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unirep Staatsorganisationsrecht – SS 2016
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StaatsorganisationsR Fall 01 – Lösungshinweise
Teil 1:
Normenkontrollantrag der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen
Obersatz: Die Landesregierung könnte gegen das vom Bundesgesetzgeber erlassene Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes im Wege der abstrakten Normenkontrolle gemäß Art. 93 I Nr. 2 GG i.V.m. §§ 13 Nr. 6, 76 ff. BVerfGG vorgehen. Der Antrag
hat Aussicht auf Erfolg, wenn er zulässig und begründet ist.
I.
Zulässigkeit des Normenkontrollantrags
1.
Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts: Die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts folgt aus § 13 Nr. 6 BVerfGG.
2.
Antragsberechtigung, § 76 I BVerfGG: Die Landesregierung ist ausdrücklich als
potentielle Antragstellerin genannt.
3.
Antragsgegenstand, § 76 I BVerfGG: Antragsgegenstand sind nur Gesetze, die
bereits verkündet wurden. Das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes ist als
formelles Bundesgesetz „Bundesrecht“ i.S.v. § 76 I BVerfGG und damit tauglicher
Gegenstand einer abstrakten Normenkontrolle. Die notwendige Verkündung des
Gesetzes ist erfolgt.
4.
Antragsbefugnis, § 76 I Nr. 1 bzw. Nr. 2 BVerfGG: Die abstrakte Normenkontrolle ist nur zulässig, wenn die Antragsbefugnis i.S.d. § 76 I Nr. 1 oder Nr. 2 BVerfGG
vorliegt. Hier hält die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen das Gesetz zur
Änderung des Grundgesetzes insgesamt für unvereinbar mit Art. 79 III GG sowie
den in Art. 20 GG niedergelegten Grundsätzen des Bundesstaats-, Demokratiesowie des Sozialstaatsprinzips und damit für nichtig (§ 76 I Nr. 1 BVerfGG).
Hinweis: Der Streit, ob Zweifel – vergleiche den Wortlaut in Art. 93 I Nr. 2
GG „Zweifel“ mit § 76 I BVerfGG „nichtig hält“ – an der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes für die Zulässigkeit der Normenkontrolle ausreichen,
braucht somit vorliegend nicht entschieden zu werden.
Dementsprechend liegt die Antragsbefugnis nach § 76 I Nr. 1 BVerfGG vor.
5.
Objektives Klarstellungsinteresse: Als ungeschriebene Voraussetzung der abstrakten Normenkontrolle muß der Antragsteller nach verbreiteter (falscher) Auffasung ein besonderes objektives Interesse an der Klarstellung der Geltung der zur
Prüfung gestellten Normen geltend machen. Bei einem Antrag auf Normverwerfung
gemäß § 76 I Nr. 1 BVerfGG ist dies schon dann gegeben, wenn der Antragsteller
von der Unvereinbarkeit der Norm mit höherrangigem Bundesrecht – wie vorliegend – überzeugt ist. Es kommt also nicht darauf an, ob das Land NordrheinWestfalen tatsächlich von den Regelungen subjektiv betroffen ist. Die abstrakte
Normenkontrolle dient dem Schutz des Vorrangs der Verfassung, indem Rechtsnormen am Maßstab des Grundgesetzes – hier konkret Art. 79 III GG – überprüft
werden können.
Prof. Dr. Fabian Wittreck
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6.
Ordnungsgemäßer Antrag, § 23 I 1 BVerfGG: Der Antrag ist gemäß § 23 I BVerfGG schriftlich gestellt und begründet; eine Frist besteht nicht.
Hinweis: Insofern ist der Hinweis auf die neun Monate unbeachtlich.
7.
II.
Zwischenergebnis: Der Antrag der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen ist
zulässig.
Begründetheit des Normenkontrollantrags
Obersatz: Der Antrag ist begründet, wenn das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes formell oder materiell nicht mit dem Grundgesetz in Einklang steht. Prüfungsmaßstab ist für ein formelles Bundesgesetz zur Änderung des Grundgesetzes allein Art. 79
III GG (vgl. § 78 S. 1 1. Alt. BVerfGG).
1.
Formelle Verfassungsmäßigkeit
a)
Zuständigkeit: Dem Bund kommt gemäß Art. 79 II GG die Gesetzgebungskompetenz zur Änderung des Grundgesetzes zu. Die Organkompetenz ist
auf Bundestag und Bundesrat verteilt (siehe sogleich).
b)
Ordnungsgemäßes Verfahren
aa)
Im Bundestag: Grundsätzlich ist für den Beschluß des Bundestages
die Mehrheit der abgegeben Stimmen notwendig (Art. 77 I GG i.V.m.
