Sab Rosenboom Der Klang des Äthers Gedenken. Gedanken. Imprint Der Klang des Äthers Sabine Gilles-Rosenboom published by: epubli GmbH, Berlin www.epubli.de Copyright ©2016 ISBN: 978-3-7418-1424-2 Gewidmet meinem Großvater Friedrich, aufgeschrieben für meine Enkel und für mich. War es wirklich so? Neurowissenschaftler haben festgestellt, dass sich die für das Visuelle zuständigen Verarbeitungssysteme im Gehirn mit jenen überlappen, die bei Fantasien aktiv werden. Im autobiografischen Gedächtnis ist also die subjektiv erlebte Lebensgeschichte abgespeichert. Obwohl ich mir während des Erzählens sicher bin, dass alles wie beschrieben stattgefunden hat, weiß ich gleichzeitig, dass ich heute nicht mehr zwischen Wahrheit und Übertreibung unterscheiden kann. Beschwören würde ich deshalb weder, dass der Spazierstock meiner Großmutter einen Elfenbeinknauf hatte noch dass der Kater unseres Nachbarn Hermännchen hieß. Hat es in meiner Kindheit einen Milchmann namens Heini gegeben, erinnert sich jemand außer mir an Herrn Rosenow, trug Frau von Schmidt Goldbrillchen auf der Nase? Waren die Winter meiner Kindheit tatsächlich kälter und schneereicher als die heutigen? Diese Fragen stelle ich mir nicht ernsthaft, denn ich weiß um die Subjektivität meiner Erinnerungen. Für mich war es - genau wie beschrieben. Achtzig bin ich jetzt, das gefällt mir einerseits, denn mir schreiben keine Stundenpläne mehr vor, was ich zu tun und zu lassen habe. Andererseits ärgere ich mich darüber, dass ich vergesslicher werde und Gegenstände, die ich dringend brauche, verlege. Wo ist meine Sonnenbrille geblieben, hast du meine Lesebrille gesehen, haben wir etwa wieder den Geburtstag von Inge vergessen, obwohl er rot auf dem Küchenkalender vermerkt ist? Das Gedächtnis lässt nach, das bedaure ich. Zum Ausgleich dafür tauchen Erinnerungenan an die frühen Zeiten meines Lebens auf. Darüber freue ich mich wiederum, denn das gleicht die nachlassenden Fähigkeiten aus. Wenn ich nachts nicht schlafen kann, steigt vergessen Geglaubtes aus meinem unbewussten Gedächtnis auf. Bestimmte Farben, Gerüche und Geräusche. Gesten, Stimmen und Gesichter längst verstorbener Menschen. Meinen Großvater sehe ich vor mir. Er sitzt, wie stets korrekt gekleidet, spöttisch lächelnd auf dem Gartenbänkchen und genießt die Abendsonne, die Beine auf ganz bestimmte Art übereinander geschlagen. In Gedanken, im Halbschlaf reise ich durch Landschaften, die mir vertraut erscheinen. Ich spaziere durch die Siedlung, in der ich aufgewachsen bin. Mir kommen Lieder in den Sinn, die niemand mehr singt, ich summe sie. Weihnachtliche Düfte steigen in meine Nase, diese Mischung aus Rotkohl, Gänsebraten und Zigarettenrauch. Es meldet sich aber auch die alte Furcht. Ich spüre wieder, wie es sich anfühlt, allein gelassen zu sein, verschickt zu fremden Menschen, damals, vor mehr als siebzig Jahren, während des Krieges. Wenn ich daran denke, sehe ich die Achtjährige vor mir, die ich mal war. Ein kleines Mädchen mit viel Angst. In Gedanken umarm’ ich sie, das tut mir gut. Sie wird mich beim Schreiben begleiten. Namen werde ich ändern, wenn es mir notwendig erscheint. Und jetzt beginne ich, ganz von vorne. Der Untervater und der liebe Gott Erinnerungen an die ersten Lebensjahre sind bei mir wie bei den meisten Menschen eng mit den Eltern verknüpft. Von meiner frühen Mutter Lulu kann ich ein helles, lächelndes Bild abrufen, das mir Sicherheit und Geborgenheit verspricht. Mein Vater Ernst war auch ein vertrauter Mensch, er war aber nicht so nahe bei mir. Und dann gab es noch den lieben Gott, von dem ständig die Rede war. Vor jeder Mahlzeit und abends vor dem Schlafengehen tauchte er auf, verhalf uns angeblich zu Butter und Brot und beschützte uns in der Nacht. Dieser stets gegenwärtige und offenbar allmächtige Unsichtbare schien eng mit dem Vater verbunden zu sein. Der erwähnte ihn jedenfalls besonders häufig und hatte mir auch beigebracht, dass ER viel wichtiger sei als er selbst. Der liebe Gott war also gewissermaßen ein Obervater. Darüber freute ich mich, denn das minderte Vaters Wichtigkeit ein wenig. So hatte alles seine Ordnung. Den „Allerobersten“ stellte ich mir als ein am Himmel schwebendes männliches Wesen vor mit langem weißem Bart, graulockigem Kopf und zürnenden dunklen Augen, die nie blinzelten und alles bemerkten. Mit seinen wallenden Gewändern schien er in dauernder Bewegung zu sein, ein Teil der ineinander fließenden Wolken, die ihn umgaben. Wenn ich auf der Wiese lag und in den bewölkten Himmel blickte, glaubte ich, seine markante Nase zu 1 sehen, die wehenden Haare, das eine oder andere aufmerksame Auge und manchmal seinen ganzen Kopf. Ich zweifelte nicht daran, dass es ihn gibt da oben und war mir sicher, dass er mich immer und überall beobachtet. Einerseits fürchtete ich den Allesseher. Anders als meine Mutter bekam er nämlich sehr wohl mit, wenn ich ein Kandiszuckerstück stibitzte oder wieder einmal den Garten verließ, obwohl ich das nicht durfte. Andererseits betrachtete ich ihn als einen Freund, dem man alles erzählen konnte. Er war mein Verbündeter gegen den starken Vater. Der saß meistens im ersten Stock unseres Siedlungshäuschens und verfasste Texte in seinem Studierzimmer, das ich nicht unaufgefordert betreten durfte. Sowohl das Treppenhaus, das dort hinführte, als auch jener besondere Raum selbst wecken bildhafte Erinnerungen. Erst einmal lunse ich etwa dreijährig durch den schmalen Spalt der stets nur angelehnten Türe seines Arbeitszimmers und beobachte ihn. Er sitzt am spärlich beleuchteten Schreibtisch und arbeitet. Seine feierliche Berufsbekleidung, die dunkle Anzugsjacke mit Weste und Krawatte, baumelt auf einem Kleiderbügel am Bücherregal. Die blank gewienerten schwarzen Schnürschuhe lugen unter dem braunen Ledersessel hervor. Vater trägt seine bequeme Hausjoppe, dunkelgrauer Filz mit Knebelknöpfen und beigeschwarz karierte Pantoffeln an den Füßen. In der Rechten hält er den wertvollsten aller Füll2 federhalter, den mit der echt goldenen Feder. Er beschreibt damit weiße Blätter mit winziger, gestochen scharfer Schrift. Ab und zu hebt er den Kopf und pafft den Rauch seiner Zigarre in die Luft, Kringel schweben zur Decke, einer nach dem anderen, ich staune. Er schaut den zartgrauen Gebilden hinterher und murmelt Unverständliches vor sich hin. Außerdem sehe ich mich etwas bang auf der drittuntersten Stufe unseres Treppenhauses stehen, die linke Hand am roten Handlauf. Von dort aus möchte ich den Sprung in die Tiefe wagen. Obwohl ich weiß, dass nur zwei Stufen erlaubt sind, will ich unbedingt drei auf einmal überspringen. Bei der Umsetzung dieses Vorhabens muss ich vorsichtig sein, weil Vater, der keinen Widerspruch duldet, von seinem Zimmer aus alles mitbekommt. Das Untervatergebot umgehe ich, indem ich mich direkt an die übergeordnete Instanz, den Obervater wende. Sehr laut, damit der Ernst es auch hören kann, rufe ich: Lieber Gott, darf ich drei Stufen hüpfen? ER antwortet mir nicht. Nach der dritten erfolglosen Anfrage stelle ich meine Stimme tief, gebe ein deutliches JA von mir und springe. Der Untervater hatte alles mit angehört, er schimpfte aber nicht, sondern lachte sehr. Diese Begebenheit hat er mir später immer wieder geschildert, so dass ich heute nicht mehr weiß, ob ich mich an den Vorfall erinnere oder an Vaters Erzählung. Wie auch immer es war - es ist eine feine Geschichte, die für mich erfolgreich endete. 3 Bei späteren Vatertochterkonflikten habe ich eher Niederlagen erlitten … Das Bewusstsein jedoch, dass es da einen über Dir gibt, Vater, der stärker ist als Du, an den ich mich wenden kann, wenn ich Dich als ungerecht empfinde, war hilfreich in meiner Kindheit – und darüber hinaus. Die Siedlung und das Elternhaus Was war das Besondere an meiner Kindheit und Jugend? Nachkömmlingssituation? Alte Eltern? Vielköpfige Pfarrersfamilie? Zweiter Weltkrieg ab dem fünften Lebensjahr? Das alles war zweifellos prägend. Genauso wichtig war jedoch das Aufwachsen in dieser an Feldern und Wald gelegenen Kasseler Vorstadtsiedlung, Riedwiesen genannt. Sie ist in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts von einer Erbbaugenossenschaft errichtet worden. Man wollte auf großen Grundstücken bezahlbaren Wohnraum für junge Familien bereitstellen. Die Häuser und Wohnungen wurden und werden zu kleinen Preisen und mit lebenslänglichem Wohnrecht an deren Mitglieder vermietet. Der mit der Planung beauftragte Archtitekt Hans Soeder war von den Ideen des Bauhauses in Dessau inspiriert, man erkennt das an den funktionalen 4 Grundrissen und an Details der Innengestaltung wie den Türklinken. Das frühere Feuchtgebiet wird von kopfsteingepflasterten Straßen durchzogen, die klangvolle Namen haben, so wie wie Juliusstein, Diedichsborn, Hutekamp oder auch Geröderweg. Die Häuser haben tief gezogene Giebel, sind in fröhlichen Farben angestrichen, versetzt zueinander angeordnet und liegen inmitten großer Gärten. In der Siedlung gibt es Einfamilien-, Doppel und Mehrfamilienhäuser. Diese Bauweise hat den Vorteil, dass man sein ganzes Leben dort verbringen kann. Die jungen Familien bewohnen die großen Häuser. Sind die Kinder erwachsen, ziehen die nun Alten in eine kleine Wohnung um, oft direkt gegenüber. So haben es meine Eltern gehandhabt. Das Haus, in dem ich aufwuchs, war gelb angestrichen und in einen mir riesig erscheinenden Garten gebettet. Wenn ich heute davor stehe, muss ich mir klar machen, dass es jetzt das Elternhaus anderer Kinder ist. Mir gehört es nur noch in der Erinnerung. Eine grüne Wiese sehe ich vor mir, mitten darauf ein Sandkasten. In dem habe ich als Kind meine Burgen gebaut. Mir fällt der Steingarten mit dem runden Brunnen ein, der das Regenwasser auffing. Die Schwertlilien neben dem Komposthaufen. Sträucher mit roten, schwarzen und grünen Beeren. Zwei kleine Sauerkirschbäume im Vorgarten, einer für meinen Bruder Martin und einer für mich. 5 Im hinteren Gartenteil stand ein knorriger alter Apfelbaum, der hieß Purpurroter Cousinot. Wenn ich allein sein wollte, setzte ich mich in eine seiner Astgabeln, teilte ihm meine Freuden und Sorgen mit, heulte auch mal Rotz und Wasser, ließ mich von ihm trösten. Man