Spitäler sind einfache Ziele für Cyberkriminelle

Schweiz
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28. Februar 2016 | sonntagszeitung.ch
Spitäler sind einfache Ziele
für Cyberkriminelle
Angreifer erpressen Lösegelder mit Patientendaten. Schweizer Krankenhäuser haben die Gefahr noch nicht erkannt
Barnaby Skinner
Zürich Man erwartete den vermeint­
lichen Wartungstechniker schon, als
er sich mit seinem Handwerkerköf­
ferchen der Marke Lexmark unter fal­
schem Namen am Empfang melde­
te. Ivan Bütler h
­ atte sich vorher tele­
fonisch beim Empfang eines Spitals
in der Deutschschweiz gemeldet. Aus
Sicherheitsgründen darf der Betrieb
nicht näher umschrieben werden.
Der 46-Jährige gab an, er werde
um 10 Uhr vorbeikommen, um
einen Drucker zu warten. Die vor­
beieilenden Ärzte schenkten dem
Mann im Gang keine Beachtung, der
sich an einer Druckerrück­seite zu
schaffen machte und das Internetka­
bel in sein Notebook steckte. Wenig
später hatte Bütler die Kontrolle über
alle Gerätschaften des Spitals. Dar­
unter eine Herzlungenmaschine. Ein
Tastendruck hätte für Patienten fa­
tale Folgen haben können.
Doch der Techniker fasste nichts
an. Sein Job war erledigt. Im Auftrag
der Spitalleitung lotete er verdeckt
aus, wie gut das interne Kliniknetz
geschützt ist. Bütler ist ein Penetra­
tionstester der Compass Security AG
aus Jona SG.
Was sich so anhört wie die Episode
einer TV-Serie, wird für Spitäler zur
Realität. Lange kümmerten sich ITTechniker wenig um die Sicherheits­
lücken der internen Netzwerke. Pe­
netrationstester Bütler sagt, dass es
ihm in 95 Prozent der Fälle gelinge,
unbemerkt in Systeme einzudrin­
gen. Manchmal muss man nicht ein­
mal vor Ort sein, sondern schafft es
via Internet. Die Studie «Gefährdung
Schwei­zer Spitäler gegenüber Cybe­
rangriffen» zeigte letzten Herbst,
dass jedes 7. Spital grosse Sicherheits­
lücken aufweise. Der Autor der Stu­
die, Elektroingenieur Martin Darms,
geht davon aus, dass sich bis ­heute
nichts geändert habe.
Erpresser fordern 3,7 Millionen
Franken in Bitcoin vom Hospital
«Was gibt es für Cyberkriminelle bei
uns zu holen?», sagen sich die Spitä­
ler wohl. Eine ganze Menge, wie
neue Fälle in den USA und in
Deutschland zeigen.
So wurde kürzlich das Hollywood
Presbyterian Medical Center in Los
Angeles Opfer von Cyberkriminel­
len. Als die Ärzte des Luxus­spitals
morgens an ihrem PC die Gesund­
heitsdaten ihrer Patienten aufrufen
wollten, wurden sie von einer Mit­
teilung begrüsst: «Wir haben Patien­
tendaten verschlüsselt. Überweisen
Sie 9000 Bitcoin auf folgendes Kon­
to, wenn Sie sie wiedersehen wol­
len.» Bitcoin ist eine verschlüsselte
virtuelle Währung, die sich nicht zu­
rückverfolgen lässt. 9000 digitale
Münzen sind umgerechnet 3,7 Mil­
lionen Franken.
Die Spitalleitung zahlte. Sie gab
zwar an, nur 17 000 Franken über­
wiesen zu haben. Doch dass ihre ITTechnik geschlampt hatte, konnte
sie nicht mehr wegreden. Ungeklärt
ist, ob die Erpresser ein Virus ins Sys­
tem eingeschleust hatten oder wie
Penetrationstester Bütler durch die
Eingangstüre spaziert waren.
