SEITE 2 MONTAG, 28. SEPTEMBER 2015 P2 THEMEN IM BLICKPUNKT Zuckerbergs Versprechen an die Kanzlerin INTERNET Ganze drei Tage war Merkel bei den Vereinten Nationen in New York. Statt großem Auftritt gab es eine Botschaft und eine wichtige Zusage des Facebook-Gründers. ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● VON KRISTINA DUNZ, DPA ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● NEW YORK. Der junge Milliardär ist diesmal nicht in Jeans und T-Shirt gekommen. Er hat sich in einen dunkelblauen Anzug gesteckt und eine hellblaue Krawatte umgebunden. Mark Zuckerberg sitzt an diesem Tag in New York mit Kanzlerin Angela Merkel und UN-Generalsekretär Ban Ki Moon an einem Tisch. Die Vereinten Nationen sind zu einem historischen Nachhaltigkeitsgipfel zusammengekommen und jetzt geht es um das Geld der Privatwirtschaft. Diese soll helfen, die großen Ziele der UN bis 2030 zu verwirklichen: Beseitigung von Armut und Hunger, mehr Umweltschutz und Bildung für die Kinder. Merkel hat mit dem Facebook-Gründer aber noch etwas anderes zu besprechen. In Deutschland sind viele Menschen empört, dass sein soziales Netzwerk rassistische Kommentare und Hassbotschaften nicht konsequent aussortiert. Justizminister Heiko Maas (SPD) hatte jüngst versucht, auf Facebook Druck auszuüben und verlangt, strafrechtlich relevante Posts zu löschen. Auch aus Merkels CDU kam der Appell, Facebook solle nicht nur extreme Inhalte entfernen, sondern gegebenenfalls auch Nutzerkonten zügig sperren. Gespräche live im Netz zu sehen Die Kanzlerin hatte sich vorgenommen, Zuckerberg in New York direkt darauf anzusprechen. Aber es war nicht ausgemacht, dass das öffentlich geschieht. Die offiziellen Reden von Merkel und Zuckerberg wurden über den UN-Livestream im Internet übertragen. Merkel bat die Privatwirtschaft um finanzielle Unterstützung für die Umsetzung der ehrgeizigen UN-Ziele, die Welt zu verbessern. Und Zuckerberg schwärmte, wie toll Facebook sei: „Wir können die Welt verbinden.“ Dann sollte der Livestream eigentlich enden, denn die Gespräche an den Tischen sollten nicht übermittelt werden. Doch auf wundersame Weise waren ausgerechnet die Sekunden zu hören, als Merkel Zuckerberg auf die Aufregung in Deutschland über Hassmails und rassistischer Hetze ansprach. Der 31-Jährige war bereits im Bilde. „Ich denke, daran müssen wir arbeiten“, sagte er. Und Merkel fragte nach, ob sein Unternehmen an Verbesserungen arbeite. Zuckerberg antwortete: „Yeah.“ Damit war die Botschaft verbreitet: Zuckerberg persönlich sichert der Kanzlerin eine schärfere Kontrolle zu. Eine wichtige Nachricht für die Heimat. Denn mehr als die Zusage des Chefs vom Gan- ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● MITTELBAYERISCHE ZEITUNG ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● THEMEN IM BLICKPUNKT MITTELBAYERISCHE ZEITUNG ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● FLUCHT UND ZUFLUCHT ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● MONTAG, 28. SEPTEMBER 2015 P3 ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● Während viele junge Afghanen sich auf den Weg nach h Deutschland machen, muss Berlin bei der Registrierung bereits zu besonderen Mitteln greifen ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● Besonderer Einsatz für Soldaten BUNDESWEHR Ein altes Gefäng- nis in Berlin wird zur Anlaufstelle für Flüchtlinge. ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● VON KIRSTEN BAUKHAGE, DPA ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● BERLIN. Alles spielt sich sozusagen hinter 25 Termine in drei Tagen Aus ihrem Heimatdorf vertrieben: Afghanische Bürger fliehen vor Kämpfen zwischen den Taliban und den Regierungstruppen. Nach Einschätzung von Reinhard Erös sind Zehntausende Afghanen bereit zum Aufbruch ins „gelobte Land“. Foto: afp Sie fühlen sich von Angela A Merkel eingeladen Mittelbayerische Zeitung, 28.09.2015 Reinhard Erös erklärt im Gespräch mit MZ-Redakteur Stefan Stark, wie Flücchtlinge in FOLGEN Zehntausende Afghanen werden sich noch vor dem Winter auf den Weg nach Europa maAfghanistan die Asyldebatte in Deutschland interpretieren und eine Reise nach „Alm man“ buchen. chen, sagt der Experte. Er fordert, die Fluchtursachen durch eine neue Politik zu bekämpfen. MIGRATION Das Wort von der „Willkommenskultur“, Aussagen wie „Wir schaffen das“ oder „Unser Asylrecht kennt keine Obergrenze“ und Selfies einer lächelnden Kanzlerin mit Flüchtlingen haben doch sicher auch in Afghanistan ihre Wirkung? Wir Deutschen werden in Afghanistan vor allem wegen unserer Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit und perfekter Organisation hoch geschätzt: „Wenn ein Deutscher etwas verspricht, dann hält er es auch.“ In einer globalisierten Informationswelt, wo auch in Afghanistan fast jeder zweite junge Mann inzwischen ein Smartphone besitzt, sind alle Informationen quasi in Echtzeit zugängig. Über die Sender „Deutsche Welle Paschtu und Farsi“ erfährt auch der des Deutschen oder Englischen nicht Mächtige alles, was bei uns von der Politik gesagt oder getan wird. Äußerungen der Kanzlerin zum Thema Flüchtlinge werden selbstverständlich als feste Versprechen gewertet. Einschränkende Nebensätze bzw. Kritik in Deutschland an der Kanzlerin gehen dann oft unter. Zahlreiche Afghanen, die eh mit „Auswanderung“ geliebäugelt haben, haben die Versprechungen unserer Regierung von einer „menschenwürdigen Unterkunft“ und einer raschen „Eingliederung in den Arbeitsmarkt mit 8,50 Euro Mindestlohn auch für Asylanten“ dann umgehend umgesetzt und sich auf den Weg gemacht. Andere, die noch nicht fest entschlossen waren, sind jetzt dabei, ihre Reise ins Land der Träume rasch anzugehen. Rechnen Sie mit einem Anstieg der Flüchtlingswelle nach Deutschland? Facebook-Gründer Mark Zuckerberg sichert Bundeskanzlerin Angela Merkel eine Foto: dpa schärfere Kontrolle über rassistische Hetze zu. ● ● zen kann man nicht bekommen. Wie es passieren konnte, dass dieses Gespräch als einziges der mehreren Hundert Diplomaten in die Presseräume übertragen wurde, blieb offen. Manch einer hat sich gewundert, dass Merkel für drei Tage nach New York reist, wo sie doch sonst in drei Tagen um die halbe Welt fliegt. Und dass sie dann noch nicht einmal an der großen 70. Generalversammlung teilnimmt, sondern zum Nachhaltigkeitsgipfel fährt, auf dem sie gerade einmal fünf Minuten Redezeit vor den rund 160 Staats- und Regierungschefs hat. Die Generalversammlung mit US-Präsident Barack Obama und Russlands Staatschef Wladimir Putin überlässt Merkel Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD). Für die Kanzlerin gab es in New York nicht den großen Auftritt. Es gab kleinere Begegnungen. Dafür viele. 25 Termine hat sie wahrgenommen und mit Staatsund Regierungschefs aus Afrika, dem Nahen Osten und Europa über die Flüchtlingskrise gesprochen. An den unbedingten Wunsch von Asylbewerbern in Deutschland, ein Selfie mit ihr zu bekommen, hat sie sich inzwischen gewöhnt. Überrascht war sie aber, als im UN-Gebäude auch zahlreiche Diplomaten verschiedenster Staaten ein solches Foto begehrten. Merkel hatte in der Eröffnungsfeier zum Nachhaltigkeitsgipfel am Freitag gesagt: „Nichts muss so bleiben, wie es ist. Veränderung zum Guten ist möglich. [...] Wir wollen und wir können unsere Welt verändern. Wir wollen und wir können der Welt ein menschlicheres Gesicht geben.