betrat das Haus über eine von Weinreben berankte Terrasse, auf der wir im Sommer auch frühstückten. Im Herbst wurden die Trauben geerntet. Sie waren grün und sauer und bestanden vorwiegend aus Kernen. Wir aßen sie dem Vater zuliebe, der so stolz auf seine kärgliche Ernte war. Sammelten die Kerne in der Backentasche und spuckten sie heimlich wieder aus. Hinter der Eingangstüre gab es einen rot gefliesten Bereich mit Gästetoilette, Garderobe und Kellereingang. Nachdem man eine weitere Tür geöffnet hatte, stand man in der geräumigen Diele. Dort fanden die Familienmahlzeiten statt. Davon abgetrennt waren die Küche und zwei durch Flügeltüren miteinander verbundene Räume, die als Wohn- und Musikzimmer genutzt wurden. Unser Wohnzimmer war mit antiken Möbeln unterschiedlicher Stilrichtungen bestückt; die meisten stammten von den Vorfahren. Dort stand auch der Glasschrank mit dem Nippes, den kleinen Puppengeschirren, bunt bemalten Gläsern, geheimnisvollen Schächtelchen, alten Tassen. Den habe ich samt Inhalt geerbt. Meine Enkel, jetzt 13 und 14 Jahre alt, fanden ihn bis vor we6 nigen Jahren noch genauso spannend wie ich damals. Nur gelegentlich wurde die Türe aufgeschlossen. Dann kamen alle diese kostbaren Dinge auf den Tisch, wir erhitzten den Puppenherd mit Teelichtern, kochten Sternchensuppe und löffelten diese laut schlürfend aus Minisuppentassen mit Minisuppenlöffeln. Daran denke ich gerne zurück. Mit Hilfe von Gedächtnis und Vorstellungskraft kann ich jederzeit im früheren Elternhaus, in meiner Vergangenheit spazieren gehen. Dabei nehme ich Details der Einrichtung, vor allem aber mir vertraute, längst verstorbene Menschen so deutlich wahr, dass ich meine, sie berühren zu können. Wenn ich die Türe zum Wohnzimmer öffne, sehe ich meine Mutter vor mir. Immer wieder hüstelnd sitzt sie auf dem grün gestreiften Biedermeiersofa am ovalen Wiener Tisch und löst Kreuzworträtsel oder legt Patiencen. Beides konnte sie meisterhaft. Zwischendurch zieht sie an der Zigarette, die im Aschenbecher vor sich hin glimmt. Man vernimmt das leise Klappern ihrer Stricknadeln. Ab und zu werden die Maschen gezählt. Eine Flasche Cointreau, Geschenk vom ältesten Sohn, steht in Reichweite. Spät vormittags genehmigte sie sich hin und wieder ein Gläschen daraus. Eine Weile schaue ich ihr beim Spielen, Rätseln, Hantieren zu. Streiche andächtig über die glänzend polierte Platte des mir so vertrauten Tisches. 7 Dann lasse ich mich auf dem barocken Hocker nieder, lehne den Rücken an den blassgrünen Kachelofen, wärme mich auf, fühle mich behaglich, geborgen. Lege die Füße auf einen der beiden Biedermeierstühle. Ich meine die mit der schwarzen Lyra und den von meiner Mutter mit Petit Point bestickten Bezügen. Sie gehören heute noch zu meinem Leben. Von da aus schaue ich auf den gegenüber stehenden Sekretär. Die Klappe ist wie immer geöffnet und mit Papier und Schreibzeug beladen. Ich nehme das Foto ihres im ersten Weltkrieg gefallenen Verlobten wahr. Sie hielt es oft in der Hand. Manchmal vergoss sie dabei Tränen. Ich betrete das Musikzimmer nebenan. Öffne zuerst die knarrenden Türen des uralten Schwälmer Schrankes. Darin wurde die nach Lavendel duftende Bettwäsche aufbewahrt. In der Vorweihnachtszeit lagen Geschenke darin, aber auch der Stollen, die Dosen mit den Plätzchen und der rhombenförmig geschnittenen Paste aus Quitten, der Quittepast’. Auf der Biedermeierkommode steht mein liebstes Möbelstück, das mit Intarsien reich geschmückte Chinesenschränkchen. Es stammt wie andere Chinoiserien von einem Darmstädter Vorfahren, der zur Zeit der Boxeraufstände österreichischer Konsul in Peking war. Jetzt gehört es meinem ältesten Enkel. Das Ölportrait des Vaters meiner Mutter nehme ich wahr. Er sitzt mit weißem Bart, die Bibel unter den gefalteten Händen, auf einem roten Stuhl und schaut auf seinen Schwiegersohn Ernst. 8 Der spielt auf dem schwarzen Bechsteinflügel und zeigt sein typisches Klaviergesicht. Die Stirne gerunzelt, die Augen zusammengekniffen auf die Noten gerichtet. Der Mund leicht geöffnet. Ich überlasse ihn seinem Brahms und schleiche mich in die Essdiele. Schaue auf den Holländer Geschirrschrank, auf seine Säulen, die schweren Türen lassen sich geräuschlos bewegen. Im Inneren die mit grünem Filz ausgeschlagene Schublade für das Silberbesteck, das wir alltäglich benutzten, die Messerbänkchen und gravierten Serviettenringe. Das holländische Essservice aus Steingut betrachte ich lange, es war blaugrau mit unterschiedlichen Vogelmotiven bemalt. Nun richte ich meine Augen auf den runden eichenen Esstisch mit seinen Löwenfüßen. Ausgezogen konnten bis zu sechzehn Personen daran Platz nehmen. Ich sehe uns um-ihn-herum sitzen. Morgens, mittags, abends. Essend, erzählend, lachend. Streitend. Schweigend. In unterschiedlicher Zusammensetzung. Als muntere Großfamilie in den früheren, als eher triste Kleinfamilie in den späteren Jahren meiner Kindheit und Jugend. Am fröhlichsten und zahlreichsten in den Hungerzeiten direkt nach dem zweiten Weltkrieg. Da stand manchmal nur ein Fässchen Salz und eine Schüssel mit Pellkartoffeln in der Mitte des Tisches. Von denen hat Schwager Konrad einmal mehr als ein Dutzend auf einen Schlag vertilgt. Das stimmt, ich war dabei. 9 Jetzt noch einen kurzen Blick auf das Portrait von Vaters Vater Friedrich, auf den schwarzen Notenschrank links vom Dielenfenster mit dem dunkelbraunen Volksempfänger aus Bakelit, der sich nur bis 1945 dort befand, auf das Tischchen mit dem schwarzen Telefon und die Jugendstilanrichte. Damit beende ich meine Zeitreise durch das Haus, in dem ich groß wurde. Und schreibe auf, was mir sonst noch so einfällt. Am 28. September 1935 kam ich in Kassel zur Welt. Vater taufte mich auf die Namen Elsbeth Sabine. Meine Geschwister waren damals vierzehn, dreizehn, elf und neun Jahre alt. Erst ein Junge, dann zwei Mädchen, dann wieder ein Junge. Schon mit mir hatte wahrscheinlich niemand mehr gerechnet. Die größte Überraschung jedoch war das sechste Kind. Mein jüngster Bruder wurde 1939 geboren, als unsere Mutter 45 Jahre alt war. Man nahm uns, wie wir kamen. Darüber freue ich mich, denn ich lebe gerne. Wir beiden Nachkömmlinge fanden relativ alte und erschöpfte Eltern vor. Einen Weltkrieg hatten sie bereits hinter sich. Der zweite begann genau zwei Tage nach Martins Geburt. Für uns Nachzügler hatten sie oft keine Kraft mehr. Die Zuwendung, die uns in der Familie fehlte, konnten wir uns von der Clique am Eck holen, von den zahlreichen Siedlungskindern, mit denen wir jede freie Minute auf der Straße oder im nahen Wald verbrachten. 10 Deshalb habe ich über mein Aufwachsen in den Riedwiesen viel zu erzählen. Die wichtigste Bezugsperson meiner ersten Lebensjahre war unsere Mutter. Sie hat ihren vielköpfigen Familienbetrieb damals gekonnt gemeistert. Zwar gab es immer ein „Mädchen“ zur Hilfe und in regelmäßigen Abständen eine Flickfrau, die ins Haus kam, an die heute so selbstverständlichen elektrischen Haushaltsgeräte jedoch war nicht zu denken. Wir hatten nicht mal einen Kühlschrank. Lulu kochte gerne selber, sie hatte pfiffige Rezepte im Kopf. Es folgt ein kulinarisches Mutterlob, das muss sein, man kann darüber hinweglesen. Zu dem Thema fällt mir spontan viel ein, ich rieche, schmecke … erinnere mich. An ihre guten Suppen, die mit den Mark-, Butter oder Pfefferklößchen. Gebrannte Grieß- oder Leberknödelsuppe, Borschtsch. Eine besondere Hühnersuppe, die auch bei Grippe half. Sonntagssuppe mit gekochtem Rindfleisch und köstlichen Eierschwämmchen, Bechamelkartoffeln. Königsberger Klopse mit Kapernsoße! Gefüllte Paprika mit Reis. Dampfnudeln mit Vanillesoße! Himmel und Erde, das waren Äpfel und Kartoffeln mit Blutwurst. Hefe-, Kartoffel- oder Semmelklöße. Pfannkuchen aller Art mit Apfelmus oder Kräuterquark. Stampfkartoffeln mit Buttersößchen. Mutter kreierte abwechslungsreiche Aufläufe, einer hieß Armer Ritter und bestand aus altem Weißbrot und Milch, darüber Zucker und Zimt, das war gekonnte 11 Resteverwertung. Mittwochs gab es oft Weckewerk, ein scharf gewürztes nordhessisches Schlachte-Essen, das man im Kochgeschirr direkt aus der Metzgerei holte. Freitags stand Fisch auf dem Tisch. Samstags gab es Eintopf oder dicke Suppen, bis auf die mit den Erbsen habe ich sie geliebt - diese Linsen-, Kartoffel-, Möhren- oder Grünebohnensuppen. Fleisch gab es nur sonntags. Ich denke an Sauer-, Schmor- Hack- oder knusprigen Schweinebraten oder an Kasseler Rippenspeer, an Kohlrouladen. Auf Mutters Speiseplan spielte Gemüse eine Hauptrolle, das großenteils aus dem Garten stammte. Schwarzwurzeln, Spinat, Rosenkohl, Fenchel, gelbe Rüben, Kohlrabi, Wirsing … und noch viel mehr, zum Beispiel selbst geschnittenes, eingestampftes und eingelegtes Sauerkraut. Gurken in Salzlauge lagerten in Tontöpfen im Keller. Es gab ein Konzert von Nachtischen! Ein köstlicher hieß Kirschenmichel, ein anderer Mädchenerröten, das war selbst angesetzte Dickmilch mit rotem Beerensaft vermischt. Und darauf viel Zucker-und-Zimt. Vanillecremes. Schokoladenpuddings aus handgeriebener dunkler Schokolade, die Mutters Bruder aus der Schweiz zu schicken pflegte. Die Apfelsinencreme nach einem alten Familienrezept. Man kannte weniger Salatarten, aber immerhin denke ich an Kopf-, Feld- und Endivien- Sellerie- und Fenchelsalat. Oder an den aus Gurken und selbstgezüchteten Tomaten, solchen mit dem richtigen Aroma. Auch unser Obst stammte aus dem Garten. Da 12 wuchsen Stachel- und Johannesbeeren an Sträuchern. Mehrere Sorten Äpfel an Bäumen wie der schon von mir gelobte Purpurrote Cousinot oder die Goldparmäne, der Geheimrat Wesener. Ein Birnbaum hieß Gute Luise, ein anderer Klapps Liebling. Es gab Pflaumen, Mirabellen, Pfirsiche. Aus den Früchten kochte Mutter die besten Marmeladen und Gelees. Aber auch Schnittlauch, Sauerampfer, Boretsch, Petersilie, die Zutaten für die „Grie’Soß’“ wuchsen im Garten. Weil wir viele Nahrungsmittel selbst anbauten, lebten wir preiswert. Das war nötig, denn das Haushaltsgeld war knapp bemesen. Obwohl ich die internationale Küche liebe, behaupte ich – die deutsche Küche meiner Kindheit war ausgewogen, vielseitig und schmackhaft. Ich bedaure, dass sie in Vergessenheit geraten ist. Wenn es montags in der Waschküche große Wäsche gab, war die Hektik am größten. Zuerst musste der Kessel mit Kohle beheizt, das Wasser erhitzt werden. Dann wurden die zuvor eingeweichten Bettlaken von Hand mit Hilfe eines Waschbrettes von Hand in heißer Seifenlauge gerubbelt, gereinigt. Es folgten mehrere Spülvorgänge, das Auswringen der Wäschestücke, das anschließende Bleichen der Laken auf der Wiese. Das war Schwerarbeit; man kann es sich heute kaum mehr vorstellen. Da die guten Läden in der Innenstadt lagen, hatte unsere Mutter alltäglich schwere Taschen von der Straßenbahn nach Hause zu schleppen. 