Der Klang des Äthers

Sab Rosenboom
Der Klang
des Äthers
Gedenken.
Gedanken.
Imprint
Der Klang des Äthers
Sabine Gilles-Rosenboom
published by: epubli GmbH, Berlin
www.epubli.de
Copyright ©2016
ISBN: 978-3-7418-1424-2
Gewidmet meinem
Großvater Friedrich,
aufgeschrieben
für meine Enkel
und für mich.
War es wirklich so?
Neurowissenschaftler haben festgestellt, dass sich
die für das Visuelle zuständigen Verarbeitungssysteme im Gehirn mit jenen überlappen, die bei
Fantasien aktiv werden. Im autobiografischen Gedächtnis ist also die subjektiv erlebte Lebensgeschichte abgespeichert. Obwohl ich mir während
des Erzählens sicher bin, dass alles wie beschrieben
stattgefunden hat, weiß ich gleichzeitig, dass ich
heute nicht mehr zwischen Wahrheit und Übertreibung unterscheiden kann.
Beschwören würde ich deshalb weder, dass der
Spazierstock meiner Großmutter einen Elfenbeinknauf hatte noch dass der Kater unseres Nachbarn
Hermännchen hieß. Hat es in meiner Kindheit einen
Milchmann namens Heini gegeben, erinnert sich
jemand außer mir an Herrn Rosenow, trug Frau von
Schmidt Goldbrillchen auf der Nase? Waren die
Winter meiner Kindheit tatsächlich kälter und
schneereicher als die heutigen?
Diese Fragen stelle ich mir nicht ernsthaft, denn ich
weiß um die Subjektivität meiner Erinnerungen. Für
mich war es - genau wie beschrieben.
Achtzig bin ich jetzt, das gefällt mir einerseits, denn
mir schreiben keine Stundenpläne mehr vor, was
ich zu tun und zu lassen habe. Andererseits ärgere
ich mich darüber, dass ich vergesslicher werde und
Gegenstände, die ich dringend brauche, verlege. Wo
ist meine Sonnenbrille geblieben, hast du meine
Lesebrille gesehen, haben wir etwa wieder den Geburtstag von Inge vergessen, obwohl er rot auf dem
Küchenkalender vermerkt ist? Das Gedächtnis lässt
nach, das bedaure ich.
Zum Ausgleich dafür tauchen Erinnerungenan an
die frühen Zeiten meines Lebens auf. Darüber freue
ich mich wiederum, denn das gleicht die nachlassenden Fähigkeiten aus. Wenn ich nachts nicht
schlafen kann, steigt vergessen Geglaubtes aus meinem unbewussten Gedächtnis auf. Bestimmte Farben, Gerüche und Geräusche. Gesten, Stimmen und
Gesichter längst verstorbener Menschen. Meinen
Großvater sehe ich vor mir. Er sitzt, wie stets korrekt gekleidet, spöttisch lächelnd auf dem Gartenbänkchen und genießt die Abendsonne, die Beine
auf ganz bestimmte Art übereinander geschlagen. In
Gedanken, im Halbschlaf reise ich durch Landschaften, die mir vertraut erscheinen. Ich spaziere
durch die Siedlung, in der ich aufgewachsen bin.
Mir kommen Lieder in den Sinn, die niemand mehr
singt, ich summe sie. Weihnachtliche Düfte steigen
in meine Nase, diese Mischung aus Rotkohl, Gänsebraten und Zigarettenrauch.
Es meldet sich aber auch die alte Furcht. Ich spüre
wieder, wie es sich anfühlt, allein gelassen zu sein,
verschickt zu fremden Menschen, damals, vor mehr
als siebzig Jahren, während des Krieges.
Wenn ich daran denke, sehe ich die Achtjährige vor
mir, die ich mal war. Ein kleines Mädchen mit viel
Angst. In Gedanken umarm’ ich sie, das tut mir gut.
Sie wird mich beim Schreiben begleiten.
Namen werde ich ändern, wenn es mir notwendig
erscheint.
Und jetzt beginne ich, ganz von vorne.
Der Untervater und der liebe Gott
Erinnerungen an die ersten Lebensjahre sind bei mir
wie bei den meisten Menschen eng mit den Eltern
verknüpft. Von meiner frühen Mutter Lulu kann ich
ein helles, lächelndes Bild abrufen, das mir Sicherheit und Geborgenheit verspricht. Mein Vater
Ernst war auch ein vertrauter Mensch, er war aber
nicht so nahe bei mir. Und dann gab es noch den
lieben Gott, von dem ständig die Rede war. Vor
jeder Mahlzeit und abends vor dem Schlafengehen
tauchte er auf, verhalf uns angeblich zu Butter und
Brot und beschützte uns in der Nacht.
Dieser stets gegenwärtige und offenbar allmächtige
Unsichtbare schien eng mit dem Vater verbunden zu
sein. Der erwähnte ihn jedenfalls besonders häufig
und hatte mir auch beigebracht, dass ER viel wichtiger sei als er selbst. Der liebe Gott war also gewissermaßen ein Obervater. Darüber freute ich
mich, denn das minderte Vaters Wichtigkeit ein wenig. So hatte alles seine Ordnung.
Den „Allerobersten“ stellte ich mir als ein am Himmel schwebendes männliches Wesen vor mit langem weißem Bart, graulockigem Kopf und zürnenden dunklen Augen, die nie blinzelten und alles
bemerkten. Mit seinen wallenden Gewändern schien
er in dauernder Bewegung zu sein, ein Teil der ineinander fließenden Wolken, die ihn umgaben.
Wenn ich auf der Wiese lag und in den bewölkten
Himmel blickte, glaubte ich, seine markante Nase zu
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sehen, die wehenden Haare, das eine oder andere
aufmerksame Auge und manchmal seinen ganzen
Kopf. Ich zweifelte nicht daran, dass es ihn gibt da
oben und war mir sicher, dass er mich immer und
überall beobachtet.
Einerseits fürchtete ich den Allesseher. Anders als
meine Mutter bekam er nämlich sehr wohl mit,
wenn ich ein Kandiszuckerstück stibitzte oder wieder einmal den Garten verließ, obwohl ich das nicht
durfte. Andererseits betrachtete ich ihn als einen
Freund, dem man alles erzählen konnte. Er war
mein Verbündeter gegen den starken Vater.
Der saß meistens im ersten Stock unseres Siedlungshäuschens und verfasste Texte in seinem Studierzimmer, das ich nicht unaufgefordert betreten durfte. Sowohl das Treppenhaus, das dort hinführte, als
auch jener besondere Raum selbst wecken bildhafte
Erinnerungen.
Erst einmal lunse ich etwa dreijährig durch den
schmalen Spalt der stets nur angelehnten Türe seines
Arbeitszimmers und beobachte ihn. Er sitzt am
spärlich beleuchteten Schreibtisch und arbeitet. Seine feierliche Berufsbekleidung, die dunkle Anzugsjacke mit Weste und Krawatte, baumelt auf einem
Kleiderbügel am Bücherregal. Die blank gewienerten schwarzen Schnürschuhe lugen unter dem braunen Ledersessel hervor. Vater trägt seine bequeme
Hausjoppe, dunkelgrauer Filz mit Knebelknöpfen
und beigeschwarz karierte Pantoffeln an den Füßen.
In der Rechten hält er den wertvollsten aller Füll2
federhalter, den mit der echt goldenen Feder. Er beschreibt damit weiße Blätter mit winziger, gestochen
scharfer Schrift. Ab und zu hebt er den Kopf und
pafft den Rauch seiner Zigarre in die Luft, Kringel
schweben zur Decke, einer nach dem anderen, ich
staune. Er schaut den zartgrauen Gebilden hinterher
und murmelt Unverständliches vor sich hin.
Außerdem sehe ich mich etwas bang auf der drittuntersten Stufe unseres Treppenhauses stehen, die
linke Hand am roten Handlauf. Von dort aus möchte
ich den Sprung in die Tiefe wagen. Obwohl ich
weiß, dass nur zwei Stufen erlaubt sind, will ich unbedingt drei auf einmal überspringen. Bei der Umsetzung dieses Vorhabens muss ich vorsichtig sein,
weil Vater, der keinen Widerspruch duldet, von seinem Zimmer aus alles mitbekommt.
Das Untervatergebot umgehe ich, indem ich mich
direkt an die übergeordnete Instanz, den Obervater
wende. Sehr laut, damit der Ernst es auch hören
kann, rufe ich: Lieber Gott, darf ich drei Stufen hüpfen? ER antwortet mir nicht. Nach der dritten erfolglosen Anfrage stelle ich meine Stimme tief, gebe ein
deutliches JA von mir und springe.
Der Untervater hatte alles mit angehört, er schimpfte
aber nicht, sondern lachte sehr. Diese Begebenheit
hat er mir später immer wieder geschildert, so dass
ich heute nicht mehr weiß, ob ich mich an den Vorfall erinnere oder an Vaters Erzählung. Wie auch
immer es war - es ist eine feine Geschichte, die für
mich erfolgreich endete.
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Bei späteren Vatertochterkonflikten habe ich eher
Niederlagen erlitten …
Das Bewusstsein jedoch, dass es da einen über Dir
gibt, Vater, der stärker ist als Du, an den ich mich
wenden kann, wenn ich Dich als ungerecht empfinde, war hilfreich in meiner Kindheit – und darüber hinaus.
Die Siedlung und das Elternhaus
Was war das Besondere an meiner Kindheit und Jugend? Nachkömmlingssituation? Alte Eltern? Vielköpfige Pfarrersfamilie? Zweiter Weltkrieg ab dem
fünften Lebensjahr?
Das alles war zweifellos prägend. Genauso wichtig
war jedoch das Aufwachsen in dieser an Feldern
und Wald gelegenen Kasseler Vorstadtsiedlung,
Riedwiesen genannt. Sie ist in den zwanziger Jahren
des vorigen Jahrhunderts von einer Erbbaugenossenschaft errichtet worden. Man wollte auf großen
Grundstücken bezahlbaren Wohnraum für junge Familien bereitstellen. Die Häuser und Wohnungen
wurden und werden zu kleinen Preisen und mit
lebenslänglichem Wohnrecht an deren Mitglieder
vermietet.
Der mit der Planung beauftragte Archtitekt Hans
Soeder war von den Ideen des Bauhauses in Dessau
inspiriert, man erkennt das an den funktionalen
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Grundrissen und an Details der Innengestaltung wie
den Türklinken. Das frühere Feuchtgebiet wird von
kopfsteingepflasterten Straßen durchzogen, die
klangvolle Namen haben, so wie wie Juliusstein,
Diedichsborn, Hutekamp oder auch Geröderweg.
Die Häuser haben tief gezogene Giebel, sind in
fröhlichen Farben angestrichen, versetzt zueinander
angeordnet und liegen inmitten großer Gärten. In
der Siedlung gibt es Einfamilien-, Doppel und
Mehrfamilienhäuser. Diese Bauweise hat den Vorteil, dass man sein ganzes Leben dort verbringen
kann. Die jungen Familien bewohnen die großen
Häuser. Sind die Kinder erwachsen, ziehen die nun
Alten in eine kleine Wohnung um, oft direkt gegenüber. So haben es meine Eltern gehandhabt.
Das Haus, in dem ich aufwuchs, war gelb angestrichen und in einen mir riesig erscheinenden Garten gebettet. Wenn ich heute davor stehe, muss ich
mir klar machen, dass es jetzt das Elternhaus anderer Kinder ist. Mir gehört es nur noch in der
Erinnerung. Eine grüne Wiese sehe ich vor mir,
mitten darauf ein Sandkasten. In dem habe ich als
Kind meine Burgen gebaut. Mir fällt der Steingarten mit dem runden Brunnen ein, der das Regenwasser auffing. Die Schwertlilien neben dem Komposthaufen. Sträucher mit roten, schwarzen und grünen Beeren. Zwei kleine Sauerkirschbäume im Vorgarten, einer für meinen Bruder Martin und einer
für mich.
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Im hinteren Gartenteil stand ein knorriger alter Apfelbaum, der hieß Purpurroter Cousinot. Wenn ich
allein sein wollte, setzte ich mich in eine seiner Astgabeln, teilte ihm meine Freuden und Sorgen mit,
heulte auch mal Rotz und Wasser, ließ mich von
ihm trösten.