“ Die „New York Times“ platzierte Merkel in ihrem Text am Samstag damit gleich nach den Mahnungen von Papst Franziskus zur Wahrung der Schöpfung und zitierte die Kanzlerin mit den Worten: „We want to change our world and we can.“ Amerikaner hören so etwas gern. Die gesunkenen Beliebtheitswerte zuhause im Zuge ihrer Türöffnung für Flüchtlinge waren für Merkel in New York weit weg. Sorgen auch um die Kritik aus ihrer Union – allen voran CSUChef Horst Seehofer –, Merkel überfordere die Bürger, ereilen sie erst wieder an diesem Montag. In New York mutete es symbolhaft an, wie Merkel an der Gedenkstätte für die Opfer des Terroranschlags vom 11. September 2001 den „Baum der Überlebenden“ streichelte. Der Birnbaum war aus den Trümmern des World Trade Centers geborgen, aufgepäppelt und wieder eingepflanzt worden. Merkel sagte: „Dieser Baum ist natürlich wie ein Wunder, dass er überlebt hat und dann auch so weitergewachsen ist.“ In den vergangenen Wochen hat sie von der Bewältigung der Flüchtlingskrise bis zur Verwirklichung der UN-Ziele oft gesagt: „Wir schaffen das.“ Womöglich sagt sie sich jetzt: „Ich schaffe das.“ ● SEITE 3 „In Afghanistan sitzen Hunderttausende Afghanen auf gepackten Koffern“ äußerte sich Entwicklungsminister Minister Müller, CSU, vor wenigen Tagen. Mit Ausnahme des Wortes „Koffer“ hat er Herat ganz einfach eine Reise nach „AlRecht. Zehntausende, vor allem junge, man“. Economy kostet 6000 Euro, Busioft minderjährige Afghanen, werden ness 15 000 Euro und First 25 000 Euro. sich noch vor Wintereinbruch mit Ruck- Die Reise in der Billigklasse verläuft „russäcken auf den Weg Richtung ins Land tikal“ in ausrangierten Bussen oder Lkws der „Willkommenskultur“ machen bzw. und dauert oft Wochen bis zur türkivon ihren Eltern auf die Reise geschickt. schen Küste; von dort wird dann in „SeeAus keinem anderen Land kommen lenverkäufern“ nach Griechenland überschon jetzt so viele sogenannte unbeglei- gesetzt. Auf der Balkanroute, eingetete minderjährige Flüchtlinge zu uns pfercht in wechselnden Minibussen, dawie aus Afghanistan. Ihnen zwischen kilometerlange von steht besonderer Schutz und Kleinschleusern „geführte“ INTERVIEW Fürsorge zu (keine AbschieFußmärsche, geht es dann bis bung, keine SammelunterDeutschland. In der Business-Klasse verläuft die Reise künfte, Betreuung durch Sonatürlich zügiger und komzialarbeiter in Kleingruppen, fortabler. In der First-class umgehender Sprachunterfliegt man mit gefälschtem richt etc.). Ihr „elterlicher Auftrag“ ist es, sich in Pass und einem, bei einer BotDeutschland schnell einzuleschaft gekauften Visum in REINHARD ERÖS ben, Arbeit zu finden und ei- Gründer der Kinderhilfe ein Schengen-Land. Afghanistan nen Teil des Geldes dann in Können Sie die Lebenssituation die Heimat zu schicken. Mit durchschnittlicher Bürger in Af300 Euro pro Monat kann zu ➥ Haben Sie weitere ghanistan beschreiben? Was Fragen? Schreiben Hause die Familie überleben. sind die Fluchtursachen? Sie uns! nachrichWelche Möglichkeiten gibt es für ten@mittelbayeriDas Durchschnittseinkomsche.de asylsuchende Menschen in Afmen liegt bei drei Euro pro ghanistan, nach Europa zu geTag, wenn man überhaupt langen? Arbeit findet. Damit muss der Vater oder Kaum ein Land verfügt über so älteste Sohn eine siebenköpfige Familie viel „Fluchterfahrung“ wie die Af- ernähren. Die Anzahl der Kinder, die eighanen. Bis 2014 stellte Afghanis- ne Schule besuchen können, nimmt