13 Wenn sie von ihren Einkaufstouren zurückkam, setzte sie sich erst einmal in ihren Lieblingssessel und genehmigte sich ein Zigarettchen. Sie gönnte sich ihre Ruhepausen, verzichtete auch niemals auf den Schlaf nach dem Mittagessen. Ohne ihre Haushaltsgehilfinnen wäre sie nicht über die Runden gekommen. An einige von ihnen erinnere ich mich genau. Zur Zeit des Dritten Reiches waren es Pflichtjahrmädchen. Volksschulabgängerinnen hatten ein Jahr im Haushalt „kinderreicher“ Familien abzudienen. Das war eine sinnvolle Maßnahme für alle Beteiligten. Nach dem kläglichen Ende des Krieges kamen weibliche Haushaltslehrlinge, die neben Kost und Logis geringes Taschengeld erhielten und einmal wöchentlich die Berufsschule besuchten. Unsere Helferinnen bewohnten das Mädchenzimmer, eine winzige, muffig riechende Mansarde mit starken Schrägen, in die grade mal ein Bett, ein kleiner Schrank und eine wackelige Kommode mit Waschgeschirr passten. Es ging ihnen nicht schlecht bei uns. Sie hatten geregelte Arbeitszeiten, saßen bei den Mahlzeiten mit am Tisch und haben bei unserer Mutter auch ihre Kochkenntnisse erweitert und das Haushalten erlernt. Irgendwie aber wurden sie auch ausgebeutet, so empfand ich das als Gleichaltrige. Ich fühlte mich solidarisch mit ihnen. Zwei der Mädchen hatten Freunde, sie flüsterten mir ihre Liebesabenteuer ins Ohr. Das interessierte mich sehr. 14 Eine von ihnen hieß Edith. Sie „diente“ direkt nach dem Krieg bei uns und ist mir besonders deutlich im Gedächtnis geblieben. Zu dem Zeitpunkt waren die Verhältnisse bei uns wie überall in Deutschland chaotisch. Ganz in der Nähe, oben an der Schanzenallee, wo auch die Straßenbahn fuhr, residierten „die Amis“, wohl genährte Männer im besten Alter, gänzlich frauenlos. Das war für Edith eine verlockende Möglichkeit, ihr kärgliches Gehalt aufzubessern durch Einsatz der Reize, die ihr gegeben waren. Nachmittags ging sie öfter fein gekleidet mit mir an der Hand in die für deutsche Zivilisten verbotene Amisiedlung. Im Parterre einer der beschlagnahmten Villen setzte sie mich ab mit dem Auftrag, brav auf sie zu warten. Ich bekam eine Tafel Hersheyschokolade in die Hand gedrückt. Die durfte ich ganz alleine verspeisen. Das versüßte die Wartezeit. Mir wurde nicht erklärt, welcher Beschäftigung sie einen Stock höher nachging. Das war mir auch egal, ich hatte meine Schokolade. Während ich da saß, liefen GIs in schicken olivfarbenen Uniformen mit schräg sitzenden Käppis an mir vorbei. Sie sprachen mich lachend an, hello, kleines Fraulein, und schenkten mir Wrighley-Chewinggums. Kaugummis waren für Nachkriegskinder eine begehrte Tauschwährung, ähnlich wie die Bombensplitter noch kurz zuvor. Die jungen Soldaten gefielen mir, obwohl ich sie leider nicht verstand. Auf dem Heimweg, nach vollbrachter Tat, trichterte mir Edith froh gestimmt ein, ich solle zu 15 Hause nichts erzählen, sonst drohe Schokoladenentzug. Das hätte mich getroffen, diesen leckeren Stoff hatte ich grade erst entdeckt, er war während des Krieges Mangelware gewesen. Ich hielt also dicht. Damals entstand wohl meine Sucht zu Kakaopulver in allen nur möglichen Verarbeitungen. Mit Genehmigung meiner ahnungslosen Eltern nahm mich Edith an Wochenenden manchmal über Nacht mit zu ihrer Schwester, die in einem nahe gelegenen Dorf wohnte. Auch sie war mit einem Ami liiert. Der Freund von Ediths Schwester war ein schwarzer Riese mit einem dröhnenden Lachen, das ansteckend wirkte. Cigarettes, Chocolate, Corned Beef, Fahrten im offenen Jeep zu Partys im Soldatenclub, der für normale Einheimische „off limits“ war, das tauschten die Frauen ein gegen Liebe auf Zeit. Von diesem Handel profitierten beide Seiten. Bei der Gelegenheit lernte ich meine ersten Brocken Englisch, sleep well, my sweatheart, my sugar, my honey. Oder shut up. Das heißt, halt’s Maul, erklärte mir Edith. Auch das war eine neue Vokabel für mich. Als Nachspeise gab es bei denen einmal Quittengelee aus dem Haushaltsvorrat meiner Familie. Ich erkannte die Gläser wieder. Das ging zu weit. Als ich dann noch entdeckte, dass man den gelben Glibber mit silbernen Teelöffeln aß, die eindeutig aus dem Elternhaus stammten, hörte meine Solidarität mit Edith schlagartig auf. Ich berichtete von dem Vorfall zu Hause. 16 Man durchsuchte ihr Zimmer und fand im Kleiderschrank einige Gegenstände, die uns gehörten. Viel Silbernes war darunter. Sie rückte die Beute freiwillig wieder heraus und verschwand aus meinem Blickfeld. Mir hat danach die Hersheyschokolade gefehlt. Nicht die Edith. Die Siedlung, in der ich aufwuchs, wurde auch Tintenviertel genannt, denn dort lebten von Anfang an vorwiegend Familien mit „studierten“ Vätern, darunter viele Lehrer. Junge Familien mit Kindern zogen in die großen Häuser. Sie wollten bewusst anders wohnen und leben als die Generation ihrer Väter, die noch von der Kaiserzeit beeinflusst war. Vor allem, was die Erziehung des Nachwuchses betraf. Die Bauhausarchitektur mit ihren auf Familien zugeschnittenen Grundrissen kam diesem Wunsch entgegen. Das war schon eine Aufbruchsstimmung damals in den Dreißigern. Die Frauen übten durchgängig den Beruf Hausfrau und Mutter aus. Das ergab sich von selbst bei solchem Kinderreichtum und war unter diesen Bedingungen auch eine anspruchsvolle Ganztagsbeschäftigung. Es gab aber einzelne unverheiratete Lehrerinnen in der Nachbarschaft. Unter anderen „mein Frollein“, sie hat mich im ersten Schuljahr unterrichtet, ich habe sie geliebt. Auch „Tante Barbara“ wohnte nur zwei Straßen weiter, sie wurde später meine Lateinlehrerin. Gute Nachbarschaftlichkeit war selbstverständlich. Jeder kannte jeden. Wir Kinder konnten an vielen 17 Haustüren klingeln und uns ein Butterbrot abholen. Man redete miteinander - über den Zaun oder auf der Straße und begrüßte sich eher mit Grüß Gott als mit Heil Hitler. Unsere Mutter hatte nachmittags oft Besuch. Man konnte bei ihr sein Herz ausschütten, wie man so sagt. Auch schrullige Persönlichkeiten waren wohlwollend integriert. An ausgrenzenden Tratsch erinnere ich mich nicht. Das beste Beispiel für das vorhandene Gemeinschaftsgefühl war der Sauerkrautverein. In den Hungerjahren kurz nach Kriegsende tauchte plötzlich eine größere Menge von Weißkohlköpfen auf. Da taten sich einige Frauen spontan zusammen, um den Kohl gemeinsam klein zu schneiden, angeblich nacktfüßig einzustampfen und zu Sauerkraut zu verarbeiten. Nach getaner Arbeit beschloss man, sich auch weiterhin in regelmäßigen Abständen zu treffen, reihum in den verschiedenen Häusern oder Wohnungen. Wenn die Frauen bei uns tagten, war das Wohnzimmer für den Rest der Familie gesperrt. Man teilte sich Kummer und Freude mit, tauschte Rezepte aus, trank einen Kaffee, ein Weinchen zusammen, tratschte, lachte, strickte, rauchte miteinander. Diese fröhliche SKV genannte Frauengruppe war ein fester Bestandteil unseres Lebens. In meinem alten Kopf sind einige skurrile Siedlungsbewohner präsent, die ich nicht vergessen möchte. Oben am Hang lebten zwei dürre ältere Frauen, eineiige Zwillinge. Sie wurden „die Wölfe“ 18 genannt, denn eine von ihnen war mit einem Herrn Wolf verheiratet. Welche, das war ungewiss. Sein Spitzname war Doppeldecker. Ihre Oberlippenschnurrbärte hätten einem irischen Oberst Ehre gemacht. Es ging das Gerücht um, Herr Wolf sei bedauernswert, denn er würde von seinen herrischen Frauen in jeder Hinsicht ausgebeutet. Diese alten Schatullen waren klatschsüchtig und kinderfeindlich. In jaulendem Ton meckerten sie zweistimmig über Alles und Jeden. Sie waren unbeliebt bei Kindern wie Erwachsenen. Eines Tages hingen Plakate an Zäunen, auf denen der Satz zu lesen war: Tod allen Wölfen. Die Täter blieben unerkannt. Dann hauste in unserer direkten Nachbarschaft zeitweilig eine einsame Alte mit mehreren Katzen zur Untermiete. Mit Argwohn wurde sie betrachtet, denn mit ihr schien etwas nicht zu stimmen. Frau Körber hielt keinen Kontakt zu anderen Menschen. Sie trug lange schwarze Zipfelröcke, wirr um den Kopf stehende grauweiße Haare und sah so aus, wie man sich eine Hexe vorstellt. Ich mochte die merkwürdige Frau. Die von meinen Mitmenschen als seltsam Betrachteten haben mich schon in jungen Jahren angezogen. Nachbars Heulehacki durfte in ihren spärlich möblierten, nach Katzenpisse stinkenden Zimmerchen frei umherspazieren. Sie erzählte mir, sie sei früher Tänzerin in einem Leipziger Varieté gewesen. Das glaubte ich sofort, denn ich beobachtete einmal, wie sie früh am Morgen im Garten tanzte. Dabei schmiss sie die Beine beacht19 lich hoch und gab den Blick frei auf einen alten nackten Frauenleib. Später musste sie ausziehen, weil sie für ihre Mitbewohner eine Zumutung war. Das war ja auch richtig so. Ich habe ihr Verschwinden jedoch bedauert, wahrscheinlich als Einzige. Hauptmieter dieses Nachbarhauses war die sympathische Familie Petersen. Einer ihrer Söhne wurde „bester Freund“ meines jüngsten Bruders. Meine Mutter hielt sich oft in ihrem Haus auf, um ein Likörchen zu süffeln, ein Zigarettchen zu rauchen, Canasta zu spielen oder ein Schwätzchen zu halten. Auch ich besuchte sie gerne, da war es gemütlich, ich war herzlich aufgenommen. Natürlich schnäpselte und rauchte ich da ein wenig, selbst am hellen Vormittag. Rauchen war damals gesellschaftlich akzeptiert. Man musste sich eher dann erklären, wenn man es nicht tat. Heute sind die meisten Kneipen frei von Tabakrauch. Das begrüße ich, denn das Rauchen ist umweltschädlich und ungesund. Allerdings geht damit auch eine Kultur, eine Tradition, ein Lebensgenuss zu Ende, der Menschen miteinander verbunden hat. Die legendären Tabaksrunden des Alten Fritz’, die Friedenspfeifen der Indianer, das Freundschaftszigarettchen. Was ist los, erzähl doch mal, lass uns zusammen Eine rauchen. Nach familiären Einladungen zog man sich öfter in Vaters Studierzimmer zurück. Dort stand ein aus China stammender so genannter Rauchertisch beladen mit verschiedenen 20 Zigaretten- und Zigarrensorten, die wurden feierlich angeboten. Bevor das auserwählte Stück angezündet wurde, hielt man es sich mit Kennerblick unter die Nase, riech doch mal, wie dieser Tabak duftet. Das war ein Ritual; für mich ist es eine gute Erinnerung. Raucher beiderlei Geschlechts sieht man von Passanten belächelt bei jedem Wetter auf den Bürgersteigen vor ihren Banken oder Kneipen an Tischen mit meist überfüllten Aschenbechern stehen. Sie inhalieren ihre verteufelten Glimmstängel dort hastig. Die gesellschaftliche Ausgrenzung der immer noch stattlichen Zahl Tabak Konsumierender wird keinen erzieherischen Effekt haben - und sie gefällt mir nicht. Gehörte ich nicht selber vor ein paar Jahren noch dazu? Und viele meiner Freunde und Verwandten ebenso? Wäre es nicht sinnvoller, die vom Rauchen Abhängigen intensiver zu beraten? Und die Tabakwerbung ganz zu verbieten? Das wäre aber nicht im Sinne des Staates, dem sie als Steuerzahler hoch willkommen. 