Alexander Schwarz AG Staatsrecht I – Lösung: Rechtsstaat

Alexander Schwarz
AG Staatsrecht I
– Lösung: Rechtsstaat, Vertrauensschutz und Rückwirkung – 1
Vor dem BVerfG kommt ein Antrag auf abstrakte Normenkontrolle gem. Art. 93 I Nr. 2 GG in
Betracht. Der Antrag der L hat Erfolg, wenn er zulässig und begründet ist.
A. Zulässigkeit
I. Zuständigkeit des BVerfG
Das BVerfG ist nur zuständig, wenn ihm ein Verfahren durch das GG explizit zugewiesen ist.
Der L geht es um die Überprüfung des EStG auf seine Vereinbarkeit mit dem GG. In
Betracht kommt daher eine abstrakte Normenkontrolle nach Art. 93 I Nr. 2 GG i.V.m. § 13 Nr.
6, §§ 76 ff. BVerfGG.2
II. Antragsberechtigung (Art. 93 I Nr. 2 GG, § 76 I BVerfGG)
Gemäß Art. 93 I Nr. 2 GG, § 76 I BVerfGG ist die Bundesregierung, die Landesregierung
oder
ein
Viertel
der
Mitglieder
des
Bundestages
im
Verfahren
der
abstrakten
Normenkontrolle antragsbefugt. Dass dem Antrag ein entsprechender Kabinettsbeschluss zu
Grunde liegt, wie dies für die Zulässigkeit eines von einer Landesregierung gestellten
Antrags erforderlich ist, kann hier unterstellt werden. Die Landesregierung des Bundeslandes
L ist antragsberechtigt.
III. Antragsgegenstand (Art. 93 I Nr. 2 GG, § 76 I BVerfGG)
Antragsgegenstand kann Landesrecht oder Bundesrecht sein. Dazu zählen alle Gesetze,
d.h. die formellen (Parlaments-)Gesetze, aber auch die Gesetze im nur materiellen Sinn
(Rechtsverordnungen und Satzungen).
Das EStG ist ein Bundesgesetz und damit Bundesrecht i.S.d. Art. 93 I Nr. 2 GG, § 76 I
BVerfGG, das auf seine Vereinbarkeit mit dem GG zu überprüfen ist. Das EStG ist als
formelles Gesetz tauglicher Antragsgegenstand.
IV. Antragsgrund (Art. 93 I Nr. 2 GG, § 76 I Nr. 1 und Nr. 2 BVerfGG)
Gem. Art. 93 I Nr. 2 GG müssen Meinungsverschiedenheiten oder Zweifel über die
Verfassungsmäßigkeit des Antragsgegenstandes bestehen, und zwar beim Antragsteller.
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Fall und Lösung angelehnt an Hemmer, Fall 22, Die 32 wichtigsten Fälle im Staatsrecht, 9. Auflage 2013, S.
116-121.
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Zur Zulässigkeit eines Antrags nach Art. 93 I Nr. 2 GG, § 76 I BVerfGG ausführlich und lesenswert: Mückl,
Jura 2005, 463 ff.
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Allerdings ist gem. § 76 I Nr. 1 BVerfGG erforderlich, dass der Antragsteller die Vorschrift „für
nichtig hält“. Zweifel würden demnach nicht ausreichen.
Würde man § 76 für maßgeblich halten, so würde dies dazu führen, dass von dem
großzügigen Erfordernis des bloßen Zweifels nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG abgewichen wird.
Wegen dieses Widerspruchs zu Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG wird § 76 I Nr. 1 GG BVerfGG
(teilweise) für verfassungswidrig gehalten, sodass er verfassungskonform auszulegen ist.
Nach anderer Ansicht (a.A.) stellt § 76 I Nr. 1 BVerfGG eine noch zulässige Konkretisierung
des Art. 93 I Nr. 2 GG dar. Fest steht jedenfalls, dass das BVerfGG die
Zulässigkeitsvoraussetzungen, die das GG selbst abschließend bestimmt, nicht verändern
kann. Denn das Grundgesetz ist höherrangiges Recht ggü. dem BVerfGG.
Hier hält die L das Berlin-Gesetz insgesamt für nichtig und unvereinbar mit Art. 20, Art. 28 I
und Art. 30 GG und damit für nichtig. Dementsprechend liegt ein Antragsgrund nach § 76 I
Nr. 1 BVerfGG vor.
Folglich kommt es im vorliegenden Fall nicht darauf an, ob das Erfordernis einer
Antragsbefugnis in der Form des § 76 I BVerfGG mit der verfassungsrechtlichen
Ausgestaltung der abstrakten Normenkontrolle in Art. 93 I Nr. 2 GG vereinbar ist.
