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Autor: Hörburger, Christian.
Titel: Nihilisten - Pazifisten - Nestbeschmutzer. Gesichtete Zeit im Spiegel des Kabaretts.
Quelle: Christian Hörburger: Nihilisten - Pazifisten - Nestbeschmutzer. Gesichtete Zeit im
Spiegel des Kabaretts. Tübingen 1993. S. 9-299.
Verlag: Institut für Friedenspädagogik Tübingen e.V..
Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Christian Hörburger
Nihilisten - Pazifisten - Nestbeschmutzer
Gesichtete Zeit im Spiegel des Kabaretts
Inhaltsverzeichnis
Vorwort: Wir mahlen Pfeffer in die Bonbonnière .........................................................3
Auftak t ..............................................................................................................................................5
Probleme, Fragen, Widersprüche .........................................................................................5
Das Kabarett - Ein deutscher Totentanz ..........................................................................7
Französisc he Uraufführung ................................................................................................10
Von Kriegern und Lumpen ..................................................................................................13
Unter Diktatu r und Haken kr e u z ..........................................................................................16
Die Nazis komme n - Kassandra und Spötter auf der Flucht.................................16
Gepfeffertes aus München und Zürich ...........................................................................24
Witz als Widerstand - Werner Finck provoziert die Nazis in der Katakombe .....
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Frohsinn der rechten Denkungsart oder Die gute Laune ist ein Kriegsartikel,
versichert der Minister .........................................................................................................43
Zum Totlachen oder Theresien stadt, Theresien stadt ist das modernste
Ghetto, das die Welt heut hat.............................................................................................59
Traue r a r b eit und Restaur ation ............................................................................................89
Erich Kästner gibt Nachhilfe ..............................................................................................8 9
Demokratisch - aber wie! Spötter wider die Reaktion .............................................97
Das Kabarett, das aus der Kälte kam - Die Insulaner im Kampfanzug ...........111
Der Tod ist ein Meister aus Deutschland und die Republik läßt wieder rüsten .
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Der Ball ist rund und die Republik läßt es sich gutgehen ....................................138
Ver m a u e r t e s und Vernag eltes. Die sech zige r Jahre zwischen Aufbruch und
Protest ..........................................................................................................................................147
Eiszeit in den Köpfen ..........................................................................................................147
Der beredte Außens eiter - Wolfgang Neuss ..............................................................158
Mit strahlende m Gesicht ....................................................................................................164
Unziviles - Agitation und APO- Kabartett..................................................................168
Verz w eiflun g, Wut und Schrecken ....................................................................................187
Der überwachte Staat..........................................................................................................187
Nachgerüstet - Wettlauf zwische n Schwertern und Pflugscharen ...................197
Von Wende zu Wende .............................................................................................................207
Neues aus Skandalusien ....................................................................................................2 07
Über die Fremde - Dialektales und Dialektische s ...................................................212
Eine Zensur findet statt ......................................................................................................222
Ausgelacht - Das Kabarett unter Hammer und Sichel ...........................................235
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Deutscher Epilog ......................................................................................................................248
Spreng - Sätze ..........................................................................................................................248
Das Kaba r ett in der Bildungsar b eit .................................................................................2 52
1. Interpretation und Neuformulierung .......................................................................253
2. Was darf die Satire?........................................................................................................2 55
3. Schlagzeilen .......................................................................................................................258
Glossar zum Kabarett .........................................................................................................263
Vorwort: Wir mahlen Pfeffer in die Bonbonnière
„Jetzt wollen wir was Hübsches singen“ - mit diesem Vers begann in München am 1.
Januar 1933 das erste Programm der Pfeffermühle. Erika und Klaus Mann haben
zusammen mit Walter Mehring die Texte geschrieben und selber neben Therese Giehse,
Magnus Henning oder Sybille Schloß auf den Bretteln gestanden - in der etwas
heruntergekommenen Bonbonniere gleich hinter dem Hofbräuhaus. Ich erzähle diese
Einzelheiten aber nicht, um mit dem so unglaublich materialreichen Fundus dieses
Buches zu wetteifern, sondern weil sie in ihrer beinah niederen, jedenfalls beiläufigen
Weise die Quintessenz der so merkwürdigen wie immer noch populären Gattung zum
Ausdruck bringen, der sich Christian Hörburger nicht nur auf dem Papier verschrieben hat.
Denn natürlich sind die derart angekündigten Lieder alles andere als hübsch im
landläufigen Sinne des Worts, zumindest kommen sie vielen garstig vor, und auch
diejenigen, die sich darüber amüsieren, werden sie eher witzig, satirisch, komisch oder
karikaturistisch finden. Der Kabarettist, das kleine Wort lehrt es bereits, ist ein Meister der
zweideutigen Rede, er meint es selten genau so, wie er es sagt, Scherz, Ironie, Satire
sind seine wichtigsten Ausdrucksformen - nicht allein, weil er oftmals Verbot, Verfolgung,
Zensur befürchten mußte, sondern auch weil alles Komische aus einer Spannung lebt und
Anspielung, Verrätselung, Andeutung zu seinen wichtigsten Merkmalen zählen.
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Pfeffermühle, wie bei den meisten Kabaretts, bedeutet ein Programm, der Name spricht
und macht die Absicht kenntlich. Der Anekdote nach - und auch sie ist aussageträchtig,
über den Einzelfall hinaus - hat Thomas Mann diesen Einfall gehabt. Die Familie saß beim
Essen, Erika und Klaus waren voller Ideen für das gemeinsame Projekt, allein, das Kind
war noch namenlos, und keine der in Erwägung gezogenen Bezeichnungen hielt stand.
Da griff Thomas Mann nach der hölzernen Pfeffermühle und hielt sie den beiden mit den
Worten hin: „Wie wär's denn damit?“ -Die Geburt eines Kabaretts am bürgerlichen
Mittagstisch, das wirkt wie ein Gleichnis für die Entstehung dieses Zwitterwesens aus
Theater und Künstlerkneipe, Satire und Gassenhauer, Unterhaltung und Belehrung: das
Kabarett ist eine bürgerliche Erfindung, und die Pariser Boheme, aus deren Schoß es
Ende des 19. Jahrhunderts wuchs, rekrutierte sich aus den Kindern und Enkeln des
Standes, der das Hauptziel aller satirischen Angriffe und Sottisen, Witze und Spottlieder
der Kleinkunst-Bühnen war und bis heute ist. Auch daß sich Die Pfeffermühle gleichsam
im Rücken des Hofbräuhauses etablierte, hat in diesem Zusammenhang signifikante
Bedeutung, die noch stärker auffällt, wenn man bedenkt, daß es sich nicht nur als
Kneiport bierseliger Spießer, sondern vor allem als Versammlungsstätte
nationalsozialistischer Parteigänger seinen Namen gemacht hat. Im Hinterhof, am Rande
und ganz unspektakulär sammelte sich der Widerstand und sandte Pfeil für Pfeil in die
andere, die Gegenrichtung. Denn wenn es einen gemeinsamen Nenner aller Kabaretts
gibt, so ist es die Opposition, womit man aber nicht eine politische Partei verbinden darf.
Der Kabarettist ist kein Politiker, und wenn er auch der politischen Opposition naturgemäß
zuneigt, wird man ihn nicht als Parteigänger nehmen dürfen. Ein Kabarett ohne Distanz
auch zur eigenen Wunschfraktion wird zum politischen Propaganda-Apparat und verliert
seine wichtigste Funktion: wachsam nach allen Seiten zu sein, Unmoral überall
anzuprangern und seinen Witz an Verirrungen aller Art und Richtung zu schärfen. Wir
haben es auch hier mit einer moralischen Anstalt zu tun, die selbst dort, wo sie politisch
wird, unterwegs niemals die Moral verliert. Ja, das Kabarett ist ein später Abkömmling der
Aufklärung, und wenn es die Fehler der anderen Seite aufdeckt, heißt das nicht, daß es
eben diejenigen der eigenen verschweigt. Insofern ist es auch eine höchst streitbare, ja
kämpferische Kunst, (man denke nur noch einmal an Die Pfeffermühle), die zwar den
Frieden will, aber Kirchhofsfrieden haßt.
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So kommt es auch, daß Kabarett und Kabarettisten von Parteigängern, die nichts anderes
sind, immer mit Mißtrauen betrachtet werden, ob sie links oder rechts stehen. Überdies
gibt es noch einen weiteren Stein des Anstoßes: wenn der Kabarettist verkündet, er wolle
etwas Hübsches singen, ist das ja nicht bloß ironisch gemeint. Unterhaltung gehört schon
zum Kabarett dazu, Caféhaus- und Kneipenatmosphäre sind nicht nur sein äußerlicher
Rahmen, sondern werden durch das Ideal geselliger Gemeinsamkeit verbunden.
Didaktisches Theater, Lehrstücke im kleinen, darf man von den Sketchen und Szenen
hier glücklicherweise nicht erwarten, es wird gelacht, der Humor bricht immer wieder die
Speerspitzen der Feindseligkeit, und die komische Aufklärung soll das Publikum
vergnügen - welch ein Greuel für Funktionärsschädel jeglicher Couleur. Ein Greuel - oder
zumindest ein verdächtiger Fremdkörper ist das Kabarett wohl auch aus diesem Grunde
für die Wissenschaft geblieben. Sich ernst über den Humor zu äußern, birgt immer die
Gefahr, selber komisch zu wirken, und das fürchten die Gelehrten aller Zeiten und Länder
seit jeher. Außerdem ist das Kabarett eine Mixtur aus allen möglichen kleinen Formen der
literarischen und theatralischen Künste, dem Jahrmarkt verdächtig nahe, begrifflich
schwer zu fassen, noch dazu der Tagesaktualität verpflichtet und daher offenbar von
zweifelhaftem Kunstanspruch. Christian Hörburger hat in diesem Buche eine Methode
bemüht, die seinem Gegenstand selber nicht fremd ist: eine Art „Nummernprogramm“, in
dem das Beispiel und die Analyse, Text und Beschreibung einander abwechseln und sich
gegenseitig erhellen. Der Zeitraum: die neuere deutsche Geschichte von 1933 bis zur
Gegenwart, ist weit gespannt und ausladend genug, um alle Formen und Mittel des
Kabaretts zur Darstellung zu bringen, uns aber auch nicht fern, so daß umständliche
historische Exkurse, die detaillierte Einbettung ins Zeitgeschehen - Feinde jeder
kabarettistischen Wirkung - meist entfallen können. Zum dritten Male also: „Jetzt wollen
wir was Hübsches singen“ - diesmal als „Vorhang auf“ fürs Buch, seinen Autor und alle
seine Proben aufs Exempel.
Gert Ueding
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Auftakt
Probleme, Fragen, Widersprüche
Die Anregungen zu diesem Buch verdankt der Autor vor allem der Tätigkeit in der
Erwachsenenbildung an der Universität und im Bereich von Zivildienstschulen. Hier
konnte das Medium Kabarett in seinen vielfältigen Erscheinungsformen in Seminaren und
Unterrichtseinheiten erprobt und didaktisch umgesetzt werden. Es zeigte sich sehr rasch,
daß der Facettenreichtum der Gattung in hervorragender Weise geeignet ist, um die
verschiedenen Nahtstellen zwischen Literatur und Politik, Kultur, Subkultur und satirisch
gespiegelter Zeitgeschichte exemplarisch herauszuarbeiten. Anders als das
Geschichtsbuch, das dem „objektiven Rückblick“ verpflichtet ist, setzt das Kabarett in
Lied, Wort und Ton auf die subjektive Ablichtung von Ereignissen. Es geht nicht um den
allgemeingültigen Standpunkt, sondern um die Bewertung der Geschichte durch das
artistische Individuum, das seine Zeit schrankenlos „persönlich“ betrachtet und beurteilt.
Es ist ein Anliegen dieses Überblicks, der Verbindung von Kabarett und Zeitgeschichte in
Deutschland besonders nachzuspüren. Die Auseinandersetzung der Künstler mit dem
Staatsapparat in Diktatur und Demokratie, der Kampf um eine befriedete und ihrem
Wesen nach antimilitaristische Republik soll hier an einzelnen ausgewählten Beispielen
herausgearbeitet werden. Der grenzüberschreitende Blick über die engere Gattung hinaus
auf Schlager, Protestlied oder auch Untergrundlyrik kann von Fall zu Fall den Blick für
kulturelle Verschränkungen vertiefen. Auch im Schlager manifestiert sich unter
Umständen der populäre Geist der Zeit. Abstecher in dieses abseits liegende Terrain
scheinen ebenso lohnend wie kleine Seitenblicke auf das Filmgeschehen.
Die Literatur über das europäische Kabarett ist umfangreich, wenngleich im Einzelfall nur
noch schwer zugänglich. Kleine Auflagen, gelegentlich von exotischen Kleinverlagen
publiziert, erschweren die Beschäftigung mit der Geschichte des Kabaretts. Das
beigefügte Literaturverzeichnis ermöglicht hier einen ersten fundierten Einstieg in das
Thema. Viele Publikationen leiden darunter, daß entweder nur auf die Überlieferung der
Texte geachtet wurde -Anthologien -, oder daß sie andererseits nur die
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kulturgeschichtlichen Zusammenhänge des Kabaretts - mit ganz wenigen Textbeispielen berücksichtigen. Beide Vorgehensweisen sind legitim, haben aber auch erhebliche
Schwächen.
Die vorliegende Beschreibung bemüht sich um einen Kompromiß, wobei dem originalen
Text neben seiner Einordnung das Augenmerk gilt. Nach Möglichkeit sind die Texte zum
Kabarett durch historische Archivaufnahmen aus Funk, Schallplattenindustrie und
Fernsehen abgesichert. Dabei sind den Möglichkeiten eines freien Autors - das bleibt
eingeräumt - freilich Grenzen gesetzt. Die Entwicklung des deutschsprachigen Kabaretts
bis 1933 wird in diesem Buch nur gestreift. Auf diesen Aspekt mußte hier verzichtet
werden, die einschlägige Literatur ist gleichwohl ausgewiesen. Das Wechselspiel
zwischen der Zeitgeschichte und dem Kabarett der Zeit wird besonders hervorgehoben.
Das Buch wertet die Texte durchaus persönlich und nicht immer akademisch. Das hat den
Vorteil der methodischen Transparenz. Das leidenschaftliche Wort der Kabarettisten für
gewaltfreies Handeln und einen deutschen Friedensbeitrag in der Welt - ohne Waffen -,
das hat das Arrangement der Thesen, Dokumente und Zitate aus dem Kabarett und über
dieses vielfach bestimmt. Ausflüge in gegenteilige Weltbeschreibungen, zumal unter den
Bedingungen des Faschismus und des Kalten Krieges, sind notwendig, um das
kämpferisch-demokratische Kabarett in seiner Funktion präziser ausleuchten zu können.
Hinweise für Pädagogen am Schluß des Buches zur Arbeit mit dem Kabarett verstehen
sich als Anregungen, die weiter zu ergänzen sind.
Das Kabarett - Ein deutscher Totentanz
Das Kabarett ist eine theatralische Kunst, die je nach politischer Gesinnung und Couleur,
auf geziemende Provokation angelegt ist. Auf den Zuschauer wirkt es abstoßend oder
anziehend, womöglich unterhaltlich. Es kommt jeweils auf die aktuelle Gemütslage des
Betrachters an. Ob dieser sich auf das Bühnengeschehen einläßt oder sich ihm
verschließt, das hat oft, beileibe nicht immer, mit dem Partei- oder dem Gesangbuch zu
tun.
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Das Kabarett verfolgt als Gattung keine Doktrin. Es ist gemütvoll, eifernd, ätzend, auch
langweilig, wenn die Sprache versagt. Es gibt sich oft parteilich und mit Bedacht
weltverbessernd. Dort, wo bestallte oder unbestallte Zensoren mit der Schere Hand
anlegen, lohnt es sich allemal zuzuhören. Der Griff nach dem freien Wort, unter den
Bedingungen der Diktatur üblich, beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk keineswegs
abgeschafft und durch den Begriff „Ausgewogenheit“ entschuldigt, hat unter allen
Regierungsformen Tradition. Das obrigkeitsstaatliche Verbot der spöttelnden oder
kritischen Nachricht, der Eingriff in den literarischen und künstlerischen Prozeß, in letzter
Konsequenz Berufsverbot oder gar Inhaftierung in Gefängnis oder Konzentrationslager,
gehören zum extremsten Risiko für die Künstler. Die Nationalsozialisten haben die Kritiker
der braunen Herrschaft und die Herolde der Freiheit unversöhnlich verfolgt, geschunden
und eingepfercht. Dort, im Angesicht der Todesfabriken, hatten die inhaftierten
Kabarettisten, Komiker, Coupletsänger und Varietékünstler ihre Peiniger und Schlächter
zu unterhalten. Die Gedemütigten haben es getan, weil der makabre Totentanz zumindest
für die Dauer des Vortrags vor den Nachstellungen der Wachmannschaften schützte.