2014 flossen 14 Milliarden Euro durch den Verkauf von Tabakwaren in den Staatssäckel. Nach der Energiesteuer ist die Tabaksteuer somit die ertragsreichste deutsche Verbrauchssteuer; diese Fakten sprechen für sich. Ändern kann ich wenig. Ich schreibe es trotzdem auf, denn es beschäftigt mich. Und als 1935 Geborene kenne ich gute Gründe dafür, dass viele Männer während des Krieges und kurz danach zu Rau21 chern wurden. Zigaretten waren ein Lebenselixier, so habe ich es von meinen Brüdern und Schwägern erfahren, die den Zweiten Weltkrieg unfreiwillig als junge Soldaten erlebt haben. Für die Männer an der Front waren sie eine Rückzugsmöglichkeit, bei blauem Dunst konnten sie sich dem Kriegsgeschehen für ein paar Minuten entziehen. Und in der Nachkriegszeit waren amerikanische Zigaretten wie Lucky Strike, Camel oder Pall Mall die einzige solide Währung auf dem schwarzen Markt. Sie wurden sogar einzeln verkauft für bis zu zehn Reichsmark das Stück. Wenn man sie nicht bezahlen konnte, drehte man sie sich selber – notfalls mithilfe von Zeitungspapier und getrockneten Wiesenkräutern. So habe ich es erlebt. Auch Frauen wurden in Kriegs- und Nachkriegszeiten zu Raucherinnen, meine Mutter zum Beispiel hatte es sich während der Hungerzeiten des 1. Weltkriegs angewöhnt und lebenslänglich beibehalten. Das soll gewiss kein Plädoyer für’s Rauchen sein. Aber vielleicht hilft es, die Raucher und Raucherinnen meiner Generation besser zu verstehen. Sie hatten gute Gründe dafür. Helmut Schmidt, der allseits verehrte kürzlich verstorbene deutsche Altkanzler und nationale Ratgeber, hat unwidersprochen lebenslang auf offener Bühne geraucht, eine an der anderen. Vielleicht hatte er es sich während des letzten Krieges angewöhnt ... 22 Zurück zu den früheren Siedlungsnachbarn. Zwei Häuser links von uns In der Nähe wohnten zwei Jungen mit sehr deutschen Namen, die mir ständig als Vorbild vorgehalten wurden, weil sie pünktlich, fleißig und pflichtbewusst waren, täglich stundenlang Geige übten und nur Einser nach Hause brachten. Ich besaß leider keine ihrer tollen Tugenden. Wie ich sie gehasst habe, diese perfekten, stets bierernst dreinschauenden, korrekt gescheitelten Knaben! Sie erzählten mir einmal, sie würden später Studienräte und freuten sich jetzt schon auf die Pensionszeit. Das kam mir absurd vor, ich hoffte, ein abenteuerliches Leben vor mir zu haben und verschwendete keine Gedanken an meinen Lebensabend. Die beiden sind tatsächlich Pauker geworden, und als ich sie viel später einmal wiedertraf, waren sie mir gar nicht mehr unsympathisch. Und ich war selber Lehrerin geworden. Dann fällt mir die anthroposophische Familie Gerk ein. Deren zweiter Sohn Hanno war mein frühester Kindheitsfreund. Ich hielt mich oft bei ihnen auf. Die Mutter G. war eine zartgliedrige, schöne Frau, die oft leidend war und sich auf dem Sofa ausruhte. So sehe ich sie vor mir. Der Familienvater besaß eine größere Firma, war wohl der einzige Kapitalist in der Siedlung. Er fuhr, man höre und staune, in den frühen Fünfzigern eine rote Borgward Isabella. Cabrio, innen mit Leder ausgekleidet. Sensation, niemand sonst besaß damals ein Auto in der Gegend. Nur mein Schwager Dieter, er besaß ein Vor23 kriegsmodell, das wie eine Gartenlaube aussah. Wir pflegten vor der Gerkschen Garage auf einer ausgehängten Kellertüre Tischtennis zu spielen. Wenn der Familienvater nach Hause kam, hupte er kurz. Wir hoben die Platte zur Seite und spielten hinterher unbelästigt weiter. Schließlich darf ich meinen Vorkriegsfreund Sigurd nicht vergessen. Er wohnte gegenüber von uns, war von riesigem Wuchs, so erschien es mir, hatte tiefblaue Augen und blondes Kraushaar. Er war mein großer Held. Ich betrachtete ihn zugleich als Bruderund als Vaterersatz. Wie oft bin ich bei dieser Familie zu Besuch gewesen, habe mit ihm zusammen auf dem Sofa herumgetobt, er hat mir Schwabs „Sagen des klassischen Altertums“ vorgelesen oder ließ mich mit seiner Zinnsoldatenarmee spielen. Ich durfte mich bei der Familie unbegrenzt an der Blechdose mit den Weihnachtsplätzchen vom Vorjahr bedienen. Als er eingezogen wurde, hörte diese Freundschaft schlagartig auf. Immer, wenn im Radio Soldatengesang erklang - so hell die Gläser klingen, ein frohes Lied wir singen - dann sah ich meinen Sigurd vor mir, alle marschierenden Soldaten trugen sein Gesicht. Nicht alle Siedlungsbewohner waren jedoch kauzig und liebenswert. Eine meiner Schwestern erzählte mir von einer Familie K., die im Doppelhaus neben unseren Großeltern gewohnt hat. Sie waren radikale Nazis, man kam ihnen besser nicht zu nahe. 24 Angeblich hat Herr K. einmal zu unserem Vater gesagt, wenn wir Braunen gesiegt haben, dann werde ich dafür sorgen, dass Sie einen Kopf kürzer gemacht werden. Dem Beispiel seines Parteigenossen Göbbels folgend hat Herr K. sich, seine Frau, seine Kinder und auch die Haushälterin Ende 1945 umgebracht. Ganz nazifrei war die Siedlung also nicht. Diese Erkenntnis hat meine verklärten Erinnerungen nachträglich zurechtgerückt. Bis zum Tod unserer Eltern 1978, 79 bin ich regelmäßig nach Kassel gefahren, auch mit meinen jungen Töchtern; danach nur noch sporadisch. Als ich 1985 mit 50 mal wieder auf Besuch dort war und den Geröderweg hoch schlenderte, rief plötzlich jemand meinen Namen. Sabine, bist du’s, komm näher. Da saßen inzwischen ergraute, mir aber noch gut Bekannte gemütlich schwätzend bei Kaffee und Kuchen im Garten beisammen. Sie baten mich ganz selbstverständlich dazu. Es fühlte sich für mich so an, als wäre ich zwischendurch gar nicht fort gewesen. Einige Jahre danach feierte die Genossenschaft ihren 75. Geburtstag. Natürlich nahm ich teil und traf auf viele meiner früheren Freunde. Sie waren alt geworden, genau wie ich. Wir freuten uns über das Wiedersehen, als wären wir eng miteinander verwandt. So habe ich es jedenfalls wahrgenommen. Das ist unwiederholbar, beim hundertjährigen Siedlungsjubiläum bin ich mit Sicherheit nicht mehr 25 dabei, da schaue ich mir die Radieschen schon von unten an. Und die meisten meiner Freunde auch. Man saß miteinander im Garten, redete, lachte und erinnerte sich. Dann zog Jochen mit Kreide ein paar Striche auf das Kopfsteinpflaster des Diedichborns. Wir spielten nach mehr als einem halben Jahrhundert Pause wieder Völkerball mitten auf der Straße. An der gleichen Stelle wie früher. Und ich konnte immer noch gut fangen, aber schlecht werfen. Jochen war der Älteste von Meiers, er hatte fünf Schwestern und ist vor langer Zeit der Anführer unserer Clique gewesen. Der Indianerhäuptling, und ich war manchmal seine Squaw. An ihn erinnere ich mich besonders deutlich. Er war mit mir gleichaltrig, nicht viel größer als ich, mittelblond gelockt und hatte grüngrau gefleckte Augen. Wir gingen in die gleiche Volksschule und wurden später miteinander konfirmiert. Während dieses Jubiläums belegte er mich mit Beschlag. Das gefiel mir, wir hatten so viel zu erzählen. Erinnerungen tauchten auf an gemeinsam Erlebtes, an früher. Wir zählten Namen von Kindern auf, die damals zu unserer Rasselbande gehört hatten. Da hatten wir zu tun, denn in fast jedem der Häuser wohnten vier bis sechs Kinder. Das Weißt-du-noch-Spiel wollte nicht enden. Laut und phantasievoll haben wir damals gespielt, meistens „am Eck“, aber auch in vielen der großen Gärten oder im nahe gelegenen Wald. Räuber und Gendarm, Indianer, Verstecken, jede Menge von Laufspielen und Völkerball, Fußball, Schlagball. 