Art. 42 II 1 GG). Für verfassungsändernde Gesetze bestimmt Art. 79 II
GG etwas anderes (vgl. Art. 42 II 1 GG a.E.). Demnach bedarf es eines qualifizierten Beschlusses mit zwei Dritteln der gesetzlichen Mitglieder des Bundestages (Art. 121 GG). Die gesetzliche Zahl der Mitglieder ergibt sich aus § 1 I BWahlG zuzüglich etwaiger Überhangmandate. Insgesamt hatte der Bundestag zum fraglichen Zeitpunkt
598 zzgl. 14 Überhangmandate = 612 gesetzliche Mitglieder. 418 Mitglieder des Bundestages und somit mehr als die geforderten zwei Drittel – 408 Abgeordnete waren erforderlich – stimmten für den Gesetzesbeschluß.
bb)
Im Bundesrat: Jedes Bundesland ist gemäß Art. 51 II GG im Bundesrat – abhängig von der Einwohnerzahl – mit drei bis sechs Mitgliedern
der Landesregierungen vertreten; insgesamt 69 stimmberechtigte Mitglieder. Im Grundgesetz wird sprachlich zwischen Mitgliedern – den
einzelnen Landesministern – und Stimmen der Länder unterschieden
(vgl. Art. 51, 79 II GG). Die Beschlußfähigkeit richtet sich gemäß § 28
GOBR danach, wie viele Stimmen (insgesamt 16) anwesend sind.
Hinweis: Im Bundestag richtet sich die Beschlußfähigkeit
demgegenüber danach, wie viele Mitglieder anwesend sind.
Laut Sachverhalt stimmten 46 von 69 Mitgliedern für das Gesetz. Die
nach Art. 79 II GG erforderliche qualifizierte Mehrheit ist demnach eingehalten.
c)
Form, Art. 79 I 1 GG: Das Gesetz ist ausdrücklich als Gesetz zur Änderung
des Grundgesetzes bezeichnet und ändert konkret den Wortlaut von Art. 109
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und 115 GG; ferner wird der Text der Verfassungsurkunde um die Art. 115a
und 143d GG ergänzt. Die durch Art. 79 I 1 GG verbotene Schaffung von
„Nebenverfassungsrecht“ außerhalb der Verfassungsurkunde findet mithin
nicht statt.
2.
Materielle Verfassungsmäßigkeit: Die Grundgesetzänderung wäre materiell verfassungsgemäß, wenn sie nicht gegen Art. 79 III GG verstieße.
a)
Prüfungsmaßstab: Der Prüfungsmaßstab für verfassungsändernde Gesetze ergibt sich allein aus Art. 79 III GG. Innerhalb der durch Art. 79 III GG gesetzten Grenzen sind Änderungen des Grundgesetzes jedoch zulässig.
Hinweis: Daher können die vor der Änderung geltenden Regelungen, insb.
Art. 109 III, IV GG a.F., nicht als Prüfungsmaßstab herangezogen werden.
Der Kern der neuen Regelung zur Verschuldung ist Art. 109 III GG, der die
sog. Schuldenbremse im Grundgesetz verankert. Sie wirkt jedoch nur, wenn
sie verfassungsmäßig ist. Soweit die Verfassungswidrigkeit von Art. 109,
115, 143d GG behauptet wird, ist eine Änderung des Grundgesetzes unzulässig, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1
und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden.
Zu den in Art. 79 III GG genannten Grundsätzen des Art. 20 GG zählt das
Bundesstaatsprinzip, welches durch die Neuregelung berührt sein könnte.
Dabei ist zu beachten, daß Art. 79 III GG als Ausnahmevorschrift eng auszulegen ist, womit der verfassungsändernde Gesetzgeber jedoch nicht gehindert ist, die positivrechtlichen Ausprägungen der dort angesprochenen
Grundsätze aus sachgerechten Gründen zu modifizieren.
b)
Eigenstaatlichkeit als Ausdruck des Bundesstaatsprinzips: Das Bundesstaatsprinzip ist ein Strukturprinzip des Grundgesetzes, welches die Aufteilung in Bund und Länder mit je eigener Staatsqualität festschreibt. Somit
garantiert das Bundesstaatsprinzip die in Art. 79 III GG festgeschriebene
Gliederung des Bundes in Länder und insbesondere deren Eigenstaatlichkeit.