Überlebende Kabarettisten aus Theresienstadt oder Auschwitz berichten
übereinstimmend von dieser allerletzten Möglichkeit, sich der Identität und eigenen
Menschenwürde durch das Spiel auf der Lagerbühne zu versichern. Das Kabarett in
Ketten zeigt in einem verheerenden Umkehrschluß den Zusammenstoß von
blutgewordener Politik und entlarvender Menschlichkeit. Die Henker besahen sich
genüßlich den Spiegel, den die Sänger im grausigen End-Spiel ihnen vorhielten.
Die Wirkung gefesselter Diseusen, Kabarettisten und satirischer Gedanken ist im 20.
Jahrhundert niemals fataler unter Beweis gestellt worden. Der Zug der Komödianten hat
unter den Bedingungen des Schafotts die brutalste Verschränkung von Gewaltpolitik und
Literatur durchlitten. Das aufklärende, liberale und freie Wort, das unterhaltliche Lied, das
Maskenspiel des Clowns, sie kulminieren hier in einem deutschen Extrem. Jede
Auseinandersetzung mit dem Genre hat daran zu erinnern. Die Abrechnung heutiger
Kabarettisten mit Mißständen in Politik und Gesellschaft verkümmerte ohne diesen
notwendigen Reflex zur folgenlosen Unterhaltungskunst saturierter Spaßvögel im
Windschatten des Fernsehens. Die Verschränkung von Krieg und Humanitas, Gewalt und
oppositioneller Arbeit für Frieden und Menschenwürde ist in der kurzen Geschichte des
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Kabarettes sinnenfällig. Stellvertretend für unbekannt gebliebene Literaten,
Alleinunterhalter, Komiker, Zauberkünstler und Kabarettisten, die über Stationen wie
Theresienstadt oder Westerbork in die Gaskammern kamen, hier die Namen einiger
Opfer:
Kurt Gerron (1897-1944). Im Künstler-Kaffee 1919, dem Küka in Berlin, für das Kabarett
entdeckt. 1928 spielt er bei der Uraufführung der „Dreigroschenoper“ Tiger Brown, 1930
im Film „Der blaue Engel“ den Direktor der Variégruppe. 1933 Emigration nach den
Niederlanden. Inhaftierung und Deportation in die Lager Westerbork und Theresienstadt.
Hier gründet er das Lagerkabarett Das Karussell und trägt hinter Stacheldraht und
Wachtürmen Songs von Brecht und Weill vor. Im September 1944 muß er die Regie in
dem Propagandafilm „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“ übernehmen. Unmittelbar
nach Abschluß der Dreharbeiten wird Gerron nach Auschwitz verschleppt und im selben
Jahr ermordet.
Paul Morgan (1886-1938). Schauspieler, Komiker, Kabarettist und Buchautor. 1886 in
Wien geboren. Tritt 1914 im Wiener Simplicissimus auf. Er gründet 1924 mit Kurt
Robitschek und Max Hansen das Berliner Kabarett der Komiker. Im März 1938 verhaften
ihn die Nazis in Österreich: KZ Dachau, KZ Buchenwald. Im Dezember stirbt Morgan an
Entkräftung im Lager.
Egon Friedell (1878-1938). Schriftsteller, Kabarettist und Theaterkritiker. Seit 1924 spielt
er abwechselnd in Berlin und Wien auf den Reinhardt-Bühnen. Leitet das Cabaret
Fledermaus in Wien und schreibt seine „Kulturgeschichte der Neuzeit“. Beim Eintreffen
der Gestapo springt er in Wien aus dem Fenster.
Erich Mühsam (1878-1934). Schriftsteller, Politiker, Kabarettautor. Die Chansons „Der
Revoluzzer“, „Lumpenlied“, „Kriegslied“ und „Die drei Gesellen“ stammen aus seiner
Feder. 1919 ist er Mitglied des Zentralrats der Bayerischen Räterepublik. Anschließend
sechs Jahre in Haft. Nach dem Reichstagsbrand erneute Inhaftierung. Er stirbt im
Konzentrationslager Oranienburg nach Folter. Die Nazis verbreiten die Falschmeldung,
Erich Mühsam habe sich erhängt.
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Manfred Greiffenhagen (1896-1945). Schriftsteller und Kabarettautor. In Theresienstadt
schreibt er für das Lager-Kabarett. Er wird 1944 nach Auschwitz deportiert und stirbt im
Konzentrationslager Dachau.
Dora Gerson (1899-1943). Die Schauspielerin tritt in Werner Fincks Berliner Katakombe
auf. Sie emigriert nach Holland und wird bei einem Fluchtversuch in die Schweiz
festgenommen. Sie stirbt in Auschwitz.
Willy Rosen (1894-1944). Texter, Kabarettist und Schlagersänger. In den Niederlanden
gründet er das Emigranten-Kabarett Theater der Prominenten. 1942 werden die meisten
Mitglieder des Ensembles verhaftet und in das „zentrale Flüchtlingslager“ Westerbork
eingepfercht. In der alten Garnisonsanlage kommt es zur Gründung der Bühne Lager
Westerbork, das Gesangsduo Johnny & Jones singt Lieder, der Lagerkommandant
Konrad Gemmeker will sich am Abend amüsieren. Zusammen mit Max Ehrlich leitet
Rosen das Kabarett. Beide werden 1944 in Auschwitz ermordet.
Jura Soyfer (1912-1939). Dramatiker und Kabarettist. Er gehört zu den originellsten und
zugleich bedeutensten Autoren des deutschsprachigen Kabaretts. Er schließt sich 1933
der illegalen kommunistischen Partei Österreichs an. Horst Jarka, der Herausgeber des
Gesamtwerkes, kommentiert: „In Soyfers Stücken, ihrem Wesen nach >Hetz und Witz mit
tieferer Bedeutung<, wird Brecht - Brecht der dreißiger Jahre - von Raimund und Nestroy
überspielt. Andererseits beweisen gerade Soyfers Stücke, in denen sich Anklänge an
Nestroy und Raimund neben solchen an Brecht finden, die Verwandtschaft von Alt-Wiener
Volkstheater und Brechts Dramatik.“1 Nach dem Einmarsch der Deutschen wird er auf der
Flucht verhaftet und ins KZ Dachau eingesperrt. Von ihm stammt das berühmte „DachauLied“. Im Alter von 26 Jahren stirbt Jura Soyfer in Buchenwald an Typhus.
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Französische Uraufführung
Im November 1881 eröffnet der Maler Rodolphe Salis eine Kneipe für Künstler und
Liebhaber. Chat noir heißt das gesellige Etablissement in Paris am Montmartre. Die
Absichtserklärung des Gastgebers Salis ist bemerkenswert:
„Wir legen ab heute unsere sämtlichen Manuskripte, Noten, Malereien, Gedanken und deren
Splitter zusammen und bilden daraus eine Gesellschaft zur Veröffentlichung unserer bekannten
Schöpfungen. Auf diesem Klavier werden unsere Vorträge begleitet werden, und diese Stelle,
wo ich stehe, bildet das Podium, auf dem wir unsere Gedichte den Zuhörern, falls sich welche
einfinden, vortragen werden. Wir werden politische Ereignisse persiflieren, die Menschheit
belehren, ihr ihre Dummheit vorhalten, dem Philister die Sonnenseite des Lebens zeigen, dem
Hypochonder die heuchlerische Maske abnehmen, und, um Material für diese literarischen
Unternehmungen zu finden, werden wir am Tage lauschen und herumschleichen, wie es nachts
die Katzen auf den Dächern tun.“2
Als Eintrag ins „Vereinsregister“ -einmal angenommen - für die bunten und schillernden
Vögel des Kabaretts gedacht, hätte die Kunstgattung sich demnach der politischen
Belehrung von unten verpflichtet. Die Perspektive wäre eine bürgerliche, kaum noch
aristokratische. Die Regieanweisungen kämen seit der Uraufführung 1881 nicht aus der
gepolsterten Königsloge, sondern aus dem sympathischen Dunstkreis der AbsinthTrinker. Die Boheme inszeniert ihr eigenes Welttheater. Victor Hugo, Emile Zola und
Claude Debussy treten sich auf die Rockschöße. Im kleinen Kreis gibt sich die Pariser
Intelligenz unangepaßt, spaßig, satirisch und revolutionär. Madame Yvette Guilbert (18671944) erhebt das Chanson zum Kunststück, Toulouse Lautrec hält sie in einem Portrait
fest. Berlin läßt sich von ihren Liedern anstecken. Alfred Polgar notiert 1928: „Aus ein
paar kargen Liedzeilen schöpft sie die Fülle des Lebens, Zartes, Gefährliches, Humor und
Tragik, Gestalten, Schicksal, vollkommenes Spiel ohne den breiten Umstand und
Aufwand der Bühne.“3
Das ist nicht Cabaret oder Kabarett, jedenfalls nicht nur. Die Dame bietet infizierende
Kunst gegen verkleisterndes Spießertum diesseits und jenseits des Rheins. Der
literarische Papst Weimars, Alfred Kerr, lobt den Gast: „Sie stülpt heute nicht mehr
schieflings auf den Detz eine Mütze, schnellt nicht um die Gurgel ein Halstuch. Sie gibt
zwischendurch Erläuterungen zur Mundart; zum Rotwelsch. Aber während sie nur darlegt,
2 Zitiert in: Kühn, Volker, Das Kabarett der frühen Jahre,1988, S. 10. Zur Entwicklung des frühen
europäischen Kabaretts Vgl. Richard, Lionel,Cabaret - Kabarett, 1993.
3 Zitiert in: Budzinski, Klaus, Das Kabarett, 1985, S. 91.
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was sie singen wird: schon dann steigt im Handumdrehn ein Drama heraus. In zwei, drei
Gebärden der Andeutung.“4 Das war 1930 und bezeichnet eine Künstlerin, eine
Chansonette. Der Vortrag hat im Variete Platz, auf kleinen und großen Bühnen und schert
sich einen Teufel um kluge Definitionen. Kabarett? Cabaret? Das auch, und am Rande
ganz bestimmt.
Die Vielzahl der handgestrickten Definitionen und Mutmaßungen über die Gattung lassen
Raum für Streitgespräche unter Theaterwissenschaftlern, Rhetorikern und Germanisten.
Sie alle wollen es ganz genau wissen und glauben, die kleine Kunst mit der großen
Wirkung präzis vermessen zu können. Die Anstrengung ist löblich, aber auch zum Teil
vergeblich. Zuhören, was die Artisten zu vermelden haben, ist in der Kabarett-VarieteCabaret-Debatte oft einträglicher als die aufreibende Schlacht um Begriffe. Max
Herrmann-Neiße, Kabarettautor und Kabarettkritiker von hohem Rang, beschreibt 1924 in
einem Essay zum Thema, wie die Kunst aus seiner Sicht beschaffen ist oder doch sein
sollte. Bei der Nachahmung französischer Vorbilder soll es nicht bleiben.
Prinzipielles zum Kabarett
Kabarett hat mit dem Theater gemeinsam die Bühne, beruht wie das Varieté auf
Geschmeidigkeit, Mannigfaltigkeit, komprimiertem Minuteneffekt. Aber die
Bühnenvorgänge des Kabaretts müssen etwas vom Augenblicksspiel haben, die
Einakter, die man hier gibt, müssen Stücke sein, die ihren Witz wie eine Rakete
auffliegen lassen, die im Husch vorbeiwirbeln und keinen langen Atem haben. Und
übers Varieté hebt sich das Kabarett durch seine Geistigkeit. Eine Geistigkeit, die
so überlegen und beweglich schalten kann, wie kaum sonst irgendwo: unbeschwert
durch den Anspruch auf Ewigkeitsgeltung aktuell kämpferisch, rebellisch sein,
großzügig karikieren, angreifen, improvisiert glossieren, aufpeitschen.
Lautensack schrieb vom „spezifischen Gewicht` des Kabaretts; Kerr stellte dem
Brettl die Aufgabe, „tiefe Kleinigkeiten“ zu bieten. Die Formel wäre etwa: scharfe,
mit Abwechslung gewürzte Momentkunst, ehrfurchtslos und unsentimental, voll
4 Kerr, Alfred, 1964, S. 484.
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Farbigkeit und Überraschung, Geist-Salto mortale, Hirn-Zirkus. Kein veredeltes
Varieté und kein rapides Theater, sondern eben eine Sache für sich, eine Welt für
sich!5
Von Kriegern und Lumpen
Nur selten hört in Deutschland das Kabarett und seine Ableger auf die Mächtigen, auf den
chauvinistischen und rasselnden Kriegslärm. Der Coupletsänger Otto Reutter (1870-1931)
ist ein scharfer Beobachter der Bourgeoisie („Der Überzieher“, „Der gewissenhafte
Maurer“), zugleich aber auch willfähriger Claqueur der Kriegsmaschinerie. Ganz auf der
Linie mit der Kriegsbegeisterung intoniert er in der Revue „Berlin im Krieg“ 1917
martialisches Getöse. Der bürgerliche Barde feiert die Vernichtung des Feindes und den
Sieg der imperialen Denkungsart:
U-Boot heraus!
Für der Deutschen Heimat Ehre
kämpft die todesmut'ge Schar.
Für die Freiheit deutscher Meere
hebt die Schwingen Preußens Aar ...
Und wenn die Besten finden
ein nasses Wellengrab,
laßt doch den Mut nicht schwinden.
Gebet! Die Mützen ab!
Dann aber stoßt das Eisen
ins Herz dem Briten-Leun,
um würdig euch zu weisen
5 Hermann-Neiße, Max, 1988, S. B. Heinrich Lautensack (1881-1919) war Kabarettautor und spielte bei
den Elf Scharfrichtern mit. Alfred Kerr (1867-1948) galt als „Starkritiker“ in der Weimarer Republik und
verfolgte die Entwicklung des Kabaretts sehr aufmerksam.
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den Helden von U9.
Otto Reutter, 19176
Ist die „kleine Kunst Kabarett demnach nicht nur unbescholten und aufrührerisch, wie es
das nachsichtige Gedächtnis glauben machen möchte? Die bequeme Anbiederung an die
veröffentlichte Meinung der Herrschenden gehört auch, beileibe nicht überwiegend, zum
Kennzeichen der meist ketzerischen Zunge. Aber in der Regel sind Kabarett und kleines
Lied in den zwanziger Jahren der Beleg der Solidarität mit den ausgegrenzten
Randgruppen, mit den ewig Zukurzgekommenen, den Verachteten, den Lumpen, den
Vergessenen. Erich Mühsam, der literarische und politische „Revoluzzer“, hat ihnen 1903
das Denkmal gesetzt.
Lumpenlied
Kein Schlips am Hals, kein Geld im Sack.
Wir sind ein schäbiges Lumpenpack,
Auf das der Bürger speit.
Der Bürger blank von Stiebellack,
Mit Ordenszacken auf dem Frack,
Der Bürger mit dem Chapeau claque,
Fromm und voll Redlichkeit.
Der Bürger speit und hat auch recht.
Er hat Geschmeide gold und echt Wir haben Schnaps im Bauch.
Wer Schnaps im Bauch hat, ist bezecht,
Und wer bezecht ist, der erfrecht
Zu Dingen sich, die jener schlecht
6 Zitiert in: Kühn, Volker, Das Kabarett der frühen Jahre, 1988, S. 178.
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Und niedrig findet auch.
Der Bürger kann gesittet sein,
Er lernte Bibel und Latein.
Wir lernen nur den Neid.
Wer Porter trinkt und Schampus-Wein,
Lustwandelt fein im Sonnenschein,
Der bürstet sich, wenn unserein
Ihn anrührt mit dem Kleid.
Wo hat der Bürger alles her:
Den Geldsack und das Schießgewehr?
Er stiehlt es grad wie wir.
Bloß macht man uns das Stehlen schwer.
Doch er kriegt mehr als sein Begehr.
Er schröpft dazu die Taschen leer
Von allem Arbeitstier.
O, wär ich doch ein reicher Mann,
Der ohne Mühe stehlen kann,
Gepriesen und geehrt.
Träf ich euch auf der Straße dann,
Ihr Strohkumpane, Fritz, Johann,
Ihr Lumpenvolk, ich spie' euch an.
Das seid ihr Hunde wert!