26 Bei schlechtem Wetter flüchteten wir in eins der Familienwohnzimmer. Am liebsten spielten wir Schule mit Jochen als Lehrer. In Meiers Garten waren dann Stühle in Reih und Glied aufgestellt, es gab sogar eine Tafel. Unser junger Lehrer hatte die volle Autorität. Es verwundert nicht, dass er im späteren Leben Studienrat wurde. Das hat er sicher gut gekonnt, weil früh geübt. Unsere Lieblingsbeschäftigung war Streiche aushecken oder Nachbarn ärgern. Da gab es harmlose Versionen wie Geldbörse mit einer Schnur verbinden und auf dem Bürgersteig auslegen. Wir saßen im Gebüsch hinter dem Gartenzaun. Wenn sich der Passant verstohlen bückte, um nach der Beute zu greifen, zogen wir dieselbe blitzschnell weg – und hielten uns den Bauch vor Lachen. Wir klebten auch den Briefkastenschlitz von Herrn Bengen mit Uhu zu oder äfften ihn nach, wenn er seine Hühner rief, gooogogog, ihr Hihnerchen, gogogog, mit hoher Fistelstimme. Hinter dem alten Pfarrer Stock, dem Großvater der beiden vorbildlichen Knaben, liefen wir her und imitierten ihn, wenn er würdevoll die Straße entlangschritt, das Spazierstöckchen im Takt dazu schwingend. Trotzdem hatten wir Respekt vor dem alten Herrn, denn wir wussten, dass er sich mit seinen weit über achtzig Jahren regelmäßig ins Schwimmbad begab und dort Kopfsprünge vom Dreimeterbrett hinlegte. Manchmal klingelten wir bei alten Damen sogar während der Mittagszeit und liefen anschließend weg. Diesen Trick kennt sicher 27 heute noch jedes Kind. Nach bösen Streichen wie Mülleimer umkippen, Feuerchen zündeln oder Obst in Nachbars Garten klauen wurde man streng bestraft. Streichung des kärglichen Taschengeldes, Einsperren im Kinderzimmer oder im Kohlenkeller. Kohlenkellerkarzer war mir am liebsten, denn ich konnte durch das Kellerfenster entwischen. Im Gespräch mit meinen früheren Freunden tauchte noch mehr gemeinsam Erlebtes auf. Zum Beispiel die winterlichen Aktivitäten unserer Kindheit. Wir waren uns sicher, dass es früher kälter war, öfter geschneit hat als heute. Die Schneedecke breitete sich jedenfalls oft bis in die Siedlung aus. Fast jedes von uns Kindern hatte ein Paar alte Skier im Keller von den eingezogenen Vätern oder Brüdern. Es handelte sich um schwere, mehr als einsachtzig lange Bretter aus Hickoryholz. Wir benutzten diese aus heutiger Sicht vorsintflutlichen Geräte sowohl zum Lang- als auch zum Abfahrtslauf. Als zehn bis zwölfjährige Knirpse schnallten wir uns die Riesenskier mit den Lederbindungen an die alltäglichen Winterstiefel und schlurften damit durch den Wald zur Hessenschanze, da gab es eine kleine Abfahrt. Mit Skistöcken, die fast so lang waren wie wir selbst. Anspruchsvollere Hänge befanden sich weiter oben im Habichtswald, in der Nähe des Herkules, am Hohen Gras. Sind wir wirklich zu Fuß da hoch gekraxelt, die schweren Bretter auf den Schultern? Ich meine mich daran zu erinnern. 28 Manchmal fuhren wir auch mit der Straßenbahn bis ins Druseltal, das weiß ich genau. Nach langem Marsch mit den gekreuzten Skiern auf dem Buckel oben angekommen, übten wir ein paar mal den Hang hinunter zu gleiten mit vor allem den Pobakken als Bremshilfe und rutschten dann zurück in unsere Siedlung. Da waren zahlreiche unpräparierte Steilhänge zu bewältigen, viele Stürze vorprogrammiert. Wir fuhren recht breitbeinig und kannten zwei Sorten von Schwüngen, mit deren Hilfe man auch abbremsen konnte. Hießen sie nicht Kristiania und Telemark? Wenn man dann noch die einfachen Schnürstiefel bedenkt und die miserabel sitzenden Lederbindungen, dann war das eine beachtliche sportliche Leistung von uns Kindern. Obendrein waren unsere nicht wasserdichten Schuhe und Klamotten nach den Ausflügen fast immer klitschnass und wir ziemlich durchgefroren. Darüber haben wir nicht gemeckert. Zimperlich waren wir nicht, eher hart im Nehmen. Und eher zu dünn als zu dick. Wir waren besser dran als die heutige Kindergeneration, die unter Bewegungsmangel und Übergewicht leidet. Als wir viele Jahre später Teenager geworden waren, flackerte das alte Versteckspiel mit neuem Reiz noch einmal auf. Ich fand es aufregend, wenn der eine oder andere Knabe ganz dicht hinter mir stand und wir uns leicht berührten oder beschnüffelten. Das waren erste kleine Flirts, nicht mehr, nicht we29 niger. Spannend war es auf jeden Fall. So wurden wir miteinander groß, trotz des Krieges und so mancher Entbehrungen in einem sicheren, behüteten Umfeld. Das Aufwachsen in dieser besonderen Siedlung war ein Pluspunkt für meine Entwicklung. Ich weiß das erst heute richtig zu schätzen. Es zieht mich immer wieder in meine Geburtsstadt, in die Siedlung. Da sieht es fast noch so aus wie vor siebzig Jahren. Ich laufe durch die vertrauten Straßen und erinnere mich an Menschen, die früher dort gelebt haben. Betrachte alte Vorübergehende genau - in der Hoffnung, ein bekanntes Gesicht zu entdecken. Gelegentlich gelingt mir das, dann freue ich mich. Neugierig schaue ich in die bunt bepflanzten Gärten und bleibe lange und andächtig vor meinem früheren Elternhaus stehen. Das sind Erinnerungen an eine glückliche Kindheit. Mein Zuhause ist jedoch seit Jahrzehnten die lebendige Großstadt Frankfurt. Hier leben meine Kinder und Enkel, Freundinnen und Freunde, da bin ich jetzt verwurzelt. Ich wohne gerne in Eckenheim, diesem nördlichen Vorort der kleinsten Metropole der Welt, die schon immer eine weltoffene Stadt war. Lebens- und liebenswert für Menschen der unterschiedlichsten Nationen, Glaubensrichtungen und Weltanschauungen, bewährt im toleranten Umgang miteinander, das gefällt mir. 30 Frankfurt, das am Main, ist im Laufe von nunmehr siebenundfünfzig Jahren meine Heimat geworden. Und schließlich bindet mich Familiengeschichte hier an, meine Großväter waren engagierte Bürger dieser Stadt vor einhundert Jahren. Sie haben das Kulturleben durchaus mitgeprägt damals, das ist so, wenn man über einen langen Zeitraum ein Gymnasium oder eine Kirchengemeinde leitet. Meine Mutter wurde in Frankfurt geboren, beide Eltern haben hier das Abitur abgelegt und studiert. Sie haben sich sogar kennen gelernt in einem Seminar an der 1914 gegründeten Goethe Universität. Meine Bindungen an Frankfurt sind vielfältig. Ich bin eine Frankfurterin. Aber ein wenig auch Kasselanerin; das bleibt. Das Foto auf der nächsten Seite stammt aus dem Jahr 1943 und zeigt zwei fröhliche Siedlungskinder in sehr schlechten Zeiten, meinen jüngsten Bruder und mich. Wir stehen auf der Eingangsterrasse, auf der wir bei gutem Wetter frühstückten. 31 32 Mein „kleiner Bruder“ wäre im vorvergangenen Jahr 75 Jahre alt geworden. Ich denke oft an ihn. Es ist gut, zu wissen, dass meine Asche - wahrscheinlich recht bald - neben seiner im Friedwald Reinhardswald „ruhen“ wird, zu allen Jahreszeiten, bei Sturm und Hagel, Schnee und Wind und Sonnenschein. Wir haben die hohe schlanke Buche auf seine Anregung hin ein Jahr vor seinem Tod gemeinsam ausgesucht. Wenn ich an unsere gemeinsame Kindheit denke, habe ich gelegentlich Gewissensbisse, weil mein Bruder mir mal gesagt hat, er habe als Kind manchmal unter mir gelitten. Darüber hätte ich gerne mit ihm gesprochen, es ergab sich aber nicht mehr. Jetzt rede im Nachhinein mit ihm und sage, dass mir Leid tut, was schief lief zwischen uns. Du weißt ja, wie es damals war. Wir haben schlechte Zeiten erlebt in den Kriegs- und Nachkriegsjahren mit erschöpften Eltern. Und ich war als die vier Jahre Ältere mit der „Beaufsichtigung des kleinen Bruders“ oft überfordert. Außerdem bekam ich viel von oben ab und war zu jung, um zu begreifen, wie man mit diesem Druck umgeht. Habe sicher Vieles an Dich weitergeleitet. Du wolltest dauernd mit mir spielen, das verstehe ich. Ich war jedoch eine Leseratte, habe alles Gedruckte verschlungen, das mir in die Pfoten geriet. Robinson Crusoe und den Kampf um Rom hatte ich mehrfach gelesen, und die Geschichten vom Nesthäkchen mochte ich nicht. Deshalb haben mich diese verbotenen Bücher gereizt, die in Onkel Friedels Bücherschrank standen. Vielleicht erinnerst du Dich, 33 der war bei uns im Kinderzimmer abgestellt, solange der Onkel „im Kriege“ war. Du weißt auch, das waren die im oberen Fach in der hinteren Reihe. Die nicht jugendgeeigneten wie Goethes Römische Elegien, Bocaccios Decamerone. Romane von John Galsworthy oder unpassende Geschichten von Peter Rosegger. Verstanden habe ich wenig. Damit Du mich nicht vom Schmökern abhältst, habe ich das Hündchenspiel erfunden. Du warst der Hund und ich das Frauchen. Du musstest natürlich gehorchen. Also befahl ich, Hündchen, Platz oder mach Männchen oder fass Futter. Das letztere hieß, besorge uns Brote aus der Küche. Vielleicht hast Du das gar nicht als schlimm wahrgenommen. Das ist es ja auch nicht wirklich gewesen. Aber ich kann jene Art von Spielen nicht vergessen, die für mich das Ziel hatten, in Ruhe gelassen zu werden. Die Erinnerung an die Sache mit dem Leiterwagen geht mir auch nicht aus dem Kopf. Der Vater und wir beide haben irgendwo eine Fuhre Mist geholt. Den steilen Geröderweg hoch habe ich Euch ganz schön reingelegt. Ihr habt vorne schwer schuften müssen, ich habe hinten laut gestöhnt „so schwer“, dabei saß ich auf dem Bollerwagen und Ihr musstet mich mitziehen. Das alles ohne jedes schlechte Gewissen; ich empfand dabei diebische Freude. Zur Rache hast Du mich dann bei den Eltern verpetzt, wenn ich wieder mal nachts mit der Taschenlampe unter der Bettdecke gelesen habe. Na also. Und das mit Deinen Spielsachen, die ich bei Wut auf Dich in den Brunnen geschmissen habe, hat sich ja 34 später geklärt. Nachdem Du mir gebeichtet hast, Du habest das Gleiche mit meinem Lieblingsspielzeug gemacht. Also eins zu eins. In Wahrheit meine ich, dass es mit mir als böser Schwester nicht ganz so wild war. Das würdest Du sicher auch sagen. Du weißt ja, wir haben viele lustige Spiele mit ganz paritätischer Rollenverteilung gekannt. „Ich bin der Teufel Auerhahahahn, ich will deine Seeeele hahahaben!“ heulten wir uns in den schauerlichsten Tönen in die Ohren. Dann denke ich noch an das Schlagerspiel, einer von uns ist in die Knie gesunken und hat anbetend und so kitschig wie möglich gesungen: „Schau mich bitte nicht so an! Du weißt genau, ich kannnn dir sonst nicht widerrstehhen!“ Verloren hatte, wer zuerst lachen musste. In diesen Rollenspielen waren wir beide sehr gut. Und erinnerst Du Dich daran, wie wir kurz nach Kriegsende abwechselnd unseren baltischen Untermieter durchs Schlüsselloch beobachtet haben, wenn er seine tägliche Dusche nahm? Ständig auf der Hut vor dem Vater, der nebenan in seinem Studierzimmer saß? Hätte er uns erwischt, wären wir verhauen worden. Schließlich hatten wir dann noch unsere Geheimsprache, in der wir uns lebenslänglich unterhalten haben. Inspiriert von dem Kinderbuch „Pu, der Bär“, „ch bns, Frkl!“, haben wir beim Sprechen die Vokale weggelassen. Mn Ptr, mn bmms, ch bns, bsss, das versteht keiner außer uns. Außerdem, als Du alt und stark genug warst, haben wir uns gelegentlich kräftig verkloppt. Und Du hast mit zunehmendem Alter immer öfter gewonnen. 