Man betrat das Haus über eine von Weinreben berankte Terrasse, auf der wir im Sommer auch frühstückten. Im Herbst wurden die Trauben geerntet.
Sie waren grün und sauer und bestanden vorwiegend aus Kernen. Wir aßen sie dem Vater zuliebe,
der so stolz auf seine kärgliche Ernte war. Sammelten die Kerne in der Backentasche und spuckten
sie heimlich wieder aus.
Hinter der Eingangstüre gab es einen rot gefliesten
Bereich mit Gästetoilette, Garderobe und Kellereingang. Nachdem man eine weitere Tür geöffnet hatte, stand man in der geräumigen Diele. Dort fanden
die Familienmahlzeiten statt. Davon abgetrennt waren die Küche und zwei durch Flügeltüren miteinander verbundene Räume, die als Wohn- und Musikzimmer genutzt wurden. Unser Wohnzimmer war
mit antiken Möbeln unterschiedlicher Stilrichtungen bestückt; die meisten stammten von den Vorfahren. Dort stand auch der Glasschrank mit dem
Nippes, den kleinen Puppengeschirren, bunt bemalten Gläsern, geheimnisvollen Schächtelchen, alten
Tassen. Den habe ich samt Inhalt geerbt. Meine Enkel, jetzt 13 und 14 Jahre alt, fanden ihn bis vor we6
nigen Jahren noch genauso spannend wie ich damals. Nur gelegentlich wurde die Türe aufgeschlossen. Dann kamen alle diese kostbaren Dinge auf den
Tisch, wir erhitzten den Puppenherd mit Teelichtern, kochten Sternchensuppe und löffelten diese
laut schlürfend aus Minisuppentassen mit Minisuppenlöffeln. Daran denke ich gerne zurück.
Mit Hilfe von Gedächtnis und Vorstellungskraft
kann ich jederzeit im früheren Elternhaus, in meiner
Vergangenheit spazieren gehen. Dabei nehme ich
Details der Einrichtung, vor allem aber mir vertraute, längst verstorbene Menschen so deutlich
wahr, dass ich meine, sie berühren zu können.
Wenn ich die Türe zum Wohnzimmer öffne, sehe
ich meine Mutter vor mir. Immer wieder hüstelnd
sitzt sie auf dem grün gestreiften Biedermeiersofa
am ovalen Wiener Tisch und löst Kreuzworträtsel
oder legt Patiencen. Beides konnte sie meisterhaft.
Zwischendurch zieht sie an der Zigarette, die im
Aschenbecher vor sich hin glimmt. Man vernimmt
das leise Klappern ihrer Stricknadeln. Ab und zu
werden die Maschen gezählt. Eine Flasche Cointreau, Geschenk vom ältesten Sohn, steht in Reichweite. Spät vormittags genehmigte sie sich hin und
wieder ein Gläschen daraus. Eine Weile schaue ich
ihr beim Spielen, Rätseln, Hantieren zu. Streiche
andächtig über die glänzend polierte Platte des mir
so vertrauten Tisches.
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Dann lasse ich mich auf dem barocken Hocker nieder, lehne den Rücken an den blassgrünen Kachelofen, wärme mich auf, fühle mich behaglich, geborgen. Lege die Füße auf einen der beiden Biedermeierstühle. Ich meine die mit der schwarzen Lyra und
den von meiner Mutter mit Petit Point bestickten
Bezügen. Sie gehören heute noch zu meinem Leben.
Von da aus schaue ich auf den gegenüber stehenden
Sekretär. Die Klappe ist wie immer geöffnet und mit
Papier und Schreibzeug beladen. Ich nehme das
Foto ihres im ersten Weltkrieg gefallenen Verlobten
wahr. Sie hielt es oft in der Hand. Manchmal vergoss sie dabei Tränen.
Ich betrete das Musikzimmer nebenan. Öffne zuerst
die knarrenden Türen des uralten Schwälmer
Schrankes. Darin wurde die nach Lavendel duftende
Bettwäsche aufbewahrt. In der Vorweihnachtszeit
lagen Geschenke darin, aber auch der Stollen, die
Dosen mit den Plätzchen und der rhombenförmig
geschnittenen Paste aus Quitten, der Quittepast’.
Auf der Biedermeierkommode steht mein liebstes
Möbelstück, das mit Intarsien reich geschmückte
Chinesenschränkchen. Es stammt wie andere Chinoiserien von einem Darmstädter Vorfahren, der zur
Zeit der Boxeraufstände österreichischer Konsul in
Peking war. Jetzt gehört es meinem ältesten Enkel.
Das Ölportrait des Vaters meiner Mutter nehme ich
wahr. Er sitzt mit weißem Bart, die Bibel unter den
gefalteten Händen, auf einem roten Stuhl und schaut
auf seinen Schwiegersohn Ernst.
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Der spielt auf dem schwarzen Bechsteinflügel und
zeigt sein typisches Klaviergesicht. Die Stirne gerunzelt, die Augen zusammengekniffen auf die
Noten gerichtet. Der Mund leicht geöffnet.
Ich überlasse ihn seinem Brahms und schleiche
mich in die Essdiele. Schaue auf den Holländer Geschirrschrank, auf seine Säulen, die schweren Türen
lassen sich geräuschlos bewegen. Im Inneren die
mit grünem Filz ausgeschlagene Schublade für das
Silberbesteck, das wir alltäglich benutzten, die Messerbänkchen und gravierten Serviettenringe. Das
holländische Essservice aus Steingut betrachte ich
lange, es war blaugrau mit unterschiedlichen Vogelmotiven bemalt.
Nun richte ich meine Augen auf den runden eichenen Esstisch mit seinen Löwenfüßen. Ausgezogen
konnten bis zu sechzehn Personen daran Platz nehmen. Ich sehe uns um-ihn-herum sitzen. Morgens,
mittags, abends. Essend, erzählend, lachend. Streitend. Schweigend. In unterschiedlicher Zusammensetzung. Als muntere Großfamilie in den früheren,
als eher triste Kleinfamilie in den späteren Jahren
meiner Kindheit und Jugend. Am fröhlichsten und
zahlreichsten in den Hungerzeiten direkt nach dem
zweiten Weltkrieg. Da stand manchmal nur ein
Fässchen Salz und eine Schüssel mit Pellkartoffeln
in der Mitte des Tisches. Von denen hat Schwager
Konrad einmal mehr als ein Dutzend auf einen
Schlag vertilgt.
Das stimmt, ich war dabei.
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Jetzt noch einen kurzen Blick auf das Portrait von
Vaters Vater Friedrich, auf den schwarzen Notenschrank links vom Dielenfenster mit dem dunkelbraunen Volksempfänger aus Bakelit, der sich nur
bis 1945 dort befand, auf das Tischchen mit dem
schwarzen Telefon und die Jugendstilanrichte. Damit beende ich meine Zeitreise durch das Haus, in
dem ich groß wurde. Und schreibe auf, was mir
sonst noch so einfällt.
Am 28. September 1935 kam ich in Kassel zur Welt.
Vater taufte mich auf die Namen Elsbeth Sabine.
Meine Geschwister waren damals vierzehn, dreizehn, elf und neun Jahre alt. Erst ein Junge, dann
zwei Mädchen, dann wieder ein Junge. Schon mit
mir hatte wahrscheinlich niemand mehr gerechnet.
Die größte Überraschung jedoch war das sechste
Kind. Mein jüngster Bruder wurde 1939 geboren,
als unsere Mutter 45 Jahre alt war.
Man nahm uns, wie wir kamen. Darüber freue ich
mich, denn ich lebe gerne.
Wir beiden Nachkömmlinge fanden relativ alte und
erschöpfte Eltern vor. Einen Weltkrieg hatten sie
bereits hinter sich. Der zweite begann genau zwei
Tage nach Martins Geburt. Für uns Nachzügler
hatten sie oft keine Kraft mehr. Die Zuwendung,
die uns in der Familie fehlte, konnten wir uns von
der Clique am Eck holen, von den zahlreichen Siedlungskindern, mit denen wir jede freie Minute auf
der Straße oder im nahen Wald verbrachten.
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Deshalb habe ich über mein Aufwachsen in den
Riedwiesen viel zu erzählen.
Die wichtigste Bezugsperson meiner ersten Lebensjahre war unsere Mutter. Sie hat ihren vielköpfigen
Familienbetrieb damals gekonnt gemeistert. Zwar
gab es immer ein „Mädchen“ zur Hilfe und in regelmäßigen Abständen eine Flickfrau, die ins Haus
kam, an die heute so selbstverständlichen elektrischen Haushaltsgeräte jedoch war nicht zu denken.
Wir hatten nicht mal einen Kühlschrank.
Lulu kochte gerne selber, sie hatte pfiffige Rezepte
im Kopf. Es folgt ein kulinarisches Mutterlob, das
muss sein, man kann darüber hinweglesen. Zu dem
Thema fällt mir spontan viel ein, ich rieche, schmecke … erinnere mich. An ihre guten Suppen, die mit
den Mark-, Butter oder Pfefferklößchen. Gebrannte
Grieß- oder Leberknödelsuppe, Borschtsch. Eine
besondere Hühnersuppe, die auch bei Grippe half.
Sonntagssuppe mit gekochtem Rindfleisch und
köstlichen Eierschwämmchen, Bechamelkartoffeln.
Königsberger Klopse mit Kapernsoße! Gefüllte Paprika mit Reis. Dampfnudeln mit Vanillesoße!
Himmel und Erde, das waren Äpfel und Kartoffeln
mit Blutwurst. Hefe-, Kartoffel- oder Semmelklöße.
Pfannkuchen aller Art mit Apfelmus oder Kräuterquark. Stampfkartoffeln mit Buttersößchen. Mutter
kreierte abwechslungsreiche Aufläufe, einer hieß
Armer Ritter und bestand aus altem Weißbrot und
Milch, darüber Zucker und Zimt, das war gekonnte
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Resteverwertung. Mittwochs gab es oft Weckewerk,
ein scharf gewürztes nordhessisches Schlachte-Essen, das man im Kochgeschirr direkt aus der Metzgerei holte. Freitags stand Fisch auf dem Tisch.
Samstags gab es Eintopf oder dicke Suppen, bis
auf die mit den Erbsen habe ich sie geliebt - diese
Linsen-, Kartoffel-, Möhren- oder Grünebohnensuppen. Fleisch gab es nur sonntags. Ich denke an
Sauer-, Schmor- Hack- oder knusprigen Schweinebraten oder an Kasseler Rippenspeer, an Kohlrouladen. Auf Mutters Speiseplan spielte Gemüse eine
Hauptrolle, das großenteils aus dem Garten stammte. Schwarzwurzeln, Spinat, Rosenkohl, Fenchel,
gelbe Rüben, Kohlrabi, Wirsing … und noch viel
mehr, zum Beispiel selbst geschnittenes, eingestampftes und eingelegtes Sauerkraut. Gurken in
Salzlauge lagerten in Tontöpfen im Keller. Es gab
ein Konzert von Nachtischen! Ein köstlicher hieß
Kirschenmichel, ein anderer Mädchenerröten, das
war selbst angesetzte Dickmilch mit rotem Beerensaft vermischt. Und darauf viel Zucker-und-Zimt.
Vanillecremes. Schokoladenpuddings aus handgeriebener dunkler Schokolade, die Mutters Bruder
aus der Schweiz zu schicken pflegte. Die Apfelsinencreme nach einem alten Familienrezept. Man
kannte weniger Salatarten, aber immerhin denke ich
an Kopf-, Feld- und Endivien- Sellerie- und Fenchelsalat. Oder an den aus Gurken und selbstgezüchteten Tomaten, solchen mit dem richtigen Aroma. Auch unser Obst stammte aus dem Garten. Da
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wuchsen Stachel- und Johannesbeeren an Sträuchern. Mehrere Sorten Äpfel an Bäumen wie der
schon von mir gelobte Purpurrote Cousinot oder die
Goldparmäne, der Geheimrat Wesener. Ein Birnbaum hieß Gute Luise, ein anderer Klapps Liebling.
Es gab Pflaumen, Mirabellen, Pfirsiche. Aus den
Früchten kochte Mutter die besten Marmeladen und
Gelees. Aber auch Schnittlauch, Sauerampfer, Boretsch, Petersilie, die Zutaten für die „Grie’Soß’“
wuchsen im Garten. Weil wir viele Nahrungsmittel
selbst anbauten, lebten wir preiswert. Das war nötig,
denn das Haushaltsgeld war knapp bemesen.