Ähnliches erlebten kurz darauf
zwei Spitäler in Deutschland: Cyber­
kriminelle nahmen Mitte Feb­ruar
mit dem Krypto-Trojaner Locky Pati­
entendaten des Neusser Lukaskran­
kenhauses bei Düsseldorf als Geisel.
Genauso im Klinikum Arns­berg bei
Dortmund. Auch hier poppten auf
Computerbildschirmen Lösegeldfor­
derungen auf. Die Spitäler fuhren
alle Systeme herun­ter und überga­
ben die Datenträger der Polizei. Ge­
rätschaften wie Herzlungenmaschi­
nen wurden vom Netz getrennt. Wäh­
rend Tagen muss­
ten Ärzte und
­Assistenten wieder wie früher auf
Stift und Zettel zurückgreifen, um zu
kommunizieren.
Diese Fälle und das simple Vor­
gehen von Penetrationstestern wie
Ivan Bütler, die interne Netzwerke
von Spitälern knacken können, rüt­
teln die Gesundheitsbranche wach.
Noch sind keine Meldungen über
Fälle in der Schweiz eingegangen.
Auf Anfrage spielen die Spitäler die
Bedeutung der Angriffe im Ausland
herunter. Das Universitätsspital Ba­
sel schrieb: «Wir arbeiten stetig an
der Überprüfung und Erweiterung
der Sicherheitssysteme.» Und Zürich:
«IT-Sicherheit war immer ein wich­
tiges Thema und wird es – verstärkt
durch diese Vorfälle – auch bleiben.»
Spitäler gehören zur kritischen
Infrastruktur der Schweiz
Doch zwischen den Zeilen ist zu spü­
ren, dass dem Thema bisher weni­
ger Gewicht eingeräumt wurde, als
man es vielleicht tun sollte. Das Ber­
ner Inselspital sagte: «Solche Vorfäl­
le werden die Aware­ness der Mitar­
beitenden zum Thema ICT-Sicher­
heit zusätzlich verbessern.» Ähnlich
diplomatisch formuliert es Max
Klaus, stellvertretender Leiter Mel­
de- und Analysestelle Informations­
sicherung des Bundes (Melani):
«Dass die Zusammenarbeit mit dem
Gesundheitssektor bisher nicht so
eng wie mit anderen Sektoren war,
hängt damit zusammen, dass hier
nicht die gleiche Sensibilität für das
Thema herrscht wie andernorts.»
Melani führt ein geschlossenes
Informationsportal, an das sich Un­
ternehmen mit kritischer Infrastruk­
tur von nationaler Bedeutung an­
schliessen können. Wie viele der 289
Krankenhäuser und Spitalkliniken
dabei sind, mochte Klaus nicht ver­
raten. Sie dürften an e­ iner Hand ab­
zuzählen sein. Das Amt organisiert
zudem für Unternehmen aus dem Fi­
nanz-, Energie- und Tele­comsektor
Treffen, wo sich Experten über neues­
te Abwehrmetho­den unterhalten.
Doch Spitäler, die als kritische Infra­
struktur des Landes gelten, haben
sich noch nie zu einem Meeting
durchgerun­gen. «Die Bereitschaft zu
Round Tables muss bei allen
Beteiligten vorhanden sein», sagt
­
Klaus. Aus Patientensicht bleibt zu
hoffen, dass sich diese Bereitschaft
bald entwickelt.
Statt übereinander zu sprechen, reden sie jetzt miteinander
Jüdische und muslimische Dachverbände wollen gemeinsame Essen und Diskussionsrunden durchführen
Zürich Juden und Muslime spre­
chen oft übereinander, aber nur
selten miteinander. Anders in der
Schweiz: Eine gemeinsame Ar­
beitsgruppe setzt sich dafür ein,
dass die Glaubensgemeinschaften
aufeinander zugehen. Geplant sind
niederschwellige Angebote wie ge­
meinsame Essen oder Diskussions­
runden. Der erste Event soll die­
ses Frühjahr in Zürich starten. Wei­
tere Veranstaltungen sollen folgen.