V. Form
Die abstrakte Normenkontrolle ist nicht an eine spezielle Frist gebunden, eine Frist ist folglich
nicht einzuhalten.
Dass der Antrag schriftlich eingereicht wurde (§ 23 BVerfGG), darf hier unterstellt werden.
VI. Zwischenergebnis
Der Antrag der Landesregierung des Landes L erweist sich als zulässig.
B. Begründetheit
Der Antrag der L ist dann begründet, wenn das EStG formell oder materiell mit dem
Grundgesetz unvereinbar ist.
I.
Formelle Verfassungsmäßigkeit
Die formelle Verfassungsmäßigkeit ist laut Sachverhalt anzunehmen.
Andernfalls, prüfen:
-
Gesetzgebungskompetenz zum Erlass des EStG
-
Ordnungsgemäßes Gesetzgebungsverfahren
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II.
Materielle Verfassungsmäßigkeit
Unabhängig davon könnte das EStG auch materiell verfassungswidrig sein. Das ist dann der
Fall, wenn die Regelungen des EStG gegen weitere Normen des GG verstoßen.
Das Gesetz könnte gegen das Rechtsstaatsprinzip gem. Art. 20 I, III GG verstoßen. Das
Rechtsstaatsprinzip beinhaltet insbesondere den Grundsatz des Vertrauensschutzes.
1. Rechtsstaatsprinzip und Grundsatz des Vertrauensschutzes
Vertrauensschutz bedeutet Schutz des Vertrauens in die Beständigkeit der Gesetze. Der von
einem Gesetz Betroffene darf davon ausgehen, dass bestehende Gesetze Geltung
beanspruchen und er sein Verhalten nach ihnen ausrichten kann, insbesondere
entsprechende Dispositionen treffen kann. Dies betrifft vorrangig die Frage von
rückwirkenden Gesetzesänderungen. Der Grundsatz des Vertrauensschutzes verbietet es
grundsätzlich, dass Gesetze rückwirkend zum Nachteil des Einzelnen geändert werden
(Rückwirkungsverbot).
2. Echte und unechte Rückwirkung
Es sind jedoch zwei verschiedene Fälle der Rückwirkung zu unterscheiden.
Für die Rückwirkung ist dabei entscheidend, ob der in einem Gesetz geregelte Sachverhalt
in der Vergangenheit bereits abgeschlossen und abschließend geregelt wurde oder ob er nur
in der Vergangenheit begonnen hat, nun aber für die Zukunft neu geregelt wird.
Wird ein in der Vergangenheit bereits abgeschlossener Sachverhalt rückwirkend geregelt, so
liegt ein Fall echter Rückwirkung vor. Ist der geregelte Sachverhalt dagegen lediglich
begonnen und nicht bereits abgeschlossen, so handelt es sich um eine sog. unechte
Rückwirkung.
Beispiel: Wird im Jahr 2010 ein Steuergesetz erlassen, das die Steuern für das Jahr 2009
betrifft, so wird ein bereits abgeschlossener Sachverhalt geregelt.
Betrifft das Gesetz die Steuern für das Jahr 2010, so ist der Sachverhalt zwar begonnen,
aber noch nicht abgeschlossen.
Entscheidend sind die unterschiedlichen verfassungsrechtlichen Anforderungen an echte
und unechte Rückwirkung. Während echte Rückwirkung grundsätzlich gegen den Grundsatz
des Vertrauensschutzes verstößt und daher verfassungswidrig ist, ist eine unechte
Rückwirkung prinzipiell zulässig.
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a) Echte Rückwirkung
Im Einzelnen gilt für die – grundsätzlich verfassungswidrige – echte Rückwirkung, dass sie
verfassungsrechtlich
zulässig
ist,
wenn
ausnahmsweise
der
Grundsatz
des
Vertrauensschutzes nicht entgegen steht.
Dies ist immer der Fall, wenn entweder
-
Der
Betroffene
mit
einer
Neuregelung
rechnen
musste,
und
er
deshalb
ausnahmsweise kein schutzwürdiges Vertrauen in die bestehende gesetzliche
Regelung haben konnte. Z.B. kann dies der Fall sein, wenn die bestehende Regelung
ausdrücklich nur als vorläufige bezeichnet ist,
-
oder bei unklarer und verworrener Rechtslage.
-
Bei Ungültigerklärung einer Vorschrift besteht kein schutzwürdiges Vertrauen des
Einzelnen darauf, dass das für ungültig erklärte Gesetz nicht rückwirkend durch ein
neues Gesetz ersetzt wird.
-
Bei lediglich geringfügigen Belastungen („Bagatellklausel“).