tan weltweit die meisten kontinuierlich ab. Ursache ist die hohe Flüchtlinge. Seit 30 Jahren Geburtenrate von 6,8 Kinder pro Famisind dort Millionen auf lie. Man müsste also alle acht Jahre die der Flucht: in den 80er Zahl der Schulen und Lehrer verdopJahren vor den Russen, peln, nur um auf dem Status quo von in den 90 Jahren vor den 50 Prozent Schulbesuchern zu bleiben. Taliban und jetzt vor Radikale Koranschulen – von Saudi-Araden Ergebnissen des bien finanziert –, deren Besuch kostenlos 14 Jahre dauernden ist, sind für viele die einzige Alternative. „war on terror“ der Berufsbildende Einrichtungen gibt es so Nato. In Dutzenden Rei- gut wie gar nicht. Die Landwirtschaft sebüros – bei uns heißen liegt darnieder; Afghanistan muss sie „Schleuser-Mafia“ – 60 Prozent der Grundnahrungsmittel bucht man in Kabul oder importieren. Elektrischer Strom ist für 80 Prozent unbezahlbar. Sauberes Trinkwasser steht weniger als 30 Prozent der Bundeskanzlerin Bevölkerung zur Verfügung. Die KinderAngela Merkel ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● sterblichkeit liegt bei 10 Prozent und ist damit 30-mal höher als In Deutschland. Ein ganz normaler Arztbesuch kostet oft einen ganzen Wochenlohn. Auf dem Korruptionsindex steht Afghanistan weltweit an der Spitze. Die Sicherheitslage ist dramatisch. Seit Beginn der NatoIntervention 2002 kamen nie so viele Menschen ums Leben wie in den letzten zwölf Monaten. 3500 Polizisten und Soldaten wurden allein seit Januar 2015 getötet; genauso viele wie Nato-Soldaten in den vergangenen 14 Jahren. Welche Vorstellungen und Erwartungen haben die Afghanen von Deutschland und dem Leben in der Bundesrepublik? Über Internet bzw. Freunde und Verwandte in Deutschland sind die meisten Afghanen über uns recht gut informiert. Die afghanische Gemeinschaft in Deutschland – seit den 90er Jahren leben hier circa 100 000 Afghanen – gehört zu den am besten integrierten. Mit 31 Prozent Abiturienten stehen sie an der Spitze und bei den Hartz-4-Empfängern bilden sie das Schlusslicht unter den Migranten. Die Überzeugung „Das schaffen wir auch!“ ist ein wesentlicher Antrieb hierher zu kommen. Der Maßstab an eine „menschenunwürdige Unterkunft“ ist bei einem afghanischen Bauernjungen, der gerade bei uns angekommen ist, naturgemäß ein anderer als bei einem ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● AKTUELL IM NETZ ➲ MZ-Spezial! ● Ein Spezial zur Flüchtlingspolitik finden Sie bei uns im Internet: ➤ www.mittelbayerische.de/asyl ● ● syrischen Arzt, der aus seiner westlich ausgestatteten Vierzimmerwohnung in Damaskus zu uns fliehen musste. Wirkt sich die Diskussion über den Bau von Grenzzäunen aus? Wer in seiner Heimat täglich um das Überleben kämpft, wer als junger Mann keine Chance sieht, einen halbwegs ordentlich bezahlten Job zu finden, mit dem er eine Familie gründen und ernähren kann, wer also keine Lebensperspektive im eigenen Land sieht, nimmt jede auch noch so beschwerliche Flucht auf sich. Grenzzäune aus Nato-Draht, Wasserwerfer, Tränengas oder Polizeiknüppel im Balkan oder Ungarn sind für ihn eher ein „Klacks“ im Vergleich zu den Zuständen im eigenen Land, wo noch über fünf Millionen Minen vergraben sind, die jeden Tag drei Menschen töten oder verletzen, wo eigene Polizei und Militär bei Protesten nicht mit Wasserwerfern, sondern mit scharfer Munition auf Demonstranten schießen, wo in Polizeistationen und in Gefängnissen Folter an der Tagesordnung ist. Erleben afghanische Flüchtlinge nach ihrer Ankunft nicht zunächst einen Kulturschock? Der sogenannte Kulturschock ist für einen Deutschen, der