Hinter der sechsköpfigen Ar­
beitsgruppe stehen die jüdischen
und muslimischen Dachverbände.
Auf der Seite der Juden der Schwei­
zerische Israelitische Gemeinde­
bund (SIG) und die Plattform der
liberalen Juden der Schweiz (PLJS).
Bei den Muslimen die Föderation
Islamischer Dachorganisationen
(Fids) und die Koordination Isla­
mischer Organisationen Schweiz
(Kios). «Ziel sollte es sein, von den
Dachverbänden bis zur Basis ge­
genseitiges Vertrauen zu fördern,
um Vorurteile und Missverständ­
nisse abzubauen. Zudem sollte auf­
gezeigt werden, dass Juden und
Muslime zwar verschiedene reli­
giöse Sensibilitäten haben, diese
aber in keiner Weise zu einem
friedlichen Zusammenleben in Wi­
derspruch stehen», sagt Jonathan
Kreutner, SIG-Generalsekretär.
Dem pflichtet Pascal Gemperli
vom Fids bei.
Noëmi Knoch, die in der Ar­
beitsgruppe tätig ist, sagt: «In mei­
nem jüdischen Umfeld stelle ich
fest, dass man wenig über Musli­
me weiss, es fehlen Begegnungs­
möglichkeiten. Dadurch entstehen
Missverständnisse und Vorurtei­
le.» Genährt würden diese auch
durch die oft pauschalisierende Be­
richterstattung in den Medien, sagt
die 22-jährige Germanistikstuden­
tin. Ihre Kollegin Ümran Bektas
sagt, dass es Muslime gebe, die
noch nie mit einer Jüdin g­ esprochen
hätten. Umgekehrt sei es dasselbe.
Es gebe in der Schweiz zu wenige
Gelegenheiten, an denen sich die
Vertreter der unterschiedlichen
Glaubensgemeinschaften austau­
schen könnten. Die Unkenntnis über­
einander führe dazu, dass manche
Gläubige Konflikte im Ausland auf
die Schweiz projizierten. «Viele
Muslime meiden in der Schweiz
die J­ uden, weil sie mit der israeli­
schen Nahostpolitik nicht einver­
standen sind», sagt ­Bektas. «Doch
was kann der Jude in der Schweiz
für die israelische Nahostpolitik?»,
fragt die Kinderpsychologin.
Bektas und Knoch erhoffen sich,
dass diejenigen Muslime und Ju­
den aufeinander zugehen, die bis­
lang den Kontakt gescheut haben.
Das solle vor allem mit der Unter­
stützung der Dachverbände ge­
schehen. «Wenn angesehene Ima­
me oder Rabbiner unsere Veran­
staltungen unterstützen, legitimie­
ren sie die Teilnahme von Gemein­
demitgliedern. So können wir Be­
rührungsängste abbauen», sagt
Knoch. Auch könnten Juden und
Muslime realisieren, dass ihre Ge­
meinschaften so unterschiedlich
nicht seien. Neben Parallelen zwi­
schen Koran und Tora gebe es auch
ähnliche Essenstraditionen, sagt
Noëmi Knoch. Ganz besonders,
sagen beide, verbinde die gemein­
same Erfahrung, einer Minderheit
anzugehören: als Einzige in der
Klasse kein Schweinefleisch essen,
wegen Feiertagen als Einzige nicht
in die Schule gehen zu können.
«Die gemeinsame Erfahrung des
Andersseins kann sehr stark
zusammen­schweissen», sagt Bek­
tas, deren beste Freundin zu KantiZeiten eine orthodoxe Jüdin war.
Jüdin Noëmi Knoch, Muslima Ümran Bektas: Gemeinsame Erfahrung des Andersseins
Foto: Joseph Khakshouri
Simon Widmer