Sie fühlen sich von A Angela Merkel eingeladen

SEITE 2
MONTAG, 28. SEPTEMBER 2015
P2
THEMEN IM BLICKPUNKT
Zuckerbergs
Versprechen an
die Kanzlerin
INTERNET Ganze drei Tage war
Merkel bei den Vereinten Nationen in New York. Statt großem Auftritt gab es eine Botschaft und eine wichtige Zusage des Facebook-Gründers.
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VON KRISTINA DUNZ, DPA
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NEW YORK. Der junge Milliardär ist diesmal nicht in Jeans und T-Shirt gekommen. Er hat sich in einen dunkelblauen
Anzug gesteckt und eine hellblaue Krawatte umgebunden. Mark Zuckerberg
sitzt an diesem Tag in New York mit
Kanzlerin Angela Merkel und UN-Generalsekretär Ban Ki Moon an einem Tisch.
Die Vereinten Nationen sind zu einem
historischen Nachhaltigkeitsgipfel zusammengekommen und jetzt geht es um
das Geld der Privatwirtschaft. Diese soll
helfen, die großen Ziele der UN bis 2030
zu verwirklichen: Beseitigung von Armut und Hunger, mehr Umweltschutz
und Bildung für die Kinder.
Merkel hat mit dem Facebook-Gründer aber noch etwas anderes zu besprechen. In Deutschland sind viele Menschen empört, dass sein soziales Netzwerk rassistische Kommentare und
Hassbotschaften nicht konsequent aussortiert. Justizminister Heiko Maas
(SPD) hatte jüngst versucht, auf Facebook Druck auszuüben und verlangt,
strafrechtlich relevante Posts zu löschen.
Auch aus Merkels CDU kam der Appell,
Facebook solle nicht nur extreme Inhalte entfernen, sondern gegebenenfalls
auch Nutzerkonten zügig sperren.
Gespräche live im Netz zu sehen
Die Kanzlerin hatte sich vorgenommen,
Zuckerberg in New York direkt darauf
anzusprechen. Aber es war nicht ausgemacht, dass das öffentlich geschieht. Die
offiziellen Reden von Merkel und Zuckerberg wurden über den UN-Livestream im Internet übertragen. Merkel
bat die Privatwirtschaft um finanzielle
Unterstützung für die Umsetzung der
ehrgeizigen UN-Ziele, die Welt zu verbessern. Und Zuckerberg schwärmte,
wie toll Facebook sei: „Wir können die
Welt verbinden.“
Dann sollte der Livestream eigentlich
enden, denn die Gespräche an den Tischen sollten nicht übermittelt werden.
Doch auf wundersame Weise waren ausgerechnet die Sekunden zu hören, als
Merkel Zuckerberg auf die Aufregung in
Deutschland über Hassmails und rassistischer Hetze ansprach. Der 31-Jährige
war bereits im Bilde. „Ich denke, daran
müssen wir arbeiten“, sagte er. Und Merkel fragte nach, ob sein Unternehmen an
Verbesserungen arbeite. Zuckerberg antwortete: „Yeah.“
Damit war die Botschaft verbreitet:
Zuckerberg persönlich sichert der Kanzlerin eine schärfere Kontrolle zu. Eine
wichtige Nachricht für die Heimat. Denn
mehr als die Zusage des Chefs vom Gan-
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THEMEN IM BLICKPUNKT
MITTELBAYERISCHE ZEITUNG
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FLUCHT UND ZUFLUCHT
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Während viele junge Afghanen sich auf den Weg nach
h Deutschland machen, muss Berlin bei der Registrierung bereits zu besonderen Mitteln greifen
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Besonderer
Einsatz für
Soldaten
BUNDESWEHR Ein altes Gefäng-
nis in Berlin wird zur Anlaufstelle für Flüchtlinge.
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VON KIRSTEN BAUKHAGE, DPA
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BERLIN. Alles spielt sich sozusagen hinter
25 Termine in drei Tagen
Aus ihrem Heimatdorf vertrieben: Afghanische Bürger fliehen vor Kämpfen zwischen den Taliban und den Regierungstruppen. Nach Einschätzung von Reinhard Erös sind Zehntausende Afghanen bereit zum Aufbruch ins „gelobte Land“.
