Zeige deine Wunden!

Der verzweifelte Thoma oder: Zeige Deine Wunden
Christian Hagen
Zeige deine
Wunden!
Bild: Joseph Beuys: Zeige Deine Wunde, Kunstinstallation
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Der verzweifelte Thoma oder: Zeige Deine Wunden
Christian Hagen
ER ist auferstanden, liebe Gemeinde,
Er ist auferstanden! Ist das nicht unglaublich? Können wir das fassen?
Er war tot und lebt jetzt wieder! Ist uns die Tragweite dieser Aussage bewusst. Können wir das
begreifen?
Wenn ich heute einem Menschen sage, dass Jesus wirklich leibhaftig auferstanden ist, halten mich
viele für verrückt oder naiv. Auch manche Theologen behaupten, dass man das mit der Auferstehung
nicht wörtlich nehmen soll. Aber ich bin überzeugt: Jesus ist tatsächlich und wirklich von den Toten
auferweckt worden. Er hat einen neuen Leib erhalten, einen unverweslichen Leib, wie Paulus das
nennt.
Ich glaube das, obwohl ich in der gleichen Lage wie Thomas bin. Er hat die Erscheinung des
Auferstandenen vorerst auch nicht persönlich erlebt, sondern kennt sie nur vom Hörensagen. Ihm
wurde davon erzählt. Er sollte sich auf die Worte der Anderen verlassen, ohne selbst Zeuge der
Erscheinung Jesu gewesen zu sein.
Die anderen Jünger hatten Jesus gesehen; ihnen fiel es dementsprechend leicht zu glauben, was ihre
Augen und Ohren vernommen hatten. Thomas aber war als einziger nicht dabei gewesen. Stark finde
ich, dass Thomas frei und ohne Zögern seine Zweifel ausdrückt. Thomas äussert sich sehr freimütig
und ganz klar: „Ich werde nicht glauben, es sei denn, ich begegne Jesus selbst!“ Das sagt er den
anderen geradeaus ins Gesicht. Das beeindruckt mich. Ich frage mich, ob ich mich das trauen würde:
Einfach so meine Zweifel ausdrücken, meine Glaubensgeschwister in Frage stellen; das ist garantiert
nicht einfach.
Ein Gedankenspiel sei hier erlaubt. Stellen wir uns also eine göttliche Offenbarung in unserer
Gemeinde vor. Nehmen wir an, hier –in diesem Raum- ereignete sich wirklich etwas
Außerordentliches. Dass wir Gottesdienst feiern, ist ja eigentlich schon etwas Außerordentliches. Ich
weiß. Aber stellen wir uns vor, Jesus träte höchstpersönlich unter uns, körperlich, leiblich, hörbar,
sehbar, fühlbar und berührbar. Und nehmen wir an, nur ein einziges Gemeindeglied wäre nicht
dabei. Wir erzählten ihm natürlich später voller Freude und Enthusiasmus von dieser Sache. Und
diese Person würde sich weigern, unseren Aussagen zu glauben, es sei denn, sie würde das Gleiche
auch erleben. Was würden wir mit diesem Menschen tun? Ihn überreden, ihn mit missionarischem
Eifer zu unserer Überzeugung bekehren? Würden wir ihn bedrängen, er müsse uns glauben? Und
wenn er uns trotzdem nicht glaubt: Dürfte er noch Teil der Gemeinde sein? Oder würden wir ihn
hinaus mobben? Denn immerhin stellt er uns ja in Frage. Darf er das; uns und unseren Glauben in
Frage stellen; unsere tiefste Überzeugung anfechten; unsere Dogmen bezweifeln? Gibt es etwas,
woran ich glaube, was niemand anzweifeln darf, ohne mich zu seinem Feind zu machen?
Schauen wir uns an, was die Jünger in dieser Situation machen: Nichts! Da steht kein Wort von
Überzeugungsarbeit oder davon, dass Thomas an die Aussagen der anderen Jünger glauben musste.
