THEMEN DER ZEIT FRÜHE NUTZENBEWERTUNG Transparenz in der klinischen Forschung Das AMNOG, primär zur Eindämmung steigender Arzneimittelkosten geschaffen, hat eine erfreuliche Nebenwirkung: Es bringt zahlreiche unveröffentlichte Studiendaten ans Licht. as Problem ist bekannt: Viele klinische Studiendaten werden selektiv oder überhaupt nicht veröffentlicht, unser Bild von den Studienergebnissen ist daher verzerrt (1, 2). Herkömmliche, öffentlich verfügbare Quellen, etwa Artikel in wissenschaftlichen Zeitschriften, Studienregistereinträge oder nicht vertrauliche Unterlagen von Zulassungsbehörden, enthalten oft nicht ausreichende Informationen, um klinische Studien solide bewerten zu können (3–7). Klinische Studienberichte, die bei Zulassungsbehörden im Rahmen der Arzneimittelzulassung eingereicht werden, können hier Abhilfe schaffen: Ihr hoher Informationsgehalt ermöglicht eine umfassende Studienbewertung und eine ausgewogene Einschätzung des Nutzens von Arzneimitteln (6–8). D Daten aus Studienberichten kommen ans Licht : Ca Foto hoto ckP nSto Seit Inkrafttreten des Arzneimittelmarktneuordnungsgesetzes (AMNOG) am 1. Januar 2011 ist in Deutschland eine Bewertung des Zusatznutzens neuer Arzneimittel gegenüber einer festgelegten „zweckmäßigen Vergleichstherapie“ gesetzlich vorgeschrieben (9–11). Die Bewertung erfolgt auf der Grundlage von Hersteller-Dossiers, die eine systematische Darstellung aller verfügbaren klinischen Studien zu den jeweiligen Arzneimitteln enthalten müssen – auch der unpublizierten. Zuständig für das Verfahren ist der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA), der in der Regel das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) mit der Bewertung beauftragt. Der Zusatznutzen muss primär auf der Basis patientenrelevanter Endpunkte nachgewiesen werden. Zudem bezieht sich die Dossierbewertung auf die Patienten, für die Deutsches Ärzteblatt | Jg. 112 | Heft 11 | 13. März 2015 THEMEN DER ZEIT das neue Arzneimittel gemäß der Fachinformation zugelassen ist. Diese Patientenpopulation umfasst entweder die Gesamtpopulation, die in den Zulassungsstudien untersucht wurde, oder spezifische Subpopulationen, die in der Fachinformation definiert werden („zugelassene Subpopulationen“). Die Dossierbewertung wird zusammen mit den Hauptteilen des Dossiers im Internet veröffentlicht (www.iqwig. de, www.g-ba.de). Nach dem anschließenden Stellungnahmeverfahren beschließt der G-BA über den Zusatznutzen und liefert dem Spitzenverband Bund der Krankenkassen (GKV-Spitzenverband) damit eine Informationsbasis für Preisverhandlungen mit dem Hersteller. Dass die veröffentlichten Dossierbewertungen alle relevanten Informationen zu den untersuchten Studien enthalten, auch Daten aus zuvor unpublizierten Studienberichten, ist ein Novum: Früher wurden solche Daten nur sporadisch bekannt. In einer jüngst im British Medical Journal veröffentlichten Analyse haben Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des IQWiG nun untersucht, wie groß der Informationsgewinn aus den AMNOG-Dokumenten – IQWiG-Dossierbewertungen und Hersteller-Dossiers – tatsächlich ist. Verglichen wurden diese mit Zeitschriftenartikeln, Studienregistereinträgen und den „European Public Assessment Reports“ (EPAR) der Europäischen Zulassungsbehörde EMA, die die Evidenz zu neuen Arzneimitteln zusammenfassen (12). Für 15 Dossiers mit insgesamt 22 Studien prüften die Autoren, wie vollständig Studienmethodik (etwa die Randomisierung) und Studienergebnisse (zum Beispiel patientenrelevante Endpunkte) in den Quellen beschrieben wurden. Insbesondere bei den Studienergebnissen war die Diskrepanz beträchtlich: In den Fällen, in denen die