Foto: afp
Sie fühlen sich von Angela
A
Merkel eingeladen
Mittelbayerische Zeitung, 28.09.2015
Reinhard Erös erklärt im Gespräch mit MZ-Redakteur Stefan Stark, wie Flücchtlinge in
FOLGEN Zehntausende Afghanen werden sich noch vor dem Winter auf den Weg nach Europa maAfghanistan die Asyldebatte in Deutschland interpretieren und eine Reise nach „Alm
man“ buchen. chen, sagt der Experte. Er fordert, die Fluchtursachen durch eine neue Politik zu bekämpfen.
MIGRATION
Das Wort von der „Willkommenskultur“,
Aussagen wie „Wir schaffen das“ oder „Unser Asylrecht kennt keine Obergrenze“ und
Selfies einer lächelnden Kanzlerin mit
Flüchtlingen haben doch sicher auch in Afghanistan ihre Wirkung?
Wir Deutschen werden in Afghanistan vor allem wegen unserer Ehrlichkeit,
Zuverlässigkeit und perfekter Organisation hoch geschätzt: „Wenn ein Deutscher etwas verspricht, dann hält er es
auch.“ In einer globalisierten Informationswelt, wo auch in Afghanistan fast jeder zweite junge Mann inzwischen ein
Smartphone besitzt, sind alle Informationen quasi in Echtzeit zugängig. Über
die Sender „Deutsche Welle Paschtu und
Farsi“ erfährt auch der des Deutschen
oder Englischen nicht Mächtige alles,
was bei uns von der Politik gesagt oder
getan wird. Äußerungen der Kanzlerin
zum Thema Flüchtlinge werden selbstverständlich als feste Versprechen gewertet. Einschränkende Nebensätze bzw.
Kritik in Deutschland an der Kanzlerin
gehen dann oft unter. Zahlreiche Afghanen, die eh mit „Auswanderung“ geliebäugelt haben, haben die Versprechungen unserer Regierung von einer
„menschenwürdigen Unterkunft“
und einer raschen „Eingliederung in
den Arbeitsmarkt mit 8,50 Euro Mindestlohn auch für Asylanten“ dann
umgehend umgesetzt und sich
auf den Weg gemacht. Andere,
die noch nicht fest entschlossen waren, sind jetzt dabei, ihre Reise ins Land der Träume
rasch anzugehen.
Rechnen Sie mit einem Anstieg
der Flüchtlingswelle nach
Deutschland?
Facebook-Gründer Mark Zuckerberg sichert Bundeskanzlerin Angela Merkel eine
Foto: dpa
schärfere Kontrolle über rassistische Hetze zu.
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zen kann man nicht bekommen. Wie es
passieren konnte, dass dieses Gespräch
als einziges der mehreren Hundert Diplomaten in die Presseräume übertragen
wurde, blieb offen.
Manch einer hat sich gewundert, dass
Merkel für drei Tage nach New York
reist, wo sie doch sonst in drei Tagen um
die halbe Welt fliegt. Und dass sie dann
noch nicht einmal an der großen 70. Generalversammlung teilnimmt, sondern
zum Nachhaltigkeitsgipfel fährt, auf
dem sie gerade einmal fünf Minuten Redezeit vor den rund 160 Staats- und Regierungschefs hat. Die Generalversammlung mit US-Präsident Barack Obama
und Russlands Staatschef Wladimir Putin überlässt Merkel Außenminister
Frank-Walter Steinmeier (SPD).
Für die Kanzlerin gab es in New York
nicht den großen Auftritt. Es gab kleinere Begegnungen. Dafür viele. 25 Termine
hat sie wahrgenommen und mit Staatsund Regierungschefs aus Afrika, dem
Nahen Osten und Europa über die
Flüchtlingskrise gesprochen. An den unbedingten Wunsch von Asylbewerbern
in Deutschland, ein Selfie mit ihr zu bekommen, hat sie sich inzwischen gewöhnt. Überrascht war sie aber, als im
UN-Gebäude auch zahlreiche Diplomaten verschiedenster Staaten ein solches
Foto begehrten.
Merkel hatte in der Eröffnungsfeier
zum Nachhaltigkeitsgipfel am Freitag
gesagt: „Nichts muss so bleiben, wie es
ist. Veränderung zum Guten ist möglich.