nach Afghanistan geht, nach meiner Erfahrung höher als umgekehrt. Das Gleiche gilt auch für die ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● HILFE FÜR AFGHANISTAN ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ➤ Der Oberpfälzer Reinhard Erös gilt als einer der profiliertesten Afghanistan-Experten Deutschlands. ➤ Der 1948 in Tirschenreuth geborene ehemalige Bundeswehrarzt betreibt seit 1998 die Kinderhilfe Afghanistan. ➤ Mit dem Bau von Schulen, Waisenhäusern, Krankenstationen, Computerausbildungszentren, Berufsschulen und einer Universität leistet die Organisation humanitäre Hilfe und Wiederaufbauhilfe. Reinhard Erös lebt in Mintraching im Landkreis Regensburg. (fn) ● Integration. Sich als „hochzivilisierter“, von Demokratie und Rechts- und Sozialstaat geprägter Europäer in einer mittelalterlich anmutenden Stammesgesellschaft zu integrieren, wäre wahrscheinlich nur den wenigsten möglich. Je jünger der afghanische Flüchtling zu uns kommt, desto schneller erlernt er nicht nur unsere Sprache, sondern versteht auch unsere Werte besser und kann unsere Gesetze und Regeln mit Überzeugung nachvollziehen. Der typisch afghanische Bildungshunger, die quasi historisch gewachsene physische und psychische Durchhaltekraft, die große Bedeutung von Höflichkeit, Gastlichkeit und gutes Benehmen, aber insbesondere das Hochhalten von Familienwerten kann auch uns bereichern. Erwarten Sie, dass die „Willkommenskultur“ anhält? Hier scheint sich einiges zu ändern. Von meiner „Lehrmeisterin“ in Sachen Entwicklungshilfe, Mutter Teresa Anfang der 80er Jahre in den Slums von Kalkutta, habe ich gelernt, dass man „Herz und Hirn“ benötigt, um mit Elend richtig umzugehen. In den ersten Monaten überwog bei vielen verständlicherweise das „Herz“ bei den furchtbaren Bildern, die uns täglich in den Medien präsentiert wurden. Planerisches Vorgehen und langfristiges Organisieren bei einer, für alle erträglichen Lösung dieser Jahrhundertaufgabe schienen zweitrangig, auch weil von staatlicher Seite hier kein Konzept, geschweige denn eine Strategie, erkennbar war. Dies rächt sich jetzt. Was erleben Sie bei Ihren zahlreichen Vortragsveranstaltungen ? Ich erlebte vor einigen Wochen – übrigens bei einer SPD-Veranstaltung – erstmals massiv fremdenfeindliche Äußerungen und musste daher die Veranstaltung sogar abbrechen. Mich erreichen jetzt auch erstmals beleidigende Briefe und Anrufe, weil ich mich für „Moslems engagiere“. Medien und Poli- tik müssen jetzt höllisch aufpassen, damit die Stimmung nicht kippt. „Blauäugiges Gutmenschentum“ ist genauso wenig angebracht wie Äußerungen: „Ich hab ja nichts gegen Flüchtlinge, aber…“. Realitätssinn, zumindest mittelfristige Planung und Organisation – dazu gehört auch eine zügige, humane Rückführung abgelehnter Flüchtlinge – und ein schärferes Vorgehen bei Rassismus und Fremdenfeindlichkeit sind dringend notwendig, damit die Situation nicht schon in einigen Monaten aus dem Ruder läuft. Was könnte die Bundesregierung tun, um die Fluchtursachen zu bekämpfen? Was muss sich grundsätzlich an der westlichen Außenund Entwicklungspolitik ändern? „Bei einem fahrenden Lkw die Reifen wechseln“ fällt mir da ein. Für diejenigen, die sich jetzt bereits in Afghanistan auf den Weg machen, kommt eine Fluchtursachenbekämpfung wohl zu spät. Hätte man in den vergangenen 13 Jahren nur ein Drittel der Kosten des Militäreinsatzes in Afghanistan von 900 Milliarden Dollar in einen, dem Land und seinen Menschen angemessenen Wiederaufbau investiert, fänden wir am Hindukusch jetzt zwar keine „blühenden Landschaften“, aber ein Land, aus