Zu den Elementen der Eigenstaatlichkeit gehört ein Kernbestand von eigenen Rechten, die vom Bund weder angetastet noch von den Ländern selbst
preisgegeben werden dürfen. Dieser Kernbestand wird durch Art. 79 III GG
der Verfassungsänderung entzogen. Fraglich ist, ob dieser Kernbestand berührt ist.
aa)
Staatsqualität der Länder: Sinn und Zweck des Art. 79 III GG ist es,
die Länder als Zentren demokratisch legitimierter politischer Entscheidung zu erhalten. Art. 79 III GG schützt somit die Länder vor einer
Grundgesetzänderung, durch die sie ihre Staatsqualität verlieren.
Ausdruck dessen ist es, den Ländern ein Kern eigener Aufgaben als
Hausgut unentziehbar zu belassen. Dies erfordert andererseits auch,
daß die Länder finanziell in die Lage versetzt werden, ihre verfassungsrechtlich zugewiesenen Aufgaben erfüllen zu können.
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Beispiel: Die Kosten für die Bundesauftragsverwaltung gemäß Art. 85 GG trägt gemäß Art. 104a II GG der Bund.
Daraus wiederum folgt, daß den Ländern ein angemessener Anteil am
Gesamtsteueraufkommen im Bundesstaat zukommen muß. Demgegenüber beinhaltet die Staatsqualität der Länder jedoch keine Vorgaben zu der Frage, ob dieser angemessene Anteil durch die Verteilung
von eingenommenen Steuern oder die Aufnahme von Krediten erreicht wird.
Die Ausstattung mit hinreichenden Finanzmitteln gehört somit zum
Kernbereich der Staatlichkeit. Dies impliziert jedoch nicht, daß sich die
Länder eine angemessene Finanzausstattung durch die Aufnahme
von Krediten verschaffen sollen. Eine adäquate Erfüllung der verfassungsrechtlich zugewiesenen Aufgaben soll vielmehr ohne eine etwaige Kreditaufnahme möglich sein. Eine hinreichende Finanzausstattung setzt somit nicht notwendigerweise die Möglichkeit zur unbegrenzten Verschuldung voraus.
Erst wenn die Finanzausstattung der Länder derart beschränkt ist, daß
das Wesen des Bundesstaats als solches nicht mehr erkennbar ist,
mithin die Länder nicht mehr eigenständig agieren können, ist die
Bundesstaatlichkeit berührt. Dies wäre im Haushaltsbereich erst dann
der Fall, wenn durch die Verfassung eine aufgabenadäquate Finanzausstattung – ohne Kreditaufnahme – verhindert würde. Eine derartige
Wirkung hat die Schuldenbremse gerade nicht.
Es gehört mithin nicht zum Hausgut der Länder, autonom über alle
Bestandteile der Einnahmenseite zu entscheiden. Dies wurde für den
Bereich der Steuern nie bestritten, obwohl hier dem Bund lediglich die
konkurrierende Gesetzgebungskompetenz zukommt (vgl. Art. 105 II
GG). Etwas anderes kann auch nicht für das Recht der Kreditaufnahme gelten. Die Möglichkeit der Kreditaufnahme zählt nicht zum unantastbaren Hausgut, und berührt damit auch nicht die Staatsqualität der
Länder.
bb)
Haushaltsautonomie: Zum Kernbestand der Eigenstaatlichkeit der
Länder gehört ferner die Haushaltsautonomie der Länder, mithin die
Fähigkeit, selbstbestimmt über die Einnahmen und Ausgaben des
Landeshaushalts entscheiden zu können. Dies verdeutlicht Art. 109 I
GG, der die Haushaltswirtschaft von Bund und Ländern als selbständig und voneinander unabhängig beschreibt.
Eine Verletzung von Art. 79 III GG könnte insofern vorliegen, als die in
Art. 109 I GG verkörperte Haushaltsautonomie eine Konkretisierung
des in Art. 20 I GG verankerten Bundesstaatsprinzips darstellt, welches wiederum der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 III GG unterfällt.
Somit steht die Haushaltsautonomie ebenfalls unter dem Schutz des
Art. 79 III GG.
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Die Haushaltsautonomie beinhaltet grundsätzlich das Recht der Kreditaufnahme, welches als reguläres Instrument staatlicher Finanzierung angesehen werden kann.
Im Kern geht es also darum, ob wiederum die Verschuldungsautonomie Bestandteil der Haushaltsautonomie eines Landes ist. Wäre dies
der Fall, so könnte die Schuldenbremse eine Verletzung des Art. 79 III
GG darstellen.
