationen kommen hinzu. „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Dieser Satz hat in unserem Land einen besonderen Klang. Wir haben eine „historische Verwundbarkeit“ (Herfried Münkler). Die Auseinandersetzung mit der eigenen Schuldgeschichte hat uns offenbar sensibel gemacht. Menschengruppen, die in erbärmlichem Zustand in langen Tecks unterwegs sind, hilflos denen ausgeliefert, die das Sagen haben – solche Bilder von Abtransport, Flucht, Vertreibung sind, verbunden mit dem Imperativ des „Nie wieder!“, im kollektiven Gedächtnis verankert. Und sie tauchen wieder auf, wenn wir die Bilder von Menschenschlangen vor der Stacheldrahtgrenze zwischen Griechenland und Mazedonien sehen. Im Osten Deutschlands spielt noch eine andere Tradition eine Rolle. Seit der Schlussakte von Helsinki 1975 haben die Menschenrechte Mut gemacht, sich einen Öffentlichkeitsanspruch im totalitären Staat der DDR zu erkämpfen. Bürgerrechtler und Christen haben sich gemeinsam vor diejenigen gestellt, die ausgegrenzt, abgeschoben, kriminalisiert werden sollten. Erinnerungen tauchen auf, wenn Flüchtlinge ein ähnliches Schicksal erleiden. Allerdings wird auch diese Tradition im Pegida- 1 Milieu gegen den Strich gebürstet und pervertiert: „Wir sind das Volk“, die Parole für Demokratie und Freiheit im Kampf um Menschenrechte, erklingt jetzt mit dem Ziel, Fremde auszugrenzen. Das Jahr 2015 wird als das Jahr im Gedächtnis bleiben, in dem Deutschland ein neues Gesicht gezeigt hat. Jetzt wissen wir, wie es geht, die gelernten Lektionen der Geschichte praktisch anzuwenden. Ein befreiendes, ermutigendes Erlebnis. Die neuen Erfahrungen eröffnen neue Gestaltungsräume. Es wird uns gelingen, die Würde des Menschen zu bewahren und unsere Gesellschaft mit den vielen Neubürgern als eine offene, von den Menschenrechten geprägte Gemeinschaft weiter zu entwickeln. Die Weihnachtsbotschaft vom menschlichen Gesicht Gottes in einem ärmlichen Stall bleibt eine starke Motivationskraft, diese Herausforderung anzunehmen. 2
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