Obwohl ich die internationale Küche liebe, behaupte
ich – die deutsche Küche meiner Kindheit war ausgewogen, vielseitig und schmackhaft. Ich bedaure,
dass sie in Vergessenheit geraten ist.
Wenn es montags in der Waschküche große Wäsche
gab, war die Hektik am größten. Zuerst musste der
Kessel mit Kohle beheizt, das Wasser erhitzt werden. Dann wurden die zuvor eingeweichten Bettlaken von Hand mit Hilfe eines Waschbrettes von
Hand in heißer Seifenlauge gerubbelt, gereinigt. Es
folgten mehrere Spülvorgänge, das Auswringen der
Wäschestücke, das anschließende Bleichen der Laken auf der Wiese. Das war Schwerarbeit; man kann
es sich heute kaum mehr vorstellen. Da die guten
Läden in der Innenstadt lagen, hatte unsere Mutter
alltäglich schwere Taschen von der Straßenbahn
nach Hause zu schleppen.
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Wenn sie von ihren Einkaufstouren zurückkam,
setzte sie sich erst einmal in ihren Lieblingssessel
und genehmigte sich ein Zigarettchen. Sie gönnte
sich ihre Ruhepausen, verzichtete auch niemals auf
den Schlaf nach dem Mittagessen.
Ohne ihre Haushaltsgehilfinnen wäre sie nicht über
die Runden gekommen. An einige von ihnen erinnere ich mich genau. Zur Zeit des Dritten Reiches
waren es Pflichtjahrmädchen. Volksschulabgängerinnen hatten ein Jahr im Haushalt „kinderreicher“
Familien abzudienen. Das war eine sinnvolle Maßnahme für alle Beteiligten. Nach dem kläglichen
Ende des Krieges kamen weibliche Haushaltslehrlinge, die neben Kost und Logis geringes Taschengeld erhielten und einmal wöchentlich die Berufsschule besuchten. Unsere Helferinnen bewohnten
das Mädchenzimmer, eine winzige, muffig riechende Mansarde mit starken Schrägen, in die grade mal
ein Bett, ein kleiner Schrank und eine wackelige
Kommode mit Waschgeschirr passten. Es ging ihnen nicht schlecht bei uns. Sie hatten geregelte Arbeitszeiten, saßen bei den Mahlzeiten mit am Tisch
und haben bei unserer Mutter auch ihre Kochkenntnisse erweitert und das Haushalten erlernt.
Irgendwie aber wurden sie auch ausgebeutet, so
empfand ich das als Gleichaltrige. Ich fühlte mich
solidarisch mit ihnen. Zwei der Mädchen hatten
Freunde, sie flüsterten mir ihre Liebesabenteuer ins
Ohr. Das interessierte mich sehr.
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Eine von ihnen hieß Edith. Sie „diente“ direkt nach
dem Krieg bei uns und ist mir besonders deutlich im
Gedächtnis geblieben. Zu dem Zeitpunkt waren die
Verhältnisse bei uns wie überall in Deutschland
chaotisch. Ganz in der Nähe, oben an der Schanzenallee, wo auch die Straßenbahn fuhr, residierten
„die Amis“, wohl genährte Männer im besten Alter,
gänzlich frauenlos. Das war für Edith eine verlockende Möglichkeit, ihr kärgliches Gehalt aufzubessern durch Einsatz der Reize, die ihr gegeben
waren. Nachmittags ging sie öfter fein gekleidet mit
mir an der Hand in die für deutsche Zivilisten
verbotene Amisiedlung. Im Parterre einer der beschlagnahmten Villen setzte sie mich ab mit dem
Auftrag, brav auf sie zu warten. Ich bekam eine
Tafel Hersheyschokolade in die Hand gedrückt. Die
durfte ich ganz alleine verspeisen. Das versüßte die
Wartezeit. Mir wurde nicht erklärt, welcher Beschäftigung sie einen Stock höher nachging. Das
war mir auch egal, ich hatte meine Schokolade.
Während ich da saß, liefen GIs in schicken olivfarbenen Uniformen mit schräg sitzenden Käppis an
mir vorbei. Sie sprachen mich lachend an, hello,
kleines Fraulein, und schenkten mir Wrighley-Chewinggums. Kaugummis waren für Nachkriegskinder eine begehrte Tauschwährung, ähnlich wie die
Bombensplitter noch kurz zuvor. Die jungen Soldaten gefielen mir, obwohl ich sie leider nicht verstand. Auf dem Heimweg, nach vollbrachter Tat,
trichterte mir Edith froh gestimmt ein, ich solle zu
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Hause nichts erzählen, sonst drohe Schokoladenentzug. Das hätte mich getroffen, diesen leckeren
Stoff hatte ich grade erst entdeckt, er war während
des Krieges Mangelware gewesen. Ich hielt also
dicht. Damals entstand wohl meine Sucht zu Kakaopulver in allen nur möglichen Verarbeitungen.
Mit Genehmigung meiner ahnungslosen Eltern
nahm mich Edith an Wochenenden manchmal über
Nacht mit zu ihrer Schwester, die in einem nahe
gelegenen Dorf wohnte. Auch sie war mit einem
Ami liiert. Der Freund von Ediths Schwester war ein
schwarzer Riese mit einem dröhnenden Lachen, das
ansteckend wirkte. Cigarettes, Chocolate, Corned
Beef, Fahrten im offenen Jeep zu Partys im Soldatenclub, der für normale Einheimische „off limits“
war, das tauschten die Frauen ein gegen Liebe auf
Zeit. Von diesem Handel profitierten beide Seiten.
Bei der Gelegenheit lernte ich meine ersten Brocken
Englisch, sleep well, my sweatheart, my sugar, my
honey. Oder shut up. Das heißt, halt’s Maul, erklärte mir Edith. Auch das war eine neue Vokabel
für mich.
Als Nachspeise gab es bei denen einmal Quittengelee aus dem Haushaltsvorrat meiner Familie.
Ich erkannte die Gläser wieder. Das ging zu weit.
Als ich dann noch entdeckte, dass man den gelben
Glibber mit silbernen Teelöffeln aß, die eindeutig
aus dem Elternhaus stammten, hörte meine Solidarität mit Edith schlagartig auf. Ich berichtete von
dem Vorfall zu Hause.
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Man durchsuchte ihr Zimmer und fand im Kleiderschrank einige Gegenstände, die uns gehörten. Viel
Silbernes war darunter. Sie rückte die Beute freiwillig wieder heraus und verschwand aus meinem
Blickfeld. Mir hat danach die Hersheyschokolade
gefehlt. Nicht die Edith.
Die Siedlung, in der ich aufwuchs, wurde auch Tintenviertel genannt, denn dort lebten von Anfang an
vorwiegend Familien mit „studierten“ Vätern, darunter viele Lehrer. Junge Familien mit Kindern zogen in die großen Häuser. Sie wollten bewusst
anders wohnen und leben als die Generation ihrer
Väter, die noch von der Kaiserzeit beeinflusst war.
Vor allem, was die Erziehung des Nachwuchses betraf. Die Bauhausarchitektur mit ihren auf Familien
zugeschnittenen Grundrissen kam diesem Wunsch
entgegen. Das war schon eine Aufbruchsstimmung
damals in den Dreißigern. Die Frauen übten durchgängig den Beruf Hausfrau und Mutter aus. Das
ergab sich von selbst bei solchem Kinderreichtum
und war unter diesen Bedingungen auch eine anspruchsvolle Ganztagsbeschäftigung. Es gab aber
einzelne unverheiratete Lehrerinnen in der Nachbarschaft. Unter anderen „mein Frollein“, sie hat mich
im ersten Schuljahr unterrichtet, ich habe sie geliebt. Auch „Tante Barbara“ wohnte nur zwei Straßen weiter, sie wurde später meine Lateinlehrerin.
Gute Nachbarschaftlichkeit war selbstverständlich.
Jeder kannte jeden. Wir Kinder konnten an vielen
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Haustüren klingeln und uns ein Butterbrot abholen.
Man redete miteinander - über den Zaun oder auf
der Straße und begrüßte sich eher mit Grüß Gott als
mit Heil Hitler. Unsere Mutter hatte nachmittags oft
Besuch. Man konnte bei ihr sein Herz ausschütten,
wie man so sagt. Auch schrullige Persönlichkeiten
waren wohlwollend integriert. An ausgrenzenden
Tratsch erinnere ich mich nicht.
Das beste Beispiel für das vorhandene Gemeinschaftsgefühl war der Sauerkrautverein. In den Hungerjahren kurz nach Kriegsende tauchte plötzlich
eine größere Menge von Weißkohlköpfen auf. Da
taten sich einige Frauen spontan zusammen, um den
Kohl gemeinsam klein zu schneiden, angeblich
nacktfüßig einzustampfen und zu Sauerkraut zu verarbeiten. Nach getaner Arbeit beschloss man, sich
auch weiterhin in regelmäßigen Abständen zu treffen, reihum in den verschiedenen Häusern oder
Wohnungen. Wenn die Frauen bei uns tagten, war
das Wohnzimmer für den Rest der Familie gesperrt.
Man teilte sich Kummer und Freude mit, tauschte
Rezepte aus, trank einen Kaffee, ein Weinchen zusammen, tratschte, lachte, strickte, rauchte miteinander. Diese fröhliche SKV genannte Frauengruppe
war ein fester Bestandteil unseres Lebens.
In meinem alten Kopf sind einige skurrile Siedlungsbewohner präsent, die ich nicht vergessen
möchte. Oben am Hang lebten zwei dürre ältere
Frauen, eineiige Zwillinge. Sie wurden „die Wölfe“
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genannt, denn eine von ihnen war mit einem Herrn
Wolf verheiratet. Welche, das war ungewiss. Sein
Spitzname war Doppeldecker. Ihre Oberlippenschnurrbärte hätten einem irischen Oberst Ehre gemacht. Es ging das Gerücht um, Herr Wolf sei bedauernswert, denn er würde von seinen herrischen
Frauen in jeder Hinsicht ausgebeutet. Diese alten
Schatullen waren klatschsüchtig und kinderfeindlich. In jaulendem Ton meckerten sie zweistimmig
über Alles und Jeden. Sie waren unbeliebt bei Kindern wie Erwachsenen. Eines Tages hingen Plakate
an Zäunen, auf denen der Satz zu lesen war: Tod
allen Wölfen. Die Täter blieben unerkannt.
Dann hauste in unserer direkten Nachbarschaft zeitweilig eine einsame Alte mit mehreren Katzen zur
Untermiete. Mit Argwohn wurde sie betrachtet,
denn mit ihr schien etwas nicht zu stimmen. Frau
Körber hielt keinen Kontakt zu anderen Menschen.
Sie trug lange schwarze Zipfelröcke, wirr um den
Kopf stehende grauweiße Haare und sah so aus, wie
man sich eine Hexe vorstellt. Ich mochte die merkwürdige Frau. Die von meinen Mitmenschen als
seltsam Betrachteten haben mich schon in jungen
Jahren angezogen. Nachbars Heulehacki durfte in
ihren spärlich möblierten, nach Katzenpisse stinkenden Zimmerchen frei umherspazieren. Sie erzählte mir, sie sei früher Tänzerin in einem Leipziger Varieté gewesen. Das glaubte ich sofort, denn
ich beobachtete einmal, wie sie früh am Morgen im
Garten tanzte. Dabei schmiss sie die Beine beacht19
lich hoch und gab den Blick frei auf einen alten
nackten Frauenleib. Später musste sie ausziehen,
weil sie für ihre Mitbewohner eine Zumutung war.
Das war ja auch richtig so. Ich habe ihr Verschwinden jedoch bedauert, wahrscheinlich als Einzige.
Hauptmieter dieses Nachbarhauses war die sympathische Familie Petersen. Einer ihrer Söhne wurde
„bester Freund“ meines jüngsten Bruders. Meine
Mutter hielt sich oft in ihrem Haus auf, um ein Likörchen zu süffeln, ein Zigarettchen zu rauchen,
Canasta zu spielen oder ein Schwätzchen zu halten.