Er durfte seine Zweifel aussprechen und seine Zweifel behalten; er durfte anders glauben als die
anderen. Hier ist nichts zu spüren davon, dass er unter den Jüngern wegen seiner Zweifel weniger
geachtet wurde oder gar ausgestoßen wurde. Nein. Er durfte zweifeln; er durfte anders sein; ja: er
durfte den Glauben der Gemeinde selbst in Frage stellen! Die Gemeinde der Jünger hielt dies aus. Ihr
Glaube war stark genug für die Zweifel, ja für die Verzweiflung eines Thomas! Sie wusste, dass die
Menschen verschieden waren und verschieden glaubten und sie akzeptierten auch einen Querdenker
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in ihrer Mitte. Sie wussten, dass Gott auf verschiedenen Wegen geht und dass Thomas vielleicht
einen anderen Weg mit Gott gehen musste. Thomas musste sich ihnen jedenfalls nicht anpassen, um
angenommen zu sein. Welche Gemeinde hält das heute noch aus? Welche Kirche ist stark genug für
einen Thomas in ihrer Mitte? Wir müssen uns vor Augen führen, dass Thomas ja nicht irgendein
Detail das Glaubens in Frage gestellt hat, sondern das Fundament des Glaubens selbst – nämlich die
Auferstehung Christi!
Joseph Beuys, ein deutscher Künstler, hat 1974-1975 eine Kunst-Installation gemacht in einer
Münchner Fußgängerunterführung. Die Installation besteht aus einem krankenhausähnlichen Raum,
in dem sich Paare von Gegenständen befinden. Zwei Holzwerkzeuge, an einer zweiteiligen weißen
Holzplatte lehnend; zwei Schultafeln, darauf mit Kreide in kindlicher Schrift „Zeige deine Wunde“;
zwei Leichenbahren, zwei mit Fett gefüllte Zinkblechkisten, ausgestattet mit einem
Fieberthermometer und einem Reagenzglas, in dem das Skelett eines Drosselschädels liegt; zwei
Forken, jede mit einem bunten Halstuch; und zwei italienische Zeitungen mit dem Titel „La Lotta
continua“ (Der Kampf geht weiter). Der Titel der Installation hieß: „Zeige deine Wunde!“
Joseph Beuys sagte zu seiner Installation: „Zeige deine Wunde, weil man die Krankheit offenbaren
muss, die man heilen will. Der Raum [...] spricht von der Krankheit der Gesellschaft…. Eine Wunde,
die man zeigt, kann geheilt werden."
Unsagbar war das, was Beuys hier ausdrückte, deshalb, weil es in unserer Gesellschaft nicht üblich
ist, seine Wunden zu zeigen. Und schon gar nicht in einem Land wie Deutschland, dreißig Jahre nach
dem Krieg – wo noch so viele offenen Wunden vor sich hin eiterten und heute noch eitern.
Auch für uns ist diese Aufforderung nur schwer erträglich: „Zeige deine Wunden!“ Ja, das machen wir
vielleicht beim Arzt, in einer Psychotherapiesitzung oder in der Seelsorge - wenn überhaupt-, aber
doch sicher nicht in der Öffentlichkeit. Aber Joseph Beuys platzierte diese Forderung an einem ganz
öffentlichen Platz, dort, wo Menschen sich bewegten, sich begegneten.
Unsere persönlichen Wunden verstecken wir meist vor den Augen der Menschen. In gewisser Weise
schämen wir uns für sie. Wir möchten doch makellos und perfekt sein. Man soll uns unsere Schwäche
ja nicht anmerken. Wunden und Verletzungen haben wirklich keinen Platz in unserem Leben. Wir
verbergen sie vor den Blicken der Menschen und vor uns selber. Meinen dicken Bauch, den kann ich
wegtrainieren – hoffe ich -, um dem Schönheitsideal zu entsprechen. Mein Doppelkinn kann ich mit
einer Diät bekämpfen. Meine Falten kann ich, wenn ich will, mit Botox glätten.
Aber meine Narben und Wunden, die bleiben für mich selbst immer sichtbar; gegen sie gibt es keine
Mittel; und auch wenn ich eine hässliche Narbe bei einem Schönheitschirurgen wegoperieren lasse,
dann bleibt mir doch eine neue Narbe aus der Operation. Und diese neue Narbe wird mich immer an
die alte erinnern. Wenn ich die neue Narbe sehe, erinnere ich mich, wie hässlich doch die alte Narbe
war. Körperliche Narben und Wunden kann ich mit Photoshop weg retuschieren, so wie man Pickel
oder Zellulitis auf den Titelseiten der Hochglanzmagazine weg retuschiert – was ja nichts anderes als
eine visuelle Lüge ist. Meine seelischen Wunden aber kann ich höchstens verdecken, verstecken und
verbergen.