Erich Mühsam, 19037
Werner Finck, der es wissen müßte, was das Kabarett zum Cabaret macht oder
umgekehrt, er drückt sich stets eloquent und genüßlich um die beiden Begriffe. Die
Festlegung scheint ihm, dem Nazi-Verspötter, ohnehin nicht dienlich, und er ist frei genug,
7 Mühsam, Erich, 1984, S. 13f.
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noch im siebzigsten Lebensjahr, 1972, „Cabaret“ mit einem dicken C oder auch K zu
schreiben, ohne damit das eine höher, oder tiefer, frivoler oder politischer rangieren zu
lassen. Der Meister notiert:
„Das Cabaret war der amüsanteste Protest, der je gegen die Langeweile konventioneller
Geselligkeit erhoben worden ist. Später wurde es leider umgekehrt. Die konventionelle
Gesellschaft protestierte gegen die Langeweile in den Kabaretts. Cabaret ist in Deutschland mit
Kabarett übersetzt worden. Es gibt bekanntlich noch verschiedene andere Übersetzungen; die
verhängnisvollste scheint mir die mit ,Kleinkunst' zu sein. Seitdem erwartet man am Cabaret
keine großen Künstler mehr, sondern nur noch kleine. Kleinkünstler, Zauberkünstler,
Rechenkünstler, Hungerkünstler (merken Sie was?). (...) Zum Glück sind unsere Cabarets auf
dem Wege der Besserung. Laßt uns weiterhin die goldenen Kälber unserer
Vergnügungsindustriellen auf dem Altar der heiteren Muse, auf daß wir das Wort Cabaret oder
Kabarett eines Tages wieder gebrauchen können, ohne dafür von den Vertretern der
Schwesternkünste mitleidig an - oder vielmehr nicht angesehen zu werden. Auf daß wir weder
das Cabaret signieren können mit unserem ehrlichen Namen.“
Werner Finck, 19728
Unter Diktatur und Hakenkreuz
Die Nazis kommen - Kassandra und Spötter auf der Flucht
Das Gift der kommenden Diktatur hat eine überraschend lange Inkubationszeit und wirkt
nicht erst zum 30. Januar 1933. Schon vor der braunen Wende ist der Rundfunk und sein
kultureller Auftrag zerstört und ausgehöhlt, Zensur und machtgeschützte Parteilichkeit
sind die verbrieften Maximen. Völkisch nationale Töne in Musik und Hörspiel bilden die
Fanfare zum programmgemäßen Staffettenwechsel an die Partei-Intendanten. Die
kulturellen Eruptionen erschüttern die sensible Kabarettlandschaft schon Ende der
zwanziger Jahre. Sie ist verletzlicher als der aufgeblähte Staatsrundfunk und antizipiert
das Unheil der Diktatur auf vielen Bühnen. Kurt Tucholsky, der linksintellektuelle Publizist
und Chansonautor, flieht bereits 1929 in das schwedische Exil. Das TTT, das Tingeltangel
Theater in Berlin, verliert mit Friedrich Hollaenders Flucht seinen erfolgreichsten
Komponisten („Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt“, „Ich bin die fesche Lola“).
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Der Hauskomponist von Max Reinhardt verabschiedet sich 1932 von seinem Publikum mit
dem programmatischen Hinweis: „Höchste Eisenbahn!“ Schlägertrupps der SA fühlen sich
nicht ohne Grund angesprochen und ziehen pöbelnd und spuckend durchs Theater.
Hollaender emigriert über Paris nach Hollywood. Werner Finck, dem bürgerlich-liberalen
Spötter, schwant in seiner Katakombe 1932 Unheiliges und ein brauner Herbst. Hardy
Worm warnt in dem Kabarett Die Pille vor den braunen Chaoten, die anläßlich der
Premiere des Antikriegsfilms „Im Westen nichts Neues“9 im Kinosaal weiße Mäuse tanzen
lassen. Hellmuth Krüger nimmt mit seinem Lied vom „Bücherkarren“ 1931 im KorsoKabarett die Bücherverbrennung voraus. Wer den Mund noch aufmacht, hat mit Zensur
und anderen Repressalien zu rechnen. Das politisch-satirische Kabarett Die Wespen - es
führte in besseren Tagen Nummern von Erich Mühsam, Erich Weinert, Ernst Busch und
Erich Kästner auf - fällt einer der üblich gewordenen „Notverordnungen“ zum Opfer. Die
Republik torkelt in den Abgrund und verabschiedet ihre kritischen und bissigen Barden mit
Fußtritten. Der Bahnsteig ist für viele letzte Hoffnung auf Flucht. Die planmäßige Fahrt der
Güterzüge nach Theresienstadt oder Auschwitz vermag sich jetzt noch niemand
vorzustellen.
Höchste Eisenbahn!
Höchste, höchste, allerhöchste Eisenbahn!
Für alles, was du nicht getan!
Gibt's eine Frau, die du noch nicht geküßt?
Gibt's noch ein Land, wo du nicht gewesen bist?
Höchste Eisenbahn! Höchste Eisenbahn!!
Gibt's einen Ausweg, den du noch nicht ersannst?
Gibt's ein Recht, das du dir holen kannst?
Höchste Eisenbahn! Höchste Eisenbahn!!
Denn keiner weiß, was morgen wird geschehn,
9 Nach dem Roman von Erich Maria Remarque 1930 unter der Regie von Lewis Milestone gedreht. Der
Film wurde von den Nazis 1933 verboten, Remarques Bücher öffentlich verbrannt.
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Und niemand kann die nächste Stunde sehn.
Schon übermorgen kann sich alles drehn!
Heute gilt nur:
Zu fassen, was zu fassen ist,
Zu hassen, was zu hassen ist,
Zu ketten, was zu ketten ist,
Zu retten, was zu retten ist.
Höchste Eisenbahn! Höchste Eisenbahn!!
Höchste, allerhöchste Eisenbahn!!
Wer heute seine Zeit verpaßt, der ist ein schlimmer Sünder,
Für verlorne Chancen gibt es keinen ehrlichen Finder.
Höchste Eisenbahn!
Ach, es rast der Uhrzeiger wie im Fieberwahn:
Höchste, allerhöchste Eisenbahn!!!
Gibt es ein Unrecht, das du nicht gesühnt?
Gibt es ein Glück, das du dir nicht verdient?
Höchste Eisenbahn! Höchste Eisenbahn!!
Gibt's ein Schuft, den du noch nicht gefaßt?
Gibt's einen Armen, dem du nicht geholfen hast?
Höchste Eisenbahn! Höchste Eisenbahn!!
Gibt's eine Wahrheit, die dein Mund verschwieg?
Gibt es noch immer Militärmusik?
Immer noch den verfluchten Traum vom Krieg?
Jetzt ist's an dir:
Zu wagen, was du wagen mußt!
Zu sagen, was du sagen mußt!
Verzeihn, was du verzeihen mußt!
Zu schreien, was du schreien mußt!
Höchste Eisenbahn! Höchste Eisenbahn!!
Höchste, allerhöchste Eisenbahn!!
Der Zug, den du jetzt verpaßt, du träge Menschenschnecke,
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Fährt dir vor der Nase weg, und du bleibst auf der Strecke.
Höchste Eisenbahn!
Unbarmherzig rückt der Zeiger. Hast du deine Pflicht getan?
Höchste, allerhöchste Eisenbahn!!
Friedrich Hollaender, 193210
Herbst 1932
Wie es so regnet heut' nacht,
hab' ich sofort: Aha! gedacht,
der Sommer ist zu Ende.
O mein prophetisches Gefühl!
Heut' morgen war's schon richtig kühl
und herbstlich im Gelände.
Die Sonne scheint noch immer froh,
doch sieh dich vor: es scheint nur so,
das sind noch Restbestände.
Nein, nein, der Sommer ist vorbei,
und Feld und Fluren werden frei
für unsre Wehrverbände.
Wie schnell das ging! Ja, die Natur!
Glaubt nicht, daß eine Diktatur
Mal ähnlich schnell verschwände!
Werner Finck, 193211
Die Nationalstrolchisten
Anjetreten! Held markieren!
10 Zitiert in: Kühn, Volker, Kleinkunststücke, Bd. 3,1989, S. 26f.
11 Finck, Werner, 1972, S. 59; mit abweichender Orthographie auch in: Kühn,Volker, Kleinkunststücke, Bd.
3,1989, S. 20.
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Und Proleten massakrieren!
Saal umstellen! Blut muß fließen!
Janze Blase niederschießen!
Jeist ist Dreck. Mit Dolch und Knüppel,
Arjument der Jeisteskrüppel,
Haun sie ein uff jeden Mann,
Wenn er sich nicht wehren kann.
Stilljestanden! Augen rechts!
Hakenkreuz uff rotem Jrunde
Flattert über der Rotunde –
Hosen runter vorm Jefecht!
An der Spitze von det Janze:
Goebbels im Heldenjlanze!
Mimt des Vaterlandes Retter
Uff der Schmiere blutje Bretter.
Alle sind hurrabejeistert,
Wenn er ihr Jehirn verkleistert.
Beifall tobt durchs volle Haus,
Läßt er weiße Mäuse raus.
Stilljestanden! Hand zum Schwur!
Hakenkreuz uff roter Fahne,
Stramm bezahlt von Thyssens Jelde,
Is das Sinnbild der Kultur.
Phrasen dreschen, Mord ausbrüten,
Wie die wilden Tiere wüten –
Das, nur das, kann diese Horde,
Stets bereit zum Meuchelmorde.
Wenn's bezahlt jibt und die Pässe,
Haun sie jeden vor die Fresse.
Jeld her! Die Kanone kracht.
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Nachher ham se nischt jemacht.
Stilljestanden! Denn es naht:
Hakenkreuz uff rotem Felde,
Ruhmjekrönt wie ein Jermane,
Den ihr an der Front nie saht.
Hardy Worm, 193212
Der Bücherkarren
Ich baue meinen Karren um, weil ich so langsam spüre,
Der Felix Dahn kriegt Publikum, nach rechts geht die Lektüre.
Den Emil Ludwig stell ich weg, der hat nun ausgejodelt,
jetzt kommt die Karre aus dem Dreck: Wir werden umgemodelt!
Wie sag ich's meinen Lesern gleich:
Wir kriegen jetzt das Dritte Reich!
Wenn ich wüßte, was der Adolf mit uns vorhat,
Wenn er erst die Macht am Brandenburger Tor hat?
Müssen wir dann alle braune Hemden tragen?
Darf dann niemand mehr das Wörtchen „nebbich“ sagen?
Wird ein Vollbart unsre Heldenbrust bedecken?
Werden wir zum Gruß die dürren Arme recken?
Rufen wir dem Adolf „Heil“?!
Oder auch das Gegenteil?
Bald gibt es keine Mollen Bier, nur Met gibt es zu trinken,
Und bei Kempinski rollen wir aufs Brot den Bärenschinken.
Statt Girls tanzt ein Walkürenchor bei Hermann Haller balde,
Das Kadeko macht Kabarett im Teutoburger Walde.
Hab ich das richtig vorgeahnt?
12 Zititiert in: Kühn,Volker, Kleinkunststücke, Bd. 3, 1989, S. 23f. Die „weißen Mäuse“ beziehen sich auf die
NS-Randale anläßlich der Filmvorführung von „Im Westen nichts Neues“. Worm wurde in der Republik
wegen „Antikriegspropaganda“ zu einer sechsmonatigen Haftstrafe verurteilt und emigrierte 1933 nach
Paris, später nach London.
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Ich weiß ja nicht, was Adolf plant!
Wenn ich wüßte, was der Adolf mit uns vorhat,
Macht er aus Berlin nur eine Münchner Vorstadt?
Wird das Tageblatt Fraktur nur schreiben?
Wird der Kreuzberg ohne Haken bleiben?
Darf sich Reinhardt nur noch Goldmann nennen?
Oder wird man ihn trotzdem verbrennen?
Trifft ins Herz uns Adolfs Pfeil?
Oder nur ins Gegenteil?
Hellmuth Krüger, 193113
Die Lieder aus dunkler Zeit belegen nachhaltig, daß es vor dem Machtwechsel genügend
Mahner und Rufer gibt, die laut und unmißverständlich die drohende
Schreckensherrschaft als Menetekel skizzieren. Hellmuth Krüger nimmt mit
protokollarischer Präzision die kommende Totschlag-Aktion der Bücherverbrennung
zwischen April und Mai 1933 vorweg, fiebert von dekretierten „Sprachregelungen“ und
„Säuberungsfeldzügen“ gegen jüdische Mitbürger und Intellektuelle, Hardy Worm
beschwört die unheilige Allianz von Großindustrie und Braunhemd-Mob, Werner Finck
bemüht den „deutschen Herbst 1932“ als „politisches“ Naturschauspiel. Friedrich
Hollaender läßt den Zug der Zeit als Tertium comparationis zwischen eigenem Versagen
und dem kommenden Schrecken, zwischen Vergangenheit und Zukunft pendeln. Die
Redewendung wird beim Wort genommen, das Kabarett zur moralischen Anstalt, in der
ein Künftiges - der Albtraum vom Krieg, Mutlosigkeit und Verzagtheit - verhandelt wird. Es
gibt keine Unverbindlichkeit in diesen Chansons, kein Zurückweichen in die Berliner Idylle.
Fakten werden beschrieben, die Apokalypse des Nationalsozialismus nach der Bedingung
der hellwachen Fantasie ausgemalt.
13 Zitiert in: Kühn, Volker, Kleinkunststücke, Bd. 3,1989, S. 29f. Felix Dahn (1834-12) Historiker, Jurist und
Schriftsteller, genoß bei den Nazis wegen der völkisch-nationalen Tendenz seiner Bücher („Die Könige
der Germanen“, 20 Bände; „Ein Kampf um Rom“, 4 Bände) hohes Ansehen. Emil Ludwig (1881-1948)
gehörte zu den „verbrannten Dichtern“ während der Nazi-Diktaturund mußte fliehen. Er verfaßte die
Biographien „Wagner oder Die Entzauberten“, „Goethe“, „Roosevelt“. -Das Wort „nebbich“ ist jidischer
Herkunft und bedeutet „schade“, „leider“. Hermann Haller (1871 -1943) kreierte in Berlin nach ihm
benannte Revuen. Max Reinhardt (1873-1943) schrieb für das Künstlerkabarett Schall und Rauch und
zählt zu den profiliertesten Regisseuren der Republik. Sein bürgerlicher Name ist Goldmann. Krüger
spielt absichtsvoll auf den jüdischen Namen an.
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Gepfeffertes aus München und Zürich
Erika Mann, 1934
Neunundzwanzig Tage vor Hitlers Ernennung zum Reichskanzler gründet Erika Mann am
1. Januar 1933 zusammen mit dem Bruder Klaus und der bereits arrivierten Therese
Giehse das politisch-literarische Kabarett Die Pfeffermühle in München. Der Vater,
Thomas Mann, hat die Idee für den Namen; er spricht von dem Unternehmen als
„Schwanengesang der deutschen Republik“. Erika Mann weiß von Anfang an um die
Gefährlichkeit der politischen Situation, um das eingegangene Risiko. Der Völkische
Beobachter nahm die Schauspielerin und Publizistin bereits 1932 unter massiven
Beschuß. Sie referierte bei der „Internationalen Frauenversammlung für Frieden und
Abrüstung“. Das Kampfblatt VB drohte ihr und der Familie ganz unverhohlen: „Das Kapitel
'Familie Mann' erweitert sich nachgerade zu einem Münchener Skandal, der auch zu
gegebener Zeit seine Liquidierung finden muß.“ Erika Mann läßt sich durch die kruden
Drohungen nicht einschüchtern und verfolgt unbeirrt die Pläne für die Etablierung des
Kabaretts. Sie riskiert beim Aufmarsch der braunen Kolonnen den politisch-literarischen
Gegenangriff und notiert später:
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„Es war ein kühnes Unterfangen. Denn von Anfang an war die 'Mühle' militant antinazistisch.
Während Hitler brüllte, schwiegen wir nicht. Wir schwiegen auch nicht an jenem Februarabend,
da im Hofbräuhaus, Rücken an Rücken mit unserer 'Bonbonniere', der 'Führer' seine
Antrittsrede als Reichskanzler hielt. In unserem überfüllten Saal befand sich Herr Frick - eifrig
kritzelnd. Er stellte seine schwarze Liste her. Wir spielten, während der Reichstag brannte.“14
Nach dem Reichstagsbrand am 27. Februar 1933 residiert der braune Ritter von Epp als
Gauleiter in München. Die erste Verhaftungswelle rollt. Otto Falckenberg, Direktor der
Kammerspiele, wird von den Nazis vorübergehend in „Schutzhaft“ genommen.15 In
München spielt Die Pfeffermühle nur zweimal. Das Kabarett debütiert mit Texten von
Erika und Klaus Mann und Walter Mehring, das Folgeprogramm (Premiere 1.2.1933)
bildet bereits das Finale in Deutschland vor der erzwungenen Flucht. Die streitbare
Kabarettistin Mann erinnert sich:
„Es war undenkbar, die ,Pfeffermühle` weiter zu betreiben. Ich ging zu dem Besitzer vom
'Serinissimus' und sagte: 'Es ist Ihnen klar, daß wir nicht am 1.4. bei Ihnen eröffnen können.'