Auch ich besuchte sie gerne, da war es gemütlich,
ich war herzlich aufgenommen. Natürlich schnäpselte und rauchte ich da ein wenig, selbst am hellen
Vormittag. Rauchen war damals gesellschaftlich akzeptiert. Man musste sich eher dann erklären, wenn
man es nicht tat.
Heute sind die meisten Kneipen frei von Tabakrauch. Das begrüße ich, denn das Rauchen ist umweltschädlich und ungesund. Allerdings geht damit
auch eine Kultur, eine Tradition, ein Lebensgenuss
zu Ende, der Menschen miteinander verbunden hat.
Die legendären Tabaksrunden des Alten Fritz’, die
Friedenspfeifen der Indianer, das Freundschaftszigarettchen. Was ist los, erzähl doch mal, lass uns
zusammen Eine rauchen. Nach familiären Einladungen zog man sich öfter in Vaters Studierzimmer
zurück. Dort stand ein aus China stammender so
genannter Rauchertisch beladen mit verschiedenen
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Zigaretten- und Zigarrensorten, die wurden feierlich
angeboten. Bevor das auserwählte Stück angezündet
wurde, hielt man es sich mit Kennerblick unter die
Nase, riech doch mal, wie dieser Tabak duftet. Das
war ein Ritual; für mich ist es eine gute Erinnerung.
Raucher beiderlei Geschlechts sieht man von Passanten belächelt bei jedem Wetter auf den Bürgersteigen vor ihren Banken oder Kneipen an Tischen
mit meist überfüllten Aschenbechern stehen. Sie inhalieren ihre verteufelten Glimmstängel dort hastig.
Die gesellschaftliche Ausgrenzung der immer noch
stattlichen Zahl Tabak Konsumierender wird keinen erzieherischen Effekt haben - und sie gefällt mir
nicht. Gehörte ich nicht selber vor ein paar Jahren
noch dazu? Und viele meiner Freunde und Verwandten ebenso? Wäre es nicht sinnvoller, die vom
Rauchen Abhängigen intensiver zu beraten? Und die
Tabakwerbung ganz zu verbieten? Das wäre aber
nicht im Sinne des Staates, dem sie als Steuerzahler
hoch willkommen. 2014 flossen 14 Milliarden Euro
durch den Verkauf von Tabakwaren in den Staatssäckel. Nach der Energiesteuer ist die Tabaksteuer
somit die ertragsreichste deutsche Verbrauchssteuer; diese Fakten sprechen für sich.
Ändern kann ich wenig. Ich schreibe es trotzdem
auf, denn es beschäftigt mich. Und als 1935 Geborene kenne ich gute Gründe dafür, dass viele Männer während des Krieges und kurz danach zu Rau21
chern wurden. Zigaretten waren ein Lebenselixier,
so habe ich es von meinen Brüdern und Schwägern
erfahren, die den Zweiten Weltkrieg unfreiwillig als
junge Soldaten erlebt haben. Für die Männer an der
Front waren sie eine Rückzugsmöglichkeit, bei blauem Dunst konnten sie sich dem Kriegsgeschehen für
ein paar Minuten entziehen. Und in der Nachkriegszeit waren amerikanische Zigaretten wie Lucky
Strike, Camel oder Pall Mall die einzige solide
Währung auf dem schwarzen Markt. Sie wurden sogar einzeln verkauft für bis zu zehn Reichsmark das
Stück. Wenn man sie nicht bezahlen konnte, drehte
man sie sich selber – notfalls mithilfe von Zeitungspapier und getrockneten Wiesenkräutern. So habe
ich es erlebt. Auch Frauen wurden in Kriegs- und
Nachkriegszeiten zu Raucherinnen, meine Mutter
zum Beispiel hatte es sich während der Hungerzeiten des 1. Weltkriegs angewöhnt und lebenslänglich
beibehalten.
Das soll gewiss kein Plädoyer für’s Rauchen sein.
Aber vielleicht hilft es, die Raucher und Raucherinnen meiner Generation besser zu verstehen. Sie hatten gute Gründe dafür. Helmut Schmidt, der allseits
verehrte kürzlich verstorbene deutsche Altkanzler
und nationale Ratgeber, hat unwidersprochen lebenslang auf offener Bühne geraucht, eine an der
anderen. Vielleicht hatte er es sich während des
letzten Krieges angewöhnt ...
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Zurück zu den früheren Siedlungsnachbarn. Zwei
Häuser links von uns In der Nähe wohnten zwei
Jungen mit sehr deutschen Namen, die mir ständig
als Vorbild vorgehalten wurden, weil sie pünktlich,
fleißig und pflichtbewusst waren, täglich stundenlang Geige übten und nur Einser nach Hause
brachten. Ich besaß leider keine ihrer tollen Tugenden. Wie ich sie gehasst habe, diese perfekten, stets
bierernst dreinschauenden, korrekt gescheitelten
Knaben! Sie erzählten mir einmal, sie würden später Studienräte und freuten sich jetzt schon auf die
Pensionszeit. Das kam mir absurd vor, ich hoffte,
ein abenteuerliches Leben vor mir zu haben und verschwendete keine Gedanken an meinen Lebensabend. Die beiden sind tatsächlich Pauker geworden, und als ich sie viel später einmal wiedertraf,
waren sie mir gar nicht mehr unsympathisch. Und
ich war selber Lehrerin geworden.
Dann fällt mir die anthroposophische Familie Gerk
ein. Deren zweiter Sohn Hanno war mein frühester
Kindheitsfreund. Ich hielt mich oft bei ihnen auf.
Die Mutter G. war eine zartgliedrige, schöne Frau,
die oft leidend war und sich auf dem Sofa ausruhte.
So sehe ich sie vor mir. Der Familienvater besaß
eine größere Firma, war wohl der einzige Kapitalist
in der Siedlung. Er fuhr, man höre und staune, in
den frühen Fünfzigern eine rote Borgward Isabella.
Cabrio, innen mit Leder ausgekleidet. Sensation,
niemand sonst besaß damals ein Auto in der Gegend. Nur mein Schwager Dieter, er besaß ein Vor23
kriegsmodell, das wie eine Gartenlaube aussah. Wir
pflegten vor der Gerkschen Garage auf einer ausgehängten Kellertüre Tischtennis zu spielen. Wenn der
Familienvater nach Hause kam, hupte er kurz. Wir
hoben die Platte zur Seite und spielten hinterher
unbelästigt weiter.
Schließlich darf ich meinen Vorkriegsfreund Sigurd
nicht vergessen. Er wohnte gegenüber von uns, war
von riesigem Wuchs, so erschien es mir, hatte tiefblaue Augen und blondes Kraushaar. Er war mein
großer Held. Ich betrachtete ihn zugleich als Bruderund als Vaterersatz. Wie oft bin ich bei dieser Familie zu Besuch gewesen, habe mit ihm zusammen
auf dem Sofa herumgetobt, er hat mir Schwabs
„Sagen des klassischen Altertums“ vorgelesen oder
ließ mich mit seiner Zinnsoldatenarmee spielen. Ich
durfte mich bei der Familie unbegrenzt an der
Blechdose mit den Weihnachtsplätzchen vom Vorjahr bedienen. Als er eingezogen wurde, hörte diese
Freundschaft schlagartig auf. Immer, wenn im Radio Soldatengesang erklang - so hell die Gläser
klingen, ein frohes Lied wir singen - dann sah ich
meinen Sigurd vor mir, alle marschierenden Soldaten trugen sein Gesicht.
Nicht alle Siedlungsbewohner waren jedoch kauzig
und liebenswert. Eine meiner Schwestern erzählte
mir von einer Familie K., die im Doppelhaus neben
unseren Großeltern gewohnt hat. Sie waren radikale
Nazis, man kam ihnen besser nicht zu nahe.
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Angeblich hat Herr K. einmal zu unserem Vater gesagt, wenn wir Braunen gesiegt haben, dann werde ich dafür sorgen, dass Sie einen Kopf kürzer gemacht werden. Dem Beispiel seines Parteigenossen
Göbbels folgend hat Herr K. sich, seine Frau, seine
Kinder und auch die Haushälterin Ende 1945 umgebracht. Ganz nazifrei war die Siedlung also nicht.
Diese Erkenntnis hat meine verklärten Erinnerungen
nachträglich zurechtgerückt.
Bis zum Tod unserer Eltern 1978, 79 bin ich regelmäßig nach Kassel gefahren, auch mit meinen jungen Töchtern; danach nur noch sporadisch. Als ich
1985 mit 50 mal wieder auf Besuch dort war und
den Geröderweg hoch schlenderte, rief plötzlich jemand meinen Namen. Sabine, bist du’s, komm näher. Da saßen inzwischen ergraute, mir aber noch
gut Bekannte gemütlich schwätzend bei Kaffee und
Kuchen im Garten beisammen. Sie baten mich ganz
selbstverständlich dazu. Es fühlte sich für mich so
an, als wäre ich zwischendurch gar nicht fort gewesen.
Einige Jahre danach feierte die Genossenschaft ihren 75. Geburtstag. Natürlich nahm ich teil und traf
auf viele meiner früheren Freunde. Sie waren alt
geworden, genau wie ich. Wir freuten uns über das
Wiedersehen, als wären wir eng miteinander verwandt. So habe ich es jedenfalls wahrgenommen.
Das ist unwiederholbar, beim hundertjährigen Siedlungsjubiläum bin ich mit Sicherheit nicht mehr
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dabei, da schaue ich mir die Radieschen schon von
unten an. Und die meisten meiner Freunde auch.
Man saß miteinander im Garten, redete, lachte und
erinnerte sich. Dann zog Jochen mit Kreide ein paar
Striche auf das Kopfsteinpflaster des Diedichborns.
Wir spielten nach mehr als einem halben Jahrhundert Pause wieder Völkerball mitten auf der Straße.
An der gleichen Stelle wie früher. Und ich konnte
immer noch gut fangen, aber schlecht werfen.
Jochen war der Älteste von Meiers, er hatte fünf
Schwestern und ist vor langer Zeit der Anführer
unserer Clique gewesen. Der Indianerhäuptling, und
ich war manchmal seine Squaw. An ihn erinnere ich
mich besonders deutlich. Er war mit mir gleichaltrig, nicht viel größer als ich, mittelblond gelockt und
hatte grüngrau gefleckte Augen. Wir gingen in die
gleiche Volksschule und wurden später miteinander
konfirmiert. Während dieses Jubiläums belegte er
mich mit Beschlag. Das gefiel mir, wir hatten so viel
zu erzählen. Erinnerungen tauchten auf an gemeinsam Erlebtes, an früher. Wir zählten Namen von
Kindern auf, die damals zu unserer Rasselbande gehört hatten. Da hatten wir zu tun, denn in fast jedem
der Häuser wohnten vier bis sechs Kinder. Das
Weißt-du-noch-Spiel wollte nicht enden.
Laut und phantasievoll haben wir damals gespielt,
meistens „am Eck“, aber auch in vielen der großen
Gärten oder im nahe gelegenen Wald. Räuber und
Gendarm, Indianer, Verstecken, jede Menge von
Laufspielen und Völkerball, Fußball, Schlagball.
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Bei schlechtem Wetter flüchteten wir in eins der
Familienwohnzimmer. Am liebsten spielten wir
Schule mit Jochen als Lehrer. In Meiers Garten
waren dann Stühle in Reih und Glied aufgestellt, es
gab sogar eine Tafel. Unser junger Lehrer hatte die
volle Autorität. Es verwundert nicht, dass er im späteren Leben Studienrat wurde. Das hat er sicher gut
gekonnt, weil früh geübt.
Unsere Lieblingsbeschäftigung war Streiche aushecken oder Nachbarn ärgern. Da gab es harmlose
Versionen wie Geldbörse mit einer Schnur verbinden und auf dem Bürgersteig auslegen. Wir saßen
im Gebüsch hinter dem Gartenzaun. Wenn sich der
Passant verstohlen bückte, um nach der Beute zu
greifen, zogen wir dieselbe blitzschnell weg – und
hielten uns den Bauch vor Lachen. Wir klebten auch
den Briefkastenschlitz von Herrn Bengen mit Uhu
zu oder äfften ihn nach, wenn er seine Hühner rief,
gooogogog, ihr Hihnerchen, gogogog, mit hoher
Fistelstimme. Hinter dem alten Pfarrer Stock, dem
Großvater der beiden vorbildlichen Knaben, liefen
wir her und imitierten ihn, wenn er würdevoll die
Straße entlangschritt, das Spazierstöckchen im Takt
dazu schwingend. Trotzdem hatten wir Respekt vor
dem alten Herrn, denn wir wussten, dass er sich mit
seinen weit über achtzig Jahren regelmäßig ins
Schwimmbad begab und dort Kopfsprünge vom
Dreimeterbrett hinlegte. Manchmal klingelten wir
bei alten Damen sogar während der Mittagszeit und
liefen anschließend weg. Diesen Trick kennt sicher
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heute noch jedes Kind. Nach bösen Streichen wie
Mülleimer umkippen, Feuerchen zündeln oder Obst
in Nachbars Garten klauen wurde man streng bestraft. Streichung des kärglichen Taschengeldes,
Einsperren im Kinderzimmer oder im Kohlenkeller.