gesamte Studienpopulation relevant war, beschrieben die AMNOG-Dokumente 89 Prozent der Ergebnisse vollständig, verglichen mit 52 Prozent in den anderen Quellen. In jenen Fäl- len, in denen zugelassene Subpopulationen betrachtet werden mussten, war der Unterschied noch größer: In den AMNOG-Dokumenten waren 71 Prozent der Informationen vollständig enthalten, in den anderen Dokumenten dagegen nur elf Prozent. Herkömmliche Quellen liefern also bei weitem nicht alle wichtigen Informationen zu neuen Arzneimitteln, insbesondere zu patientenrelevanten Endpunkten in zugelassenen Subpopulationen. Überraschenderweise gilt das auch für die EPAR, die öffentlich verfügbaren Kerndokumente der EMA zu neuen Arzneimitteln. Das primäre Ziel des AMNOG war es, „die rasant steigenden Arzneimittelausgaben der gesetzlichen Krankenkassen einzudämmen“ (13). Das Gesetz wirkt aber weit über dieses Ziel hinaus: Keine andere öffentlich verfügbare Quelle bietet derzeit mehr Informationen zu den Vor- und Nachteilen von neuen Arzneimitteln. Somit sind AMNOG-Dokumente auch eine wichtige neue Quelle für Therapieentscheidungen von Ärzten und Patienten. Harmonisierung nicht auf Kosten der Transparenz AMNOG-Dokumente werden nur auszugsweise ins Englische übersetzt und sind für internationale Wissenschaftler somit von begrenztem Wert. Unter Anpassung an die jeweiligen nationalen Gegebenheiten könnte das AMNOG jedoch anderen Ländern als Modell für die Veröffentlichung klinischer Studiendaten dienen. Derzeit werden in Europa „Joint Assessments“ diskutiert, Bewertungen von medizinischen Interventionen, die von mehreren HealthTechnology-Assessment-(HTA-) Agenturen gemeinsam durchgeführt werden – etwa im Rahmen des europäischen Netzwerks EUnetHTA (14). Eine Voraussetzung für valide Schlussfolgerungen aus derartigen Bewertungen ist die Entwicklung solider einheitlicher Bewertungsmethoden. Dabei darf das Transparenzniveau, das durch das AMNOG erreicht wurde, keinesfalls Deutsches Ärzteblatt | Jg. 112 | Heft 11 | 13. März 2015 abgesenkt werden: Die Bewertungen müssen auf einer möglichst vollständigen Evidenzbasis erfolgen, also unter Verwendung von Daten aus klinischen Studienberichten zu allen relevanten Studien – auch unpublizierten. Darüber hinaus muss diese Datengrundlage – wie bei der frühen Nutzenbewertung gemäß AMNOG – vollständig öffentlich verfügbar sein. Auch bei der EMA stehen die Zeichen auf Transparenz Nicht nur in Deutschland, sondern auch in der EU gibt es einen Durchbruch, der zahlreiche Informationen ans Licht bringen wird: die EMA-Richtlinie zur Veröffentlichung von klinischen Studiendaten (15), der zufolge künftig große Teile der klinischen Studienberichte veröffentlicht werden. Auch wenn Details, wie etwa das Ausmaß von Schwärzungen in den Berichten, noch unklar sind, ist diese neue Politik der EMA als Meilenstein zu werten. Allerdings gilt die Regelung voraussichtlich nur für Studienberichte zu neuen Medikamenten, was den Vergleich von neuen und etablierten Therapien erschwert. Mit dem AMNOG wurde eine nie dagewesene Transparenz in der klinischen Forschung erzielt, die so solidere Entscheidungen über den Einsatz neuer Arzneimittel ermöglicht. Durch diesen Zugewinn an Informationen können sich auch Wissenschaftler, Ärzte und Patienten ein besseres Bild von den Vorund Nachteilen neuer Arzneimittel machen. Dies zeigt die aktuelle Analyse des IQWiG. Dieses Modell sollte auch auf andere Formen der Nutzenbewertung übertragen werden, etwa auf Bewertungen nicht medikamentöser Verfahren, bei denen es nach wie vor große Informa▄ tionsdefizite gibt. Natalie McGauran, Dr. rer. nat. Andrea Kamphuis, Dr. rer. nat. Beate