«Nicht nur die reichen Araber kommen in unsere Spitäler»

Auflage: 173887
Gewicht: "Mittlere" Story
30. Dezember 2015
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«Nicht nur die reichen Araber kommen in unsere
Spitäler»
Der Chefarzt Marius Keel sagt, die Golfstaaten hätten kein
besonders gutes Gesundheitswesen. Bürger könnten sich auf
Staatskosten im Ausland operieren lassen.
Mit Marius Keel sprach Jürg Rohrer
Sie kennen das Gesundheitssystem im arabischen Raum, weil Sie seit sieben
Jahren jährlich zweimal eine Woche in Kuwait operieren und in der
Fortbildung aktiv sind. Verstehen Sie, warum der Vater des Emirs seinen
Beinbruch nicht in Katar operieren lässt, sondern in die Schweiz fliegt?
Ich kenne die Umstände selbstverständlich nicht, insbesondere nicht die Art und
Schwere der Verletzung.
Erstaunt es Sie zumindest, dass er sich nicht in einem eigenen Spital
behandeln lässt? Diese Frage beschäftigt sogar die Leute in Katar, wenn man
die Kommentare in den «Doha News» liest.
Dass man schwierigere Eingriffe im Ausland vornehmen lässt, ist im arabischen Raum
verbreitet. Aber anders, als bei uns viele meinen, tut das nicht nur die Oberschicht. In
Ländern wie Kuwait, Saudiarabien oder Katar gibt es sogenannte Medical Boards, die
über Operationen und Behandlungen im Ausland entscheiden. Diese Stellen stehen
allen Staatsbürgern offen, und alles bezahlt der Staat.
Warum genügen dafür nicht die eigenen Spitäler?
Für die heiklen Eingriffe sind die Ärzte und das Personal zu wenig gut ausgebildet.
Ohnehin sind die wenigsten Ärzte Einheimische. In den öffentlichen Spitälern sind es
oft Ägypter, in den privaten auch Europäer. Man kann vielleicht sagen, das letzte
Vertrauen in die eigenen Spitäler fehlt. Wenn man die Chance für ein europäisches
oder amerikanisches Spital erhält, packt man sie auch.
Hat es genügend Spitäler?
Das schon. Nur wechseln die guten Ärzte gern in die privaten Spitäler, wo sie viel
mehr verdienen. Ein anderes Problem ist die Hitze: Im Sommer wird es dort 40 bis 50
Grad heiss. Die Reichen verbringen diese Monate gern in Europa oder anderen
kühleren Ländern. Auch viele Ärzte tun das; viele haben Wohnungen in Europa. Das
stärkt das Vertrauen in die Gesundheitsversorgung vor Ort natürlich nicht.
Was halten Sie vom Medizinstudium im arabischen Raum?
Vor allem die Weiterbildung ist nicht gut strukturiert. Nach dem Grundstudium und der
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Vor allem die Weiterbildung ist nicht gut strukturiert. Nach dem Grundstudium und der
Weiterbildung absolvieren die arabischen Jungärzte meistens eine zweijährige
Fellowship in England, den USA oder Kanada, wo es für sie - und gegen Geld reservierte Plätze hat. Wenn sie dann in ihre Heimat zurückkehren, haben sie in ihrem
Spezialfach noch nicht die grosse Erfahrung vor allem für komplexe Eingriffe. Und sie
haben in ihrem Spital oft auch keinen erfahrenen Fachmann vor sich.
Was ist die Ursache für dieses strukturelle Defizit in der Weiterbildung der
Ärzte?
Das ist komplex und von Land zu Land verschieden. In Kuwait ist ein Problem der
häufige Wechsel im Ministerium. Zudem besteht eine relativ flache Hierarchie im
Spital, wohl mit ärztlichem Direktor, aber sehr autonomen Spezialisten. Diese sind
zudem stark an der privatärztlichen Tätigkeit interessiert. Dadurch fehlt der Wille an
einer geordneten Weiter- und Fortbildung. In Kuwait wurde deshalb für die
Unfallversorgung ein deutsches Arztteam im einzigen öffentlichen Orthopädiespital
integriert, wo immer wieder Spezialisten wechselnd für ein paar Wochen aus
Deutschland eingeflogen werden. Doch dies hilft auch nicht für die eigene Weiter- und
Fortbildung, da die Kontinuität für ein Teaching fehlt.
Sind die Menschen dort eigentlich versichert?
Das Gesundheitssystem ist frei zugänglich; man zahlt keine Steuern und keine
Krankenkassenprämien. Die Behandlung ist gratis. Wenn allerdings ein Ausländer
Folgekosten verursacht, beispielsweise mit einer Hüftprothese nach einem Hüftbruch,
muss er das Implantat selber bezahlen. Es ist wichtig zu wissen, dass nicht nur die
reichen Araber in unsere Spitäler kommen, sondern dass alle Staatsbürger über das
Medical Board je nach Komplexität des medizinischen Problems diese Möglichkeit
haben.
Marius Keel
Der Chefarzt Traumatologie und stellvertretende Klinikdirektor im Inselspital ist auch
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Chefarzt Orthopädie im Berner Tiefenau-Spital und Konsiliarius am Traumazentrum
Hirslanden Zürich.
© Tages-Anzeiger
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