Kohlenkellerkarzer war mir am liebsten, denn ich
konnte durch das Kellerfenster entwischen.
Im Gespräch mit meinen früheren Freunden tauchte
noch mehr gemeinsam Erlebtes auf. Zum Beispiel
die winterlichen Aktivitäten unserer Kindheit. Wir
waren uns sicher, dass es früher kälter war, öfter
geschneit hat als heute. Die Schneedecke breitete
sich jedenfalls oft bis in die Siedlung aus. Fast jedes
von uns Kindern hatte ein Paar alte Skier im Keller
von den eingezogenen Vätern oder Brüdern. Es
handelte sich um schwere, mehr als einsachtzig
lange Bretter aus Hickoryholz. Wir benutzten diese
aus heutiger Sicht vorsintflutlichen Geräte sowohl
zum Lang- als auch zum Abfahrtslauf. Als zehn
bis zwölfjährige Knirpse schnallten wir uns die Riesenskier mit den Lederbindungen an die alltäglichen
Winterstiefel und schlurften damit durch den Wald
zur Hessenschanze, da gab es eine kleine Abfahrt.
Mit Skistöcken, die fast so lang waren wie wir
selbst. Anspruchsvollere Hänge befanden sich weiter oben im Habichtswald, in der Nähe des Herkules, am Hohen Gras. Sind wir wirklich zu Fuß da
hoch gekraxelt, die schweren Bretter auf den Schultern? Ich meine mich daran zu erinnern.
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Manchmal fuhren wir auch mit der Straßenbahn bis
ins Druseltal, das weiß ich genau. Nach langem
Marsch mit den gekreuzten Skiern auf dem Buckel
oben angekommen, übten wir ein paar mal den
Hang hinunter zu gleiten mit vor allem den Pobakken als Bremshilfe und rutschten dann zurück in
unsere Siedlung. Da waren zahlreiche unpräparierte
Steilhänge zu bewältigen, viele Stürze vorprogrammiert. Wir fuhren recht breitbeinig und kannten
zwei Sorten von Schwüngen, mit deren Hilfe man
auch abbremsen konnte. Hießen sie nicht Kristiania
und Telemark? Wenn man dann noch die einfachen
Schnürstiefel bedenkt und die miserabel sitzenden
Lederbindungen, dann war das eine beachtliche
sportliche Leistung von uns Kindern. Obendrein waren unsere nicht wasserdichten Schuhe und Klamotten nach den Ausflügen fast immer klitschnass und
wir ziemlich durchgefroren.
Darüber haben wir nicht gemeckert. Zimperlich waren wir nicht, eher hart im Nehmen. Und eher zu
dünn als zu dick. Wir waren besser dran als die heutige Kindergeneration, die unter Bewegungsmangel
und Übergewicht leidet.
Als wir viele Jahre später Teenager geworden waren, flackerte das alte Versteckspiel mit neuem Reiz
noch einmal auf. Ich fand es aufregend, wenn der
eine oder andere Knabe ganz dicht hinter mir stand
und wir uns leicht berührten oder beschnüffelten.
Das waren erste kleine Flirts, nicht mehr, nicht we29
niger. Spannend war es auf jeden Fall. So wurden
wir miteinander groß, trotz des Krieges und so
mancher Entbehrungen in einem sicheren, behüteten
Umfeld.
Das Aufwachsen in dieser besonderen Siedlung war
ein Pluspunkt für meine Entwicklung. Ich weiß das
erst heute richtig zu schätzen.
Es zieht mich immer wieder in meine Geburtsstadt,
in die Siedlung. Da sieht es fast noch so aus wie vor
siebzig Jahren. Ich laufe durch die vertrauten Straßen und erinnere mich an Menschen, die früher dort
gelebt haben. Betrachte alte Vorübergehende genau
- in der Hoffnung, ein bekanntes Gesicht zu
entdecken. Gelegentlich gelingt mir das, dann freue
ich mich. Neugierig schaue ich in die bunt bepflanzten Gärten und bleibe lange und andächtig vor
meinem früheren Elternhaus stehen. Das sind Erinnerungen an eine glückliche Kindheit.
Mein Zuhause ist jedoch seit Jahrzehnten die lebendige Großstadt Frankfurt. Hier leben meine Kinder und Enkel, Freundinnen und Freunde, da bin ich
jetzt verwurzelt. Ich wohne gerne in Eckenheim,
diesem nördlichen Vorort der kleinsten Metropole
der Welt, die schon immer eine weltoffene Stadt
war. Lebens- und liebenswert für Menschen der unterschiedlichsten Nationen, Glaubensrichtungen und
Weltanschauungen, bewährt im toleranten Umgang
miteinander, das gefällt mir.
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Frankfurt, das am Main, ist im Laufe von nunmehr
siebenundfünfzig Jahren meine Heimat geworden.
Und schließlich bindet mich Familiengeschichte hier
an, meine Großväter waren engagierte Bürger dieser
Stadt vor einhundert Jahren. Sie haben das Kulturleben durchaus mitgeprägt damals, das ist so, wenn
man über einen langen Zeitraum ein Gymnasium
oder eine Kirchengemeinde leitet. Meine Mutter
wurde in Frankfurt geboren, beide Eltern haben hier
das Abitur abgelegt und studiert. Sie haben sich sogar kennen gelernt in einem Seminar an der 1914
gegründeten Goethe Universität.
Meine Bindungen an Frankfurt sind vielfältig. Ich
bin eine Frankfurterin. Aber ein wenig auch Kasselanerin; das bleibt.
Das Foto auf der nächsten Seite stammt aus dem
Jahr 1943 und zeigt zwei fröhliche Siedlungskinder
in sehr schlechten Zeiten, meinen jüngsten Bruder
und mich. Wir stehen auf der Eingangsterrasse, auf
der wir bei gutem Wetter frühstückten.
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Mein „kleiner Bruder“ wäre im vorvergangenen Jahr
75 Jahre alt geworden. Ich denke oft an ihn. Es ist gut,
zu wissen, dass meine Asche - wahrscheinlich recht
bald - neben seiner im Friedwald Reinhardswald
„ruhen“ wird, zu allen Jahreszeiten, bei Sturm und
Hagel, Schnee und Wind und Sonnenschein. Wir
haben die hohe schlanke Buche auf seine Anregung
hin ein Jahr vor seinem Tod gemeinsam ausgesucht.
Wenn ich an unsere gemeinsame Kindheit denke,
habe ich gelegentlich Gewissensbisse, weil mein Bruder mir mal gesagt hat, er habe als Kind manchmal
unter mir gelitten. Darüber hätte ich gerne mit ihm
gesprochen, es ergab sich aber nicht mehr. Jetzt rede
im Nachhinein mit ihm und sage, dass mir Leid tut,
was schief lief zwischen uns.
Du weißt ja, wie es damals war. Wir haben schlechte
Zeiten erlebt in den Kriegs- und Nachkriegsjahren mit
erschöpften Eltern. Und ich war als die vier Jahre
Ältere mit der „Beaufsichtigung des kleinen Bruders“
oft überfordert. Außerdem bekam ich viel von oben ab
und war zu jung, um zu begreifen, wie man mit diesem
Druck umgeht. Habe sicher Vieles an Dich weitergeleitet. Du wolltest dauernd mit mir spielen, das
verstehe ich. Ich war jedoch eine Leseratte, habe alles
Gedruckte verschlungen, das mir in die Pfoten geriet.
Robinson Crusoe und den Kampf um Rom hatte ich
mehrfach gelesen, und die Geschichten vom Nesthäkchen mochte ich nicht. Deshalb haben mich diese
verbotenen Bücher gereizt, die in Onkel Friedels
Bücherschrank standen. Vielleicht erinnerst du Dich,
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der war bei uns im Kinderzimmer abgestellt, solange der Onkel „im Kriege“ war. Du weißt auch, das
waren die im oberen Fach in der hinteren Reihe. Die
nicht jugendgeeigneten wie Goethes Römische Elegien, Bocaccios Decamerone. Romane von John Galsworthy oder unpassende Geschichten von Peter
Rosegger. Verstanden habe ich wenig. Damit Du mich
nicht vom Schmökern abhältst, habe ich das Hündchenspiel erfunden. Du warst der Hund und ich das
Frauchen. Du musstest natürlich gehorchen. Also
befahl ich, Hündchen, Platz oder mach Männchen
oder fass Futter. Das letztere hieß, besorge uns Brote
aus der Küche. Vielleicht hast Du das gar nicht als
schlimm wahrgenommen. Das ist es ja auch nicht
wirklich gewesen. Aber ich kann jene Art von Spielen
nicht vergessen, die für mich das Ziel hatten, in Ruhe
gelassen zu werden. Die Erinnerung an die Sache mit
dem Leiterwagen geht mir auch nicht aus dem Kopf.
Der Vater und wir beide haben irgendwo eine Fuhre
Mist geholt. Den steilen Geröderweg hoch habe ich
Euch ganz schön reingelegt. Ihr habt vorne schwer
schuften müssen, ich habe hinten laut gestöhnt „so
schwer“, dabei saß ich auf dem Bollerwagen und Ihr
musstet mich mitziehen. Das alles ohne jedes
schlechte Gewissen; ich empfand dabei diebische
Freude. Zur Rache hast Du mich dann bei den Eltern
verpetzt, wenn ich wieder mal nachts mit der Taschenlampe unter der Bettdecke gelesen habe. Na also.
Und das mit Deinen Spielsachen, die ich bei Wut auf
Dich in den Brunnen geschmissen habe, hat sich ja
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später geklärt. Nachdem Du mir gebeichtet hast, Du
habest das Gleiche mit meinem Lieblingsspielzeug
gemacht. Also eins zu eins. In Wahrheit meine ich,
dass es mit mir als böser Schwester nicht ganz so wild
war. Das würdest Du sicher auch sagen. Du weißt ja,
wir haben viele lustige Spiele mit ganz paritätischer
Rollenverteilung gekannt. „Ich bin der Teufel Auerhahahahn, ich will deine Seeeele hahahaben!“ heulten wir uns in den schauerlichsten Tönen in die
Ohren. Dann denke ich noch an das Schlagerspiel,
einer von uns ist in die Knie gesunken und hat anbetend und so kitschig wie möglich gesungen: „Schau
mich bitte nicht so an! Du weißt genau, ich kannnn
dir sonst nicht widerrstehhen!“ Verloren hatte, wer
zuerst lachen musste. In diesen Rollenspielen waren
wir beide sehr gut. Und erinnerst Du Dich daran, wie
wir kurz nach Kriegsende abwechselnd unseren
baltischen Untermieter durchs Schlüsselloch beobachtet haben, wenn er seine tägliche Dusche nahm?
Ständig auf der Hut vor dem Vater, der nebenan in
seinem Studierzimmer saß? Hätte er uns erwischt,
wären wir verhauen worden. Schließlich hatten wir
dann noch unsere Geheimsprache, in der wir uns
lebenslänglich unterhalten haben. Inspiriert von dem
Kinderbuch „Pu, der Bär“, „ch bns, Frkl!“, haben
wir beim Sprechen die Vokale weggelassen. Mn Ptr,
mn bmms, ch bns, bsss, das versteht keiner außer uns.
Außerdem, als Du alt und stark genug warst, haben
wir uns gelegentlich kräftig verkloppt. Und Du hast
mit zunehmendem Alter immer öfter gewonnen.