Der, ein Ur-Münchner, sagte: 'Was, warum nicht. Sie haben einen Vertrag, einen Vertrag
ham'S!' Ich sagte: 'Ja ja, wir haben einen Vertrag, aber wir sind doch ein AntidingsdaUnternehmen, und die Schwarzen Listen liegen schon vor, und das wäre doch für Sie, auch für
Sie ...' Sagt er: 'Für mi! Des war no des Bessre, es geht ums G'schäft.' Ich sagte: 'Ja, es geht
ums Geschäft, aber es wird ja sofort geschlossen, und wir werden alle verhaftet. Sie auch!' Sagt
er: 'I? Ich bin ein altes Parteimitglied, da schaun's her, und ich stell Ihnen ein SA-Saalschutz, Sie
werden beschützt sein ...' Ich hab also gesagt: 'Mit einem SA-Saalschutz machen wir das einsA, die Sache ist geschaukelt, das wäre ja noch besser.', 'Ja', sagt er, 'sonst müßt ich Sie wegen
Vertragsbruch glatt belangen.' 'Nein, wir treten auf.' Also dies gesagt habend, setzte ich mich mit
den Mitgliedern meiner Truppe in Verbindung und sagte: 'Dies geht nicht, wie Euch klar ist.'“16
Mit englischem Paß ist die Flucht nach Zürich für Erika Mann problemloser als für das
übrige Ensemble. Therese Giehse, Sybille Schloß und der Komponist und Pianist Magnus
Henning folgen in das Exil. Nach längeren, durchweg schwierigen Vorarbeiten eröffnet
das erste Exil-Programm der Pfeffermühle im Züricher Hotel „Hirschen“ am 30. September
1933. „Dieses ungewöhnliche Kabarettprogramm“, schreibt Klaus Mann, „hatte nicht nur
sittlichen Ernst und geistige Aktualität, sondern Charme, Rhythmus, Laune:
14 Mann, Erika, 1984, S. 30. Die Bonbonniere war die Kleinkunstbühne in der Neuturmstraße 5 in München.
Hiergastierte zunächst Die Pfeffermühle. Wilhelm Frick (1877-1946) war der berüchtigte
Reichsinnenminister und Berater Hitlers.
15 OttoFalckenberg (1873-1947) war Mitbegründer des politisch-literarischen Kabaretts Die Elf Scharfrichter
in München. Es spielte seit Früjahr 1900 bis Herbst 1904.
16 Zitiert in: Keiser-Hayne, 1990, S. 48. Serinissimus war als das neue Domizil für Die Pfeffermühle
vorgesehen. Zur Geschichte des Mann Kabaretts Vgl. Mann, Klaus, 1952, S. 299f, 316f. und S. 380.
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Eigenschaften, ohne die keine Gesinnung, sei sie noch so schön, sich bei dem
Theaterpublikum durchsetzt.“17
Die Texte können im übrigen jetzt in der Fremde die häßlichen Spuren im Gesicht von
Hitler-Deutschland schärfer umreißen, als es beim Münchner Start möglich war. Das
erzwungene Exil bietet die Chance, den Gegenstand der Kritik deutlicher zu artikulieren.
Die Autoren begnügen sich keineswegs nur mit artigen Andeutungen und unverbindlichen
Anspielungen. Der Barbarismus im Reich läßt sich benennen, die Aufkündigung der
Menschenwürde wenigstens aus der Distanz ins Visier nehmen. Therese Giehse als Frau
X besingt die Furcht vor neuen Kriegen, das Säbelrasseln jenseits der Grenze:
Wenn wir daheim sind und am Radio hören,
Wie das so funkt und tut aus manchem Reich.
Und andre Leute lassen sich nicht stören, Nur Österreich selber ward ein bißchen bleich18
Der militärische Griff nach der Alpenrepublik steht noch aus, doch die Kassandra im
Theatersaal vom Hotel „Hirschen“ beschwört vorauseilend kommende Ereignisse. Mit
politischer Intuition hat dies zu tun, mit einem sensiblen Gespür für die realen
gesellschaftlichen Machtverhältnisse und die damit verbundenen Gefahren. Die neu
errungene Freiheit außerhalb Deutschlands hat freilich auch ihre Schranken. Die
Fremdenpolizei ist dem Ensemble permanent auf den Versen, die dubiosen
diplomatischen Beziehungen zwischen Bern und Berlin erschweren indirekt den
ungezügelten Zungenschlag in der Pfeffermühle. Die Kritik in der Neuesten Zürcher
Zeitung ist freundlich und wohlwollend, das Baseler Publikum applaudiert nach einem
Abstecher nicht minder.
17 Mann, Klaus, 1952, S. 316.
18 Mann, E., Frau X, zitiert in: Keiser-Hayne, 1990, S. 55.
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Die Pfeffermühle
Es war eine reichlich massivere „Kunst“, die einen bisher aus den ausgehängten Photos und
Plakaten im Vorbeigehen am „Gambrinus“ anrief, als die, welche seit gestern dort eingezogen
ist. Skeptisch ging man hin: werden die Basler wirklich dem Rufe hierher folgen? Und die erste
Überraschung, wie man das Lokal betritt, ist - das Publikum. Der Saal ist bombenvoll, viel
Künstlerjugend, und daneben ein wenig tout Bâle! Was in Zürich glänzend gelang, scheint in
Basel nicht fehlschlagen zu wollen. Und gerne beglückwünscht man das Halbdutzend junger
Künstler, die sich da um Erika Mann, die Dichtertochter und begabte Dichterin, geschart haben,
zu ihrem Unternehmen. Denn sie überraschen uns wirklich mit etwas Apartem. Erika Mann
bringt ja aus München Kabaretttradition mit. Und doch: wie hat sich seit Wolzogens Ueberbrettl,
seit den Elf Scharfrichtern und dem Simplizissimus das literarische Kabarett wieder gewandelt!
Wie zeitberührt sind diese jungen Menschen, wie weit entfernt vom Klingklanggloribusch
romantischer Vorkriegs Kabarettkunst. Wie ernst ist ihr Spott und doch wie echt dabei ihr
Lachen, wie treffsicher ihre Satire, wie übermütig ihre Kunst und doch wie gesinnungsgetragen.
Wenn Erika Mann ihren Märchentraum vorträgt, dann wird die tiefere Kraft, die in ihrem Dichten
und Singen steckt, ganz offenbar, und für Harlekins Zeitlied möchte man ihr ganz besonders
danken. Ihres Bruders Klaus Beiträge zum Programm sind da viel mehr auf äußeren Effekt hin
gearbeitetes, wenn auch schlagkräftiges Kabarett. (...)
Basler Nationalzeitung, November 193319
Doch es gibt Kritik von ganz links, von sozialdemokratischer und kommunistischer Seite.
Dem Kabarett fehle es an klassenkämpferischem Engagement, heißt es. Der parteiliche
Vorwurf vergißt freilich die Adressaten im Parkett und das Anliegen der exilierten
Harlekine. Sie missionieren nur insofern, als das literarische Anliegen mit der Konvention
parteiloser Mitmenschlichkeit übereinstimmen muß. Die Botschaften gegen
Bevormundung und Tyrannei bedürfen nicht der plakativen Etikette. Jiri Voskovec,
tschechischer Kabarettist und Autor, schreibt einen Brief an Erika Mann und Die
Pfeffermühle und charakterisiert die Qualitäten des antifaschistischen Kabaretts.
Liebe Erika Mann und liebe Pfeffermühle,
ich komme ungefähr einmal im Jahr ins Theater, weil ich jeden Abend spiele: 1935 habe ich das
Glück gehabt, der schönsten Aufführung beizuwohnen, die ich je gesehen habe, auf der
kleinsten Bühne, die ich je zu sehen bekam.
Ich möchte Ihnen sagen, wie sehr ich Ihre Glut, Ihr Herz, Ihren Stil und Ihren Mut
bewundere. Es ist eine recht kleine Insel, eine winzige Oase inmitten eines verfaulten Europas,
aber wie schön ist diese Insel und welch ein Trost stellt sie dar!
19 Zitiert in: Keiser-Hayne, 1990, S. 61.
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Sie werden nie den Erfolg ernten können, den Sie verdienen; seien Sie aber zumindest
in der Gewißheit gestärkt, die von Dauer ist: Sie machen das einzige Theater, das ich als das
wahre bezeichnen kann, ein Theater, in dem weder Tricks noch Manien zählen, sondern allein
das Herz und das Bedürfnis, etwas auszudrücken.
Auf Wiedersehen und Dank an alle Prag, den 9.2.1935
Jiri Voskovec20
Das politische Selbstverständnis der Kabarettisten ruft indessen reaktionäre Schweizer
Kreise auf den Plan. Mit gezielten Provokationen schüren die „Frontisten“ bei den
Aufführungen Krawalle. Das angeheizte Klima erinnert an bekannte und ferngelenkte
Störaktionen aus Nazi Deutschland. Der Kanton Zürich beugt sich schließlich dem Druck
der rechten Kreise und verabschiedet 1935 die „Lex Pfeffermühle“. Das kantonale Gesetz
verbietet ausländischen Kabarettisten, mit „politischen“ Texten aufzutreten. Zuvor schon
haben der Völkische Beobachter und die politische Polizei im Reich versucht, über die
Grenze hinweg die Auftritte der Pfeffermühle zu unterbinden. Der österreichische
Gesandte in Bern läßt sich in die Kampagnen gegen das Kabarett einspannen. In einem
diplomatisch gehaltenen Brief versucht Erika Mann zu beschwichtigen. Doch dem Druck
der Politik vermögen die Kabarettisten auf Dauer nicht zu widerstehen. Die Exilierten
packen die Koffer- schon wieder. Die Tourneen in die Enklaven des noch unbesetzten
Europas beschreiben den verengten Spielraum der Truppe. Es ist eine permanente
Fluchtbewegung vor staatlichem Terror, der Krieg gegen das freie Wort überschreitet jetzt
alle Grenzen.
Von 1933 bis 1937 gibt es 1034 Vorstellungen der Pfeffermühle. Nach dem
Aufführungsverbot in der Schweiz spielen die Künstler in Holland, Belgien, Luxemburg
und der Tschechoslowakei. Die Flucht führt zuletzt bis in die Vereinigten Staaten. Mit
einem Fiasko der Peppermill in New York endet die Wanderschaft der verfemten und
verfolgten Kabarettisten 1937. Amerika hat seine Schwierigkeiten mit der kleinen und
bitteren europäischen Kunstform. Der Kopf des Unternehmens aber, Erika Mann, versucht
sich gegen alle Widerstände als Publizistin und engagierte „Lecturer“ durchzusetzen. Das
Schicksal der Emigranten hat 1934 bereits Walter Mehring in der Mühle besungen.
20 Zitiert in: Mann, Erika, 1984, S. 65.
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Der Emigrantenchoral
Werft eure Herzen über alle Grenzen,
Und wo ein Blick grüßt, werft die Anker aus!
Zählt auf der Wandrung nicht nach Monden, Wintern, LenzenStarb eine Welt - ihr sollt sie nicht bekränzen!
Schärft das euch ein und sagt: Wir sind zu Haus!
Baut euch ein neues Nest!
Vergeßt - vergeßt Was man euch aberkannt und euch gestohlen!
Kommt ihr von Isar, Spree und Waterkant:
Was gibt's da heut zu holen?
Die ganze Heimat und
Das bißchen Vaterland
Die trägt der Emigrant
Von Mensch zu Mensch – von Ort zu Ort
An seinen Sohlen, in seinem Sacktuch mit sich fort.
Tarnt Euch mit Scheuklappen - mit Mönchskapuzen:
Ihr werdt Euch doch die Schädel drunter beuln!
Ihr seid gewarnt: das Schicksal läßt sich da nicht uzen
Wir wollen uns lieber mit Hyänen duzen
Als drüben mit den Volksgenossen heuln!
Wo Ihr auch seid:
Das gleiche Leid
Auf 'ner Wildwestfarm - einem Nest in Polen,
Die Stadt, der Strand, von denen Ihr verbannt:
Was gibt's da noch zu holen?
Die ganze Heimat und
Das bißchen Vaterland
Die trägt der Emigrant
Von Mensch zu Mensch - von Ort zu Ort
An seinen Sohlen, in einem Sacktuch mit sich fort.
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Werft eure Hoffnung über neue Grenzen Reißt Euch die alte aus wie'n hohlen Zahn!
Es ist nicht alles Gold, wo Uniformen glänzen!
Solln sie verleumden - sich vor Wut besprenzen Sie spucken Haß in einen Ozean!
Laßt sie allein
Beim Rachespein
Bis sie erbrechen, was sie euch gestohlen,
Das Haus, den Acker - Berg und Waterkant.
Der Teufel mag sie holen!
Die ganze Heimat und
Das bißchen Vaterland
Die trägt der Emigrant
Von Mensch zu Mensch - landauf, landab
Und wenn sein Lebensvisum abläuft, mit ins Grab.
Walter Mehring, 193421
Hans Sahl, Dichter und Emigrant, erinnert sich:
Es gehörte Mut dazu, den Kampf gegen Hitler in einem Lande auszutragen, das sich, jedenfalls
nach außen hin, zu politischer Neutralität verpflichtet hatte und wahrscheinlich nur aus
Rücksicht auf den Namen Thomas Mann seine Tochter stillschweigend gewähren ließ. Erika
Mann hatte in der Pfeffermühle einen Stil entwickelt, der Kunst mit Politik und Literatur geschickt
vermischte. Sie schrieb ihre Texte selber und trug sie vorn an der Rampe vor. Sie hatte große,
brennende Augen und einen wunderbar geformten, klassischen Kopf, der mit den in die Stirn
gekämmten Haarsträhnen ein wenig an Heinrich von Kleist erinnerte. Sie war von einer
Unmittelbarkeit, die überzeugte, weil sie so verblüffend kunstlos etwas beim Namen nannte, das
in der Luft lag. „Warum ist es so kalt?“ sang sie. Oder das Chanson, mit dem die
unvergleichliche Therese Giehse vor das Publikum trat und mit dröhnender Stimme verkündete:
„Ich bin die Dummheit, hört mein Lied.“
Erika Mann wirkte vor allem durch ihre Persönlichkeit. Mehr noch als dies: sie hatte eine
Mission, sie war die Tochter Thomas Manns, seine Statthalterin auf Erden. Sie war sein
politisches Gewissen, die letzte Instanz, an die der ewig Zaudernde und Zögernde sich wandte,
wenn er nicht weiter wußte. Sie war es auch gewesen, die Thomas Mann schließlich bewog,
sich von Deutschland loszusagen.
21 Zitiert in: Kühn, Volker, Kleinkunststücke, Bd. 3, S. 59f. Mehring trug seinen Text 1934 beim Baseler
Gastspiel der Pfeffermühle persönlich vor. Er war für Therese Giehse eingesprungen.
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Hans Sahl, Das Exil im Exil, 199022
Witz als Widerstand - Werner Finck provoziert die Nazis in der
Katakombe
Der Apothekersohn aus Görlitz kommt auf Umwegen 1928 nach Berlin. Als ausgebildeter
Schauspieler spricht er Verse und Reime; zunächst im literarisch-politischen Kabarett Die
Unmöglichen, im Larifari, dann im Küka, dem Künstler-Kaffee in der Budapester Straße.
Einen ersten Zusammenstoß mit der politischen Wirklichkeit erlebt Werner Finck bei der
Parodie auf ein jiddisch-russisches Theaterstück. Es kommt zum Skandal. Das
vorwiegend jüdische Publikum bei den Unmöglichen erzwingt die Absetzung der Nummer.
Jahre später, 1935 im Konzentrationslager Esterwege, drängt die SS-Leitung den
Conferencier Finck, die Nummer auch dort hinter Stacheldraht vorzutragen. Der Künstler
erinnert sich: „Ich bedauerte, daß ich den Text völlig vergessen hätte und daß er mir
wahrscheinlich erst wieder einfallen werde, wenn die Juden nicht mehr verfolgt und
vernichtet werden.“23
Werner Finck läßt sich nicht vereinnahmen. Er verstummt nicht im Konzentrationslager
und er erkennt vor der sogenannten Machtergreifung die aufziehenden Gefahren. Dabei
ist seine Kritik eher verhalten und von sarkastischer Noblesse. Das, was er zu kritisieren
hat, nennt er chiffriert beim Namen, ohne daß er dabei sein Gesicht je in Haß verzerrt.
Politische Aufklärung ist bei ihm auf allen Bühnen, die er bespielt, ein humanes Geschäft.
Seine Worte zerstören nicht, sie desavouieren und demaskieren. Sie beschreiben die
törichte Dumpfheit der Herrenmenschen und ihre schamlose Ideologie.
Nach dem Krieg beklagt Werner Finck, daß die Mehrheit der Kabarettisten in der
Weimarer Republik den aufziehenden Faschismus unterschätzt hätten, sich selbst nimmt
er dabei keineswegs aus. Doch der „Fall Werner Finck“ belegt eindrücklich den genutzten
Spiel- und Oppositionsraum unter den Bedingungen der Diktatur. Die Sticheleien des
22 Sahl, Hans,1990, S. 40f.
23 Finck, Werner, 1972, S. 43.
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Künstlers gegen das Regime, die Provokation der Mächtigen im NS-Staat ist ein naiver
und zugleich ausgeklügelter Balanceakt, stets bedroht mit Berufsverbot oder Inhaftierung.
Frühzeitig polemisieren nationalsozialistische Kampfblätter gegen den Schauspieler und
Komiker. In dem berühmt-berüchtigten Fridericus-Film „Der Choral von Leuthen“ (1932)
erhält Finck eine Nebenrolle. Unter der Regie von Carl Froelich mimt er einen Kandidaten
der Theologie. Die Stahlhelm-Zeitung spricht von einem „unverzeihlichen Mißgriff“ und
poltert: „Dieser 'große Dichter' Werner Finck, der von Krieg und Heldentum keine Ahnung
hat, muß ausgerechnet auf den Feldern von Leuthen den Heldentod sterben!“24 Die
braune Film-Kritik belegt anläßlich der Uraufführung des Streifens im Februar 1933 den
latenten Widerspruch zwischen öffentlichem Agieren des Künstlers in der Katakombe und
den Intentionen des propagandistisch operierenden Fridericus-Schinkens.