35 Wir hatten beide keine ideale Kindheit, Du noch weniger als ich. Du wurdest fast auf den Tag genau zu Beginn des zweiten Weltkrieges geboren, unsere Mutter war damals 45 Jahre alt. Mehr braucht man dazu nicht zu sagen. Ich hatte wenigstens noch die vier friedlichen Vorkriegsjahre und auch ein bisschen jüngere und weniger überforderte Eltern. Über die Eltern wollen wir uns aber beide nicht beschweren. Wir wissen, sie waren 66 und 68 Jahre alt, als Du, ihr jüngstes und sechstes Kind, das Abitur geschafft hattest. Und dann kam noch unser Studium. Wie würde ich mich fühlen, wenn ich in dem Alter noch zwei studierende Kinder gehabt, vier andere großgezogen und zwei Weltkriege hinter mich gebracht hätte? Würde ich nicht meutern und klagen, wo bleibt denn meine eigene Freiheit, ein wenigstens etwas selbstbestimmtes Leben, bevor der Abgesang beginnt? Dies und mehr konnte ich mit Dir nicht mehr besprechen. Das bedaure ich. Jetzt schicke ich meine Botschaft - im Angedenken an unseren Großvater - „in den Äther“ und halte es entgegen jeder Vernunft für möglich, dass Du mir zuhörst, mn lbs Bms: “Quando corpus morietur, fac, ut animae donetur, paradisi gloria!” Du kennst meine Vorliebe für die lateinische Sprache. Dieser fromme Wunsch stammt aus dem Stabat Mater Text in der Version von Haydn, wie Du ja weißt. Ich gebe ihn Dir mit auf den Weg. Also dann, Bruder. Bis demnächst. 36 Der kranke Nachbar wunderbar Wenn ich mich in die unbeschwerten Jahre vor Beginn des zweiten Weltkrieges zurück versetze, dann fällt mir spontan unser Nachbar Herr Rosenow ein. Ihn betrachtete ich damals als allerbesten Freund. Eine dichte, immergrüne, für Erwachsene unüberwindbare Stachelhecke grenzte seinen Garten gegen unseren ab. Als dünnes kleines Mädchen fand ich jedoch leicht eine Gebüschöffnung, durch die ich immer wieder schlüpfte, um ihn zu besuchen. Staunend beobachtete ich dann, wie er grub, harkte, pflanzte oder jätete. Rosenow war ein großer, dicker Mann mit grauen Strubbelhaaren und einem wilden Oberlippenschnauzbart, dessen Enden lustig nach oben zipfelten, und er hatte grasgrüne Augen. Seine undefinierbar dunklen Hosen, die kurz über dem Knie fransig endeten, wurden durch Hosenträger gehalten. Das ehemals weiße Hemd mit den hoch gekrempelten Ärmeln hing meistens halb aus der Hose heraus. Die Beine steckten in knöchelhohen, abgelatschten Stiefeln ohne Schnürbänder. Ich habe ihn nur mit Spaten oder Rechen in den Händen gesehen, er schien ununterbrochen seinen Garten zu bearbeiten. Andere Leute fanden ihn etwas unheimlich. Aber er und ich, wir zwei haben uns gemocht, das weiß ich, und er hat meine Gegenwart auch wohlwollend geduldet. Um ihn herum war stets ein schwarzweiß gefleckter Kater, der hieß Hermännchen. 37 Eines Morgens fand ich dieses Tier an meiner Durchschlüpfstelle ganz still mit geöffneten Augen auf der Seite liegend. Ich versuchte, ihn zu streicheln, aber er fühlte sich seltsam starr und kalt an. Meine Mutter kam hinzu und erklärte, das Hermännchen sei tot, sei jetzt im Katzenhimmel, ich solle es nicht anfassen, es sei giftig. Einen Tag später wurde die Katze dicht an der Hecke von meinem Rosenowfreund beigesetzt. Ich durfte an der Beerdigung teilnehmen, wir beide standen am Grab und vergossen Tränen. Das war meine erste Begegnung mit dem Tod. Sie hat mich tief beeindruckt, gedanklich beschäftigt. Etwas später wurde mein Rosenow krank, er war nicht mehr im Garten anzutreffen. Und schließlich teilte man mir mit, er komme nie wieder, ich könne nicht mehr mit ihm reden, er sei gestorben. Diese Botschaft hat mich traurig gemacht und verwirrt. War mein Freund jetzt im Katzenhimmel bei Hermännchen, der doch eigentlich dicht bei der Hecke unter der Erde lag? Oder doch eher im Menschenhimmel? Wie war das mit dem Totsein? War mein Freund jetzt auch giftig? Ich stellte viele Fragen, erhielt aber keine zufrieden stellenden Antworten. So nach und nach sind meine Gedanken an den ersten „besten Freund“, meine Fragen nach dem Tod verblasst. Herr Rosenow hat mich mein ganzes Leben lang in der Erinnerung begleitet. Er ist dann aufgetaucht, wenn ich das Lied … der Mond ist aufgegangen … 38 gesungen oder gehört habe, und das ist oft geschehen. Auch heute noch spielt es eine Rolle, es ist nämlich das Lieblingsgutenachtlied meiner Enkel. Wir singen es miteinander, wann immer sich die Gelegenheit dazu ergibt. Warum erinnert mich das Claudiuslied an Freund Rosenow? Ich habe damals die Liedzeilen durcheinander gebracht, die erste Strophe endete für mich immer mit „…und aus den Wiesen steiget, der kranke Nachbar wunderbar“. Dieser kranke Nachbar war und wird für mich immer „mein Rosenow“ sein. Bei diesen Zeilen sehe ich ihn auch heute noch mit Spaten in der rechten und Rechen in der linken Hand selig lächelnd aus den nebeligen Wiesen gen Himmel schweben. Für mich war das damals eine gute Lösung, eine schlüssige Antwort auf meine kindlichen, den Tod betreffenden Fragen. „Totsein“ hieß also, man erhebt sich irgendwie und verschwindet fröhlich nach oben in Richtung Paradies. Wie tröstlich. Abschließend und zum besseren Verständnis der Geschichte die erste und letzte Strophe dieses für mich schönsten deutschen Abendliedes: Der Mond ist aufgegangen, die goldnen Sternlein prangen, am Himmel hell und klar, der Wald steht schwarz und schweiget, und aus den Wiesen steiget, der weiße Nebel wunderbar. So legt euch denn, ihr Brüder, in Gottes Namen nieder, kalt weht der Abendhauch, verschon uns Gott mit Strafen, und lass uns ruhig schlafen, und unsern kranken Nachbarn auch. 39 Mälchmann und Postlöffler Es gab noch andere gute Freunde in jenen ersten Lebensjahren, die in meinem Kopf sehr gegenwärtig geblieben sind. Zum Beispiel Heini, den Mälchmann. Er zockelte werktäglich spät vormittags den Diedichsborn hoch mit seinem dreirädrigen, vollgummibereiften Karren, auf dem zwei verbeulte mit Milch gefüllte Blechkannen standen. Sobald die Frühstückszeit vorüber war, spitzte ich meine Ohren. Vernahm ich dann seine Mälch! Mälch! Rufe, war ich nicht mehr zu halten. Ich schnappte mir unsere Milchkanne, weiß emailliert mit dunkelblauem Rand und rannte ihm entgegen. Meistens war Heini dann schon umringt von ein paar Freundinnen und Freunden aus der Nachbarschaft. Zuerst einmal gab es eine fröhliche Begrüßung. Den Jungs verpasste er manchmal eine kleine Kopfnuss. Bevor wir ihn seine Arbeit tun ließen, erwarteten wir eine lustige Geschichte von ihm. Dann erst baten wir um einmal Kanne voll, und er tauchte seinen Messbecher mehrmals in die bläulichweiß schimmernde Milch ein. Nur bei schlechtem Wetter begaben wir uns mit der jetzt schweren Fracht umgehend nach Hause. Meistens blieben wir in seinem Schlepptau mindestens bis zur nächsten Ecke, wo er erneut laut schallend seine gute Milch anpries. An schönen Tagen dehnten wir das Mälchholen so lange aus, bis wir den Ruf unserer jeweiligen Mütter vernahmen Haanno! Didiii! Sabiiine! Nach Hause kommen! 40 Wenn das nicht half, läutete meine Mutter die Kuhglocke, mit der sie uns auch zu den Mahlzeiten zu rufen pflegte. Dann wusste ich, jetzt ist es Zeit, sonst gibt’s Ärger. Leider besitze ich kein Foto von meinem Freund dem Mälchmann. Deshalb ein kurzer Steckbrief. Heini war kein Ausbund an Schönheit. Das störte uns aber nicht. Er war von kompaktem Körperbau und deutlich kleiner als mein Vater. Vom Typ her hätte er einen guten Schweijk auf der Bühne gegeben. Auf den breiten Schultern saß ein fast halsloser, runder Kopf mit abstehenden Ohren, kräftiger Nase und kleinen funkelnden Schweinsaugen. Sein Mund, den er beim Lachen und Schwätzen oft weit öffnete, wies Zahnlücken auf. Die rosige Glatze war von einer Schirmmütze bedeckt, die wir Schlackenkappe nannten. Heinis Füße steckten in weiß beklekkerten Soldatenstiefeln, sie waren halb bedeckt von den Beinen einer ausgeleierten Trainingshose. Das ihn kennzeichnende Kleidungsstück war der blauweiß gestreifte kragenlose Kittel, über den eine grüne Schürze gebunden war. Über allem baumelte die stets offen stehende Ledertasche für das Kleingeld, das wir ihm abgezählt überreichten. Ob er nun wirklich so ausgeschaut hat, sei dahin gestellt. Ich sehe ihn jedoch so vor mir, den Freund aus früher Kindheit. Vor allem aber höre ich ihn rufen mit seiner lauten, hellen Stimme, die sich nach oben oft überschlug: Mälch, Mälch! Der Mälchmann ist da! 41 Er begleitete unser tägliches Leben bis Anfang 1943. Danach war die unbeschwerte Kindheit mit Milchverkauf auf der Straße beendet, der große Krieg hatte Kassel erreicht. Heini ist nie mehr aufgetaucht in unserer Siedlung; er soll eingezogen worden und später gefallen sein. So hat es mir meine Mutter erzählt, auch schon vor langer Zeit. Außerdem erinnere ich mich an unseren Briefträger Herrn Löffler. Wir Kinder nannten ihn Postlöffler. Er war fast ein Familienmitglied, ein stattlicher, großer Mann mit Bauch, über dem sich eine Weste nebst goldener Uhrenkette spannte. Die dazugehörige Taschenuhr, die in seiner Hosentasche steckte, zog er mir zuliebe oft hervor und ließ den mit Monogramm verzierten Deckel mit einem leisen Plopp aufspringen. Ich legte sie an mein Ohr und vernahm entzückt ihr leises Ticktack. Postlöffler verwahrte auch eine Muschel in seiner Dienstjacke, er machte uns weis, daraus könne man das Meer rauschen hören. Seine postblaue Uniform und die rot umrandete Mütze standen ihm. Dazu volle dunkle Haare, ein gepflegter Oberlippenbart und fröhliche Braunaugen, die durch golden eingefasste Brillengläser schauten. Auch von ihm habe ich ein genaues Bild vor Augen, für mich sah er so aus. Im Gegensatz zu Heini war Postlöffler ein feiner Herr. Meine Mutter und er siezten sich. Er kam spät vormittags in unser Haus und brachte meistens viele Briefe mit. Auch solche aus fernen Ländern, denn Mutter korrespondierte regelmäßig mit Freunden 42 und Verwandten in der Schweiz, in England oder Kanada. Bei einer gemeinsamen Tasse Kaffee und einem Zigarettchen hat sie dem Postboten sicher so manches erzählt, zum Beispiel, woher und von wem denn nun dieser oder jener Brief stammte. Wir erfuhren von ihm dafür ein bisschen Tratsch aus der Nachbarschaft. Postlöffler war bestens im Bild über die familiären Verhältnisse der Siedlungsbewohner. Während des Krieges wurde er eingezogen, tauchte jedoch zu unserer Freude nach 1946 wieder auf. Allerdings war er da in deutlich schlechterem Zustand, schien um Jahre gealtert. Von Bauch keine Rede mehr, der optimistische Ausdruck seiner Augen war verschwunden. Die Haare waren ergraut und hatten sich gelichtet. Er hatte am Russlandfeldzug teilgenommen und einige Jahre in Gefangenschaft verbracht. Seine Taschenuhr hatte er auf dem Schwarzmarkt verkauft. Auch die Muschel war verschwunden, allerdings interessierte die mich auch nicht mehr. In der Nachkriegszeit rundete sich der Bauch unseres Postlöfflers wieder, auch seine Augen bekamen ihren alten Glanz zurück. Er blieb uns als Briefträger und vertrauter Fastfreund bis zu seiner Pensionierung erhalten. Postlöffler ist als ganz besonderer Mensch fest in meinen Kindheitserinnerungen verankert. Einen vertrauten Postboten gibt es in unserem Leben nicht mehr, heute verrichten ständig wechselnde Männer oder Frauen diesen Job. Herr Löffler hingegen hat einen schönen Beruf ausgeübt. 