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Wir hatten beide keine ideale Kindheit, Du noch
weniger als ich. Du wurdest fast auf den Tag genau
zu Beginn des zweiten Weltkrieges geboren, unsere
Mutter war damals 45 Jahre alt. Mehr braucht man
dazu nicht zu sagen. Ich hatte wenigstens noch die
vier friedlichen Vorkriegsjahre und auch ein bisschen
jüngere und weniger überforderte Eltern. Über die
Eltern wollen wir uns aber beide nicht beschweren.
Wir wissen, sie waren 66 und 68 Jahre alt, als Du, ihr
jüngstes und sechstes Kind, das Abitur geschafft
hattest. Und dann kam noch unser Studium. Wie würde ich mich fühlen, wenn ich in dem Alter noch zwei
studierende Kinder gehabt, vier andere großgezogen
und zwei Weltkriege hinter mich gebracht hätte?
Würde ich nicht meutern und klagen, wo bleibt denn
meine eigene Freiheit, ein wenigstens etwas selbstbestimmtes Leben, bevor der Abgesang beginnt?
Dies und mehr konnte ich mit Dir nicht mehr besprechen. Das bedaure ich. Jetzt schicke ich meine Botschaft - im Angedenken an unseren Großvater - „in
den Äther“ und halte es entgegen jeder Vernunft für
möglich, dass Du mir zuhörst, mn lbs Bms:
“Quando corpus morietur, fac, ut animae donetur,
paradisi gloria!” Du kennst meine Vorliebe für die
lateinische Sprache. Dieser fromme Wunsch stammt
aus dem Stabat Mater Text in der Version von Haydn,
wie Du ja weißt. Ich gebe ihn Dir mit auf den Weg.
Also dann, Bruder. Bis demnächst.
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Der kranke Nachbar wunderbar
Wenn ich mich in die unbeschwerten Jahre vor
Beginn des zweiten Weltkrieges zurück versetze,
dann fällt mir spontan unser Nachbar Herr Rosenow ein. Ihn betrachtete ich damals als allerbesten
Freund. Eine dichte, immergrüne, für Erwachsene
unüberwindbare Stachelhecke grenzte seinen Garten gegen unseren ab. Als dünnes kleines Mädchen
fand ich jedoch leicht eine Gebüschöffnung, durch
die ich immer wieder schlüpfte, um ihn zu besuchen. Staunend beobachtete ich dann, wie er grub,
harkte, pflanzte oder jätete. Rosenow war ein großer, dicker Mann mit grauen Strubbelhaaren und
einem wilden Oberlippenschnauzbart, dessen Enden
lustig nach oben zipfelten, und er hatte grasgrüne
Augen. Seine undefinierbar dunklen Hosen, die kurz
über dem Knie fransig endeten, wurden durch
Hosenträger gehalten. Das ehemals weiße Hemd mit
den hoch gekrempelten Ärmeln hing meistens halb
aus der Hose heraus. Die Beine steckten in knöchelhohen, abgelatschten Stiefeln ohne Schnürbänder.
Ich habe ihn nur mit Spaten oder Rechen in den
Händen gesehen, er schien ununterbrochen seinen
Garten zu bearbeiten. Andere Leute fanden ihn etwas unheimlich. Aber er und ich, wir zwei haben
uns gemocht, das weiß ich, und er hat meine Gegenwart auch wohlwollend geduldet.
Um ihn herum war stets ein schwarzweiß gefleckter
Kater, der hieß Hermännchen.
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Eines Morgens fand ich dieses Tier an meiner
Durchschlüpfstelle ganz still mit geöffneten Augen
auf der Seite liegend. Ich versuchte, ihn zu streicheln, aber er fühlte sich seltsam starr und kalt an.
Meine Mutter kam hinzu und erklärte, das Hermännchen sei tot, sei jetzt im Katzenhimmel, ich
solle es nicht anfassen, es sei giftig. Einen Tag später wurde die Katze dicht an der Hecke von meinem
Rosenowfreund beigesetzt. Ich durfte an der Beerdigung teilnehmen, wir beide standen am Grab und
vergossen Tränen. Das war meine erste Begegnung
mit dem Tod. Sie hat mich tief beeindruckt, gedanklich beschäftigt. Etwas später wurde mein Rosenow
krank, er war nicht mehr im Garten anzutreffen.
Und schließlich teilte man mir mit, er komme nie
wieder, ich könne nicht mehr mit ihm reden, er sei
gestorben.
Diese Botschaft hat mich traurig gemacht und verwirrt. War mein Freund jetzt im Katzenhimmel bei
Hermännchen, der doch eigentlich dicht bei der
Hecke unter der Erde lag? Oder doch eher im
Menschenhimmel? Wie war das mit dem Totsein?
War mein Freund jetzt auch giftig? Ich stellte viele
Fragen, erhielt aber keine zufrieden stellenden Antworten. So nach und nach sind meine Gedanken an
den ersten „besten Freund“, meine Fragen nach dem
Tod verblasst.
Herr Rosenow hat mich mein ganzes Leben lang in
der Erinnerung begleitet. Er ist dann aufgetaucht,
wenn ich das Lied … der Mond ist aufgegangen …
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gesungen oder gehört habe, und das ist oft geschehen. Auch heute noch spielt es eine Rolle, es ist
nämlich das Lieblingsgutenachtlied meiner Enkel.
Wir singen es miteinander, wann immer sich die
Gelegenheit dazu ergibt.
Warum erinnert mich das Claudiuslied an Freund
Rosenow? Ich habe damals die Liedzeilen durcheinander gebracht, die erste Strophe endete für mich
immer mit „…und aus den Wiesen steiget, der
kranke Nachbar wunderbar“. Dieser kranke Nachbar
war und wird für mich immer „mein Rosenow“ sein.
Bei diesen Zeilen sehe ich ihn auch heute noch mit
Spaten in der rechten und Rechen in der linken
Hand selig lächelnd aus den nebeligen Wiesen gen
Himmel schweben. Für mich war das damals eine
gute Lösung, eine schlüssige Antwort auf meine
kindlichen, den Tod betreffenden Fragen. „Totsein“
hieß also, man erhebt sich irgendwie und verschwindet fröhlich nach oben in Richtung Paradies.
Wie tröstlich. Abschließend und zum besseren Verständnis der Geschichte die erste und letzte Strophe
dieses für mich schönsten deutschen Abendliedes:
Der Mond ist aufgegangen, die goldnen Sternlein
prangen, am Himmel hell und klar, der Wald steht
schwarz und schweiget, und aus den Wiesen steiget,
der weiße Nebel wunderbar.
So legt euch denn, ihr Brüder, in Gottes Namen
nieder, kalt weht der Abendhauch, verschon uns
Gott mit Strafen, und lass uns ruhig schlafen, und
unsern kranken Nachbarn auch.
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Mälchmann und Postlöffler
Es gab noch andere gute Freunde in jenen ersten
Lebensjahren, die in meinem Kopf sehr gegenwärtig
geblieben sind. Zum Beispiel Heini, den Mälchmann. Er zockelte werktäglich spät vormittags den
Diedichsborn hoch mit seinem dreirädrigen, vollgummibereiften Karren, auf dem zwei verbeulte mit
Milch gefüllte Blechkannen standen. Sobald die
Frühstückszeit vorüber war, spitzte ich meine Ohren. Vernahm ich dann seine Mälch! Mälch! Rufe,
war ich nicht mehr zu halten. Ich schnappte mir
unsere Milchkanne, weiß emailliert mit dunkelblauem Rand und rannte ihm entgegen. Meistens war
Heini dann schon umringt von ein paar Freundinnen und Freunden aus der Nachbarschaft. Zuerst
einmal gab es eine fröhliche Begrüßung. Den Jungs
verpasste er manchmal eine kleine Kopfnuss. Bevor
wir ihn seine Arbeit tun ließen, erwarteten wir eine
lustige Geschichte von ihm. Dann erst baten wir um
einmal Kanne voll, und er tauchte seinen Messbecher mehrmals in die bläulichweiß schimmernde
Milch ein. Nur bei schlechtem Wetter begaben wir
uns mit der jetzt schweren Fracht umgehend nach
Hause. Meistens blieben wir in seinem Schlepptau
mindestens bis zur nächsten Ecke, wo er erneut laut
schallend seine gute Milch anpries. An schönen Tagen dehnten wir das Mälchholen so lange aus, bis
wir den Ruf unserer jeweiligen Mütter vernahmen Haanno! Didiii! Sabiiine! Nach Hause kommen!
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Wenn das nicht half, läutete meine Mutter die
Kuhglocke, mit der sie uns auch zu den Mahlzeiten
zu rufen pflegte. Dann wusste ich, jetzt ist es Zeit,
sonst gibt’s Ärger.
Leider besitze ich kein Foto von meinem Freund
dem Mälchmann. Deshalb ein kurzer Steckbrief.
Heini war kein Ausbund an Schönheit. Das störte
uns aber nicht. Er war von kompaktem Körperbau
und deutlich kleiner als mein Vater. Vom Typ her
hätte er einen guten Schweijk auf der Bühne gegeben. Auf den breiten Schultern saß ein fast halsloser,
runder Kopf mit abstehenden Ohren, kräftiger Nase
und kleinen funkelnden Schweinsaugen. Sein Mund,
den er beim Lachen und Schwätzen oft weit öffnete,
wies Zahnlücken auf. Die rosige Glatze war von
einer Schirmmütze bedeckt, die wir Schlackenkappe nannten. Heinis Füße steckten in weiß beklekkerten Soldatenstiefeln, sie waren halb bedeckt von
den Beinen einer ausgeleierten Trainingshose. Das
ihn kennzeichnende Kleidungsstück war der blauweiß gestreifte kragenlose Kittel, über den eine grüne Schürze gebunden war. Über allem baumelte die
stets offen stehende Ledertasche für das Kleingeld,
das wir ihm abgezählt überreichten.
Ob er nun wirklich so ausgeschaut hat, sei dahin gestellt. Ich sehe ihn jedoch so vor mir, den Freund
aus früher Kindheit. Vor allem aber höre ich ihn rufen mit seiner lauten, hellen Stimme, die sich nach
oben oft überschlug: Mälch, Mälch! Der Mälchmann ist da!
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Er begleitete unser tägliches Leben bis Anfang
1943. Danach war die unbeschwerte Kindheit mit
Milchverkauf auf der Straße beendet, der große
Krieg hatte Kassel erreicht. Heini ist nie mehr aufgetaucht in unserer Siedlung; er soll eingezogen
worden und später gefallen sein. So hat es mir
meine Mutter erzählt, auch schon vor langer Zeit.
Außerdem erinnere ich mich an unseren Briefträger
Herrn Löffler. Wir Kinder nannten ihn Postlöffler.
Er war fast ein Familienmitglied, ein stattlicher,
großer Mann mit Bauch, über dem sich eine Weste
nebst goldener Uhrenkette spannte. Die dazugehörige Taschenuhr, die in seiner Hosentasche steckte, zog er mir zuliebe oft hervor und ließ den mit
Monogramm verzierten Deckel mit einem leisen
Plopp aufspringen. Ich legte sie an mein Ohr und
vernahm entzückt ihr leises Ticktack. Postlöffler
verwahrte auch eine Muschel in seiner Dienstjacke,
er machte uns weis, daraus könne man das Meer
rauschen hören. Seine postblaue Uniform und die
rot umrandete Mütze standen ihm. Dazu volle dunkle Haare, ein gepflegter Oberlippenbart und fröhliche Braunaugen, die durch golden eingefasste Brillengläser schauten. Auch von ihm habe ich ein genaues Bild vor Augen, für mich sah er so aus.
Im Gegensatz zu Heini war Postlöffler ein feiner
Herr. Meine Mutter und er siezten sich. Er kam spät
vormittags in unser Haus und brachte meistens viele Briefe mit. Auch solche aus fernen Ländern, denn
Mutter korrespondierte regelmäßig mit Freunden
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und Verwandten in der Schweiz, in England oder
Kanada. Bei einer gemeinsamen Tasse Kaffee und
einem Zigarettchen hat sie dem Postboten sicher so
manches erzählt, zum Beispiel, woher und von wem
denn nun dieser oder jener Brief stammte. Wir erfuhren von ihm dafür ein bisschen Tratsch aus der
Nachbarschaft. Postlöffler war bestens im Bild über
die familiären Verhältnisse der Siedlungsbewohner.
Während des Krieges wurde er eingezogen, tauchte
jedoch zu unserer Freude nach 1946 wieder auf.