[...] Wir wollen und wir können unsere
Welt verändern. Wir wollen und wir
können der Welt ein menschlicheres Gesicht geben.“ Die „New York Times“ platzierte Merkel in ihrem Text am Samstag
damit gleich nach den Mahnungen von
Papst Franziskus zur Wahrung der
Schöpfung und zitierte die Kanzlerin
mit den Worten: „We want to change
our world and we can.“ Amerikaner hören so etwas gern.
Die gesunkenen Beliebtheitswerte zuhause im Zuge ihrer Türöffnung für
Flüchtlinge waren für Merkel in New
York weit weg. Sorgen auch um die Kritik aus ihrer Union – allen voran CSUChef Horst Seehofer –, Merkel überfordere die Bürger, ereilen sie erst wieder an
diesem Montag.
In New York mutete es symbolhaft
an, wie Merkel an der Gedenkstätte für
die Opfer des Terroranschlags vom
11. September 2001 den „Baum der Überlebenden“ streichelte. Der Birnbaum war
aus den Trümmern des World Trade
Centers geborgen, aufgepäppelt und wieder eingepflanzt worden. Merkel sagte:
„Dieser Baum ist natürlich wie ein Wunder, dass er überlebt hat und dann auch
so weitergewachsen ist.“
In den vergangenen Wochen hat sie
von der Bewältigung der Flüchtlingskrise bis zur Verwirklichung der UN-Ziele
oft gesagt: „Wir schaffen das.“ Womöglich sagt sie sich jetzt: „Ich schaffe das.“
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SEITE 3
„In Afghanistan sitzen
Hunderttausende Afghanen auf gepackten Koffern“
äußerte sich Entwicklungsminister Minister Müller,
CSU, vor wenigen Tagen. Mit
Ausnahme des Wortes „Koffer“ hat er Herat ganz einfach eine Reise nach „AlRecht. Zehntausende, vor allem junge, man“. Economy kostet 6000 Euro, Busioft minderjährige Afghanen, werden ness 15 000 Euro und First 25 000 Euro.
sich noch vor Wintereinbruch mit Ruck- Die Reise in der Billigklasse verläuft „russäcken auf den Weg Richtung ins Land tikal“ in ausrangierten Bussen oder Lkws
der „Willkommenskultur“ machen bzw. und dauert oft Wochen bis zur türkivon ihren Eltern auf die Reise geschickt. schen Küste; von dort wird dann in „SeeAus keinem anderen Land kommen lenverkäufern“ nach Griechenland überschon jetzt so viele sogenannte unbeglei- gesetzt. Auf der Balkanroute, eingetete minderjährige Flüchtlinge zu uns pfercht in wechselnden Minibussen, dawie aus Afghanistan. Ihnen
zwischen kilometerlange von
steht besonderer Schutz und
Kleinschleusern „geführte“
INTERVIEW
Fürsorge zu (keine AbschieFußmärsche, geht es dann bis
bung, keine SammelunterDeutschland. In der Business-Klasse verläuft die Reise
künfte, Betreuung durch Sonatürlich zügiger und komzialarbeiter in Kleingruppen,
fortabler. In der First-class
umgehender
Sprachunterfliegt man mit gefälschtem
richt etc.). Ihr „elterlicher
Auftrag“ ist es, sich in
Pass und einem, bei einer BotDeutschland schnell einzuleschaft gekauften Visum in
REINHARD ERÖS
ben, Arbeit zu finden und ei- Gründer der Kinderhilfe ein Schengen-Land.
Afghanistan
nen Teil des Geldes dann in
Können Sie die Lebenssituation
die Heimat zu schicken. Mit
durchschnittlicher Bürger in Af300 Euro pro Monat kann zu ➥ Haben Sie weitere
ghanistan beschreiben? Was
Fragen? Schreiben
Hause die Familie überleben.
sind die Fluchtursachen?
Sie uns! nachrichWelche Möglichkeiten gibt es für
ten@mittelbayeriDas Durchschnittseinkomsche.de
asylsuchende Menschen in Afmen liegt bei drei Euro pro
ghanistan, nach Europa zu geTag, wenn man überhaupt
langen?
Arbeit findet. Damit muss der Vater oder
Kaum ein Land verfügt über so älteste Sohn eine siebenköpfige Familie
viel „Fluchterfahrung“ wie die Af- ernähren. Die Anzahl der Kinder, die eighanen. Bis 2014 stellte Afghanis- ne Schule besuchen können, nimmt
tan weltweit die meisten kontinuierlich ab. Ursache ist die hohe
Flüchtlinge. Seit 30 Jahren Geburtenrate von 6,8 Kinder pro Famisind dort Millionen auf lie. Man müsste also alle acht Jahre die
der Flucht: in den 80er Zahl der Schulen und Lehrer verdopJahren vor den Russen, peln, nur um auf dem Status quo von
in den 90 Jahren vor den 50 Prozent Schulbesuchern zu bleiben.