43 Und wie steht es mit den gelben Briefkästen, die für jeden Bürger dieses Landes stets „fußläufig“ zu erreichen sein sollten? Mehr als die Hälfte von ihnen wurden abgeschraubt. Man muss die wenigen übrig gebliebenen Exemplare mühsam suchen. Immer mehr Leute verständigen sich über E-Mail. Dieser Weg der schriftlichen Kommunikation ist ja auch praktischer und schneller und durchaus spannend, das will ich nicht bestreiten. Ein handgeschriebener Brief jedoch, der durch die Auswahl des Papiers, des Umschlags, ja sogar der Briefmarke, vor allem aber durch die persönliche Note der individuellen Schrift so viel über den Absender aussagt, löst bei mir immer noch mehr Freude aus. Ich betrachte ihn als ein Geschenk. Menschen, die ich mag, bekommen von mir handgeschriebenen Kunstpostkarten zum Geburtstag. Mit einem Freund aus der Kindheit wechsele ich lange Briefe mit Füller und Tinte. Ich genieße diese aus der Mode gekommenene Form der Korrespondenz. Manchmal bin ich bestürzt darüber, dass meine Schrift schon etwas ungelenk geworden ist, weil auch ich die meisten meiner Briefe inzwischen am Computer verfasse. Aber meckern hilft nichts. Man muss sich anpassen, sonst verliert man den Anschluss. Die Zukunft gehört der Computertechnik. Ich habe verstanden und dazu gelernt, denn ohne Word würde ich diese und andere Texte nicht verfassen, das wäre mir zu mühsam. 44 Mittagsschläfchen auf der Chaiselongue Zu den Zeiten, als meine Familie mich wegen ständigen Plärrens Heulehacki nannte, musste ich regelmäßig nach dem Mittagessen Bettruhe halten. Wie die meisten kleinen Kinder mochte ich das überhaupt nicht. Die Alternative hieß Mittagsschläfchen beim Vater. Manchmal lud er mich dazu ein; das gefiel mir. Ernst ruhte in seinem Studierzimmer auf der Chaiselongue. Schon alleine dieses fremdartige Wort klang wie Musik in meinen Ohren. Jenes besondere Sofa war keineswegs ein ansehnliches oder bequemes Möbel. Es war schmal und wölbte sich in der Mitte, denn die Sprungfeder war defekt. Heutzutage wäre es längst auf dem Sperrmüll gelandet. Meistens lag er schon da, wenn ich mich zu ihm schlich. Sakko, Taschenuhr und Schuhe waren abgelegt, sein Schlips war gelockert, der oberste Hemdknopf geöffnet. Vater hatte sich unter der dunkelbraunen Häkeldecke ausgestreckt, die ein Geschenk von Großmutter Marie war und deshalb als besonders wertvoll galt. Ernsts Brille hing vorne auf der Nase, er war in ein Buch vertieft. Wenn ich kam, unterbrach er sein Lesen und klopfte einladend auf die rechte Seite seines Sofas, da hatte er ein Plätzchen für mich freigehalten. Ich krabbelte auf meinen Stammplatz dicht an der Wand und schmiegte meinen Kopf in seine Armbeuge. Dort lag ich stocksteif, denn ich wollte ihn nicht stören. 45 Meine Nase, meine Augen hatten indes viel zu tun, ich schnupperte mit Genuss die vertraute Geruchsmischung aus Tabak und Mottenpulver, die seiner Kleidung und der Sofadecke entstieg. Meine Augen gingen dabei auf den geometrischen Pfaden des kleinen Perserteppichs spazieren, der direkt neben mir an der Wand hing. Die Wanderung begann immer bei einer unserem Dackel Bimbo ähnelnden Figur und führte mich durch die verschlungenen Muster des Teppichs, die ich mir als Gassen einer geheimnisvollen Stadt vorstellte. In meiner Phantasie fanden dort wilde Verfolgungsjagden statt. Außerdem beobachtete ich andächtig die zarten, bläulichweißen Rauchschwaden, die sich durch den Raum schwebend ständig veränderten. Sie stammten von der vormittags geschmauchten Zigarre, mischten sich mit den unzähligen Staubpartikeln und sahen am schönsten aus, wenn einfallende Sonnenstrahlen sie in goldene Bahnen zerlegten. Nach kurzer Zeit pflegte Vater einzuschlafen; das war ja auch der Zweck der Übung. Seine Brille rutschte auf die Weste, das Buch fiel zu Boden. Aus seinem leicht geöffneten Mund ertönten leise Schnarchgeräusche. Beim Ausatmen zitterte die Oberlippe. Bei dieser Gelegenheit betrachtete ich den sonst so weit Entfernten genau aus der Nähe. Studierte mit Interesse die mir zugewandte rötliche Ohrmuschel, aus deren Mitte ein Haarbüschelchen ragte. Registrierte die spärlichen blondgrauen Wimpern und das sehr lange einzelne Weißhaar, das 46 widerspenstig aus der rechten Augenbraue herausspross. In schlafendem Zustand sah er gar nicht mehr unnahbar aus. Ich hätte gerne über seine Backe gestreichelt, das traute ich mich aber nicht. Bald war auch ich eingeschlummert. Während der Zeit der gemeinsamen Mittagsschläfchen war mir mein Vater nahe, ich denke gerne daran zurück. So sahen die Mittagsschläfchen im eigenen Gitterbett aus: 47 Weihnachten, früher Das Christfest ist die wichtigste Familienfeier des Jahres gewesen. Unser Siedlungshaus mit den zahlreichen kleinen Zimmern füllte sich um diese Zeit immer wieder, auch, nachdem die vier älteren Geschwister selber Familien gegründet hatten und teilweise in anderen Städten lebten. Brüder, Schwestern, Schwägerinnen, Schwäger; in frühen Zeiten auch Großeltern, Großtante, später die ersten Enkel, alle fanden sich ein, um am 24. und 25. Dezember gemeinsam zu feiern. Eigentlich begann dieses große Fest schon mit dem ersten Advent. Von dem Zeitpunkt an wurde gestrickt, gehäkelt, geschnitten, geklebt, gesägt und gehämmert. Es entstanden Söckchen, Fäustlinge, Schals, Strohsterne, Untersetzer, Topflappen oder Scherenschnitte. Jeder bereitete für Jeden Geschenke vor unter Einsatz von bescheidenem Material, denn das Geld war knapp. Man lernte Gedichte auswendig. In den Schränken und Kommoden sammelten sich liebevoll verpackte Päckchen an und verstärkten unsere Neugier. Viele Nachmittage waren ausgefüllt. Abends wurden die Kerzen des Adventskranzes angezündet; man spielte, sang, war fröhlich miteinander. Die Plätzchenkisten füllten sich, der Weihnachtsstollen wurde vorbereitet. So jedenfalls berichtet es mir mein Gedächtnis, das die Vergangenheit mit zunehmendem Alter immer verklärter sieht. 48 Der Höhepunkt war der Heilige Abend. Dieser Tag lief nach einem bestimmten Ritual ab. Vormittags war’s langweilig, keiner hatte Zeit, alle rannten, Türen knallten, wir Kinder fanden keine Beachtung. Das Wohnzimmer durfte von uns „Kleinen“ nicht mehr betreten werden, dort wurde der deckenhohe, meist selbst gefällte Weihnachtsbaum aufgestellt und vom Vater geschmückt. Die alten Krippenfiguren fanden ihren Platz unter dem Baum auf einem Stück Moos, die Gabentische wurden beladen und mit Servietten abgedeckt. Währenddessen wurde in der Küche unter Mutters Regie die Gans gerupft und vorbereitet, die wir am ersten Feiertag mittags verspeisen würden. Am Vierundzwanzigsten mittags gab es „Dick’ Supp“ aus Gänseklein. Frühnachmittags habe ich Botengänge erledigt, Geschenke in der näheren Umgebung verteilt mit Gruß von den Eltern. Aber um Fünfe war’s dann so weit. Im Musikzimmer war der Kaffeetisch gedeckt mit Plätzchen und Christstollen, das letzte Mal der Adventskranz dazu. Aufregung bei Martin und mir wegen der Bescherung, auf die wir sehnsüchtig warteten. Große Erlösung, wenn sich die Glastüre zum Wohnzimmer öffnete, das Glöckchen erklang und wir Kinder uns endlich, endlich Hand in Hand in das verwandelte Wohnzimmer begeben konnten. Wir ließen uns auf dem Boden vor dem Baum nieder, den Blick scheinbar fromm auf die Krippe, die Gedanken ganz auf den Gabentisch gerichtet. 49 Nun las der Vater mit getragener Stimme die Weihnachtsgeschichte vor. Bei dem Satz und sie war schwanger wurde ich stets verlegen. Wenn ich nämlich auf der Straße schwangeren Frauen auf den Bauch schaute und nach der Ursache dieser Rundung fragte, erhielt ich keine plausible Antwort außer – schau da nicht hin, das gehört sich nicht. Schwanger sein war demnach etwas leicht Anrüchiges. Konnte Maria wirklich überaus heilig und gleichzeitig schwanger sein? Dazu hätte ich gerne Fragen gestellt. Das wagte ich aber nicht. Anschließend wurde „Stille Nacht“ gesungen, danach die alten und neueren Weihnachtslieder mehrstimmig, denn die musikalische Restfamilie hatte auch im Wohnzimmer Platz genommen. Hirtenlieder mochte ich am liebsten, besonders das von Hermann Claudius: „Wisst ihr noch, wie es geschehen, immer werden wir’s erzählen, wie das Wunder einst geschehen, mitten in der dunklen Nacht.“ Ich kenne heute noch alle Strophen. Danach durften endlich die Tische gestürmt werden. Große Freude. Worüber? Kinder von heute würden lachen. Für mich immer die gleiche Puppenstube mit den von Bruder Reinhard geschreinerten Biedermeiermöbelchen. Antike Püppchen und eine schöne altmodische Küche mit viel Geschirr gehörten auch dazu. Für den Bruder wurde der Kaufmannsladen aufgebaut. Beide Teile gehörten uns bis zum 7. Januar des neuen Jahres und wurden dann bis zum nächsten Christfest wieder auf dem Dachboden verstaut. Bis dahin 50 spielte und handelte man intensiv unter Einbeziehung der Freunde, Freundinnen aus der Nachbarschaft. Außerdem gab es einen Teller mit Plätzchen und jeweils ein Geschenk, zum Beispiel ein Buch oder ein notwendiges Kleidungsstück. Damit fühlten wir uns reich beschenkt. Während der Bescherung ging es hoch und laut her. Man bedankte, umarmte, freute sich und lachte in allen Tonlagen. Nachdem die erste Hektik abgeklungen war, wurden anspruchsvollere Sätze mehrstimmig gesungen, meistens auswendig. Es folgte ein bescheidenes, wohl typisch deutsches Heiligabendessen – Heringssalat und Würstchen mit Kartoffelsalat. Spät abends besuchten Große und Kleine miteinander die Christmette in der nahe gelegenen klassizistischen Kirche und nahmen an dem vorwiegend musikalisch gestalteten Gottesdienst teil. Selbstverständlich war die Kirche bis auf den letzten Emporenplatz besetzt. Wir sangen laut schallend gemeinsam mit der Gemeinde, ohne ins Gesangbuch zu schauen. Zu den Zeiten, als die Familie noch vollständig und zahlreich versammelt war, zogen wir nach dem Gottesdienst als kleiner Chor zu einigen Siedlungshäusern, in denen Freunde wohnten. Wir brachten ihnen ein vielstimmiges weihnachtsmusikalisches Ständchen dar. Zur Belohnung gab’s ein paar Plätzchen oder einen Schnaps. Der Heilige Abend endete auch für die Kinder weit nach Mitternacht. 