dem Menschen nicht fliehen müssen. Langfristig muss die sogenannte „Erste Welt“ im Umgang mit der Dritten Welt umdenken. „Unser Wohlstand lebt auf Kosten der armen Länder“, formuliert es Minister Müller völlig zu Recht. Lebensmittel- und Ressourcenverschwendung, Zerstörung der Umwelt, Waffenexporte in undemokratische Staaten, subalterner, weil profitorientierter Umgang mit Diktatoren müssen beendet werden. „Hilfe zur Selbsthilfe“ muss in der Entwicklungshilfe als Grundsatz gelten. Ein mit Zuckerbrot und Peitsche Aufzwingen unseres zum Teil fragwürdigen Lebensstils – viele nennen ihn fälschlicherweise „unsere Werte“ – muss beendet werden, auch wenn dies etwas weniger „Wohlstand für alle“ bedeuten wird. Gittern ab. In einem ehemaligen Gefängnis in Berlin-Moabit helfen seit Donnerstag Bundeswehrsoldaten bei der Registrierung von Flüchtlingen. Ihr Arbeitsraum unterm Dach des denkmalgeschützten Gebäudes ist lichtdurchflutet, aber die Fenster sind vergittert. Die Flüchtlinge warten in einem von hohen Eisengittern eingefassten Hof. Dolmetscher bemühen sich in mehreren Sprachen, ihnen zu erklären, dass sie nicht im Gefängnis gelandet sind. Angesichts der Flüchtlingszahlen sind geeignete Immobilien rar geworden. Das Gebäude stellte die Polizei zur Verfügung. Hier gibt es bereits eine sogenannte Bearbeitungsstraße mit vielen Computerarbeitsplätzen für Großlagen – wenn zum Beispiel am 1. Mai viele Personalien überprüft werden müssen. So testet Berlin in der Kruppstraße, wie die Registrierung der Tausenden Asylbewerber in Zusammenarbeit von Polizei, Ausländerbehörde, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) und dem zuständigen Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) beschleunigt werden kann. An einem Ort und nicht mehr dezentral in der Stadt verteilt. Für die Soldaten ist es ein außergewöhnlicher Einsatz. „Wir gehören zum Wachbataillon beim Bundesministerium der Verteidigung. Wir stehen bei Staatsbesuchen am Roten Teppich“, sagt der junge Kapitänleutnant Patrick Gallus lächelnd. Nun seien sie abkommandiert worden, im Rahmen der Aktion „Helfende Hände“ bei der Registrierung der Flüchtlinge zu helfen. Alles Freiwillige. Einzige Voraussetzung: gute Computerkenntnisse. Das Lageso kann seit Wochen den Flüchtlingsandrang nicht mehr bewältigen. Täglich warten Hunderte neuer Asylbewerber auf die Annahme ihrer Anträge. Die Bilder der erschöpften Menschenmassen auf dem Lageso-Areal vor Berlins Zentraler Anlaufstelle in Moabit schockierten. Allein seit dem 5. September hat die Hauptstadt rund 10 000 Flüchtlinge aufgenommen, etwa 3000 von ihnen kamen über die Balkanroute. Seit Jahresanfang trafen rund 32 000 Asylbewerber neu in Berlin ein. Der Job ist verantwortungsvoll. Die Soldaten arbeiten mit der Software Easy des BAMF. Hier werden die Daten der Asylbewerber eingegeben und an das Bundesamt geschickt. Das System ermittelt die Verteilung der Flüchtlinge nach dem sogenannten Königsteiner Schlüssel auf die Bundesländer. Eduard Zhukov gibt konzentriert Daten in den Computer ein. Die Aufgabe sei gerade am Anfang nicht leicht, räumt der Grenadier ein. Ein falscher Eintrag, ein verkehrt aufgeklebtes Bild und die Arbeit einer Stunde landet im Papierkorb. Doch für den Wolgadeutschen ist sein Einsatz Ehrensache. „Hier kann ich den Flüchtlingen helfen, dass ihr Asylverfahren schneller auf den Weg kommt“, sagt der 21-Jährige, der 2002 auch als Fremder nach Berlin kam. Soldaten bearbeiten in einem ehemaligen Gefängnis in Berlin RegistrierungsFoto: dpa akten von Flüchtlingen.
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