Taliban und jetzt vor Radikale Koranschulen – von Saudi-Araden Ergebnissen des bien finanziert –, deren Besuch kostenlos
14 Jahre
dauernden ist, sind für viele die einzige Alternative.
„war on terror“ der Berufsbildende Einrichtungen gibt es so
Nato. In Dutzenden Rei- gut wie gar nicht. Die Landwirtschaft
sebüros – bei uns heißen liegt darnieder; Afghanistan muss
sie „Schleuser-Mafia“ – 60 Prozent der Grundnahrungsmittel
bucht man in Kabul oder importieren. Elektrischer Strom ist für
80 Prozent unbezahlbar. Sauberes Trinkwasser steht weniger als 30 Prozent der
Bundeskanzlerin
Bevölkerung zur Verfügung. Die KinderAngela Merkel
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sterblichkeit liegt bei 10 Prozent und ist
damit 30-mal höher als In Deutschland.
Ein ganz normaler Arztbesuch kostet oft
einen ganzen Wochenlohn. Auf dem
Korruptionsindex steht Afghanistan
weltweit an der Spitze. Die Sicherheitslage ist dramatisch. Seit Beginn der NatoIntervention 2002 kamen nie so viele
Menschen ums Leben wie in den letzten
zwölf Monaten. 3500 Polizisten und Soldaten wurden allein seit Januar 2015 getötet; genauso viele wie Nato-Soldaten in
den vergangenen 14 Jahren.
Welche Vorstellungen und Erwartungen haben die Afghanen von Deutschland und dem
Leben in der Bundesrepublik?
Über Internet bzw. Freunde und Verwandte in Deutschland sind die meisten
Afghanen über uns recht gut informiert.
Die afghanische Gemeinschaft in
Deutschland – seit den 90er Jahren leben
hier circa 100 000 Afghanen – gehört zu
den am besten integrierten. Mit 31 Prozent Abiturienten stehen sie an der Spitze und bei den Hartz-4-Empfängern bilden sie das Schlusslicht unter den Migranten. Die Überzeugung „Das schaffen
wir auch!“ ist ein wesentlicher Antrieb
hierher zu kommen. Der Maßstab an eine „menschenunwürdige Unterkunft“
ist bei einem afghanischen Bauernjungen, der gerade bei uns angekommen ist,
naturgemäß ein anderer als bei einem
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AKTUELL IM NETZ
➲ MZ-Spezial!
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Ein Spezial zur Flüchtlingspolitik finden
Sie bei uns im Internet:
➤ www.mittelbayerische.de/asyl
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syrischen Arzt, der aus seiner westlich
ausgestatteten Vierzimmerwohnung in
Damaskus zu uns fliehen musste.
Wirkt sich die Diskussion über den Bau von
Grenzzäunen aus?
Wer in seiner Heimat täglich um das
Überleben kämpft, wer als junger Mann
keine Chance sieht, einen halbwegs ordentlich bezahlten Job zu finden, mit
dem er eine Familie gründen und ernähren kann, wer also keine Lebensperspektive im eigenen Land sieht, nimmt jede
auch noch so beschwerliche Flucht auf
sich. Grenzzäune aus Nato-Draht, Wasserwerfer, Tränengas oder Polizeiknüppel im Balkan oder Ungarn sind für ihn
eher ein „Klacks“ im Vergleich zu den
Zuständen im eigenen Land, wo noch
über fünf Millionen Minen vergraben
sind, die jeden Tag drei Menschen töten
oder verletzen, wo eigene Polizei und Militär bei Protesten nicht mit Wasserwerfern, sondern mit scharfer Munition auf
Demonstranten schießen, wo in Polizeistationen und in Gefängnissen Folter an
der Tagesordnung ist.
Erleben afghanische Flüchtlinge nach ihrer
Ankunft nicht zunächst einen Kulturschock?