Zu beachten ist jedoch, daß die Haushaltsautonomie nicht unbeschränkt gewährleistet wird. Vielmehr ergeben sich aus der Verfassung selbst Vorgaben, welche die Länder in ihrer Haushaltsautonomie
von vornherein beschränken.
(1)
Kompetenzen und Verteilungsregeln der Finanzverfassung:
Die Haushaltswirtschaft eines Landes kann nicht isoliert betrachtet werden. Vielmehr steht der Haushalt eines Landes in
ständiger (Finanz-)Beziehung zu anderen Ländern (z.B. Länderfinanzausgleich) oder zum Bund selbst (z.B. Steuerverteilung,
Bundesauftragsverwaltung). Das Finanzwesen im Bundesstaat
stellt sich somit als ein Gesamtgefüge dar, in dem die Haushaltswirtschaft der Länder einen Bestandteil darstellt. Die Möglichkeit isolierter, unbeschränkbarer Kreditaufnahme eines Landes ist schon aus diesem Punkt bedenklich.
Andererseits verfügt der Bund gemäß Art. 105-107 GG über die
wesentlichen Befugnisse, die Einnahmegesetzgebung zu regeln. Dies betrifft insbesondere die Steuergesetzgebung. Demnach verbleibt den Ländern als einzig relevante Quelle für selbständig regulierbare Einnahmen die Verschuldung über die
Kreditaufnahme, in deren Zwang die Länder somit schneller gerieten als der Bund.
Allerdings sind die Länder bei den wesentlichen Fragen, die sie
hinsichtlich der Steuerverteilung betreffen, über den Bundesrat
beteiligt (vgl. etwa Art. 105 III GG; Art. 106 III 3 GG).
Ferner ist dem entgegenzuhalten, daß die kreditbezogenen
Vorgaben des Art. 109 III GG den Ländern für diesen Teilausschnitt der Haushaltswirtschaft lediglich einen Rahmen vorgeben, innerhalb dessen sie ihre Haushalte selbständig und unabhängig gestalten können. Ferner beinhaltet Art. 109 III GG
kein absolutes Verbot der Kreditaufnahme, sondern lediglich
den Grundsatz eines strukturell ausgeglichenen Haushalts.
Kreditaufnahmen aus konjunkturellen Gründen oder in außergewöhnlichen Notsituationen bleiben weiterhin zulässig.
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(2)
Der Grundsatz der Bundestreue: Trotz der Haushaltsautonomie von Bund und Ländern sind die Haushaltswirtschaften von
Bund und Ländern jeweils Bestandteil einer übergreifenden Finanzwirtschaft im Bundesstaat. Hieraus ergibt sich ein gegenseitiges Rücksichtnahmegebot.
Dies folgt bereits aus dem Grundsatz der Bundestreue sowie
aus der Normierung des Art. 109 II GG. Der Grundsatz der
Bundestreue ist ein ungeschriebener Verfassungsgrundsatz,
der sich unmittelbar aus dem Bundesstaatsprinzip ableitet. Danach hat ein Land seine Haushaltspolitik auch am Interesse anderer Länder und des Bundes zu orientieren. Mithin sind Bund
und Länder zur wechselseitigen Rücksichtnahme verpflichtet
(str.; nach richtiger Auffassung gibt es diesen ungeschriebenen
Vorbehalt schlicht nicht).
Die Länder müssen daher im Rahmen der eigenen Haushaltsführung auf ein gesamtstaatliches Interesse an einer soliden
Haushaltsführung Rücksicht nehmen. Eine nur auf die eigenen
Belange bezogene Kreditaufnahme der Länder ist daher vor
dem Hintergrund der jetzigen Neuregelungen verfassungsrechtlich nicht zulässig.
(3)
Systematik: Der Grundsatz der Haushaltsautonomie ergibt sich
aus Art. 109 GG. Die Regelungen zur Steuerverteilung zwischen Bund und Ländern sowie dem Finanzausgleich der Länder untereinander ist in den Art. 105-107 GG verankert. Die
letztgenannten grundgesetzlichen Vorgaben beschränken Bund
und Länder in ihrer jeweiligen Haushaltsführung.
Die Anordnung des Art. 109 I GG hinter den Regelungen zur
Steuerverteilung und dem Finanzausgleich (Art. 105-107 GG)
läßt somit auf eine gewollte Nachrangigkeit der Haushaltsautonomie durch den Parlamentarischen Rat schließen. Vorrangig
sind somit die beschränkenden Regelungen zur Finanzwirtschaft im Gesamtgefüge. Demgegenüber nachrangig ist die individuelle Haushaltsautonomie von Bund und Ländern.
