WIRTSCHAFT UND POLITIK Abstimmungen zur Spitallandschaft im Kanton St.Gallen stehen bevor Was Ärzte von den St.Galler Spitalvorlagen halten Ende November entscheiden die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger Robert Stadler Leiter Kommunikation / Stv. Direktor IHK Wie viele und welche öffentlichen Spitäler des Kantons St.Gallen bei sechs Vorlagen über die künftige Spitallandschaft. Obwohl es sich um wichtige und kostspielige gesundheitspolitische Weichenstellungen für die nächsten Generationen handelt, standen bisher fast nur bauliche Aspekte im Vordergrund. Viele aus der Ärzteschaft kritisieren die Spitalstrategie der Regierung jedoch scharf. Aus guten Gründen, wie unsere Befragung zeigt. HAUSÄRZTE sollen wo im Kanton stehen? Die Antworten man ganz klar von vier auf zwei Spitäler reduzieren. Aktuell werden für den Um- bzw. auf diese Fragen müssten sich aus den medizinischen und gesellschaftlichen Entwicklungen ableiten. Müssten. Dass dies zumindest im Kanton St.Gallen nicht der Fall ist, zeigte In der Region Rheintal bis Rorschach müsste Dr. med. Roman Würth, Widnau den Neubau der vier Spitäler 395 Millionen Franken veranschlagt. Die Erstellung zweier grösserer Spitäler käme günstiger. Zudem wä- sich spätestens bei der Behandlung der Bau- ren die Unterhaltskosten geringer, die Stand- vorlagen im Kantonsrat. Regierung und Par- orte optimaler, und das medizinische Angebot lament wollen mit Investitionen von (vorerst) könnte erweitert werden. Damit würde auch rund einer Milliarde Franken die alten Spitalinfrastrukturen auf Vordermann bringen. Mit der von der IHK St.Gallen-Appenzell in Auftrag gegebenen Studie «H Futura» sollte der Fokus in der Spitaldebatte auf die entscheidende Frage gerichtet werden: Welche Struktur führt zu einer optimalen und sicheren medizinischen Versorgung im Kanton St.Gallen, und zwar zu langfristig tragbaren Kosten? Leider spielten die entscheidenden Aspekte in der bisherigen Diskussion kaum das Kantonsspital in St.Gallen entlastet. Welche Erfahrungen machen Sie mit den Regionalspitälern (Erreichbarkeit, medizinisches Angebot usw.)? Das medizinische Angebot ist in den letzten Jahren eingeschränkt worden; so haben die Spitäler Altstätten und Rorschach eingeschränkte Operationszeiten. Notfälle müssen also meist nach St.Gallen geschickt werden, da die Patienten aus unserer Region in der Regel das Kantonsspital bevorzugen. eine Rolle. Der Kantonsrat entschied mehrheitlich nach regionalpolitischen und opportunistischen statt nach gesundheitspolitischen Kriterien. Wir haben deshalb Ärzte gebeten, die Vorlagen der Regierung kritisch unter die Lupe zu nehmen. Drei Hausärzte und drei früher an den Spitälern Altstätten, Grabs und Walenstadt tätige Ärzte stellen wenig erfreuliche Wie wichtig ist aus Ihrer Sicht heute eine wohnortsnahe Spitalversorgung? Ich spreche einzig für die Region Rheintal. Kurze Anfahrtswege sind sicher von Vorteil für die Patienten. Zwischen Rorschach und Walenstadt bestehen vier kleinere Spitäler. Die Anfahrt wäre bei einer Reduktion auf zwei optimale Standorte nur unwesentlich länger. Diagnosen zur medizinischen und spitalbetrieblichen Tauglichkeit der Vorlagen, über die das St.Galler Stimmvolk Ende November abstimmen wird. 26 Nr. 3/2014 Was wäre aus medizinischer Sicht eine sinnvolle Spitallandschaft für den Kanton St.Gallen? Dr. med. Thomas Ammann, FDP-Kantonsrat, Waldkirch Wie müsste eine Spitallandschaft der Zukunft angesichts des demografischen Wandels aussehen? Zwingend ist eine Zusammenfassung der Spitäler in grössere regionale Spitäler mit breiterem Angebot. Daraus würden sich viele Vorteile ergeben: ein verbessertes Grundangebot, effizientere Arbeitsabläufe, tiefere Behandlungskosten, ein breiteres Ärztekader mit besserer Verteilung der