51 Am ersten Feiertag war für mich das Weihnachtszimmer selber am spannendsten. Einmal stand ich frühmorgens vor der Familie auf und schlich mich nach unten. Genoss es, dort ganz alleine zu sein. Zündete eigenmächtig zwei, drei Kerzen an. Setzte mich auf Mutters Sofa, legte die Beine auf den Tisch. Stopfte Minnaplätzchen und für die Großen reservierte mit Schnaps gefüllte Pralinen in mich hinein. Schnupperte den Weihnachtszimmerduft, ein Gemisch aus Tannenharz, abgebrannten Kerzen, Zimt, Zigarettenrauch. Ich tat Verbotenes, benahm mich unflätig, so hätte es mein Vater ausgedrückt. Das erzeugte die angenehmsten Weihnachtsgefühle in mir. Nach Beseitigung aller Spuren dieser Völlerei verzog ich mich zufrieden ins Kinderzimmer und kroch noch mal für kurze Zeit ins warme Bett. Mittags dann das große Gänseessen gemeinsam mit selten weniger als zehn Personen, eingeleitet durch ein besonders ausführliches Gebet. Die Gans war nie groß genug für uns alle. Deshalb waren die Fleischstücke auf den Tellern bescheiden. Es sollte auch noch etwas für den nächsten Tag übrig bleiben. Man begnügte sich vorwiegend mit dem Gehackten, das den Gänsebauch füllte. Nach dem Mahl wanderte das fast fleischlose Federvieh in den Fliegenschrank, der im Keller stand. Martin und ich machten uns manchmal zum späteren Zeitpunkt heimlich dort unten im Halbdunkel über die Restgans her und verspeisten gierig alle Teile, die wir in die Pfoten bekommen konnten. Den 52 Geschmack der hastig abgerissenen Gänsemuskelstreifen habe ich immer noch auf der Zunge. Am nächsten Tag war nur noch das blanke Gerippe des Weihnachtsvogels vorzufinden, die Familie wunderte sich. Wir beiden „Kleinen“ aber waren zufrieden. Wir hatten uns unseren Teil geholt. Als Nachtisch gab es meistens die berühmte Apfelsinencreme nach einem alten Familienrezept. Die wird auch heute noch bei einigen Nachkommen zu gehobenen Anlässen hergestellt und verspeist. Auch ich bereite sie öfter zu, wenn wir Gäste haben. Immer mit Herzklopfen – gelingt sie mir so gut wie damals meiner Mutter? Der Rest des Weihnachtsfestes lief eher locker ab. Es wäre jedoch weder an festlichen noch an normalen Tagen denkbar gewesen, dass jeder sich abends in der Küche eine Stulle schmiert. So wie das heute üblich ist. Dreimal täglich hat man miteinander am Tisch gesessen und die Mahlzeit eingenommen unter Beachtung der vereinbarten Regeln. Auch, wenn ich das damals oft lästig fand - es hat uns miteinander verbunden. Ergänzend möchte ich sagen, dass ich hier an die Jahre bis 1942 und die Nachkriegsjahre ab 1945 denke. Zwischendurch war die Familie kriegsbedingt voneinander getrennt, ich selber habe von 1943 bis 1945 zwei traurige und einsame Jahre „in Sicherheit“ verbracht. 53 Wenn ich an die Weihnachtsfeste meiner Kindheit zurückdenke, habe ich heute noch ein Gefühl von Geborgenheit und Wärme, von Familie, wie man sie sich wünscht. Die Wirklichkeit wird banaler und aus der Sicht meiner Geschwister anders ausgesehen haben. Aber dieses Schriftstück - ist meine Geschichte. Der Klang des Äthers – oder lieber Großvater Friedrich Das eindrucksvollste Radio meiner Kindheit war ein dunkel glänzendes Löwe Gerät aus Mahagoniholz. Es stand im Studierzimmer meines Großvaters Friedrich auf einem Rollwagen neben dem Schreibtisch. Nachdem ich dieses Wundergerät 1940 während der gemeinsamen Weihnachtsfeier kennen gelernt hatte, wurde es der Hauptgrund für meine Besuche im Großelternhaus. Dieser sprechende, funkelnde und piepende Holzkasten faszinierte mich. Großvater erlaubte mir, sein wertvolles Radio alleine zu bedienen. Das machte mich stolz. Nach dem Einschalten wartete ich ungeduldig, bis die Röhren warm waren. Erst dann vernahm ich jenes Gleichaltrigen bekannte vielstimmige auf- und abschwellende Surren und Piepen, das er mir mit den Worten erklärte: Hör mal, Sabinchen, so klingt der Äther. 54 Danach konnte ich auf der hell erleuchteten Skala einen Zeiger hin und her flitzen lassen. Sobald dieser auf einen Sender gestoßen war, wurden Stimmen oder Musik hörbar und das magische grüne Auge leuchtete auf. Wenn ich das Haus Hutekamp 9 betreten hatte, durfte ich aber nicht sofort in den ersten Stock zum Großvater, um mit meinem Löwe zu spielen. Zuvor musste ich mich mit Knicks bei meiner stets schwarz gekleideten Großmutter Marie melden. Guten Tag, wie geht es dir heute. Außerdem wusste ich, dass der Friedrich mich nicht nur am Radio spielen lassen würde. Zuerst einmal musste ich mir langwierige Geschichten über historische Figuren anhören. Meistens handelten sie von einem gewissen Alten Fritz, der mich damals noch wenig interessierte. Bemerkenswert fand ich lediglich eine Abbildung, die jenen krummen alten Mann mit dreieckigem Hut und Krückstock zeigte. Umgeben war er von hochbeinigen sehr dünnen Hunden mit winzigen Köpfen, die unserem Bimbo mit seinen kurzen Haxen überhaupt nicht ähnelten. Waren das wirklich Hunde? fragte ich mich. (Mein Verhältnis zum großen Preußenköng hat sich mittlerweile grundlegend verändert, ich bewundere ihn sehr und wünsche mir im Nachhinein, ich hätte Großvaters Erzählungen damals aufmerksamer gelauscht …) Später kam Großvater öfter auf Charles Dickens zu sprechen, da war ich ganz bei der Sache. Für das Schicksal von David Copperfield oder Little Dorrit 55 begann ich mich bald so zu begeistern, dass ich den Löwen mit dem magischen Auge links liegen ließ. Nach dem Tod der Großeltern wechselte das besondere Radio 1953 in unseren Haushalt über. Es stand noch einige weitere Jahre bei uns im Musikzimmer und machte es mir möglich, heimlich AFN, American Forces Network, zu hören. Immer von 14 bis 15 Uhr, wenn die Eltern Mittagsschläfchen hielten. Ganz leise gestellt, das Ohr direkt an den Lautsprechern. Das Radio selbst war jetzt nicht mehr wichtig, nur die Musik, die daraus erklang. Mir war im Elternhaus ausschließlich die Klassik vermittelt worden. Die beschwingten Klänge von Glenn Miller oder überhaupt der Jazz waren eine neue Welt für mich, die mich begeisterte. Ella Fitzgerald, Duke Ellington, Louis Armstrong, Benny Goodman eröffneten mir eine neue Klangwelt, sie wurden meine Helden. Sobald ich ein paar Jahre später erfuhr, dass es moderne Radioapparate mit integriertem Plattenspieler zu kaufen gibt, auf dem man die Musik seiner Wahl jeder Zeit ohne elterliche Zensur hören kann, hatte ich nur noch ein Ziel. So ein Teil wollte ich selber besitzen, koste es, was es wolle. Noch in Oberprima fing ich an, Geld zu verdienen, erteilte Nachhilfe sogar im mir verhassten Fach Mathematik für eine Mark die Stunde. Dafür begab ich mich mit meinem Uraltrad in weit entfernte Kasseler Stadtteile. Zum Zeitpunkt meines Abiturs hatte ich 55 Mark gespart, 56 die einzig und alleine zum Kauf eines guten Radioplattenspielers reserviert waren. Inzwischen war von der Firma BRAUN ein meiner Wunschvorstellung entsprechendes Gerät mit völlig neuem Design entwickelt worden. Es ähnelte dem Großvaterradio so wenig wie Dackel Bimbo den Windhunden des preußischen Königs. Klare Form, helle Farben, funktional. Das war der SK4 oder Schneewittchensarg. So wurde er wegen seines Plexiglasdeckels genannt. Zum ersten Mal sah ich ihn bei einem guten Freund, er hatte ihn zum Geburtstag bekommen. Es war Liebe auf den ersten Blick. Danach betrachtete ich alle herkömmlichen Radios und auch Großvaters Löwegerät mit Verachtung, sie stammten aus der alten Zeit, die mir überholt zu sein schien. Die 150 fehlenden Mark verdiente ich mir im April 1957 während der ersten Semesterferien meines Lebens. Vierzehn Tage lang jobte ich für eine Mark fünfzig pro Stunde im Kasseler Woolworth, verkaufte in der Schmuckabteilung Eheringe, Broschen oder Ketten aus schlechtem Material für Pfennigbeträge. Bei Reklamationen, die ständig stattfanden, war ich großzügig und verteilte neue Ware, ohne zu fragen, ohne dass es auffiel. Fünfzig Stunden in der Woche verbrachte ich in dem nach Käse, Schweiß und Lederartikeln riechenden Verkaufsraum dieser Billigladenkette und hielt so lange durch, bis sich das benötigte Geld im Sparschwein befand. In der halbstündigen Mittagspause hörte ich mir interes57 siert die deftigen Tratschgeschichten meiner Kolleginnen an, deren Hauptthema die Männer waren. Mit einer klugen jungen Verkäuferin befreundete ich mich und erfuhr, dass sie gerne das Gymnasium besucht hätte. Das erlaubten ihre Eltern aber nur dem jüngeren Bruder, dessen Studium sie durch ihre Arbeit mitfinanzierte. Den damaligen Woolworth Abteilungsleiter habe ich in unangenehmer Erinnerung. Er war ein öliger Typ mit Oberlippenbart und falschem Brillantring am kleinen Finger. Für sein privates Vergnügen suchte er sich öfter die hübschen unter den Verkäuferinnen aus. Bald war er auch hinter mir her. Zu meiner großen Empörung kniff er mich eines Morgens in den Po und meinte, Mädchen, hol mir mal die Abendpost, kannst auch bei Feierabend etwas früher heimgehen. Nach einem erneuten Annäherungsversuch gab ich ihm kräftig eins auf die Pfoten. Das hatte Folgen, mir wurde gekündigt. Mich störte das nicht, ich hatte das Ziel meiner Wünsche erreicht, das Geld war verdient. Bald prangte das ersehnte Gerät bei uns zu Hause mitten auf dem Flügel. Ich war maßlos stolz auf mein selbstverdientes Glanzstück. Leider teilte Vater meine Begeisterung nicht, hässlich, meinte er, das sieht nicht aus wie ein Radio. Der SK4 zog mit mir nach Jugenheim zum Studium. Ich habe gute Stunden mit meinem Schneewittchensarg erlebt, auf dem Barockmusik besonders klar erklang. 58 Ende der Leseprobe von: Der Klang des Äthers - Gedenken. Gedanken. Sab Rosenboom Hat Ihnen die Leseprobe gefallen? Das komplette Buch können Sie bestellen unter: http://bit.ly/1TLfN2x
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