Der sogenannte Kulturschock ist für
einen Deutschen, der nach Afghanistan
geht, nach meiner Erfahrung höher als
umgekehrt. Das Gleiche gilt auch für die
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HILFE FÜR AFGHANISTAN
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➤ Der Oberpfälzer Reinhard Erös gilt als
einer der profiliertesten Afghanistan-Experten Deutschlands.
➤ Der 1948 in Tirschenreuth geborene
ehemalige Bundeswehrarzt betreibt seit
1998 die Kinderhilfe Afghanistan.
➤ Mit dem Bau von Schulen, Waisenhäusern, Krankenstationen, Computerausbildungszentren, Berufsschulen und einer
Universität leistet die Organisation humanitäre Hilfe und Wiederaufbauhilfe. Reinhard Erös lebt in Mintraching im Landkreis
Regensburg. (fn)
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Integration. Sich als „hochzivilisierter“,
von Demokratie und Rechts- und Sozialstaat geprägter Europäer in einer mittelalterlich anmutenden Stammesgesellschaft zu integrieren, wäre wahrscheinlich nur den wenigsten möglich. Je jünger der afghanische Flüchtling zu uns
kommt, desto schneller erlernt er nicht
nur unsere Sprache, sondern versteht
auch unsere Werte besser und kann unsere Gesetze und Regeln mit Überzeugung nachvollziehen. Der typisch afghanische Bildungshunger, die quasi historisch gewachsene physische und psychische Durchhaltekraft, die große Bedeutung von Höflichkeit, Gastlichkeit und
gutes Benehmen, aber insbesondere das
Hochhalten von Familienwerten kann
auch uns bereichern.
Erwarten Sie, dass die „Willkommenskultur“ anhält?
Hier scheint sich einiges zu ändern.
Von meiner „Lehrmeisterin“ in Sachen
Entwicklungshilfe, Mutter Teresa Anfang der 80er Jahre in den Slums von
Kalkutta, habe ich gelernt, dass man
„Herz und Hirn“ benötigt, um mit Elend
richtig umzugehen. In den ersten Monaten überwog bei vielen verständlicherweise das „Herz“ bei den furchtbaren Bildern, die uns täglich in den Medien präsentiert wurden. Planerisches Vorgehen
und langfristiges Organisieren bei einer,
für alle erträglichen Lösung dieser Jahrhundertaufgabe schienen zweitrangig,
auch weil von staatlicher Seite hier kein
Konzept, geschweige denn eine Strategie, erkennbar war. Dies rächt sich jetzt.
Was erleben Sie bei Ihren zahlreichen Vortragsveranstaltungen ?
Ich erlebte vor einigen Wochen – übrigens bei einer SPD-Veranstaltung –
erstmals massiv fremdenfeindliche Äußerungen und musste daher die Veranstaltung sogar abbrechen. Mich erreichen jetzt auch erstmals beleidigende
Briefe und Anrufe, weil ich mich für
„Moslems engagiere“. Medien und Poli-
tik müssen jetzt höllisch aufpassen, damit die Stimmung nicht kippt. „Blauäugiges Gutmenschentum“ ist genauso wenig angebracht wie Äußerungen: „Ich
hab ja nichts gegen Flüchtlinge, aber…“.
Realitätssinn, zumindest mittelfristige
Planung und Organisation – dazu gehört
auch eine zügige, humane Rückführung
abgelehnter Flüchtlinge – und ein schärferes Vorgehen bei Rassismus und Fremdenfeindlichkeit sind dringend notwendig, damit die Situation nicht schon in
einigen Monaten aus dem Ruder läuft.
Was könnte die Bundesregierung tun, um die
Fluchtursachen zu bekämpfen? Was muss
sich grundsätzlich an der westlichen Außenund Entwicklungspolitik ändern?
„Bei einem fahrenden Lkw die Reifen
wechseln“ fällt mir da ein. Für diejenigen, die sich jetzt bereits in Afghanistan
auf den Weg machen, kommt eine
Fluchtursachenbekämpfung wohl zu
spät. Hätte man in den vergangenen
13 Jahren nur ein Drittel der Kosten des
Militäreinsatzes in Afghanistan von 900
Milliarden Dollar in einen, dem Land
und seinen Menschen angemessenen
Wiederaufbau investiert, fänden wir am
Hindukusch jetzt zwar keine „blühenden Landschaften“, aber ein Land, aus
dem Menschen nicht fliehen müssen.