Dienstbelastung, erleichterte Personalplanung im Pflegebereich und eine Attraktivitätssteigerung für die spezialisierten Kaderärzte durch breiteres Patientengut. WIRTSCHAFT UND POLITIK Grösseres Patientengut bedeutet letztlich an das Regionalspital mit hoher Zufrieden- mehr Erfahrung, mehr Übung und mehr heit, sowohl was die Qualität der medizini- Qualität. Auf die demografische Entwick- schen Leistungen als auch was die Rückmeldun- lung müssen sich alle Fachbereiche ausrich- gen der Patienten betrifft. Ein klarer Vorteil ten. der Zusammenarbeit mit dem Regionalspital ist der niederschwellige direkte Kontakt. Wie wichtig ist heute eine wohnortsnahe Spitalversorgung, wie sie die regierungsrätliche Strategie propagiert? Die Strategie der Regierung ist keine Strategie, sondern eine mutlose Fortsetzung einer historisch gewachsenen Spitalstruktur aus der Zeit der Pferdekutschen. Die heutige Mobilität löst die Notwendigkeit der wohnortsnahen Spitalversorgung ab. Selbstverständlich muss die Versorgung im Notfall gesichert sein, was auch kein wirkliches Problem darstellt. In einigen Spitälern wurde unter dem Titel Konzentration das medizinische Angebot reduziert, was die Attraktivität der Spitäler für die einweisenden Ärzte und auch für das Personal (Ärzte und Pflegepersonal) deutlich verschlechtert. Was wäre aus medizinischer Sicht eine sinnvolle Spitallandschaft für den Kanton St.Gallen? Das wären drei Regionalspitäler (Rheintal, Linthgebiet, Wil-Toggenburg) sowie das Zentrumsspital St.Gallen (neben dem Kinderspital und der Geriatrischen Klinik St.Gallen). Koordinative Absprachen mit den Privatspitälern und mit den umliegenden Kantonen könnten zu Synergien und/oder Ergänzungen im medizinischen Angebot führen. Zu prüfen wären zudem medizinische Einrichtungen mit Tagesstrukturen für die ambulante Medizin aller Fachbereiche. Dr. med. Yvonne Gilli, Nationalrätin Grüne Partei, Wil Welche Erfahrungen machen Sie mit den Regionalspitälern (Erreichbarkeit, medizinisches Angebot usw.)? Als frei praktizierende Hausärztin überweise ich regelmässig Patientinnen und Patienten Patienten leiden zunehmend an mehreren Gebrechen. Welches sind die Auswirkungen davon auf die Netzwerkstrategie der kantonalen Spitäler? Es braucht eine Stelle, welche die Behandlungen koordiniert und die Patienten integrativ betreut. In der Regel ist dies der Hausarzt. Was die Spitalplanung betrifft, braucht es eine Bedarfsplanung und die Zusammenarbeit mit Privatspitälern und frei praktizierender Ärzteschaft. Es gibt nur eine Netzwerkstrategie, wenn die Zusammenarbeit mit den Schnittstellen auf gleicher Augenhöhe und in einer institutionalisierten Zusammenarbeit erfolgt. Das ist sehr anspruchsvoll. Wie wichtig ist aus Ihrer Sicht heute eine wohnortsnahe Spitalversorgung? Die heutige Bevölkerung ist sehr mobil mit allen Vor- und Nachteilen. Das zeigt sich an den täglichen Arbeitswegen. Im Zentrum für die Gesundheitsversorgung steht deshalb nicht die unmittelbare Wohnortsnähe, sondern die Qualität der Betreuung. Je nach Region ist in diesem Sinn sogar eine interkantonale Planung sinnvoll. Was wäre aus medizinischer Sicht eine sinnvolle Spitallandschaft für den Kanton St.Gallen? Es braucht eine Bedarfsplanung unter Einbezug der regional vorhandenen Strukturen inklusiv angrenzende ausserkantonale stationäre Angebote und frei praktizierender Ärzteschaft. Das stationäre Angebot wird sich zunehmend auf spezialärztliche Dienstleistungen konzentrieren. Hier gilt es zu prüfen, ob genügend Fallzahlen erreicht werden für die Erreichung einer hohen Behandlungsqualität. Ebenfalls zu überprüfen sind die Arbeitsbedingungen, da diese mitentscheiden, ob gut qualifizierte Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegefachleute überhaupt zu gewinnen sind, oder