Allerdings war er da in deutlich schlechterem Zustand, schien um Jahre gealtert. Von Bauch keine
Rede mehr, der optimistische Ausdruck seiner Augen war verschwunden. Die Haare waren ergraut
und hatten sich gelichtet. Er hatte am Russlandfeldzug teilgenommen und einige Jahre in Gefangenschaft verbracht. Seine Taschenuhr hatte er auf dem
Schwarzmarkt verkauft. Auch die Muschel war verschwunden, allerdings interessierte die mich auch
nicht mehr. In der Nachkriegszeit rundete sich der
Bauch unseres Postlöfflers wieder, auch seine Augen bekamen ihren alten Glanz zurück. Er blieb uns
als Briefträger und vertrauter Fastfreund bis zu seiner Pensionierung erhalten. Postlöffler ist als ganz
besonderer Mensch fest in meinen Kindheitserinnerungen verankert.
Einen vertrauten Postboten gibt es in unserem Leben
nicht mehr, heute verrichten ständig wechselnde
Männer oder Frauen diesen Job. Herr Löffler hingegen hat einen schönen Beruf ausgeübt.
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Und wie steht es mit den gelben Briefkästen, die für
jeden Bürger dieses Landes stets „fußläufig“ zu
erreichen sein sollten? Mehr als die Hälfte von
ihnen wurden abgeschraubt. Man muss die wenigen
übrig gebliebenen Exemplare mühsam suchen. Immer mehr Leute verständigen sich über E-Mail. Dieser Weg der schriftlichen Kommunikation ist ja
auch praktischer und schneller und durchaus spannend, das will ich nicht bestreiten. Ein handgeschriebener Brief jedoch, der durch die Auswahl des
Papiers, des Umschlags, ja sogar der Briefmarke,
vor allem aber durch die persönliche Note der
individuellen Schrift so viel über den Absender aussagt, löst bei mir immer noch mehr Freude aus. Ich
betrachte ihn als ein Geschenk. Menschen, die ich
mag, bekommen von mir handgeschriebenen Kunstpostkarten zum Geburtstag.
Mit einem Freund aus der Kindheit wechsele ich
lange Briefe mit Füller und Tinte. Ich genieße diese
aus der Mode gekommenene Form der Korrespondenz. Manchmal bin ich bestürzt darüber, dass
meine Schrift schon etwas ungelenk geworden ist,
weil auch ich die meisten meiner Briefe inzwischen
am Computer verfasse. Aber meckern hilft nichts.
Man muss sich anpassen, sonst verliert man den Anschluss. Die Zukunft gehört der Computertechnik. Ich habe verstanden und dazu gelernt, denn
ohne Word würde ich diese und andere Texte nicht
verfassen, das wäre mir zu mühsam.
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Mittagsschläfchen auf der Chaiselongue
Zu den Zeiten, als meine Familie mich wegen ständigen Plärrens Heulehacki nannte, musste ich regelmäßig nach dem Mittagessen Bettruhe halten. Wie
die meisten kleinen Kinder mochte ich das überhaupt nicht. Die Alternative hieß Mittagsschläfchen
beim Vater. Manchmal lud er mich dazu ein; das
gefiel mir. Ernst ruhte in seinem Studierzimmer auf
der Chaiselongue. Schon alleine dieses fremdartige
Wort klang wie Musik in meinen Ohren. Jenes
besondere Sofa war keineswegs ein ansehnliches
oder bequemes Möbel. Es war schmal und wölbte
sich in der Mitte, denn die Sprungfeder war defekt.
Heutzutage wäre es längst auf dem Sperrmüll gelandet.
Meistens lag er schon da, wenn ich mich zu ihm
schlich. Sakko, Taschenuhr und Schuhe waren abgelegt, sein Schlips war gelockert, der oberste Hemdknopf geöffnet. Vater hatte sich unter der dunkelbraunen Häkeldecke ausgestreckt, die ein Geschenk
von Großmutter Marie war und deshalb als besonders wertvoll galt. Ernsts Brille hing vorne auf der
Nase, er war in ein Buch vertieft. Wenn ich kam,
unterbrach er sein Lesen und klopfte einladend auf
die rechte Seite seines Sofas, da hatte er ein Plätzchen für mich freigehalten. Ich krabbelte auf meinen
Stammplatz dicht an der Wand und schmiegte meinen Kopf in seine Armbeuge. Dort lag ich stocksteif, denn ich wollte ihn nicht stören.
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Meine Nase, meine Augen hatten indes viel zu tun,
ich schnupperte mit Genuss die vertraute Geruchsmischung aus Tabak und Mottenpulver, die seiner
Kleidung und der Sofadecke entstieg. Meine Augen
gingen dabei auf den geometrischen Pfaden des
kleinen Perserteppichs spazieren, der direkt neben
mir an der Wand hing. Die Wanderung begann
immer bei einer unserem Dackel Bimbo ähnelnden
Figur und führte mich durch die verschlungenen
Muster des Teppichs, die ich mir als Gassen einer
geheimnisvollen Stadt vorstellte. In meiner Phantasie fanden dort wilde Verfolgungsjagden statt.
Außerdem beobachtete ich andächtig die zarten,
bläulichweißen Rauchschwaden, die sich durch den
Raum schwebend ständig veränderten. Sie stammten
von der vormittags geschmauchten Zigarre, mischten sich mit den unzähligen Staubpartikeln und
sahen am schönsten aus, wenn einfallende Sonnenstrahlen sie in goldene Bahnen zerlegten.
Nach kurzer Zeit pflegte Vater einzuschlafen; das
war ja auch der Zweck der Übung. Seine Brille
rutschte auf die Weste, das Buch fiel zu Boden. Aus
seinem leicht geöffneten Mund ertönten leise
Schnarchgeräusche. Beim Ausatmen zitterte die
Oberlippe. Bei dieser Gelegenheit betrachtete ich
den sonst so weit Entfernten genau aus der Nähe.
Studierte mit Interesse die mir zugewandte rötliche
Ohrmuschel, aus deren Mitte ein Haarbüschelchen
ragte. Registrierte die spärlichen blondgrauen Wimpern und das sehr lange einzelne Weißhaar, das
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widerspenstig aus der rechten Augenbraue herausspross. In schlafendem Zustand sah er gar nicht
mehr unnahbar aus. Ich hätte gerne über seine Backe
gestreichelt, das traute ich mich aber nicht.
Bald war auch ich eingeschlummert. Während der
Zeit der gemeinsamen Mittagsschläfchen war mir
mein Vater nahe, ich denke gerne daran zurück.
So sahen die Mittagsschläfchen
im eigenen Gitterbett aus:
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Weihnachten, früher
Das Christfest ist die wichtigste Familienfeier des
Jahres gewesen. Unser Siedlungshaus mit den zahlreichen kleinen Zimmern füllte sich um diese Zeit
immer wieder, auch, nachdem die vier älteren Geschwister selber Familien gegründet hatten und teilweise in anderen Städten lebten. Brüder, Schwestern, Schwägerinnen, Schwäger; in frühen Zeiten
auch Großeltern, Großtante, später die ersten Enkel,
alle fanden sich ein, um am 24. und 25. Dezember
gemeinsam zu feiern.
Eigentlich begann dieses große Fest schon mit dem
ersten Advent. Von dem Zeitpunkt an wurde gestrickt, gehäkelt, geschnitten, geklebt, gesägt und gehämmert. Es entstanden Söckchen, Fäustlinge,
Schals, Strohsterne, Untersetzer, Topflappen oder
Scherenschnitte. Jeder bereitete für Jeden Geschenke vor unter Einsatz von bescheidenem Material,
denn das Geld war knapp. Man lernte Gedichte auswendig. In den Schränken und Kommoden sammelten sich liebevoll verpackte Päckchen an und
verstärkten unsere Neugier. Viele Nachmittage waren ausgefüllt. Abends wurden die Kerzen des Adventskranzes angezündet; man spielte, sang, war
fröhlich miteinander. Die Plätzchenkisten füllten
sich, der Weihnachtsstollen wurde vorbereitet. So
jedenfalls berichtet es mir mein Gedächtnis, das die
Vergangenheit mit zunehmendem Alter immer verklärter sieht.
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Der Höhepunkt war der Heilige Abend. Dieser Tag
lief nach einem bestimmten Ritual ab. Vormittags
war’s langweilig, keiner hatte Zeit, alle rannten,
Türen knallten, wir Kinder fanden keine Beachtung.
Das Wohnzimmer durfte von uns „Kleinen“ nicht
mehr betreten werden, dort wurde der deckenhohe,
meist selbst gefällte Weihnachtsbaum aufgestellt
und vom Vater geschmückt. Die alten Krippenfiguren fanden ihren Platz unter dem Baum auf einem
Stück Moos, die Gabentische wurden beladen und
mit Servietten abgedeckt.
Währenddessen wurde in der Küche unter Mutters
Regie die Gans gerupft und vorbereitet, die wir am
ersten Feiertag mittags verspeisen würden.
Am Vierundzwanzigsten mittags gab es „Dick’
Supp“ aus Gänseklein. Frühnachmittags habe ich
Botengänge erledigt, Geschenke in der näheren
Umgebung verteilt mit Gruß von den Eltern.
Aber um Fünfe war’s dann so weit. Im Musikzimmer war der Kaffeetisch gedeckt mit Plätzchen
und Christstollen, das letzte Mal der Adventskranz
dazu. Aufregung bei Martin und mir wegen der Bescherung, auf die wir sehnsüchtig warteten. Große
Erlösung, wenn sich die Glastüre zum Wohnzimmer
öffnete, das Glöckchen erklang und wir Kinder uns
endlich, endlich Hand in Hand in das verwandelte
Wohnzimmer begeben konnten. Wir ließen uns auf
dem Boden vor dem Baum nieder, den Blick scheinbar fromm auf die Krippe, die Gedanken ganz auf
den Gabentisch gerichtet.
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Nun las der Vater mit getragener Stimme die Weihnachtsgeschichte vor. Bei dem Satz und sie war
schwanger wurde ich stets verlegen. Wenn ich nämlich auf der Straße schwangeren Frauen auf den
Bauch schaute und nach der Ursache dieser Rundung fragte, erhielt ich keine plausible Antwort
außer – schau da nicht hin, das gehört sich nicht.
Schwanger sein war demnach etwas leicht Anrüchiges. Konnte Maria wirklich überaus heilig und
gleichzeitig schwanger sein? Dazu hätte ich gerne
Fragen gestellt. Das wagte ich aber nicht.
Anschließend wurde „Stille Nacht“ gesungen, danach die alten und neueren Weihnachtslieder mehrstimmig, denn die musikalische Restfamilie hatte
auch im Wohnzimmer Platz genommen. Hirtenlieder mochte ich am liebsten, besonders das von Hermann Claudius: „Wisst ihr noch, wie es geschehen,
immer werden wir’s erzählen, wie das Wunder einst
geschehen, mitten in der dunklen Nacht.“ Ich kenne
heute noch alle Strophen. Danach durften endlich
die Tische gestürmt werden. Große Freude. Worüber? Kinder von heute würden lachen. Für mich immer die gleiche Puppenstube mit den von Bruder
Reinhard geschreinerten Biedermeiermöbelchen.
Antike Püppchen und eine schöne altmodische Küche mit viel Geschirr gehörten auch dazu. Für den
Bruder wurde der Kaufmannsladen aufgebaut. Beide Teile gehörten uns bis zum 7. Januar des neuen
Jahres und wurden dann bis zum nächsten Christfest
wieder auf dem Dachboden verstaut. Bis dahin
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spielte und handelte man intensiv unter Einbeziehung der Freunde, Freundinnen aus der Nachbarschaft. Außerdem gab es einen Teller mit Plätzchen
und jeweils ein Geschenk, zum Beispiel ein Buch
oder ein notwendiges Kleidungsstück. Damit fühlten
wir uns reich beschenkt.
Während der Bescherung ging es hoch und laut her.
Man bedankte, umarmte, freute sich und lachte in
allen Tonlagen. Nachdem die erste Hektik abgeklungen war, wurden anspruchsvollere Sätze mehrstimmig gesungen, meistens auswendig.