Langfristig muss die sogenannte „Erste
Welt“ im Umgang mit der Dritten Welt
umdenken. „Unser Wohlstand lebt auf
Kosten der armen Länder“, formuliert es
Minister Müller völlig zu Recht. Lebensmittel- und Ressourcenverschwendung,
Zerstörung der Umwelt, Waffenexporte
in undemokratische Staaten, subalterner, weil profitorientierter Umgang mit
Diktatoren müssen beendet werden.
„Hilfe zur Selbsthilfe“ muss in der Entwicklungshilfe als Grundsatz gelten. Ein
mit Zuckerbrot und Peitsche Aufzwingen unseres zum Teil fragwürdigen Lebensstils – viele nennen ihn fälschlicherweise „unsere Werte“ – muss beendet
werden, auch wenn dies etwas weniger
„Wohlstand für alle“ bedeuten wird.
Gittern ab. In einem ehemaligen Gefängnis in Berlin-Moabit helfen seit Donnerstag Bundeswehrsoldaten bei der Registrierung von Flüchtlingen. Ihr Arbeitsraum unterm Dach des denkmalgeschützten Gebäudes ist lichtdurchflutet,
aber die Fenster sind vergittert. Die
Flüchtlinge warten in einem von hohen
Eisengittern eingefassten Hof. Dolmetscher bemühen sich in mehreren Sprachen, ihnen zu erklären, dass sie nicht
im Gefängnis gelandet sind.
Angesichts der Flüchtlingszahlen
sind geeignete Immobilien rar geworden. Das Gebäude stellte die Polizei zur
Verfügung. Hier gibt es bereits eine sogenannte Bearbeitungsstraße mit vielen
Computerarbeitsplätzen für Großlagen –
wenn zum Beispiel am 1. Mai viele Personalien überprüft werden müssen. So testet Berlin in der Kruppstraße, wie die Registrierung der Tausenden Asylbewerber
in Zusammenarbeit von Polizei, Ausländerbehörde, Bundesamt für Migration
und Flüchtlinge (BAMF) und dem zuständigen Landesamt für Gesundheit
und Soziales (Lageso) beschleunigt werden kann. An einem Ort und nicht mehr
dezentral in der Stadt verteilt.
Für die Soldaten ist es ein außergewöhnlicher Einsatz. „Wir gehören zum
Wachbataillon beim Bundesministerium der Verteidigung. Wir stehen bei
Staatsbesuchen am Roten Teppich“, sagt
der junge Kapitänleutnant Patrick Gallus lächelnd. Nun seien sie abkommandiert worden, im Rahmen der Aktion
„Helfende Hände“ bei der Registrierung
der Flüchtlinge zu helfen. Alles Freiwillige. Einzige Voraussetzung: gute Computerkenntnisse.
Das Lageso kann seit Wochen den
Flüchtlingsandrang nicht mehr bewältigen. Täglich warten Hunderte neuer
Asylbewerber auf die Annahme ihrer
Anträge. Die Bilder der erschöpften Menschenmassen auf dem Lageso-Areal vor
Berlins Zentraler Anlaufstelle in Moabit
schockierten. Allein seit dem 5. September hat die Hauptstadt rund 10 000
Flüchtlinge aufgenommen, etwa 3000
von ihnen kamen über die Balkanroute.
Seit Jahresanfang trafen rund 32 000
Asylbewerber neu in Berlin ein.
Der Job ist verantwortungsvoll. Die
Soldaten arbeiten mit der Software Easy
des BAMF. Hier werden die Daten der
Asylbewerber eingegeben und an das
Bundesamt geschickt. Das System ermittelt die Verteilung der Flüchtlinge nach
dem sogenannten Königsteiner Schlüssel auf die Bundesländer.
Eduard Zhukov gibt konzentriert Daten in den Computer ein. Die Aufgabe sei
gerade am Anfang nicht leicht, räumt
der Grenadier ein. Ein falscher Eintrag,
ein verkehrt aufgeklebtes Bild und die
Arbeit einer Stunde landet im Papierkorb. Doch für den Wolgadeutschen ist
sein Einsatz Ehrensache. „Hier kann ich
den Flüchtlingen helfen, dass ihr Asylverfahren schneller auf den Weg
kommt“, sagt der 21-Jährige, der 2002
auch als Fremder nach Berlin kam.
Soldaten bearbeiten in einem ehemaligen Gefängnis in Berlin RegistrierungsFoto: dpa
akten von Flüchtlingen.