nicht. SPITALÄRZTE Dr. med. Herwig Heinzl, ehemaliger Chefarzt Anästhesie im Spital Grabs Welcher Zusammenhang besteht zwischen der Grösse eines Spitals und der medizinischen Qualität? Geringe Fallzahlen führen bei Operationen häufiger zu Fehlern und Komplikationen. Zwangsläufig werden in kleineren Spitälern weniger häufig spezifische Operationen durchgeführt, womit der Operateur und sein Team weniger Erfahrung sammeln, was nach internationalen Studien das Komplikations- und Todesfallrisiko erhöht. Da die personelle Besetzung einer Fachabteilung im Regionalspital in der Regel aus einem erfahrenen Chefarzt sowie einem oder zwei Oberärzten besteht, die noch nicht die gleiche Erfahrung aufweisen, klafft bei einem 24-Stunden-Notfallbetrieb 365 Tage lang eine Qualitätslücke. Bei genügend Fallzahlen ist die Personaldecke breiter. Als Beispiel: Wenn ich am Samstagabend mit einer komplizierten Kniegelenksfraktur ins Regionalspital eingeliefert werde, erwarte ich, dass ich von einem kompetenten Orthopäden fachmännisch versorgt werde. Das wird aber nur möglich sein, wenn der Chefarzt zufällig für den Notfalldienst eingeteilt ist – was bestenfalls einmal im Monat zutreffen wird. Im grösseren Spital stehen drei bis vier Fachärzte bereit und gewährleisten rund um die Uhr eine fachmännische medizinische Versorgung. Wie wichtig ist aus Ihrer Sicht heute eine wohnortsnahe Spitalversorgung? Der Wunsch nach einem Spital in Wohnortsnähe ist aus Gründen der Bequemlichkeit nachvollziehbar. Er basiert jedoch auf der irrigen Annahme, dass alle Spitäler die gleiche Qualität bieten. Es gibt aber erwiesene Unterschiede bei der Ergebnisqualität in Bezug auf Infektionen und andere Komplikationen sowie der Sterblichkeit. Der informierte Patient wählt aber dasjenige Spital mit jenem Arzt, der die grösste praktische Erfahrung nachweist. Nr. 3/2014 27 WIRTSCHAFT UND POLITIK Mit einem kompetenten Notarzt- und Rettungssystem vor Ort spielt die Entfernung zum Spital keine primäre Rolle. Was wäre aus medizinischer Sicht eine sinnvolle Spitallandschaft für den Kanton St.Gallen? In 15 bis 20 Jahren werden allein aus Kostengründen nur noch Spitäler mit über 200 Betten überleben. Um eine ausreichend hochstehende, qualitative und zukunftsfähige medizinische Versorgung der Bevölkerung zu gewährleisten, bedarf es im Ringkanton St.Gallen folgender Spitallandschaft: ein Zentrumsspital St.Gallen, drei Spitäler der erweiterten Grundversorgung (mit mehr als 200 Betten und einer verkehrsgünstigen Lage in den Räumen Grabs, Uznach und Wil) sowie fünf ambulante Gesundheitszentren in Rorschach, Altstätten, Walenstadt, Wattwil und Flawil. Dr. med. Beat Raschle, bis 2014 Leiter des eigenen Radiologie-Instituts in Walenstadt Welcher Zusammenhang besteht zwischen der Grösse eines Spitals und der medizinischen Qualität? Je kleiner ein Spital ist, desto geringere Fallzahlen werden erreicht. Hohe Fallzahlen sind wichtig, um bestimmte Eingriffe und Behandlungen durchführen zu dürfen und zu können. Wenn sich mehrere kleinere Spitäler in Departementen zusammenschliessen, werden zwar höhere Fallzahlen erreicht, der Betrieb wird jedoch komplizierter und teurer. Welche Auswirkungen hat der Erhalt aller Regionalspitäler auf deren künftige Personalrekrutierung? Wer erstklassige Spezialisten rekrutieren will, muss ein entsprechendes Umfeld bieten. Neben hohen Fallzahlen braucht es erstklassige technische Möglichkeiten. Dies lässt sich aus Kostengründen nicht in jedem Regionalspital verwirklichen. Der Erhalt sämtlicher Regionalspitäler führt zu einer Verminderung der Attraktivität des einzelnen Arbeitsplatzes. Wie müsste eine Spitallandschaft der Zukunft angesichts des demografischen Wandels aussehen? Mit zunehmender Überalterung der Bevölkerung wird die Erreichbarkeit der Spitäler