Es folgte ein bescheidenes, wohl typisch deutsches
Heiligabendessen – Heringssalat und Würstchen mit
Kartoffelsalat. Spät abends besuchten Große und
Kleine miteinander die Christmette in der nahe gelegenen klassizistischen Kirche und nahmen an dem
vorwiegend musikalisch gestalteten Gottesdienst
teil. Selbstverständlich war die Kirche bis auf
den letzten Emporenplatz besetzt. Wir sangen laut
schallend gemeinsam mit der Gemeinde, ohne ins
Gesangbuch zu schauen.
Zu den Zeiten, als die Familie noch vollständig und
zahlreich versammelt war, zogen wir nach dem Gottesdienst als kleiner Chor zu einigen Siedlungshäusern, in denen Freunde wohnten. Wir brachten
ihnen ein vielstimmiges weihnachtsmusikalisches
Ständchen dar. Zur Belohnung gab’s ein paar Plätzchen oder einen Schnaps.
Der Heilige Abend endete auch für die Kinder weit
nach Mitternacht.
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Am ersten Feiertag war für mich das Weihnachtszimmer selber am spannendsten. Einmal stand ich
frühmorgens vor der Familie auf und schlich mich
nach unten. Genoss es, dort ganz alleine zu sein.
Zündete eigenmächtig zwei, drei Kerzen an. Setzte
mich auf Mutters Sofa, legte die Beine auf den
Tisch. Stopfte Minnaplätzchen und für die Großen
reservierte mit Schnaps gefüllte Pralinen in mich
hinein. Schnupperte den Weihnachtszimmerduft, ein
Gemisch aus Tannenharz, abgebrannten Kerzen,
Zimt, Zigarettenrauch. Ich tat Verbotenes, benahm
mich unflätig, so hätte es mein Vater ausgedrückt.
Das erzeugte die angenehmsten Weihnachtsgefühle
in mir. Nach Beseitigung aller Spuren dieser Völlerei verzog ich mich zufrieden ins Kinderzimmer
und kroch noch mal für kurze Zeit ins warme Bett.
Mittags dann das große Gänseessen gemeinsam mit
selten weniger als zehn Personen, eingeleitet durch
ein besonders ausführliches Gebet. Die Gans war
nie groß genug für uns alle. Deshalb waren die
Fleischstücke auf den Tellern bescheiden. Es sollte
auch noch etwas für den nächsten Tag übrig bleiben.
Man begnügte sich vorwiegend mit dem Gehackten, das den Gänsebauch füllte.
Nach dem Mahl wanderte das fast fleischlose Federvieh in den Fliegenschrank, der im Keller stand.
Martin und ich machten uns manchmal zum späteren Zeitpunkt heimlich dort unten im Halbdunkel
über die Restgans her und verspeisten gierig alle
Teile, die wir in die Pfoten bekommen konnten. Den
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Geschmack der hastig abgerissenen Gänsemuskelstreifen habe ich immer noch auf der Zunge. Am
nächsten Tag war nur noch das blanke Gerippe des
Weihnachtsvogels vorzufinden, die Familie wunderte sich. Wir beiden „Kleinen“ aber waren zufrieden. Wir hatten uns unseren Teil geholt.
Als Nachtisch gab es meistens die berühmte Apfelsinencreme nach einem alten Familienrezept. Die
wird auch heute noch bei einigen Nachkommen zu
gehobenen Anlässen hergestellt und verspeist. Auch
ich bereite sie öfter zu, wenn wir Gäste haben.
Immer mit Herzklopfen – gelingt sie mir so gut wie
damals meiner Mutter?
Der Rest des Weihnachtsfestes lief eher locker ab.
Es wäre jedoch weder an festlichen noch an normalen Tagen denkbar gewesen, dass jeder sich
abends in der Küche eine Stulle schmiert. So wie
das heute üblich ist.
Dreimal täglich hat man miteinander am Tisch
gesessen und die Mahlzeit eingenommen unter
Beachtung der vereinbarten Regeln. Auch, wenn ich
das damals oft lästig fand - es hat uns miteinander
verbunden.
Ergänzend möchte ich sagen, dass ich hier an die
Jahre bis 1942 und die Nachkriegsjahre ab 1945
denke. Zwischendurch war die Familie kriegsbedingt voneinander getrennt, ich selber habe von
1943 bis 1945 zwei traurige und einsame Jahre „in
Sicherheit“ verbracht.
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Wenn ich an die Weihnachtsfeste meiner Kindheit
zurückdenke, habe ich heute noch ein Gefühl von
Geborgenheit und Wärme, von Familie, wie man
sie sich wünscht. Die Wirklichkeit wird banaler
und aus der Sicht meiner Geschwister anders ausgesehen haben. Aber dieses Schriftstück - ist meine Geschichte.
Der Klang des Äthers –
oder lieber Großvater Friedrich
Das eindrucksvollste Radio meiner Kindheit war ein
dunkel glänzendes Löwe Gerät aus Mahagoniholz.
Es stand im Studierzimmer meines Großvaters
Friedrich auf einem Rollwagen neben dem Schreibtisch. Nachdem ich dieses Wundergerät 1940 während der gemeinsamen Weihnachtsfeier kennen gelernt hatte, wurde es der Hauptgrund für meine
Besuche im Großelternhaus.
Dieser sprechende, funkelnde und piepende Holzkasten faszinierte mich. Großvater erlaubte mir, sein
wertvolles Radio alleine zu bedienen. Das machte
mich stolz. Nach dem Einschalten wartete ich ungeduldig, bis die Röhren warm waren. Erst dann vernahm ich jenes Gleichaltrigen bekannte vielstimmige auf- und abschwellende Surren und Piepen,
das er mir mit den Worten erklärte: Hör mal, Sabinchen, so klingt der Äther.
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Danach konnte ich auf der hell erleuchteten Skala
einen Zeiger hin und her flitzen lassen. Sobald
dieser auf einen Sender gestoßen war, wurden Stimmen oder Musik hörbar und das magische grüne
Auge leuchtete auf.
Wenn ich das Haus Hutekamp 9 betreten hatte,
durfte ich aber nicht sofort in den ersten Stock zum
Großvater, um mit meinem Löwe zu spielen. Zuvor
musste ich mich mit Knicks bei meiner stets
schwarz gekleideten Großmutter Marie melden. Guten Tag, wie geht es dir heute.
Außerdem wusste ich, dass der Friedrich mich nicht
nur am Radio spielen lassen würde. Zuerst einmal
musste ich mir langwierige Geschichten über historische Figuren anhören. Meistens handelten sie von
einem gewissen Alten Fritz, der mich damals noch
wenig interessierte. Bemerkenswert fand ich lediglich eine Abbildung, die jenen krummen alten Mann
mit dreieckigem Hut und Krückstock zeigte. Umgeben war er von hochbeinigen sehr dünnen Hunden
mit winzigen Köpfen, die unserem Bimbo mit seinen kurzen Haxen überhaupt nicht ähnelten. Waren
das wirklich Hunde? fragte ich mich. (Mein Verhältnis zum großen Preußenköng hat sich mittlerweile
grundlegend verändert, ich bewundere ihn sehr und
wünsche mir im Nachhinein, ich hätte Großvaters
Erzählungen damals aufmerksamer gelauscht …)
Später kam Großvater öfter auf Charles Dickens zu
sprechen, da war ich ganz bei der Sache. Für das
Schicksal von David Copperfield oder Little Dorrit
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begann ich mich bald so zu begeistern, dass ich den
Löwen mit dem magischen Auge links liegen ließ.
Nach dem Tod der Großeltern wechselte das besondere Radio 1953 in unseren Haushalt über. Es stand
noch einige weitere Jahre bei uns im Musikzimmer
und machte es mir möglich, heimlich AFN, American Forces Network, zu hören. Immer von 14 bis 15
Uhr, wenn die Eltern Mittagsschläfchen hielten.
Ganz leise gestellt, das Ohr direkt an den Lautsprechern. Das Radio selbst war jetzt nicht mehr wichtig, nur die Musik, die daraus erklang. Mir war im
Elternhaus ausschließlich die Klassik vermittelt
worden. Die beschwingten Klänge von Glenn Miller
oder überhaupt der Jazz waren eine neue Welt für
mich, die mich begeisterte. Ella Fitzgerald, Duke
Ellington, Louis Armstrong, Benny Goodman eröffneten mir eine neue Klangwelt, sie wurden meine
Helden.
Sobald ich ein paar Jahre später erfuhr, dass es moderne Radioapparate mit integriertem Plattenspieler
zu kaufen gibt, auf dem man die Musik seiner Wahl
jeder Zeit ohne elterliche Zensur hören kann, hatte
ich nur noch ein Ziel. So ein Teil wollte ich selber
besitzen, koste es, was es wolle. Noch in Oberprima
fing ich an, Geld zu verdienen, erteilte Nachhilfe
sogar im mir verhassten Fach Mathematik für eine
Mark die Stunde. Dafür begab ich mich mit meinem
Uraltrad in weit entfernte Kasseler Stadtteile. Zum
Zeitpunkt meines Abiturs hatte ich 55 Mark gespart,
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die einzig und alleine zum Kauf eines guten Radioplattenspielers reserviert waren.
Inzwischen war von der Firma BRAUN ein meiner
Wunschvorstellung entsprechendes Gerät mit völlig
neuem Design entwickelt worden. Es ähnelte dem
Großvaterradio so wenig wie Dackel Bimbo den
Windhunden des preußischen Königs. Klare Form,
helle Farben, funktional. Das war der SK4 oder
Schneewittchensarg. So wurde er wegen seines Plexiglasdeckels genannt.
Zum ersten Mal sah ich ihn bei einem guten Freund,
er hatte ihn zum Geburtstag bekommen. Es war
Liebe auf den ersten Blick. Danach betrachtete ich
alle herkömmlichen Radios und auch Großvaters
Löwegerät mit Verachtung, sie stammten aus der
alten Zeit, die mir überholt zu sein schien.
Die 150 fehlenden Mark verdiente ich mir im April
1957 während der ersten Semesterferien meines
Lebens. Vierzehn Tage lang jobte ich für eine Mark
fünfzig pro Stunde im Kasseler Woolworth, verkaufte in der Schmuckabteilung Eheringe, Broschen
oder Ketten aus schlechtem Material für Pfennigbeträge. Bei Reklamationen, die ständig stattfanden,
war ich großzügig und verteilte neue Ware, ohne zu
fragen, ohne dass es auffiel. Fünfzig Stunden in der
Woche verbrachte ich in dem nach Käse, Schweiß
und Lederartikeln riechenden Verkaufsraum dieser
Billigladenkette und hielt so lange durch, bis sich
das benötigte Geld im Sparschwein befand. In der
halbstündigen Mittagspause hörte ich mir interes57
siert die deftigen Tratschgeschichten meiner Kolleginnen an, deren Hauptthema die Männer waren.
Mit einer klugen jungen Verkäuferin befreundete
ich mich und erfuhr, dass sie gerne das Gymnasium
besucht hätte. Das erlaubten ihre Eltern aber nur
dem jüngeren Bruder, dessen Studium sie durch ihre
Arbeit mitfinanzierte.
Den damaligen Woolworth Abteilungsleiter habe
ich in unangenehmer Erinnerung. Er war ein öliger
Typ mit Oberlippenbart und falschem Brillantring
am kleinen Finger. Für sein privates Vergnügen
suchte er sich öfter die hübschen unter den Verkäuferinnen aus. Bald war er auch hinter mir her. Zu
meiner großen Empörung kniff er mich eines Morgens in den Po und meinte, Mädchen, hol mir mal
die Abendpost, kannst auch bei Feierabend etwas
früher heimgehen. Nach einem erneuten Annäherungsversuch gab ich ihm kräftig eins auf die Pfoten. Das hatte Folgen, mir wurde gekündigt. Mich
störte das nicht, ich hatte das Ziel meiner Wünsche
erreicht, das Geld war verdient. Bald prangte das ersehnte Gerät bei uns zu Hause mitten auf dem Flügel. Ich war maßlos stolz auf mein selbstverdientes
Glanzstück. Leider teilte Vater meine Begeisterung
nicht, hässlich, meinte er, das sieht nicht aus wie ein
Radio.
Der SK4 zog mit mir nach Jugenheim zum Studium.
Ich habe gute Stunden mit meinem Schneewittchensarg erlebt, auf dem Barockmusik besonders klar
erklang.
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Ende der Leseprobe von:
Der Klang des Äthers - Gedenken. Gedanken.
Sab Rosenboom
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