(4)
Europäische Vorgaben: Ferner verpflichtet der Europäische
Stabilitäts- und Wachstumspakt (vgl. Art. 126 AEUV) den Bund,
die haushaltsrechtlichen Vorgaben des Europarechts zu beachten (Stichwort: Länderblindheit des Stabilitäts- und Wachstumspakts). Die darin verankerte Haushaltsdiziplin sieht die Einhaltung von bestimmten Verschuldungsgrenzen vor. Hierbei sind
die Haushalte der Länder und des Bundes wiederum nicht isoliert, sondern vielmehr als einheitliches Ganzes zu betrachten.
Dem Bund müssen somit geeignete Instrumente an die Hand
gegeben werden, auch die Länder auf die europäischen Vorgaben verpflichten zu können. Eine verfassungsrechtliche Schuldenregel ist eine Möglichkeit dafür.
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Zwischenergebnis: Die o.g. Regelungen bestanden auch bereits vor der vorgenommenen Grundgesetzänderung. Dies läßt
den Schluß zu, daß auch bisher die Länder nicht die Möglichkeit
zu einer uneingeschränkten Kreditaufnahme hatten. Schon vor
der Änderung des Grundgesetzes war die Haushaltsautonomie
auf der Einnahmenseite begrenzt, welches nunmehr durch die
Schuldenregel stringenter gefaßt wurde. Demgegenüber genossen und genießen die Länder hinsichtlich ihrer Ausgaben
nach wie vor autonome Gestaltungsfreiheit.
Schließlich ist zu bedenken, daß ab 2020 für die Länder kein
absolutes Kreditaufnahmeverbot besteht, sondern eine Kreditaufnahme dann lediglich aus konjunkturellen Gründen sowie in
Notsituationen zulässig ist (vgl. Art. 109 III 2 GG).
Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß die Haushaltsautonomie – also die selbständige und unabhängige Haushaltswirtschaft – das Recht der Länder umfaßt, im Rahmen des Bundesrechts ihren eigenen Haushalt aufstellen zu können. Die Länder
sind somit nicht über Art. 79 III GG vor einer Anpassung der in
Art. 109 GG ausgeprägten, jedoch abänderlichen Haushaltsautonomie geschützt. Vielmehr verkörpert das Grundgesetz kein
starres Föderalismusverständnis, sondern ist im Hinblick auf
das Bundesstaatsprinzip – auch mangels international vergleichbarer und allgemeingültiger Konzepte – entwicklungsoffen.
Hinweis: Dies zeigt sich beispielsweise anhand von Art. 29
VII 1 GG, der die Neugliederung der Länder unter den Vorbehalt eines Bundesgesetzes stellt.
Insgesamt wird durch die Schuldenbremse die Haushaltsautonomie der Länder zwar modifiziert, das Bundesstaatsprinzip jedoch nicht berührt. Die Grenze des Art. 79 III GG wird erst dann
erreicht, wenn gezielt auf die Haushaltspolitik eines Landes Einfluß genommen wird, mithin eine inhaltliche Steuerung beabsichtigt ist. Dies beabsichtigt die Schuldenbremse jedoch gerade nicht. Vielmehr verbleibt den Ländern ein hinreichendes Maß
an haushaltswirtschaftlicher Eigenverantwortung und Selbständigkeit.
Vor dem verfassungsändernden Gesetzgeber sollen die wesentlichen Wertentscheidungen, d.h. der Kern der Verfassung
geschützt werden. Hierzu zählt auch die Wahrung der Haushaltsautonomie der Länder, nicht jedoch das unbeschränkbare
Recht der Staatsverschuldung.
cc)
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Verfassungsautonomie der Länder: Zu den ureigensten Rechten
der Länder gehört deren Verfassungsautonomie, mithin das Recht,
selbst die eigene Ordnung frei zu gestalten. Die Verfassungsautono-
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mie ist ein weiteres Kernelement der Eigenstaatlichkeit der Länder, die
somit ebenfalls über Art. 79 III GG Schutz genießt.
Die Neuregelung des Art. 109 III 5 GG legt die Länder auf eine strukturelle – also nicht konjunkturbedingte – Nullverschuldung fest. Darin
wird zudem normiert, daß die eigentliche Schuldenregel andernorts zu
treffen ist.
Hinweis: Hinsichtlich der Kreditaufnahme enthält Art. 115 GG
lediglich Regelungen zur Kreditaufnahme des Bundes. Diesbezügliche Regelungen für die Länder fehlen.