Kabarett unter dem Hakenkreuz, das heißt für das Ensemble der Katakombe, sich in der
Kunst der hingespielten Andeutung zu spezialisieren. Jedes Wort zu viel kann dem
Schlußstrich für das Unternehmen bedeuten. Kontrolliert und überwacht durch Gestapo
und Sicherheitsdienst, nimmt der Kabarettist seine Überwacher höchstpersönlich ins
Visier. Finck spricht sie an: „Spreche ich zu schnell? Kommen Sie mit? - Oder - muß ich
mitkommen?“ - so lautet eine der vielen Provokationen, die an die Zensoren im Saal
gerichtet sind.25
Die ungebrochene Popularität des Künstlers Werner Finck ist es letztlich, die ihn zunächst
vor dem Zugriff der politischen Polizei schützt. Den Skandal einer Verhaftung zieht der
Propagandaminister Joseph Goebbels sicherlich mit ins politische Kalkül. Immerhin räumt
das Regime dem Künstler eine Galgenfrist von zwei Jahren ein, bis der Vorhang in der
Katakombe endgültig nicht mehr hochgeht. Bis zuletzt frotzelt Finck ganz halsbrecherisch
über die Rassepolitik:
In der Ritterzeit taucht in unserer Familie ein Knappe Lewinski auf. Glücklicherweise brannte die
Kirche in seinem Sprengel ab, so daß keine nachteiligen Beweise mehr vorhanden sind.
Oder er macht sich sehr freie Gedanken über Deutschlands Bäume in Verbindung mit
Adolf Hitler:
24 Zitiert ebd., S. 61.
25 Vgl. Kabarett 1946-1969, CD 1, Nr. 2: „Am besten nichts Neues“.
31
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Weil ich mit meinem kleinen Bäumchen so reingefallen war, wollte ich mir beim Fachmann den
Sprößling eines großen Baumes besorgen. Den fand ich dann auch in einer Baumschule, der
Gärtner bot mir den Steckling einer Eiche an. Preis 150.- Mark. Mir blieb die Spucke weg. „Das
ist doch ein Wucherpreis“, rief ich, „wenn das der Führer wußte!“ „Ja“, sagte der Baumverkäufer,
„das ist ja auch keine gewöhnliche Eiche, das ist eine Hitler-Eiche, die kann 1000 Jahre alt
werden.“ „Na“, meinte ich, „das ist eine Vertrauenssache.“26
Werner Finck muß die Pointe auf Weisung dann streichen. Ergebnis: er
verschlimmbessert die Klimax durch eine weitere, höchstriskante Volte.
Am nächsten Abend habe ich mich entschuldigt: Es wäre keine Vertrauenssache - im Gegenteil!
Ich wäre mit dem gesunden Wachsen der Hitler-Eiche sehr zufrieden. „Vor ein paar Monaten
war sie noch ganz klein, gerade bis zu meinen Knöcheln, dann reichte sie mir bis an die Knie,
und jetzt steht sie mir schon bis zum Hals“27
Aus historischer Distanz von rund sechzig Jahren muten die Seitenhiebe gegen die
Tyrannei den Leser vielleicht harmlos an. Die Texte und Vorträge des Chefs der
Katakombe haben gewiß nicht die literarische Dichte eines Kurt Tucholsky, die geballte
Kampfkraft eines Walter Mehring oder das aufklärerische Pathos von Erich Mühsam.
Doch die oberflächliche Einschätzung verkennt den Kontext und den Spielraum, der dem
satirischen Wort nach 1933 noch eingeräumt bleibt. Werner Finck, der Bourgeois mit der
Moral eines Humanisten und Republikaners, predigt keine neue politische Utopie, ist
gewiß kein Sozialist, und redet doch dem aufgeklärten Menschenverstand und der
Menschenwürde das Wort. Unter den Bedingungen des Staatsterrors schöpft er die
Nischen des versteckten und sublimen Widerstands im Wort aus. Finck ist ein Exempel
des Mutes und der unbeugsamen Zivilcourage. Wo andere schweigen oder sich
Scheuklappen anlegen, kitzelt er die braunen Militaristen, gibt dem Publikum ein Beispiel,
wie individuelle Integrität unter den neuen Machtverhältnissen zu bewahren sei. Der
Kampf des David mit der Tarnkappe gegen den Staats Goliath bleibt ein Intermezzo des
intellektuellen Widerstands, ein unnachahmliches Signal.
Im „Fragment vom Schneider“, 1935 in der Katakombe zusammen mit Ivo Veit
vorgetragen, wird die subversive Kraft des Kabaretts und ihre Stoßrichtung gegen
Militarismus und die faschistische Ideologie deutlich.
26 Finck, Werner, 1972, S. 64 .
27 Ebd., S. 65.
32
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Den Sketch nehmen die Nazis zum Anlaß, um das Auftrittsverbot für Finck und seine
Kollegen nach langen „Vorarbeiten“ der Gestapo definitiv durchzusetzen.
Fragment vom Schneider
(Auf der Bühne ein Stuhl. Der Schneider wartet. Ein Kunde kommt herein.)
Schneider (Ivo Veit): Womit kann ich dienen?
Kunde (Werner Finck, beiseite):
Spricht der auch schon vom Dienen! (Laut) Ich möchte einen Anzug haben.
(Vielsagende Pause. Dann nachdenklich, mit gedämpfter Stimme:) Weil mir was im
Anzug zu sein scheint.
Schneider: Schön
Kunde: Ob das schön ist - Na, ich weiß nicht ...
Schneider: (Etwas ungeduldig) Was soll's denn nun sein? Ich habe neuerdings eine
ganze Menge auf Lager.
Kunde: Auf's Lager wird ja alles hinauslaufen.
Schneider: Soll's was Einheitliches oder Gemustertes sein?
Kunde: Einheitliches hat man jetzt schon genug. Aber auf keinen Fall Musterung!
Schneider: Vielleicht etwas mit Streifen?
Kunde: Die Streifen kommen von alleine, wenn die Musterung vorbei ist. (Dann
resigniert:) An den Hosen wird sich ein Streifen nicht vermeiden lassen ...
Schneider: Fangen wir mal erst mit der Jacke an. Wie wäre denn eine mit Winkel
und Aufschlägen?
KKunde: Ach, Sie meinen eine Zwangsjacke?
Schneider: Wie man's nimmt ... (fragt weiter:) Einreihig oder zweireihig?
Kunde: Das ist mir gleich. Nur nicht diesreihig ... (Von Finck gesprochen wie: „Nur
nicht dies Reich.“)
33
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Schneider: Wie wünschen Sie die Revers?
Kunde: Recht breit, damit ein bißchen was draufgeht. Vielleicht gehen wir alle mal
drauf. Immer fest druff, hat schon der Kronprinz gesagt. (Dann nachdenklich das
letzte Wort fortspinnend:) Vielleicht gehen wir alle mal drauf.
Schneider: Dann darf ich vielleicht einmal Maß nehmen?
Kunde: Doch, doch, das sind wir gewöhnt. (Der Kunde nimmt Haltung an, der
Schneider stellt sich mit dem Zentimetermaß neben ihn. Er nimmt Maß, während
der Kunde die Hände stramm an die Hosennaht legt:)
Schneider: (Auf das Maßband blickend:) 14/18.-Ach, bitte, steh'n Sie doch bitte
einmal gerade!
Kunde: Für wen?
Schneider: Ach so - ja ... Und jetzt bitte den rechten Arm hoch - mit geschlossener
Faust 18/19. Und jetzt mit ausgestreckter Hand ... 33 ... Ja, warum nehmen Sie
denn den Arm nicht herunter? Was soll denn das heißen?
Kunde: Aufgehobene Rechte ...28
Die Doppelbödigkeit der Satire, ihre antimilitaristische Tendenz bei gleichzeitigen
Seitenhieben auf den Geneneralfeldmarschall Hermann Göring und seine Ordenssucht,
die kaum verhüllte Benennung der Konzentrationslager, alles das muß der geheimen
Staatspolizei höchst verdächtig sein. Die relative Narrenfreiheit der Katakombe dauert
trotz günstiger Pressestimmen nur bis zur Jahreswende 1934/35. Danach wird das
Programm auf Weisung der Herren Goebbels, Reinhard Heydrich und Gestapochef
Heinrich Müller massiv überwacht. „Das Fragment vom Schneider“ wird ebenso
beanstandet wie eine freche Satire („Fragment vom Zahnarzt“) über die Bespitzelung der
Mitbürger im NS-Staat. Unter dem Datum 6. Mai 1935 ist ein Dossier überliefert, in dem
es verunsichert und grollend über die Auftritte in der Lutherstraße 22 heißt:
„Die Darbietungen stehen durchweg auf einem sehr niedrigen Niveau und sind fast
ausschließlich politisch beeinflußt. Sie stellen so ziemlich das Übelste an politischer
Brunnenvergiftung dar, wie sie im neuen Staat überhaupt noch möglich sein kann. Bei jedem
politischen Angriff, mag er auch noch so versteckt sein, rast das eigenartig zusammengesetzte
28 Zitiert in: Hippen, Reinhard, 1988, S. 96; mit kleinen Varianten auch in: Heiber, Helmut, 1966, o.S.; Finck,
Werner, 1972, S. 66.
34
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Publikum Beifall: Es wartet nur auf das politische Stichwort, (sic) das oft nur in einer zynischen
Andeutung besteht. Besonders gefährlich erscheint der pazifistische Einschlag in den
Darbietungen, in denen alles Militärische verächtlich gemacht wird. Es hat sich bei dieser Art
Kabaretts gegen früher nichts geändert. Die Personen, die hauptsächlich peinlich und hetzerisch
wirken, sind Werner (sic) Fink, Heinrich Giesen und Ivo Veit.“29
Am 10. Mai schließen Die Katakombe und das Tingeltangel Theater (ITT). Das Referat III
A 1/1 meldete am 18. Mai
„Gemäß Entscheidung des Herrn Reichsminister Dr. Goebbels sind die nachstehend
aufgeführten, in der Angelegenheit 'Tingel-Tangel' und 'Katakombe' in Schutzhaft genommenen
Schauspieler für die Dauer von 6 Wochen in ein Lager mit körperlicher Arbeit zu überführen.
1.) Walter Gross, 5. 2. 04 Eberswalde geb.,
2.) Walter Liek, 15. 6. 06 Charlottenburg geb.,
3.) Heinrich Giesen, 20. 3. 13 Berlin geb.,
4.) Walter Trautschold, 20. 2. 02 Berlin geb.,
5.) Werner Finck, 2.5. 02 Görlitz geb.,
6.) Günther Lüders, 5. 3. 05 Lübeck geb.
Ich bitte, die Überführung der vorgenannten Schutzhäftlinge in das Konzentrationslager
Esterwege beschleunigt durchzuführen.“30
Bis Anfang Juli 1935 sitzen die Künstler von der Katakombe und vom Tingeltangel in
Esterwege bei Papenburg in „Schutzhaft“ und erst im Herbst 1936 gibt es ein
Gerichtsverfahren. Doch das juristische Unterfangen erweist sich als hausgemachte
Blamage. Das eigens etablierte „Heimtücke-Gesetz“ von 1934 bleibt in seiner Anwendung
auf die Kabarettisten ein untaugliches Instrument. Die Anklageschrift nennt u.a. aus
Conférencen, politische Witze, Chansons und Sketche, die öffentlich zu verlesen sind.
Der prozessuale Vortrag gipfelt in einer brisanten und grotesken Zuspitzung. Die
inkriminierten Passagen, auch das „Fragment vom Schneider“, müssen der Öffentlichkeit
29 Zitiert in: Heiber, Helmut, 1966, S. 23.
30 Ebd., S. 55.
35
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ein weiteres Mal zur Kenntnis gebracht werden. Werner Finck erinnert sich an
„ungeniertes Gelächter“ unter den Anwesenden und an einen gereizten Vorsitzenden der
Kammer, der wütend dazwischenfährt: „Wenn das Gelache nicht aufhört, lasse ich den
Saal räumen! Wir sind hier nicht im Kabarett!“31 Mangels Beweisen stellt das Gericht das
Verfahren ein, ein Tatbestand, der nur formal für einen Rest an Rechtsstaatlichkeit
spricht. Die Verurteilung des populären Kabarettisten und seiner Kollegen zu einer
längeren Haftstrafe wäre ohne politischen Gesichtsverlust in der Presse kaum zu
vermitteln. Auch bei den vorangegangenen Schauprozessen des Jahres 1935 gegen
verdiente Rundfunkintendanten und Hörfunkpioniere aus der Weimarer Republik darunter Hans Flesch, Hans Bredow und Kurt Magnus - vermeiden es die
Nationalsozialisten tunlichst, den Bogen zu überspannen. Die intendierte Verhängung von
Freiheitsstrafen käme in beiden Fällen einem Pyrrhus-Sieg gleich. Die Richter, die das
Verfahren gegen Die Katakombe und das Tingeltangel leiten, werden auf Anordnung des
Propagandaministers strafversetzt; der Minister bekundet damit seinen Unmut.
Für Werner Finck folgen Monate mit eingeschränkter Berufstätigkeit und nur
gelegentlichen Bühnenauftritten. Im Kabarett der Komiker (KadeKo) kann Werner Finck
bedingt weiterarbeiten, bis auch dieses Theater den Betrieb auf Weisung einstellt. Auf die
Frage des Berliner Tageblatt, ob die Deutschen Humor haben, antwortet der Kabarettist
Finck schlagfertig wie gewohnt:
„Doch, doch, wir haben. Oder meinen Sie mit wir Ihr geschätztes, auf 90.000 geschätztes Blatt?
Denn schon die Fragestellung beweist es. - Oder meinen Sie uns, wenn Sie wir sagen? Auch
dann bejahe ich es. Denn unter uns haben wir Humor. Aber das unter uns. Bliebe also noch die
Frage, ob wir über uns auch Humor haben.“32
Diese neuerliche Attacke gegen das System, das antidemokratische Klima und den
verwalteten NS-Humor führt dann endgültig zum umfassenden Berufsverbot für Werner
Finck und zum Ausschluß aus der Reichskulturkammer. Das Berliner Tageblatt stellt sein
Erscheinen ein. Aufgeschreckt durch den publizistischen Wirbel um die Kabarettisten,
sieht sich Goebbels seinerseits gedrängt, zu erläutern, was deutscher Linien-Humor sei.
Im Schlagabtausch mit dem verhaßten Werner Finck meint der Minister am 4. Februar
1939 im Völkischen Beobachter:
31 Finck, Werner, S.72.
32 Ebd., S. 101.
36
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„Man komme uns nicht mit dem Einwand, daß wir humorlos wären. Wir waren nicht immer im
Besitz des Staates und der öffentlichen Gewalt. Auch wir standen einmal in der Opposition; und
es ist der deutschen Öffentlichkeit wohl noch nicht ganz entfallen, daß wir es waren, die einmal
einen gewissen Polizeipräsidenten mit Namen Isidor Weiß durch Witze politisch getötet haben.
Wir könnten also auch so mit unseren Kritikern verfahren, wenn wir wollten. Aber wir wollen
nicht. Wir haben keine Lust, und vor allem auch keine Zeit, uns mit armseligen Literaten
polemisch auseinanderzusetzen. Wir haben augenblicklich Besseres zu tun.
Die politische Witzemacherei ist ein liberales Überbleibsel. Im vergangenen System konnte man
damit noch etwas erreichen. Wir sind in diesen Dingen zu gescheit und erfahren, als daß wir sie
ruhig weitertreiben ließen. Wir wissen, daß jetzt die deutsch-feindlichen Zeitungen in Paris,
London und New York für unsere armen Conferenciers eintreten werden. Wir erwarten, daß die
demokratischen Gouvernanten in Westeuropa erdenklich Klagen führen werden über den
Mangel an Freiheit der Meinung in Deutschland. Uns berührt das innerlich gar nicht mehr.“
Weitere Konfrontationen mit der Goebbels-Diktatur wird der unbotmäßige Schelm nicht
durchstehen, genauer: überleben. Deshalb flieht der Kabarettist an die Front. „Flucht ins
graue Tuch“ heißt der Tatbestand.33 An der Front, so sieht es der verfolgte Kabarettist, ist
das Leben sicherer als im Umfeld der Gestapo in Berlin. Werner Finck hätte nach 1945
allen Grund, kollegiale Mitläufer, Denunzianten oder die halbherzigen inneren Emigranten
- es gibt derer im „Dritten Reich“ sehr viele - laut zu tadeln. Aber hier übt er sich in
souveräner Zurückhaltung. Mit seinem Publikum stellt er Einverständnis her. Finck gibt
den Zuhörern zu verstehen, daß sie damals unter dem „Irren“ genauso entschieden,
profiliert und mutig gehandelt hätten wie er, der lächelnde Diktaturverächter. Das ist eine
sympathische Vorgabe, eine allzu optimistische Einschätzung des Pädagogen in Sachen
deutscher Zivilcourage zugleich. Immerhin dient Werner Finck nach 1945 unverdrossen
und unbeschädigt als demokratisches Leitbild, er, der die politisch Labilen und braunen
Mitläufer wegen ihres Versagens nicht beckmesserisch tadelt. Anstatt über das Versagen
der eigenen Generation zu klagen, schlägt er bis zu seinem Tod 1978 versöhnliche Töne
an und lebt ohne Aufhebens als Beispiel zur Nachahmung empfohlen.
