Kindheit und frühe Jugend Ich wurde am 23. August

Kindheit und frühe Jugend
Ich wurde am 23. August 1900, einem Donnerstag, um 7 Uhr 30 geboren, wie man mir geraume
Zeit nach diesem Ereignis mitteilte, und getauft wurde ich in der Rossauer Kaserne von einem
Militärkaplan; mein Onkel war Taufpate, deshalb bekam ich als zweiten Vornamen den Namen
Heinrich. Mein erster Vorname, Ernst, ist derselbe wie der meines Vaters, der ihn wiederum von
seinem Taufpaten bekommen hatte, einem Oberst Althaus, glaube ich, der auf den Namen
Camillo getauft worden war. Nicht ohne Grund nahm er an, daß künftige Klassenkameraden
meines Vaters den Namen Camillo lächerlich finden würden und daß mein Vater sich über den
Namen nur ärgern würde, wie Althaus selbst das anscheinend auch getan hatte. Deshalb verlieh
er seinem Patenkind den Namen Ernst, den er ich weiß nicht wo gefunden hatte, und ich erbte
ihn.
Von meiner frühesten Kindheit ist mir wenig in Erinnerung geblieben, was wohl natürlich ist. Als
Knabe sagte ich einmal, daß ich mich an eine Szene erinnerte, in der mich ein Mann mit einem
buschigen Schnurrbart erschreckte; er trug eine dunkle Militäruniform mit glänzenden Knöpfen,
beugte sich über mein Bett und sprach mit mir. Alle waren über diese frühe Erinnerung
verwundert, denn der Vorfall hing offensichtlich mit einem Besuch meines Onkels in meinem
zweiten oder dritten Lebensjahr zusammen. So erstaunlich diese Erinnerung sein mag, sie ist
kein Beweis für außergewöhnliche Gedächtnisleistungen meinerseits, da ich mich bis zu der
Zeit, aIs ich in die Schule kam, an nichts sonst erinnere. Es mag sein, daß ich einige andere
Einzelheiten aus einer früheren Zeit im Gedächtnis behalten habe, da diese aber zu unserem
häuslichen Leben gehörten, das jahreIang ohne besondere Ereignisse ablief, ist es schwer, sie
in eine chronologische Reihenfolge zu bringen, wohingegen sich Vorfälle in der Schule leichter
bestimmten Jahren zuordnen lassen.
Meine frühe Kindheit war zweisprachig, da meine Eltern mich Deutsch lehrten, die Sprache, die
sie mit Rücksicht auf die Laufbahn meines Vaters angenommen hatten und in der ich meine
Schulbildung erwerben sollte, während Großmutter Ther, die bei uns wohnte, lieber Tschechisch
sprach. Ich weiß nicht, wie gut sie Deutsch sprach, und ich erinnere mich nicht,
jemals gehört zu haben, daß sie diese Sprache in einer Unterhaltung gebrauchte. Jedenfalls
stand sie, als ich ein kleiner Junge war, Anfang der letzten Dekade ihres langen Lebens und
gab sich nicht mit einer Fremdsprache ab. Ich glaube, daß das meinem Vater insofern sehr recht
war, als ich auf diese Weise ohne besondere Mühe und ohne Beeinträchtigung meiner
deutschsprachigen Erziehung die Sprache meiner Vorfahren erlernen konnte. Ich bin sicher, daß
mein relativ zufriedenstellendes Sprachtalent durch diese frühzeitige Übung im gleichzeitigen
Gebrauch zweier völlig verschiedener Sprachen gefördert, wenn nicht begründet wurde, und ich
wünschte, jedes Kind hätte die gleiche Möglichkeit, nicht nur aus praktischen Gründen, sondern
vielmehr wegen der sehr viel wichtigeren Faktoren der Aufgeschlossenheit, der Toleranz und
der Intelligenz, die durch ein solches Sprachtraining kultiviert werden.
Aus Ernst Krenek: Im Atem der Zeit. Erinnerungen an die Moderne. Hoffmann und Campe
Verlag, Hamburg 1998 / Diana Taschenbuch 11/99, S. 30f