Mithin sind die Länder nunmehr verpflichtet, ihre Landesverfassung im
Hinblick auf die Schuldenbremse anzupassen. Darin könnte eine Verletzung der Verfassungsautonomie der Länder zu sehen sein.
Dem ist erneut entgegenzuhalten, daß die Verfassungsautonomie
auch bislang stark begrenzt war. Beispielhaft lassen sich das Homogenitätsgebot aus Art. 28 I GG oder die Durchgriffsnormen des Art. 1
III GG sowie Art. 28 II GG anführen, die den Verfassunggeber bzw.
den verfassungsändernden Gesetzgeber der Länder in seinem jeweiligen Freiraum beschränken.
Mit Art. 109 III 5 GG wurde eine dem Art. 28 I GG vergleichbare Verpflichtung zur landesverfassungsrechtlichen Anpassung gewählt. Es
handelt sich somit um eine weitere normative Vorgabe, welche die
Verfassungsautonomie der Länder begrenzt.
Den Ländern verbleibt damit der Spielraum, selbst über die Form der
landesrechtlichen Anpassung zu entscheiden. Sie könnten einerseits
eine dem Art. 115 GG – der für den Bund gilt – vergleichbare Normierung auf Landesebene einführen oder eine eigene Regelungstechnik
finden. Der Art. 109 macht keine detaillierten Vorgaben, sondern überläßt es vielmehr den Ländern, eigenständig angemessene Regelungen der Umsetzung zu treffen, um die grundgesetzliche Vorgabe zu
erfüllen.
Der Art. 109 GG beläßt den Ländern ausreichend Flexibilität und
Raum, so daß die über Art. 79 III GG geschützte Verfassungsautonomie der Länder nicht berührt wird.
Um hierdurch entstehende Härtefälle zu vermeiden und einen ausgeglichenen Haushalt aller Länder bis zum Jahr 2020 zu erreichen, wurden in Art. 143d II, III GG sog. Konsolidierungshilfen für die Länder
vereinbart, für die sich mit Einführung der Schuldenbremse im Hinblick
auf die bestehende Haushaltslage besondere Herausforderungen ergeben.
c)
Demokratie-, Sozialstaats- und Rechtsstaatsprinzip: Eine Berührung des
Demokratie-, Sozialstaats- sowie Rechtsstaatsprinzips kann durch die
Schuldenbremse allenfalls mittelbar erfolgen. Zwar nimmt sich der (Haushalts-)Gesetzgeber durch die Schuldenregel fiskalische Handlungsoptionen.
Diese gewinnt er jedoch im Wege zukünftiger Gestaltungsmacht durch verProf. Dr. Fabian Wittreck
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minderte Zinslasten zurück. Der Kern des Demokratie-, Sozialstaats- oder
Rechtsstaatsprinzips wird damit keinesfalls berührt. Vielmehr bewirkt eine
nachhaltige Staatsfinanzierung eine verstärkte Handlungsfähigkeit aller Ebenen im Staat und fördert damit das Demokratieprinzip sowie das sozialstaatliche Anliegen der Generationengerechtigkeit. Die Finanzierung von Einnahmen auf Basis von Krediten sollte grundsätzlich die Ausnahme darstellen, da sie insbesondere gegenüber künftigen Generationen rechtfertigungsbedürftig ist.
Allenfalls im Hinblick auf das Demokratieprinzip fragwürdig erscheint die
Möglichkeit, das Nähere durch Bundesgesetz zu regeln (vgl. etwa Art. 109
IV, VI 3 GG), womit wesentliche gesetzgeberische Entscheidungen nunmehr
der verfassungsändernden Zwei-Drittel Mehrheit entzogen sind. Aber auch
diesbezüglich hat sich eine verfassungsrechtliche Übung durchgesetzt (vgl.
etwa Art. 21 III GG, Art. 41 III GG), die speziell im vorliegenden Fall nicht zu
beanstanden sein wird.
d)
III.
Detailregelungen als Verfassungsverstoß: Es obliegt grundsätzlich dem
verfassungsändernden Gesetzgeber, mehrheitsfähige Regelungen zu bestimmen. Dem ließe sich entgegenhalten, daß detaillierte Regelungen, wie
sie in Art. 109 V GG oder Art. 115 II GG getroffen wurden, dem Charakter
des Grundgesetzes widersprechen und es somit verunstalten. Jedoch entspricht es der Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers, eine Regelung
zu finden, die eine effektive Begrenzung der Staatsverschuldung sicherstellt.