Am besten nichts Neues
Dieses Institut war die Katakombe am Potsdamer Platz in Berlin. Und da wir nun alle unbekannt
waren, waren wenig Leute da zu allererst. Es kamen kaum welche. Das waren vielleicht zwei,
33 Ebd., S. 109.
37
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drei. Auf die konnte man sich verlassen. Die waren von der Baupolizei. Die Baupolizei hatte
damals Anforderungen an uns gestellt, die waren ungeheuerlich. Beispielsweise verlangten sie
zwei Notausgänge. Stellen Sie sich das einmal vor! So ein kleiner Raum und zwei Notausgänge!
Und die hatten das Programm vorher noch gar nicht gesehen. (Lachen) Sehen Sie mal, und alle
die damals in der Katakombe waren, sind eigentlich später etwas geworden. Wir haben einen
Fehler gemacht, wir gingen nicht in die Politik hinein. Wir haben unser Publikum gehabt. Das
genügte uns. Und unser Publikum (...) Also: Wir genügten dem Publikum und so. (...) Es war
Inzucht. Dann haben wir uns gesagt: Ach Gott, das ist doch ein Irrer, haben wir uns gesagt. Das
ist doch ein Irrer, der Hitler. Als ob das was in der Politik zu sagen hat! (Lachen) Und eines
Tages landete ich denn im Gefängnis. 1935 war ich drin. Und völlig unvorbereitet! Das ist auch
eine Sache, die ich dem bürgerlichen Leben vorwerfe. Ich sehe noch den Moment, wo ein
baumlanger Mann auf mich zugeschossen kam, betastete mich von allen Seiten, sämtliche
Taschen oben, unten, Mitte und so, aber mit einem Griff, alles artistisch, und rief dazu: „Haben
Sie Waffen?!“ Ich sagte: „Nein. Wieso braucht man hier welche?“ So naiv war man da. Und alles
wegen ein paar politischen Witzen. Darauf lief's hinaus. Ich weiß noch ganz genau wie ich
eingezogen wurde. Ich hatte mich freiwillig gemeldet. Ja, 1939. Ich sollte ja für wehrunwürdig
erklärt werden. Unwürdig? Merkwürdig war ich. Da wurde die ganze Persönlichkeit aufgelöst - in
nichts. (...) Wie ich hörte, der Zusammenbruch ist da, bin ich erst mal auf die Schreibstube
gegangen, habe gefragt, ob noch was wäre (Lachen) und erst als man mir sagte, „vielen Dank“,
es hätte sich erledigt, gab ich mich dem Zusammenbruch hin.
Werner Finck34
In seiner Untersuchung über das schwäbische Humoristen-Paar Häberle und Pfleiderer,
alias Oscar Heiler und Willy Reichert, kommt Ulrich Keuler zu der Einschätzung, daß
Werner Finck das Machtgefüge im NS-Staat zwar nicht erschüttern konnte, „aber er
brachte die Fassade der Eintracht zum Bröckeln, erinnerte daran, daß das Staatsgebäude
auf einem Fundament von Zwang und Einschüchterung ruhte.“35 Im Kontext des
industriellen Mordens gehört dieser bald spaßige, bald subversive Kabarettist in der Tat
zur kleinen Galerie der Unbeugsamen. Sein Witz und seine „Lust am Widerspruch und am
Widerstand zuckten, sobald er das Gefühl hatte, man wolle seine Freiheit beschneiden.
Und das wollte man.“36 Zum Widerstandskämpfer läßt sich Finck nach 1945 nicht
stilisieren. Er könnte diese gängige Art der persönlichen „Bewältigung“ allemal für sich in
Anspruch nehmen. Er tut es nicht. Der Kabarettist Weiß Ferdl (1883-1949), früher
Sympathisant der Nationalsozialisten und strammer bajuwarisch-völkischer Komiker,
bemüht sich nach dem Krieg zum Beispiel um solche nützliche Legendenbildung. Finck
hat derlei Kapriolen nicht nötig.
34 Kabarett 1946-1969, CD 1, Nr. 2.
35 Keuler, Ulrich, 1992, S. 62.
36 Friedrich Luft in: Finck, W., 1972, S. 9.
38
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An meinen Sohn Hans Werner
Du brauchst dich deines Vaters nicht zu schämen,
Mein Sohn.
Und wenn Sie dich einmal beiseite nehmen
Und dann auf mancherlei zu sprechen kämen,
Sei stolz, mein Sohn.
Sie haben deinem Vater reichlich zugesetzt,
Mein Sohn. Ihn ein- und ausgesperrt und abgesetzt,
Sie haben manchen Hund auf ihn gehetzt
Paß auf, mein Sohn:
Dein Vater hat gestohlen nicht und nicht betrogen,
Er ist nur gern mit Pfeil und Bogen
Als Freischütz auf die Phrasenjagd gezogen Und so, mein Sohn,
Kannst du den Leuten ruhig in die Augen gucken,
Mein Sohn.
Brauchst, wenn sie fragen, nicht zusammenzucken.
Ich ließ mir ungern in die Suppe spucken,
Das war's, mein Sohn.
Wie vieles hat der Wind nun schon verweht,
Mein Sohn.
Der Wind, nach dem ich mich noch nie gedreht Daß dir mein Name einmal nicht im Wege steht,
Gib Gott, mein Sohn!37
37 Ebd., S. 171.
39
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Bertolt Brecht, mit Applaus für die „inneren Emigranten“ und Hinterbliebenen während des
„Dritten Reichs“ gewiß sparsam, schreibt 1947 anläßlich eines Finck-Gastspiels in Zürich
eine Eloge auf den Narren. Der Sozialist verteilt über den unbeugsamen Alleinunterhalter
nur die allerbesten menschlichen und zeitgeschichtlichen Noten.
Eulenspiegel überlebt den Krieg
Werner Finck gewidmet
Gleichend einer madigen Leich
Lag das dutzendjährige Reich
Als, fünfhundert Jahre alt
Eulenspiegel in Gestalt
Sich den Schweizern präsentierte
Und, für eine Mahlzeit, referierte
Wie, indem er Witze riß und bebte
Er die großen Zeiten überlebte.
Denn es war für Späßemacher
Die S.S. ein schlechter Lacher:
Eulenspieglein an der Wand,
Wer ist der Dümmste im ganzen Land?
Nun, da galt es mittlerweilen
Sich die Späße einzuteilen
Sich den Gürtel eng zu schnallen und gelassen
Grad nur so viel Witze zu verpassen
Als man unbedingt zum Leben brauchte
Daß die Bestie höchstens fauchte
Doch nicht biß.
Und als der große Gütevolle,
40
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würdenlose Späßevogel diese knappe
Zeit beschrieb, da war's, als klappe
Geisterhaft ihm manche tote
Hand noch Beifall. Von dem Aufgebote
Derer unter Schutt und Aschehügel.
Und es war, als wüchsen Flügel
Diesem ungelenken Gaste
Der in großer Zeit nicht paßte
Und indem er witzig war und bebte
Wie das niedre Volk sie überlebte.
Bertolt Brecht, 194738
Frohsinn der rechten Denkungsart oder Die gute Laune ist ein
Kriegsartikel, versichert der Minister
Die Kriegserklärung des Propagandaministers Goebbels gegen aufmüpfige Kabarettisten,
die Schließung der Katakombe, des Tingeltangel und das Aus für Die Nachrichter39 führen
zu einer empfindlichen Lücke in der Berliner Kabarettlandschaft. Doch ist der
Propagandaminister Profi genug, um für den eingetretenen Verlust zumindest im Sinne
der Parteidoktrin Abhilfe zu schaffen. In der Filmpolitik hat es der Minister bereits
durchexerziert, wie unter der Maske der wohlfeilen Unterhaltung die Volksgenossen bei
Laune zu halten sind. Es kommt ihm nicht darauf an, das Amüsement im Korsett von
Marschmusik, Fahnen und Uniformen vorzuführen. Goebbels warnt immer wieder vor
abgegriffenen Aufmärschen in Bild und Ton. Auch die einschläfernde Wirkung von
germanischen „Thing-Hörspielen“, die braun-barocken „Hörkantaten“ zum Ruhme der
38 Brecht, Bertolt, 1967, Bd. 10, S. 9blf. Auch in Brecht,1993, S. 189; mit Varianten auch in Finck,1972, S.
201f. Erich Kästner notierte über die Aufführung: „Hier lachten die Herren Schriftsteller und das Züricher
Publikum um die Wette. Bert Brechtbewies am hörbarsten, daß er auch auf dem Gebiet des Lachens zu
den 'Spitzenkönnern' zählt.“ (Die Neue Zeitung, München, 21.11.1947.)
39 Am 1.10.1935.
41
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Bewegung, sind ihm als Intellektuellem höchst suspekt. Die politische Infiltration hat
vielmehr im Kostüm bekannter und tradierter Muster zu geschehen. In der Maske des
Biedermanns spielen die genehmen NS-Claqueure ihrem bürgerlichen Publikum auf. Es
ist fast alles so wie früher. Aber doch nur fast.
Da kommt das relativ unbekannte Tourneekabarett Die acht Entfesselten , 1935 von
Ernst August Brenn und Rudi Godden gegründet, gerade recht. In einer parteilichen
Umarmung vereinnahmt die NS-Kulturgemeinde das Ensemble. Unter Protektion der
Entfesselten hofft die braune Brigade, den PG-Ulk in ihrem Sinne popularisieren zu
können. Die Künstler sind willfährig genug, sich dieser Gunstbezeugung nicht zu
entziehen. Ein gewisser Günter Meerstein bejubelt 1937 in seiner (selbst für
nationalsozialistische Verhältnisse dürftigen) Dissertation („Das Kabarett im Dienste der
Politik“) den neuen Geist, dem sich nun auch die Kleinkunst verpflichtet habe. So seien
Die acht Entfesselten die ersten, „die den richtigen Weg zur Erneuerung der
Kabarettkunst beschritten haben. Der Erfolg, den alle ihre Darbietungen erzielten, ist ein
Beweis dafür, daß diese Kleinkunstbühne für die Gestaltung des Kabaretts im neuen
Deutschland richtungsweisend sein kann.“40
Von höchst offizieller Seite, vom Kulturdienst der NSDAP, heißt es am 2. April 1936 zum
Auftreten der angepaßten Witzbolde: „Aus dem Alltag des Volkes sind die Themen der
Darbietungen genommen. Gegen Unnatürlichkeit in Kunst, Film, Funk, Theater, Operette,
Wochenschau, Reklame wird eine vergnügte Attacke geritten. Dabei darf natürlich ein
politischer Spott auf die Greuelpropaganda nicht fehlen.“41 Rudi Godden zelebriert mit
seiner Truppe unverbindliches Wortgeplänkel, die Kunst der Ablenkung und des
Amüsements, wie dies der schlesische Stimmenimitator Ludwig Manfred Lommel mit
seinen Alltagssketchen im Radio ebenfalls mit Erfolg demonstriert. Der Intendant der
Schlesischen Funkstunde in Breslau, Friedrich Bischoff, hat Lommel übrigens schon 1925
entdeckt und für das Radio verpflichtet. In Breslau kreiert der Spaßmacher seinen „Sender
Runxendorf auf Welle 0,5“. Nichts Weltbewegendes will er erzählen. Immerhin präsentiert
er seinen kleinen ländlich-akustischen Mikrokosmos ganz allein und mit der eigenen
Stimme. Als Meister der menschlichen Stimme kann er drei oder vier Personen
40 Meerstein, Günter, 1937, S. 65.
41 Kühn, Volker, Kleinkunststücke, Bd. 3, 1989, S. 100.
42
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gleichzeitig in einem Sketch zu Worte kommen lassen. Ludwig Manfred Lommels
Runxendorf ist „kein schlesisches Himmelreich“, wie Hans -Günter Martens betont, „es
war ein Ort, wo die Sorgen des Alltags nicht so ernst genommen wurden, wo es Kalauer
regnete, wo mitunter sogar - und das waren Lommels schönste Momente - der blühende
Unsinn regierte.“42
Die Verbindlichkeit des Unverbindlichen, der Scherz ohne gesellschaftliche Erdung,
lassen den Charme des Schlesiers eben auch für die nationalsozialistischen Ideologen
hochwillkommen sein.
Mir ist schon alles ganz egal
Wir sterben lieber heut als morgen,
Ick hab den ganzen Kopp voll Sorgen:
Hab keenen Vater und keene Mutter,
Aufs Brot nicht mal die nötige Butter.
Wenn ich nicht bald'n Graf beerb,
Dann ist's mir lieber, wenn ich sterb.
Sterben müssen wir alle mal,
Mir ist schon alles ganz egal.
Selbst Steuern soll ick noch berappen,
Die woll'n das letzte mir wegschnappen.
Ich zahle nischt, ick kann's beteuern:
Ick hab ne Wut auf alle Steuern.
Ick soll bezahlen mit Barschecken?
Die können mich alle ... nicht entdecken.
Ick bin auf Reisen allemal
Mir ist schon alles ganz egal.
42 Martens, Hans-Günter, auf Plattencover: Lommel, Ludwig Manfred, Elektrola.
43
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Früher soff ick wie'n Stier
Helles, dunkles Lager-Bier.
Ick soff mit Freunden im Verein,
Jetzt sitz ick vor mein'm Glas allein.
Ick sitze da mit offnem Maul
Und bin zum Saufen schon zu faul,
Die Nase tropft, das Bier wird schal.
Mir ist schon alles ganz egal.
Ick liebte manches Mägdelein,
Doch mußte's stets ne Hübsche sein.
Jetzt bin ick verheirat', welch Malheur,
Meine Olle gefällt mir gar nicht mehr.
Hat Beene wie'n Droschkengaul,
Een halben Zahn bloß noch im Maul
Und uff der Neese'n Muttermal.
Mir ist schon alles ganz egal.
Am Rundfunk sprech ick seit Jahren schon,
Ick sang viel Platten für Homophon.
Im Theater spiel ick alle Tage,
Auch oft im Varieté. Es ist ne Plage.
Jetzt soll ick noch zum Tonfilm gehen,
Dann könnt ihr mich auf der Leinwand sehen!
Die Hauptsache ist, es wird bezahlt –
Sonst ist mir alles ganz egal.
Ludwig Manfred Lommel, 193443
Die Liebe macht gewöhnlich blind
43 Kühn, Kleinkunststücke, Bd. 3, 1989, S. 104f.
44
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Ich bin im allgemeinen sehr verträglich,
Ich bin die Ruhe selbst, das steht mal fest.
Ich bin kein Ekel, also auch nicht eklig,
Doch jetzt ist Schluß, mein liebes Kind,
Jetzt mach ich mal Protest.
Sonst denkst du, alles was du tust, ist richtig
Und alles, was du sagst, für mich Musik.
Sei bitte nicht so eitel und so zuversichtlich.
Ich übe jetzt, jetzt übe ich, ich übe jetzt Kritik.
Die Liebe macht gewöhnlich blind
Doch Gott sei dank nicht so, mein Kind!
Neenee, i wo, nicht so!
Ich weiß doch, daß du Fehler hast.
Ich sag dir auch, was mir nicht paßt,
Nicht wahr? Na, klar! Ja, ja.
Da war erst neulich, das fiel mir doch gleich auf
Und das fällt ganz besonders ins Gewicht,
Was war denn das? Na, ich komme jetzt nicht drauf,
Na, ganz egal, auf jeden Fall: Man tut so etwas nicht!
Die Liebe macht gewöhnlich blind,
Doch Gott sei dank nicht so, mein Kind !
Neenee, i wo, nicht so!
Doch andrerseits, das kann ich nicht bestreiten:
Ich hab dich gern, ach was, ich liebe dich!
Du hast auch deine wirklich guten Seiten,
Die hast du, Liebling, laß mal, nee!
Du weißt es bloß noch nicht!
Ich stehe auch für dich mal gern im Regen,
Mir kommt es auf'n Schnupfen gar nicht an!
Ich warte letztenendes ja nur deinetwegen,
45
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Damit ich dir was Nettes, wirklich Nettes sagen kann.
Die Liebe macht gewöhnlich blind.
In deinem Fall auch mich, mein Kind,
Nicht wahr? Na, klar! Ja, ja.
Zwar steh ich hier im Wolkenbruch,
'n Mann wie ich verträgt ja Zug,
Nich wahr? Na, klar? Ja, ja.