mit öffentlichen Verkehrsmitteln an Bedeutung gewinnen. Viele der jetzigen Regionalspitäler liegen diesbezüglich sehr ungünstig. Durch zentral liegende, gut erreichbare Spitäler würde der Komfort insbesondere für die älteren Patienten steigen. Was wäre aus medizinischer Sicht eine sinnvolle Spitallandschaft für den Kanton St.Gallen? Im Zentrum der Spitallandschaft müssen ein leistungsstarkes, gut ausgerüstetes Kantonsspital und ein Kinderspital stehen. Daneben braucht es in den Regionen Rheintal–Sarganserland, Gaster–See und im Toggenburg je ein zentral gelegenes Regionalspital. Die Gliederung der Spitäler darf nicht auf den Kanton St.Gallen beschränkt sein. Es muss auch eine intensive interkantonale Zusammenarbeit angestrebt werden. Dr. med. Peter Böhi, Facharzt für Gynäkologie und Geburtshilfe mit eigener Praxis, ehemaliger Chefarzt im Spital Altstätten Welcher Zusammenhang besteht zwischen der Grösse eines Spitals und der medizinischen Qualität? Ein grösseres Spital arbeitet wirtschaftlicher, da die Infrastruktur besser ausgenützt wird. Es kann Personal einsparen, da nicht mehr an mehreren Standorten das Gleiche im Rahmen eines 24-h-Dienstes angeboten werden muss, zudem steigen durch einen höheren «case load» die Kompetenz und die Qualität der Arbeit aller Beteiligten. Es wird einfacher, Kaderstellen zu besetzen – weil es weniger davon gibt und weil ein grösseres Spital höher qualifizierte Ärzte anzieht. Aus den gleichen Gründen braucht es auch weniger Assistenzärzte bzw. Fachpersonal. Die medizinische Arbeit könnte effizienter erfolgen, da sich nicht vier Standorte in vielen Sitzungen koordinie- ren und Synergien suchen müssen, sondern sich auf ihr Kerngeschäft, also die Versorgung der Patienten, konzentrieren könnten. In einem solchen System würde zu niedrigeren Kosten qualitativ besser gearbeitet werden. Wie wichtig ist aus Ihrer Sicht heute eine wohnortsnahe Spitalversorgung? «Wohnortsnahe» wäre auch bei einem einzigen Spital in der Region gewährleistet, die meisten können auf ein Auto oder zumindest ein Taxi zurückgreifen, sodass dieser Aspekt heute sehr relativ geworden ist. Was wäre aus medizinischer Sicht eine sinnvolle Spitallandschaft für den Kanton St.Gallen? Meine Vision für das Rheintal wäre ein einziges grösseres Spital im Raum Grabs, das alle drei bisherigen Standorte ablöst und auch das Fürstentum Liechtenstein abdeckt. Das Spital muss verkehrstechnisch optimal nahe an der Autobahn gelegen sein, und nicht wie jetzt an der Peripherie von Kleinstädten, welche erst nach längeren Fahrten zu erreichen sind. Der Standort müsste ein räumliches Wachstum ermöglichen und nicht derart limitiert sein wie unsere aktuellen, häufig in Wohngegenden gelegenen Spitäler. Das neue Spital würde die drei Hauptdisziplinen der Grundversorgung anbieten, d.h. Medizin, Chirurgie sowie Gynäkologie/Geburtshilfe. Zudem wären aufgrund der Grösse das Labor und die Diagnostik auf höchstem Niveau, eine Intensivstation sowie weitere Spezialdisziplinen problemlos integrierbar. Damit könnte vielleicht in gewissen Fällen die Reise ins Kantonsspital überflüssig werden. Durch den Zusammenzug des Personals der bestehenden Spitäler könnte die Konzentration auf einen Standort sozialverträglich umgesetzt werden. Ein weiterer Vorteil wäre, dass Immissionen, Betriebseinschränkungen usw. während der Umbauphase an den bestehenden Standorten entfallen würden und ein fertiges Spital am Tag X in Betrieb genommen werden könnte. Zudem wären die finanziellen Mittel besser in ein einzelnes Grossprojekt investiert, welches von Grund auf neu konzipiert und langfristig ausgerichtet ist, als die alte Bausubstanz an den bestehenden Standorten mit viel Aufwand zu modernisieren. Nr. 3/2014 29
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