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Autor: Anhalt, Gert.
Titel: Erdbebenberichterstattung aus der Türkei. 'Wie gut es uns doch geht.'
Quelle: ZDF-Jahrbuch '99. Mainz 2000. S. 84.
Verlag: Zweites Deutsches Fernsehen (ZDF).
Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors und des ZDF.
Gert Anhalt
Erdbebenberichterstattung aus der Türkei.
“Wie gut es uns doch geht”
Im Schutt ein Sofa, eine Küchenmaschine, ein Heizkörper und ein Teddybär. Zwischen
Splittern, Trümmern, zerrissenen Stahlgittern: Kleidungsstücke, Küchengeschirr, ein
Fotoalbum. “Liegen noch Menschen da drunter?” – immer wieder diese Frage. Und immer
wieder die Antwort: “Ja”. Der Vater, der Bruder, die Großmutter, das kleine Mädchen.
Vielleicht, vielleicht leben sie ja doch noch ...
Wohnungen, Haushalte, Einrichtungen – Leben zerstört, Existenzen zerdrückt, begraben,
verhöhnt. Familien verloren, glückliche Erinnerungen vernichtet, Besitz enteignet,
Geheimnisse entrissen, sitzen die Schutzlosen davor, weinend, kopfschüttelnd, ihre
Gesichter leer, ihre Glieder kraftlos. In Zelten, unter Planen, alle gleich in ihrer Not, ihrer
Trauer und ihrer Angst.
“Wie gut es uns doch geht ... ”, denke ich immer wieder. Wie gut es uns geht, dass uns
die Erde nicht den Krieg erklärt.
Die Kamera, der Reporter – Eindringlinge im Reich der Verzweiflung. Kameras filmen
Bilder, die kein Mensch jemals sehen sollte – Tote, Verstümmelte, Kinderleichen.
Reporter stellen Fragen, die niemals gestellt werden sollten: “Wie viele Angehörige haben
Sie verloren?” Es verklingt eine solche Frage wie ein böser Fluch, und man wünscht, dass
sie nie beantwortet werden müsste. Nach Worten des Trostes suchen – sie hören sich
belanglos an –, selbst das Wort Hoffnung klingt manchmal wie ein Hohn. Die Tränen
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hinunterschlucken und weiter zum nächsten Schutthaufen. Einmal werde ich wütend über
diese willkürliche Massenhinrichtung der Natur: Da liegt dieses Hochzeitsfoto, mitten im
Dreck, ein glückliches Paar. Lächelnd. Beide tot. Aber nicht nur das Beben ist ein Mörder.
Es hatte Komplizen: gierige Bauunternehmer. Sie haben Beton mit Meersand angerührt,
billigen Stahl aus Schrott zusammengebacken und den Menschen ihre Todesfallen als
Häuser verkauft. Und auch die Behörden tragen Schuld: Sie haben viel zu hohe Häuser
bauen lassen, weil sie sich ihre Baugenehmigungen nach Stockwerken bezahlen lassen
und ein fünfstöckiges Haus viel mehr Geld einbringt als ein einstöckiges. Und sie
versagen im Angesicht der Katastrophe: keine Koordination, keine Hilfe, keine
Organisation. Die Überlebenden sind auf sich allein gestellt, und auch sie sind wütend.
Bei aller Trauer, aller Not sind sie wütend auf Vater Staat, der untertauchte, als Mutter
Natur Amok lief. Uns sind sie dankbar: dafür, dass wir ihnen eine Stimme geben, dass
ihre Anklagen nicht untergehen.
Die schnellste Hilfe kommt von nichtstaatlichen Stellen. Freiwillige opfern sich auf,
Studenten, Ärzte, Architekten. Das Ausland schickt Ortungsgeräte und Suchhunde. Ich
verstehe es zunächst nicht: Zehn Spezialisten suchen zehn Stunden nach einem einzigen
Verschütteten. Was ist mit den hunderten, die da noch liegen? Wieso ein Leben retten,
während die anderen verloren sind? Ich verstehe es erst, als sie einen herausholen. Erst
als der Jubel losbricht unter Wartenden, erst als seine Angehörigen weinend in die Knie
sinken und Gott danken, erst als ich das Gesicht des Mannes sehe, den sie nach zwei
Tagen in der Finsternis dem Geröll abtrotzen, dem Tod entreißen und ans Licht
zurückbringen – erst da begreife ich, wie kostbar, wie unersetzlich ein einziges Leben
sein kann und dass kein Opfer zu hoch ist, es zu retten.
“Wie gut es uns doch geht ... ” – will ich sagen, als wir nach Berlin schalten in die ZDFSpendengala. Ich sitze im Zelt einer Großfamilie, die aus Angst vor Nachbeben in die
Berge oberhalb ihres Heimatortes geflüchtet ist. Ich sage es nicht, weil ich nicht belehrend
klingen will. Die Zuschauer spenden 13 Millionen DM. Sie haben es auch so begriffen.
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