Aber ne ganze Stunde, das ist'n bißchen viel,
Ich grüble, ob ich länger warten soll,
Denn ohne dich wird's doch'n bißchen kühl.
Ich huste auch schon prima, und ich hab die Nase voll!
Die Liebe macht gewöhnlich blind,
Doch Gott sei dank nicht so, mein Kind,
I wo, neenee. Nicht so!
Die Liebe macht gewöhnlich blind,
Doch Gott sei dank nicht mich, mein Kind!
Neenee. Adieu! Ich geh!!
Rudi Godden, 193844
Während das kritische und liberale Großstadtkabarett der zwanziger Jahre die realen
Konfrontationen der Gesellschaft nicht ausklammert, Finck mit seinen Conférencen die
Stimme gegen die Diktatur erhebt, unterhalten vermeintlich unpolitische und komische
Köpfe ab 1935 ihr Publikum mit standardisierter Fröhlichkeit. Wie im billigen
Massenschlager sind die Texte dieser liebsamen Künstler bieder und dienen damit der
erwünschten Stabilisierung nach innen. „Das kabarettistische Moment, das bei allen
Völkern zu allen Zeiten vorhanden war und auch noch heute vorhanden ist“, betont der
linientreue Kabarett-Theoretiker Meerstein, „wird im nationalsozialistischen Deutschland in
der Kleinkunststätte 'Kabarett' als politisches Führungs- und Beeinflussungsmittel des
gesamten Volkes herausgestellt, um der Staatsführung ein wirkungsvolles Instrument zur
44 Ebd., S. 120f. Rudi Godden präsentierte das Lied 1938 bei den Acht Entfesselten.
46
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Unterhaltung und zur politischen Führung und Beeinflussung des Volkes in die Hand zu
geben.“45
Uniformer Humor, im patriarchalischen Geist der Zeit geschrieben, Ulk-Witz, der nicht weh
tut und doch vergessen läßt, kennzeichnet Goddens Liebesgruß für eine Verlassene,
„denn Liebe macht gewöhnlich blind“. Sentimentaler Weltschmerz im Dienst der
militärischen Logik ebnet 1937 im Münchener Simplicissimus den Siegeszug von Lili
Marleen mit Lale Andersen. Hans Leip, Schriftsteller und Grafiker, hat den Text bereits
1915 als Soldat zu Papier gebracht. Die Zeilen bleiben über zwanzig Jahre unbeachtet.
Der kommende Weltschlager - 1939 im Kabarett der Komikerin einer zweiten, der jetzt
noch bekannten Version, vorgestellt und 1941 vom Besatzungssender in Belgrad als „Lied
eines jungen Wachposten“ präsentiert - verschränkt in beispielhafter Weise
melancholischen Weltschmerz des liebenden und beinahe straffällig werdenden Landsers
mit unbedingter Pflichterfüllung. Über dem Privaten lauert allgegenwärtig das Diktat des
soldatischen Gesetzes, das nicht hinterfragt werden darf. Glück und Liebe sind zulässig
indem kasernierten Hitler-Reich. Sie unterstehen aber der profanen Logik des
Kasernenhofes. Das suggestive musikalische Arrangement - von dem Pianisten Norbert
Schultze komponiert - läßt beinahe den Kontext vergessen, in dem das Lied steht.
Kornettsignale und Trommelschläge erinnern wie von fern, „wo die Musik spielt“ und wer
sie macht.
Die stets betonte Internationalität des Liedes - u.a. werden es in den kommenden Jahren
Bing Crosby, Jean-Claude Pascal, Freddy Quinn und Greta Garbo singen -, die
Verfolgung der Lale Andersen durch die Gestapo, das Verbot des Schlagers nach der
Schlacht von Stalingrad, alles das kann nicht über die Verherrlichung der soldatischen
„Tugenden“ hinwegtäuschen. Lili Marleen, auf den Brettern des nationalsozialistischen
Kabaretts zum zweitenmal geboren, im Äther zwischen den Fronten millionenfach
ausgestrahlt, ist die Apotheose der soldatischen Pose schlechthin. Die Liebe unterliegt in
dem Weltschlager den Gesetzen der Kaserne. Liebesschmerz gehorcht selbstverständlich
und ohne Widerspruch den unausgesprochenen und höheren Einsichten hinter der
Militärfeste mit ihrer romantischen Laterne „vor dem großen Tor“.
45 Meerstein, 1937, S. 72.
47
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Anders als der Interpretin, bringt dem Komponisten Norbert Schultze der musikalische
Triumph erheblichen materiellen Nutzen. Der Präsident der Reichsmusikkammer, Peter
Raabe, setzt Schultze 1939 auf die Liste der „schöpferischen Künstler“. Filmmusiken zu
„Feuertaufe“, einem Propagandafilm über den Überfall auf Polen, „Bomben auf England“
und 25 „Lieder der Nation“ kennzeichnen die nationalsozialistische Produktivität des
Komponisten. Noch 1967 erklärte er gegenüber der New York Times : „Ich kann es nicht
bedauern, daß ich all diese Lieder geschrieben habe. Es war die Zeit, die das verlangte,
nicht ich. Andere haben geschossen. Ich habe diese Lieder komponiert.“46
Im Verlauf des Ätherkriegs nutzen die Engländer die Popularität des Liedes für die
Gegenpropaganda: Was das Soldatenleben ist, für die Soldatenbraut Lili Marleen in dem
Schlager bedeutet, das wird jetzt in Stoßrichtung Deutsches Reich laut und parodistisch
zu Gehör gebracht. Die verträumte Melancholie des Originals ist durch die
unmissverständliche Aufforderung zum Handeln aufgebrochen. Der pervertierte Schlager
mahnt die Hörer zum Kampf gegen Unterdrückung und Hitlerfaschismus. Lucie Mannheim
singt die neue Version am 3. April 1943 in einer deutschsprachigen Sendung der BBC,
der Krieg hat sich an der russischen Front bereits gewendet.
Lili Marleen
Ich muß heut an Dich schreiben,
Mir ist das Herz so schwer.
Ich muß zuhause bleiben
Und lieb Dich doch so sehr.
Du sagst, Du tust nur deine Pflicht,
Doch trösten kann mich das ja nicht,
Ich wart an der Laterne Deine Lili Marleen
46 Zitiert in Dokumentation: Das Dritte Reich, Bd.4, S. 103.
48
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Was ich still hier leide,
Weiß nur der Mond und ich.
Einst schien er auf uns beide,
Nun scheint er nur auf mich.
Mein Herz tut mir so bitter weh,
Wenn ich an der Laterne steh
Mit meinem eignen Schatten Deine Lili Marleen
Vielleicht fällst du in Rußland,
Vielleicht in Afrika.
Doch irgendwo da fällst Du,
So will's Dein Führer ja.
Und wenn wir doch uns wiedersehen,
O möge die Laterne stehn
In einem andern Deutschland Deine Lili Marleen
Der Führer ist ein Schinder,
Das sehn wir hier genau.
Zu Waisen macht er Kinder,
Zur Witwe jede Frau.
Und wer an allem schuld ist, den
Will ich an der Laterne sehn,
Hängt ihn an die Laterne!
Deine Lili Marleen
BBC-Sendung am 3.4.194347
Zu den engagierten Claqueuren des Nationalsozialismus zählt der Sänger und Kabarettist
Weiß Ferdl. Um ihn ranken sich Legenden und anekdotische Begebenheiten, die ihn zum
47 Als Tondokument erhalten in: Dümling, Albrecht, 1988, CD 4.
49
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Gegner des Nationalsozialismus stilisieren. Dabei dürfte es sich freilich um
selbstgestrickte oder lancierte „Meldungen aus dem Reich“ handeln. Angeblich soll des
Führers komischer Liebling 1938 im Münchner Platzl in einer von der NSDAP gemieteten
Vorstellung vor vollem Haus gesagt haben: „Bleibt lieber in Euren mit sauer verdientem
Geld ersparten, kleinen bescheidenen Villen am Lago di Bonzo. Ihr habt ja nicht einmal
mehr Eisen-Euren 'eisernen Willen' habt ihr schon längst aufgegeben und nun fangt ihr
schon an aus Materialnot die Juden einzuschmelzen.“48 Authentische Belege für solche
Äußerungen des fröhlichen Rechtsauslegers gibt es indessen nicht. Auch Volker Kühn
meldet in seinen Recherchen Zweifel an solchen nicht bezeugten „Heldentaten“ an.
Ferdinand Weisheitinger (1883-1949), genannt Weiß Ferdl, der Kabarettist vom Platzl in
München, bejubelt 1934 jedenfalls die neuen „Errungenschaften“ im
nationalsozialistischen Staat. Darunter fällt in seiner Hymne „Gleichgeschaltet“ auch die
Drohung einer deutschen Gattin. Eheliche Untreue wird notfalls mit „Dachau“ bestraft, wer
nicht hören will, muß sich im Konzentrationslager fügen. Die Stätte der Folter und
Erniedrigung wird bei Weiß Ferdl salonfähig. Der böse Spaß treibt Kumpanei mit den
Schlächtern und jagt die Eingesperrten wie in den obszönen „Juden-Witzen“. Die
Solidarität mit den Gepeinigten ist aufgekündigt, gelacht wird - ausgesprochen oder nicht mit den Folterknechten. Es gibt kein Tabu, der Komiker treibt mit dem Entsetzen Scherz
und setzt auf Einverständnis mit seinem Publikum. Auch in der Conférence „Über die
Lage“ (1936) ist mit „Dachau“ ein magisches sprachliches Zeichen gesetzt. Die
topographische Einordnung genügt. Nichts muß erklärt, nichts erläutert werden. Der
Sprecher kann sich des Kürzels bedienen, der Chiffre des Schreckens. Was gemeint ist –
und zugleich nicht ausgesprochen - ,das darf er offensichtlich bei seinem Publikum
voraussetzen. Dachau und die gedankliche Verbindung zu einem Luftkurort und einer
„Luftveränderung in konzentrierter Form“ verdichten sich zu einer bösen euphemistischen
Konstruktion. Die Schlächter werden nicht mehr provoziert und gereizt. Der Kabarettist
sucht sich schon im nächsten Abschnitt des Wohlwollens und der Gunst der Mächtigen zu
versichern. Gewiß, „große Männer verstehen schon Spaß“ und können die lax
dahergesagte Dachau-Metapher gar nicht in den falschen Hals bekommen. Doch Weiß
Ferdl ist auf der Hut und leistet schon mal vorsichtshalber Abbitte – auch auf Kosten
48 Zitiert in Hippen, Reinhard, 1988, S. 67.
50
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jener, die gemeint sind: die geschundenen KZ-Häftlinge. Werner Finck lehnt später
übrigens jeden Vergleich, vor allem in politischer Hinsicht, mit Weiß Ferdl ab.
Der Witz hinter der Hand – Lust und Gefahr
Überleben, dazu verhalf auch der Witz. Überleben, möglichst bei bester Gage. Man erzählte
sich ihn von Karl Valentin, von Erich Kästner, der ohne publizieren zu dürfen, in den
Cafehäusern des oberen Kurfürstendamm wie ein Relikt der schönsten „Systemzeit“ staunend
zu betrachten war. Man legte Schauspielern, nur weil sie Komiker waren, politische Witze in den
Mund. Dabei waren viele dieser Herren in Wirklichkeit jeder Störung ihrer Karriere durch solche
Späße abhold. Auch sie wollten überleben, möglichst bei bester Gage.
Es ging das Gerücht um, daß überall, wo der Don Carlos gespielt wurde, bei des Posa
dröhnender Forderung nach Gedankenfreiheit das Publikum in Schreie der Zustimmung
ausgebrochen sei. Keiner konnte es bestätigen. Ich war bei einer solchen Aufführung. Aber da
blieb es an dieser Stelle still. Man hörte dergleichen immerhin so gern. Man konnte bei solchen
Gerüchten so schön Mut schöpfen und man tat es.
Witze höhlen kein diktatorisches System aus, sie werfen es nicht um. Aber sie können es
weniger sicher erscheinen lassen. Die Machthaber merken vielleicht, daß ihr Stuhl wackelt oder
doch wenigstens ein ganz bißchen unsicher steht. Wenn verbreitet wurde, der dicke, gern jovial
und kumpelhaft hingestellte Hermann Göring habe sich allmorgendlich die neusten Witze
erzählen lassen und sich dann lachend auf die monumentalen Schenkel geschlagen, so war
diese offenbar doch offiziell verbreitete Onkelanekdote deutlich gezielt: Sie sollte den Witz
gegen die Tyrannen unerheblich - und sollte die Tyrannen möglichst humorvoll und diesem Falle
freundlich liberal erscheinen lassen. Beides ein Zeichen, wie man den Witz aus dem Volke und
im Volke wohl fürchtete, ihn „offiziell“ zu entschärfen versuchte.
In den Kabaretts saßen damals meist die Schnüffler und Spitzel der Geheimen Staatspolizei,
wie sie auch in den Gottesdiensten der mehr unbotmäßigen Geistlichen auf der harten
Kirchenbank hockten und mitschrieben. An beiden Plätzen konnte man sie, wenn man seinen
Blick für die Handlangertypen der Diktatur nur etwas geschärft hatte, sofort erkennen.
Friedrich Luft49
Gleichgeschaltet
Früher gab's so viel Parteien,
Deshalb auch viel Reibereien.
Bis dann sprach ein Ingenieur:
49 Luft, Friedrich, Überstehen ist alles. Der Witz hinter der Hand - Lust und Gefahr, in: Dokumentation: Das
Dritte Reich, Bd. 1, S. 138.
51
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Deutsche, nein, so geht's nicht mehr.
Weg mit diesen Wechselströmen,
Woll'n wir lieber Gleichstrom nehmen!
Er hat aus- und umgestaltet.
Gleichgeschaltet, gleichgeschaltet.
Hat man Zeitungen gelesen,
Früher ist man blöd gewesen.
Die schrieb: „Bravo, sehr gut. Heil!“
Die andre „Pfui“, grad's Gegenteil.
Jetzt kannst du das Geld dir sparen.
Liest du eine, bist im klaren.
Gleichlautend sind all'gestaltet:
Gleichgeschaltet, gleichgeschaltet.
Arbeitsdienst wurd' eingeführet
Mancher freudig mitmaschieret:
„Endlich schaffen, Gott sei Dank.“
Andre aber macht es bang.
Statt beim 5-Uhr-Tee fein schwofen,
soll er jetzt im Gleichschritt loofen.
Hand, gepflegt, a Schaufel haltet
Gleichgeschaltet, gleichgeschaltet.
Man hört nicht mehr Saxophone,
Tanzt nicht Rumba, Charlestone.
Fort mit Jazz und Niggertanz,
Sind nicht mehr meschugge ganz.
Alte Weisen hört man wieder,
Stramme Märsche, deutsche Lieder,
Die man gern im Ohr behaltet.
Gleichgeschaltet, gleichgeschaltet.
52
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Mit dem Eintopf, dem bekannten,
Sind die Frau'n sehr einverstanden.
Weg mit Austern, Kaviar,
Mit dö Schmankerln is jetzt gar.
Am Sonntag kochen s' alte Boana,
Sag'n: „Das is a Picklstoana“,
Aufg'wärmt, daß bis Samstag haltet,
Gleichgeschaltet, gleichgeschaltet.
Will der Mann a Freundin halten
Und nicht treu bleib'n seiner Alten,
Steht in Saft die deutsche Frau,
Droht dem Gatten mit Dachau:
„Zwanzig Jahr hast unverdrossen
Meine, Reize du genossen.
Dabei bleibt's, bist auch veraltet,
Gleichgeschaltet, gleichgeschaltet.“
Bei den Abrüstungskonf'renzen
Die Franzosen immer benzen:
Deutschland, ach, bedroht uns sehr!
Doch die Welt glaubt's längst nicht mehr.
Unser Kanzler sprach es offen:
„Friede hat nur der zu hoffen,
Der abrüstet, da Wort haltet.“
Gleichgeschaltet, gleichgeschaltet
Ganz vereint sind Bayern, Preißen,
Nicht mehr auseinand' zu reißen.
Statt, daß in die Berg' wir zieh'n,
Mach ma Weekend in Berlin,
Tun im Lunapark dort rodeln,
53
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Preußen lernen dafür jodeln.
Mensch, wie det zusammenhaltet!
Gleichgeschaltet, gleichgeschaltet.
Wenn wir fest zusammenstehen,
Muß's doch wieder aufwärts gehen.
Bauer, Arbeitsmann und Knecht,
Adel, Bürger - gleiches Recht.
Für das Land, das wir gestritten
Und viel Jahre Not gelitten,
Woll'n wir leben, ungespaltet,
Gleichgestaltet, gleichgestaltet.