„Zeig deine Wunde“: Das fordert Thomas implizit von Jesus. Und Jesus zeigt ihm die Wunden
freimütig. Er schämt sich nicht für sie. Sie sind jetzt Teil seiner Persönlichkeit, Teil seiner selbst. Dass
Jesus die Wunden noch hat, zeigt seine bleibende Menschlichkeit – auch in seiner Göttlichkeit. Der
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Auferstandene, der Heilige, der Hohepriester, derjenige, der zur Rechten Gottes sitzt, Er hat noch
immer die Wundmale. Der Auferstandene ist unauflöslich auch immer der Gekreuzigte; Er ist der, der
das Kreuz überwunden hat, aber die Zeichen des Kreuzes mit sich trägt – für immer! Ein Gott, der
diese Verwundungen nicht an sich trägt, kann nicht unser Gott sein. Ein Gott ohne Wunden ist ein
Götze! Auch wenn Jesus die ganze Macht über Himmel und Erde bekommen hat, so erweist sich
diese Macht doch auch in der Offenbarung seiner Wunden, Verletzungen und Vernarbungen. Auch
wenn Gott alle Schuld der Welt getilgt hat und der strahlende Sieger über Sünde und Tod ist, so ist er
doch auch ein verwundeter Gott, ein Gott, der durch das Leid, und im Leid und trotz des Leides
gesiegt hat. Seine Liebe zu uns hat ihn verwundbar gemacht. Auch heute noch trägt Jesus die Narben,
die wir ihm zugefügt haben und ständig neu zufügen.
Dass Thomas zweifelt, zeigt uns auch seine eigenen Wunden – seine Verzweiflung, seine
Hoffnungslosigkeit, sein Zerstört-Sein. Thomas war Jesus gefolgt, hatte an ihn geglaubt, hatte seine
Hoffnungen an Jesus gebunden – und war enttäuscht worden. Er hatte seinen Herrn sterben sehen.
Wie hätte er da diese Geschichte von der Auferstehung glauben können?
Thomas wurde am Karfreitag, genauso wie alle anderen Jünger und wie wir selbst, tödlich
verwundet. Alles, woran er geglaubt hatte, alle seine Hoffnungen, Visionen und Träume wurden
vernichtet im Angesicht des Todes! Als Jesus am Kreuz starb, starb in gewisser Weise auch Thomas.
Und erst der persönliche Kontakt mit Jesus, dem auferstandenen Gekreuzigten, konnte die
Todesstarre durchbrechen und Thomas zu neuem Leben verhelfen. Ohne die Berührung des Christus
wäre sein Leben ein ständiger Karfreitag geblieben.
Indem Thomas aber zu dieser Verwundung steht, indem er sich nicht für sie schämt, sondern sie
offen bekennt, kann sie geheilt werden. Können wir in der Gemeinde zulassen, dass uns jemand
seine Verwundungen zeigt? Sind wir stark genug für Menschen, die an unserem Glauben zweifeln?
Oder gar für Menschen, die an unserem Glauben verzweifeln? Und sind auch wir bereit, unsere
Zweifel gegenüber unseren Geschwistern zu bekennen?
Thomas zweifelte, weil er verzweifelt war. Die Gemeinde hat ihn dennoch ertragen und mitgetragen
– so lange, bis er seinen Weg zu Jesus gefunden hat bzw. bis Jesus den Weg zu ihm gegangen war. In
der Begegnung mit Jesus sah Thomas auch die seitliche Wunde Jesu – wo der Speer das Herz des
Gottessohnes durchbohrt hatte. Und durch diese Wunde sah er – tatsächlich – das Herz Gottes
schlagen. Durch die Wunde sieht man das Herz! Auch wir können helfen, dass Menschen durch die
Wunde des Gekreuzigten das Herz des Auferstandenen sehen. Darum feiern wir Ostern, nicht nur
heute sondern hoffentlich jeden Tag.
AMEN
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