-
Wenn die Rückwirkung aus zwingenden Gründen des Allgemeinwohls erforderlich ist.
b) Unechte Rückwirkung
Die unechte Rückwirkung ist demgegenüber grundsätzlich zulässig, wenn nicht
ausnahmsweise schutzwürdiges Vertrauen der Betroffenen entgegensteht, das die mit
dem Gesetz verfolgten Allgemeininteressen überwiegt.
Zu berücksichtigen ist dabei, dass das Vertrauen auf den Fortbestand der Gesetze in
der Zukunft grundsätzlich nicht geschützt ist.
Eine Ausnahme hiervon kann bei einem befristeten Gesetz vorliegen, wenn dieses noch
vor Ablauf der gesetzlich vorgesehenen Frist aufgehoben wird.
Denn mit dem Erlass eines ausdrücklich befristeten Gesetzes hat der Gesetzgeber
besonderes Vertrauen in das Gesetz bis zum Ablauf der Frist hervorgerufen.
c) Hier: echte oder unechte Rückwirkung?
Es ist daher zunächst zu prüfen, ob hier ein Fall der echten oder der unechten
Rückwirkung vorliegt. Das Gesetz betrifft die Steuerpflicht von Veräußerungsgewinnen
bei Immobilien. Der geregelte Sachverhalt ist der Erwerb der Immobilie und deren
Veräußerung innerhalb der Spekulationsfrist.
Das Gesetz betrifft auch die Grundeigentümer, die eine Immobilie schon vor Inkrafttreten
des Gesetzes erworben haben. Insoweit hat der erfasste Sachverhalt jedenfalls schon
begonnen.
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Eine echte Rückwirkung würde voraussetzen, dass dieser Sachverhalt schon
abgeschlossen ist. Abgeschlossen ist der Sachverhalt jedoch erst mit der Veräußerung
der Immobilie, da nur diese Veräußerung besteuert wird. Das Gesetz betrifft jedoch nur
die Fälle, in denen die Veräußerung nach dem Inkrafttreten erfolgt. Damit sind die
erfassten Sachverhalte noch nicht abgeschlossen. Es handelt sich also nicht um einen
Fall der echten, sondern der unechten Rückwirkung.
Es ist daher zu prüfen, ob diese ausnahmsweise aufgrund schutzwürdigen Vertrauens
der Betroffenen unzulässig ist. Die Änderung dient der Erzielung von Steuereinnahmen.
Mit der bisherigen fünfjährigen Spekulationsfrist ist kein besonderes Vertrauen der
Erwerber von Immobilien darauf erzeugt worden, dass diese Frist unverändert und damit
ein eventueller Veräußerungsgewinn unbesteuert bleibt.
Vielmehr kann die Verlängerung dieser Frist mit der Neueinführung einer Steuer
verglichen werden.
Bisher war ein Verhalten steuerfrei (Veräußerung nach Ablauf von fünf bis zehn Jahren),
während nunmehr hierauf Steuern erhoben werden. Es gibt kein schutzwürdiges
Vertrauen darauf, dass Steuerpflichten nicht ausgeweitet oder neu eingeführt werden.
Anders ist dies aber nach Ansicht des BVerfG für die Fälle zu beurteilen, bei denen bei
Inkrafttreten des Änderungsgesetzes die alte Frist von fünf Jahren bereits abgelaufen
war.
Hier durfte der Steuerpflichtige schutzwürdigerweise darauf vertrauen, Wertzuwächse
nunmehr Verkaufserlöse steuerfrei realisieren zu können.
Es
sind
hier
keine
gewichtigen
Gründe
erkennbar,
die
eine
nachträgliche
Steuerbelastung bereits realisierter Verkaufserlöse rechtfertigen würden.
Die hier vorliegende unechte Rückwirkung verstößt damit zum Teil gegen das
Rückwirkungsverbot und den Grundsatz des Vertrauensschutzes.
Das Gesetz ist insoweit nicht mit dem Rechtsstaatsprinzip gem. Art. 20 I, III GG
vereinbar. Der Antrag auf abstrakte Normenkontrolle ist zum Teil – was diese Altfälle
betrifft – begründet. Damit verstößt das EStG teilweise gegen das in Art. 20 I, III GG
niedergelegte Rechtsstaatsprinzip.
3. Ergebnis
Der Antrag hat teilweise Erfolg.
Gesamtergebnis
Der Antrag der Landesregierung ist somit zulässig und teilweise begründet und hat folglich
Aussicht auf Erfolg. Das BVerfG wird das EStG nach § 78 Satz 1 BVerfGG (teilweise) für
nichtig erklären.
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