Die Mißbrauchsanfälligkeit der alten (weichen) Fassung zeigte sich allein darin, daß sie von der jeweiligen Regierung zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts 15 Mal umgangen wurde. Dem helfen
offenkundig nur detaillierte Vorgaben im Grundgesetz ab.
Ergebnis: Der Normenkontrollantrag der Landesregierung ist zulässig, aber unbegründet
und hat somit keine Aussicht auf Erfolg.
Teil 2: Antrag im Bund-Länder-Streit des Landtages und des Landtagspräsidenten von
Schleswig-Holstein
Obersatz: Fraglich ist, ob die Anträge des Landtages und des Landtagspräsidenten
von Schleswig-Holstein gemäß Art. 93 I Nr. 3 GG i.V.m. § 13 Nr. 7, §§ 68, 69, 64-67
BVerfGG zulässig sind.
I.
Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts: Die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts für den Bund-Länder-Streit ergibt sich aus § 13 Nr. 7 BVerfGG („Meinungsverschiedenheiten über Rechte und Pflichten des Bundes und der Länder“).
II.
Parteifähigkeit von Antragsteller und Antragsgegner: Die aktive wie passive Parteifähigkeit im Bund-Länder-Streit richtet sich nach § 68 BVerfGG. Demnach können Antragsteller und Antragsgegner die Bundesregierung (für den Bund) und die Landesregierung
(für das Land) sein.
1.
Antragsteller: Ausweislich des Wortlauts des einfachgesetzlichen § 68 BVerfGG
kann tauglicher Antragsteller für das Land Schleswig-Holstein allein dessen Landesregierung sein. Im Grundgesetz selbst findet sich diesbezüglich keine Regelung
(vgl. Art. 93 I Nr. 3 GG), die Normierung des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes
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ist daher als konstitutiv anzusehen. Sie schließt eine Antragsberechtigung anderer
Organe aus. Demnach können weder der Landtag noch dessen Präsident als Antragsteller im Bund-Länder-Streit fungieren.
a)
Verfassungsmäßigkeit des § 68 BVerfGG: Etwas anderes könnte indes
gelten, wenn § 68 BVerfGG verfassungswidrig wäre. Art. 94 II 1 GG ermächtigt den Gesetzgeber ausdrücklich dazu, das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht und damit auch die wesentlichen Prozeßvoraussetzungen
zu regeln. Die Grenze zur Verfassungswidrigkeit wäre wohl überschritten,
wenn die Beschränkung der Antragsberechtigung dermaßen restriktiv wäre,
daß sie zu einer Dysfunktionalität des Bund-Länder-Streits führen müßte.
Dies ist durch die bloße Beschränkung des tauglichen Antragsstellers auf die
Regierungen nicht der Fall. Zunächst wurde mit der Regierung das den Verband typischerweise nach außen vertretende Verfassungsorgan ausgewählt.
Außerdem können nur bei der Beschränkung auf ein Organ ein ebenenübergreifender Organstreit und widersprüchliche Prozeßhandlungen vermieden
werden. Schließlich findet etwa auch im Bundesrat die Vertretung der Länder
durch die Landesregierungen, nicht durch die Parlamente statt. Den Landesparlamenten steht es weiterhin frei, wenn Appelle an die Landesregierung (man bedenke dabei die Regierungsbildungs- und Kontrollfunktion des
Parlaments) nicht fruchten, eine Verpflichtung der Landesregierung zur Antragstellung mithilfe der (Landes-)Organklage zu erstreiten. Auch sonst finden sich keine Gründe für eine Verfassungswidrigkeit der Norm. Auf Art. 19
IV GG (Rechtsweggarantie) können sich die Antragsteller nicht berufen, dieser findet auf Gebietskörperschaften und deren Organe grundsätzlich keine
Anwendung. Auch das Rechtsstaatsprinzip verhält sich nicht zum Rechtsschutz im staatsorganisationsrechtlichen Bereich. Schließlich ergibt sich
auch aus dem Grundsatz der Bundesstaatlichkeit (Art. 20 I GG) nichts anderes: Die bundesstaatliche Ordnung gilt in der Weise, wie sie der Verfassunggeber ausgestaltet und der verfassungsändernde Gesetzgeber weiterentwickelt hat. Eine Verfassungswidrigkeit des § 68 BVerfGG ist somit nicht feststellbar (a.A. schwer vertretbar; eine solche Auffassung könnte sich etwa darauf stützen, daß Art. 93 I Nr. 2a GG sehr wohl auch Landesparlamente als
Antragsteller vorsieht und damit anerkennt, daß deren Legislativkompetenzen von der Exekutive nicht hinreichend geschützt werden können; siehe zu
dieser Norm aber auch sogleich unter b).