Wieseler Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen @ Literatur im Internet: www.aerzteblatt.de/lit1115 oder über QR-Code A 473 THEMEN DER ZEIT LITERATURVERZEICHNIS ZU HEFT 11/2015: FRÜHE NUTZENBEWERTUNG Transparenz in der klinischen Forschung Das AMNOG, primär zur Eindämmung steigender Arzneimittelkosten geschaffen, hat eine erfreuliche Nebenwirkung: Es bringt zahlreiche unveröffentlichte Studiendaten ans Licht. LITERATUR 1. Song F, Parekh S, Hooper L, et al.: Dissemination and publication of research findings: an updated review of related biases. Health Technol Assess 2010; 14(8): 1–220. 2. Dwan K, Gamble C, Williamson PR, Kirkham JJ, Reporting Bias G: Systematic review of the empirical evidence of study publication bias and outcome reporting bias: an updated review. PLoS One 2013; 8(7): e66844. 3. Vale CL, Tierney JF, Burdett S: Can trial quality be reliably assessed from published reports of cancer trials: evaluation of risk of bias assessments in systematic reviews. BMJ 2013; 346: f1798. 4. Riveros C, Dechartres A, Perrodeau E, Haneef R, Boutron I, Ravaud P: Timing and completeness of trial results posted at ClinicalTrials.gov and published in journals. PLoS Med 2013; 10(12): e1001566; discussion e1001566. 5. Barbui C, Baschirotto C, Cipriani A: EMA must improve the quality of its clinical trial reports. BMJ 2011; 342: d2291. 6. Wieseler B, Kerekes MF, Vervoelgyi V, McGauran N, Kaiser T: Impact of document type on reporting quality of clinical drug trials: a comparison of registry reports, clinical study reports, and journal publications. BMJ 2012; 344: d8141. 7. Wieseler B, Wolfram N, McGauran N, et al.: Completeness of reporting of patientrelevant clinical trial outcomes: comparison of unpublished clinical study reports with publicly available data. PLoS Med 2013; 10(10): e1001526. 8. Doshi P, Jefferson T: Clinical study reports of randomised controlled trials: an exploratory review of previously confidential industry reports. BMJ Open 2013; 3: e002496. 9. Bundesministerium für Gesundheit: Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes in der gesetzlichen Krankenversicherung (Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz – AMNOG). Bundesgesetzblatt Teil 1 2010; (67): 2262–77. A3 10. Sozialgesetzbuch (SGB V): gesetzliche Krankenversicherung; § 35a SGB V Bewertung des Nutzens von Arzneimitteln mit neuen Wirkstoffen. http://www.geset ze-im-internet.de/sgb_5/__35a.html (last accessed on 11 February 2015). 11. Bundesminister für Gesundheit: Verordnung über die Nutzenbewertung von Arzneimitteln nach § 35a Absatz 1 SGB V für Erstattungsvereinbarungen nach § 130b SGB V (Arzneimittel-Nutzenbewertungsverordnung – AM-NutzenV). Bundesgesetzblatt Teil 1 2010; (68): 2324–8. 12. Köhler M, Haag S, Biester K, et al.: Information on new drugs at market entry: retrospective analysis of health technology assessment reports versus regulatory reports, journal publications, and registry reports. BMJ 2015; 350: h796 13. Bundesministerium für Gesundheit: Das Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes (AMNOG). http://www.bmg.bund. de/glossarbegriffe/a/das-gesetz-zur-neuordnung-des-arzneimittelmarktes-amnog.html (last accessed on 20 January 2015). 14. EUnetHTA: About us. http://www.eunethta. eu/about-us (last accessed on 12 January 2015). 15. European Medicines Agency: Publication of clinical reports: EMA adopts landmark policy to take effect on 1 January 2015. http://www.ema.europa.eu/ema/index. jsp?curl=pages/news_and_events/ news/2014/10/news_detail_002181.jsp&mid=WC0b01ac05800 4d5c1 (last accessed on 11 February 2015). Deutsches Ärzteblatt | Jg. 112 | Heft 11 | 13. März 2015
© Copyright 2024 ExpyDoc