b)
Erforderlichkeit einer verfassungsgerichtlichen Rechtsfortbildung:
Fraglich bleibt, ob nicht, wie der Landtag von Schleswig-Holstein behauptet,
eine planwidrige Regelungslücke eine erweiternde Auslegung des § 68
BVerfGG erforderlich macht. Dies wäre der Fall, wenn der Gesetzgeber die
Regelung auch von „Legislativstreitigkeiten“ zwischen einem Landtag und
den gesetzgebenden Körperschaften des Bundes planwidrig unterlassen
hätte. Gegen eine solche Annahme spricht jedoch, daß der Verfassunggeber
die Frage, ob auch Gesetzgebungskompetenzen Gegenstand des BundLänder-Streits sein können, dem Wortlaut des Art. 93 I Nr. 3, 4 GG nach
ausdrücklich offengelassen hat („insbesondere“). Auch ist festzuhalten, daß
eigenständige verfassungsrechtliche Befugnisse der Landtage auf Bundesebene im Verfassungssystem die Ausnahme darstellen: So wurde etwa 1994
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ein Antragsrecht der Landtage im Normenkontrollverfahren nach Art. 93 I Nr.
2a GG und §§ 13 Nr. 6a, 76 BVerfGG eingeführt. Indem die Antragsberechtigung im Bund-Länder-Streit unverändert blieb, entschied sich der Gesetzgeber hier bewußt gegen eine Stärkung der Rechte der Landesparlamente.
Gleiches gilt für die Einführung von Art. 93 II GG i.V.m. §§ 13 Nr. 6b, 97
BVerfGG, die den verfassungsändernden Gesetzgeber ebenfalls nicht veranlaßten, den Bund-Länder-Streit neu zu ordnen. Auch inhaltlich stehen der
Antragsberechtigung der Landtage Bedenken entgegen: Die Grenze zwischen Verbandsstreitigkeit und Organstreit würde verwischt, einer Konzentration der Vertretung des Verbandes bei der Regierung entgegengewirkt. Für
die Annahme eines Redaktionsversehens bei § 68 BVerfGG bleibt somit kein
Raum.
c)
2.
III.
Prozeßstandschaft, §§ 69, 64 BVerfGG: Fraglich bleibt, ob der Landtag,
wie er selbst behauptet, Rechte entweder der Landesregierung oder des
Landes Schleswig-Holstein im Rahmen einer Prozeßstandschaft in eigenem
Namen geltend machen kann. Gemäß § 69 BVerfGG sind auf den BundLänder-Streit die Vorschriften der §§ 64-67 BVerfGG zum Organstreitverfahren entsprechend anzuwenden. Zwar regelt § 64 BVerfGG die Prozeßstandschaft von Organteilen, sie knüpft hierbei aber direkt an die Regelung des
§ 63 BVerfGG an, die auch Organteilen eine Antragsberechtigung (für den
Organstreit!) einräumt. Auf § 63 BVerfGG verweist § 69 jedoch ausdrücklich
nicht. Für den Bund-Länder-Streit nunmehr eine isolierte Prozeßstandschaft
ohne eigene Antragsberechtigung aus §§ 69, 64 BVerfGG herleiten zu wollen, käme einer Umgehung des Wortlauts des § 68 BVerfGG gleich. Auch
sinngemäß lassen sich die Regeln zur Prozeßstandschaft nicht vom Organstreit auf den Bund-Länder-Streit übertragen. Bei ersterem findet sich der
Sinn der Prozeßstandschaft von Organteilen vor allem in parteienstaatlichen
Besonderheiten des grundgesetzlichen Institutionengefüges: Die Wahrung
von Organrechten (vor allem: Parlamentsrechten) muß auch dann sichergestellt werden, wenn eine Mehrheit aus Rücksichtnahme auf die von ihr gestützte Regierung kein Interesse an einer gerichtlichen Klärung hat. Dazu ist
auch einer Minderheit das Recht einzuräumen, das notwendige Verfahren
einzuleiten. Diese Konstellation ergibt sich beim Bund-Länder-Streit nicht.
Der Landtag kann mithin auch nicht die Rechte der Landesregierung oder
des Landes im Rahmen einer Prozeßstandschaft geltend machen.
Zwischenergebnis: Weder der Landtag noch der Präsident des Landtags sind
taugliche Antragsteller im Bund-Länder-Streit.
Ergebnis: Mangels tauglichen Antragstellers ist der Bund-Länder-Streit bereits unzulässig.
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