Weiss Ferdl, 193450
Über die Lage
Heutzutage ist es nicht leicht, Humorist zu sein. Das Publikum hat es so leicht, die kommen
herein, zahlen den kleinen Eintritt, setzen sich hin und sagen: „Los!“ Das ist schnell gesagt, aber
das Losgehen ist nicht so einfach. Ich weiß genau, was die Leute am liebsten hören. Schon im
grauen Altertum war es so, daß sich die Leute am meisten gefreut haben, wenn man über die
Großkopfat'n losgezogen hat und dieser Brauch hat sich bis auf den heutigen Tag erhalten. Nun
werden Sie aber auch verstehen, daß dieses momentan eine etwas kitzlige Angelegenheit ist; man hat Hemmungen. Mir persönlich kann ja nichts passieren, ich bin ja schon längere Zeit
„Dachauer“ -da käme höchstens eine kleine Luftveränderung in konzentrierter Form in Frage.
Aber die Sache ist nicht so gefährlich. Ich weiß auch, daß die wirklich großen Männer schon
Spaß verstehen und selber darüber lachen. Die wissen auch ganz genau, daß, wenn ich herin
im Platzl einen Witz mache, deshalb ihre Position noch nicht erschüttert ist. Unangenehm sind
nur die anderen, - die sich einbilden großkopfert zu sein - und sind's gar nicht.51
1941, da die deutsche Politik irreversibel auf die Vernichtung der Juden hinausläuft,
Göring die „Evakuierung“ der Opfer anordnet, erste Vergasungen in Auschwitz anlaufen,
der Kabarettist und Schlagertexter Fritz Grünbaum („Ich hab das Fräulein Helen baden
50 Kühn, Volker, Kleinkunststücke, Bd. 3, S. 102 ff. Das Wort „benzen“ oder „penzen“ bedeutet „betteln“,
nachdrücklich „bitten“. Die Nummer erschien auch als Schallplatte. Mit Varianten auch in: Hippen,
Reinhard, 1988, S. 72.
51 Zitiert in: Hippen, Reinhard, 1988, S. 74.
54
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sehn“) im Konzentrationslager Dachau zu Tode kommt, beschneidet der
Propagandaminister nochmals entscheidend das Kabarettgeschehen. 1941 ist auch das
Jahr, in welchem Goebbels die weitere Verbreitung von Lili Marleen zu verhindern sucht
und sich dann letztlich geschlagen gibt. Sein Hinweis, die Verse seien zu „makaber“, die
Musik zu „sentimental“, verfängt nicht, er muß klein beigeben. Es ist das Jahr, in dem die
Propaganda nochmals gestrafft wird. Karl Valentin, von den Nationalsozialisten schon
1936 mit Film-Zensur belegt, verabschiedet sich erst einmal von der Wort- und
Darstellungskunst und verdingt sich bis Ende des Krieges als Schreiner, Scherenschleifer
und fabriziert Nudelwalker für den Haushalt. Im Radio dominieren Marschmusik und das
reine Propaganda-Hörspiel. Unterhaltung abseits des cui bono duldet der Minister nicht.
Im Film setzt sich mehr und mehr das krude Propagandakonstrukt durch. Veit Harlans
Machwerk von 1940 „Jud Süß“ ist hierfür ebenso ein Beleg, wie das „dokumentarische“
Lügenprodukt „Der ewige Jude“ (1940) von Fritz Hippler oder Liebeneiners „Ich klage an“
(1941), ein Film der unverhohlen das Mordprogramm an Behinderten und Kranken
rechtfertigt. In diesem Abschnitt der ideologischen Bündelung und verschärfter
Indoktrination unterbindet Goebbels schließlich die freie Conférence im Kabarett.52 Das
Spiel mit Personen und ihre Erwähnung ist dadurch eingeschränkt. Bezeichnend, daß die
Anordnung in der Presse nicht diskutiert werden darf.
Es ist davon auszugehen, daß der Befehl kaum flächendeckend zu überprüfen ist,
geschweige denn eingehalten wird. Ob im Frontkabarett Der Knobelbecher, das von 1942
bis 1944 die Truppe bei Laune hält53, oder auf der Wehrmachtsbühne Die Platzpatrone in
Neapel 1943, die Ausklammerung der Conférence ist in der Tat nicht praktikabel und dient
vor allem der vorbeugenden Disziplinierung der verbliebenen Amüsierbetriebe zwischen
Dänemark, Rußland, Frankreich und Italien. Die Durchhaltekabaretts unterstehen seit
Beginn des Krieges dem Oberkommando der Wehrmacht (OKW) und dem
Propagandaministerium. Ursula Herking, Wolfgang Neuss, der in der Heimat verstoßene
Werner Finck und auch der spätere Insulaner-Chef Günter Neumann sorgen für stramme
Landserunterhaltung. Illusionen über das künstlerische Niveau dieser Truppenbetreuung
braucht man sich nicht zu machen, die Frontklamotte als Normalmaß setzt sich durch.
52 Zitiert in: Hippen, Reinhard, 1988, S. 74.
53 Vgl. Murmann, Geerte, 1992.
55
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Anordnung
betreffend Verbot des Conférence- und Ansagewesens.
Trotz meiner wiederholten Erlasse vom 8. Dezember 1937, 6. Mai 1939 und 11. Dezember
1940, in denen ich eindringlich die Forderung erhob, das Kabarett- und Vortragswesen den
Erfordernissen des öffentlichen Geschmacks, besonders aber denen des Krieges anzugleichen,
treiben sogenannte Conférenciers, Ansager und Kabarettisten, wie aus der Menge von
Beschwerden aus dem Lande, vor allem aber von der Front berichtet wird, weiterhin ihr
Unwesen. Sie gefallen sich in einer leichten und billigen Anpöbelung von Zuständen im
öffentlichen Leben, die durch die Not des Krieges bedingt sind. In sogenannten politischen
Witzen üben sie offene oder versteckte Kritik an der Politik, Wirtschafts- und Kulturführung des
Reiches. Sie verhöhnen die bodenständigen Eigenheiten der einzelnen Stämme unseres Volkes
und tragen damit dazu bei, die innere Einheit der Nation, die für die siegreiche Beendigung des
Krieges die wichtigste Voraussetzung ist, zu gefährden. In Anbetracht dessen, da meine
wiederholten, mit allem Ernst eingeschärften Mahnungen offenbar nichts gefruchtet haben und
die alten, aus einer demokratisch-liberalistischen Staatsauffassung resultierenden Mängel und
Fehler der Gestaltung der öffentlichen Unterhaltung immer aufs Neue wieder auftauchen, sehe
ich mich nunmehr auf Befehl des Führers zu einschneidenden Maßnahmen gezwungen.
Auf Grund des §25 der Ersten Verordnung zur Durchführung des Reichskulturkammergesetzes
vom 1. November 1933 (Reichsgesetzblatt I S. 797) ordne ich hiermit an:
1. Jegliche sogenannte Conférence oder Ansage wird ab sofort für die ganze Öffentlichkeit
grundsätzlich verboten. Es ist dabei ganz gleichgültig, ob sie sich mit Dingen der Politik, der
Wirtschaft, der Kultur oder sonstigen Angelegenheiten des öffentlichen oder privaten Lebens
befassen will.
2. Glossierungen von Persönlichkeiten, Zuständen oder Vorgängen des öffentlichen Lebens,
auch angeblich positiv gemeinte, sind in Theatern, Kabaretts, Varietés und sonstigen
öffentlichen Unterhaltungsstätten verboten.
3. Die Presse ist schärfstens angewiesen, die Behandlung aller lebensunwichtigen Fragen, die
das Volk heute unnötig belasten oder verstimmen könnten, peinlichst zu vermeiden. Dazu
gehören vor allem Angelegenheiten, die Eigenheiten, Sitten, Gebräuche oder Dialekte einzelner
Volksstämme betreffen.
4. Es ist verboten, einen Volksstamm gegen einen anderen, eine Stadt gegen eine andere oder
einen Teil des Reiches oder Volkes gegen den anderen, wenn auch in angeblich gutgemeinter
Art, auszuspielen. Alle Kräfte des öffentlichen Lebens müssen auf die Einheit des Volkes
ausgerichtet werden. Probleme, an denen sich die Gemüter unnötig erhitzen und die für die
siegreiche Durchführung des Krieges von untergeordneter Bedeutung sind, werden aus der
öffentlichen Diskussion ausgeschaltet.
Dieser Erlaß stellt eine letzte, ernste und eindringliche Mahnung dar. Übertretungen werden auf
Befehl des Führers mit schärfsten Strafen geahndet.
Berlin, den 30. Januar 1941
gez.
56
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Dr. Goebbels
Anlage:
Abschrift überreiche ich zur Kenntnisnahme. Eine Veröffentlichung durch die Presse darf nicht
erfolgen.
Gez.
Dr. Goebbels54
Zum Totlachen oder Theresienstadt, Theresienstadt ist das modernste
Ghetto, das die Welt heut hat
Im Oktober 1941 kommt es zu „Verhandlungen“ zwischen der Jüdischen Kultusgemeinde
in Prag und der SS mit dem Ziel, 60 Kilometer von Prag in Terezin (Theresienstadt) an der
Eger ein Ghetto einzurichten. Die Interessenlage ist dabei freilich sehr unterschiedlich:
Die jüdischen Verhandlungsführer hoffen, durch dieses Vorgehen Zeit zu gewinnen und
die drohenden Massendeportationen nach Polen eindämmen zu können. Die
Konzentrierung der jüdischen Häftlinge in Zwischenlagern entspricht der von langer Hand
geplanten „Endlösung“, der systematischen Ermordung der jüdischen Minderheit.
Theresienstadt ist als sogenanntes Altersghetto konzipiert. Tausende alter, invalider und
kranker Menschen sollen in der historischen Garnison kaserniert werden. In das KZ
Theresienstadt, leichtfertig als Vorzugslager gehandelt und im SS-Jargon als
„Reichsaltersheim“ gepriesen, müssen sich die Juden gegen haltlose Versprechungen
selbst „einkaufen“. Das heißt im Klartext: Das Vermögen der Häftlinge wird
beschlagnahmt, bewegliches und festes Eigentum konfisziert.
In den „besseren“ Zeiten besteht die Lebensmittelration aus 225 Gramm Brot, 60 Gramm
Kartoffeln und der üblichen Wassersuppe.
„Die Zuteilung war nicht größer als etwa 1000, höchstens 1200 Kalorien pro Kopf und Tag. Für
Arbeitsunfähige ist die Zahl der Kalorien unter 800 gesunken. Tierisches Eiweiß gab es fast gar
nicht und die Verdauungsorgane, besonders von alten Leuten, konnten die Kost nicht verdauen.
Deutsche Ärzte ließen sich hier Avitaminosen, Pellagra, Nachtblindheit und Austrocknen der
Bindehäute vorführen.“55
54 Zitiert in: Hippen, Reinhard, 1988, S. 125.
55 Adler, H.G., 1960, S, 736.
57
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Am 18. September 1942 leben und hungern in dem Lager rund 59.000 Menschen,
darunter 30.000 Alte und Kranke, 4.000 Krüppel und über 1.000 blinde Gefangene. Nur 60
Prozent der Inhaftierten haben einen eigenen Schlafplatz. 20.848 Menschen sterben
durch die Entbehrungen und den Terror im Ghetto, über 16.000 Menschen müssen noch
einmal die Reise im Viehwaggon antreten und fahren von Theresienstadt in die
Todesfabriken von Auschwitz, Riga, Treblinka oder Izbica und werden dort ermordet.
Ungeachtet dieser Todes- und Schreckensbilanz verstehen es die Nationalsozialisten,
das Zwischenlager mit infamsten Methoden propagandistisch auszuschlachten. Durch
eine Lagerinfrastruktur, die zumindest nach außen den Anschein einer bürgerlichen
Ordnung bietet, gaukeln die Bewacher sich und der Welt eine umzäunte Normalität vor.
Zwar ohne ernstliches Warenangebot in den Regalen und Auslagen, gibt es eine
Fleischerei ohne Fleisch, eine Apotheke ohne Medikamente und eine Parfümerie ohne
Seife und Flacons, ein Haushaltsgeschäft, dekoriert mit Vasen aus beschlagnahmten
Hinterlassenschaften. Im Sinne einer Potemkinschen Suggestion wird Wirklichkeit
inszeniert und über die krude Faktizität gestülpt. Leni Riefenstahl beweist mit ihrem
Dokumentarfilm „Triumph des Willens“ (1935) zuvor, daß das „Dritte Reich“ latent als
inszenatorisches Show-Ereignis zu begreifen ist, als Exhibition der Mythen und Legenden,
als theatralisches Spektakel. In Theresienstadt, im Wartesaal für Auschwitz, belegt die
Umstülpung der Realität, daß die Henker die gefesselte Gemeinschaft von Theresienstadt
choreographisch ausgetüftelt manipulieren.
In diesen Kontext gehört das Programm der „Stadtverschönerung“ von 1943, eine
Propagandamaßnahme, die für die angekündigten Besuche des Internationalen Roten
Kreuzes gedacht ist. „Viele Kommissionen besahen die Fortschritte und befahlen weitere
Verbesserungen oder Änderungen. Bisher hatte sich niemand darum gekümmert, wie die
Menschen untergebracht waren und wie für ihre primitivsten Bedürfnisse gesorgt war. Nun
wurde man von einer durch und durch verlogenen Fürsorge sozusagen überfallen.“56 Man
pflanzt Rosenstöcke, baut einen Kinderspielplatz, repariert die Straßen, Häuser erhalten
einen frischen Anstrich ...
56 Ebd.,S.164.
58
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Die Restaurierung und „Verschönerung“ im Ort der Qualen dient aber nicht nur dem
Selbstschutz vor kritischen Rückfragen. Nochmals zeigt der Vorgang den Bezug zu einer
Theater- und Filmwelt. Die Nationalsozialisten möchten auch in der Tat für interne oder
externe Propagandafeldzüge einen Film über das „Paradies“ in Theresienstadt herstellen.
Gipfel der Schamlosigkeit: Regie, Produktionsleitung und Darsteller sind von den
Inhaftierten zu stellen. Der Titel des „Dokumentarfilms“ lautet „Der Führer schenkt den
Juden eine Stadt“, ein Fragment (427 Meter) dieses beispiellosen Machwerks ist erhalten.
Der Berliner Kabarettist Kurt Gerron - er spielt 1928 bei der Uraufführung der
Dreigroschenoper den Tiger Brown, im Film Der blaue Engel übernimmt er die Rolle des
Varieté-Direktors - hat zusammen mit dem niederländischen Zeichner Joe Spier und dem
Prager Bühnenarchitekten Frantisek Zelenka die Produktion zu leiten. Das
propagandistische Loblied auf das Ghetto - jedes Bild ist Pose, jedes Kommentarwort
Lüge - entsteht zwischen dem 16. August und dem 11. September 1944. Nach
Fertigstellung dieses Machwerks des „organisierten Wahnsinns“57 - man spielt Fußball,
plaudert nach Feierabend, bildet sich bei Konzert und Vorträgen - vergasen die
Nationalsozialisten so gut wie alle Beteiligten an diesem Film. Zwischen Fertigstellung der
„Auftragsarbeit“ und Deportation liegen nach Augenzeugenberichten nur 24 Stunden. Die
Künstler, Statisten und das übrige Personal beteiligen sich an dem inszenierten
Schwindel, weil die trügerische Hoffnung besteht, man werde zumindest während der
Dreharbeiten vor der Deportation nach Polen verschont.
Im Vorzeige-Ghetto sorgen die Mörder überaus eilfertig für Kunst, Musik und
Unterhaltung, ein Angebot, das immer den Doppelaspekt von ideologischer Fassade für
die Bewacher und mentalem Überlebenstraining für die Häftlinge erfüllt. Auf der
Schaubühne der Tyrannen spielen Opfer in Theresienstadt Sinfoniekonzerte. Es gibt
Matineen mit kammermusikalischen Darbietungen; die Ghetto Swingers intonieren die
ansonsten im Reich verpönten Unterhaltungsklänge aus Amerika. Angesichts der
Transporte nach Auschwitz ist das Zugeständnis ein doppelbödiges und janusgesichtiges.
Der Geiger, der gestern noch Mozart spielte, wird genauso abgeholt wie die Künstler der
Lustigen Ghetto-Revue, die 1942 das einjährige „Jubiläum“ begehen. Im KZ spielt die
Musik, gibt es Lieder-, Opern und Klavierabende. „Jüdische Komponisten“ wie Offenbach,
57 Ebd., S. 180.
59
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Mendelssohn oder Abraham kommen hier, höchstoffiziell genehmigt, vor der SS und den
Gepeinigten zu Gehör. In Theresienstadt, im exterritorialen Bereich der Kunst, da werden
gespenstische „Freikarten“ verteilt: Billetts für eine weite, fast frei anmutende
Kunstausübung, verbunden mit dem tödlichen Vermerk auf der Transportliste nach
Treblinka, Auschwitz oder Riga. Die Bewacher gönnen ihren Opfern gar ein „Kaffeehaus“
für musikalische Darbietungen. Aber auch dieser Ort hat ein doppeltes und zynisches
Gesicht: Livrierte Gefangene spielen Kellner und führen die Besucher zu den Plätzen. Es
gibt Eintrittskarten, doch keine Bewirtung. Die Musik spielt auf, doch im „Kaffeehaus“ gibt
es keinen Kaffee, keinen Kuchen. Alles das gehört mit zu dieser scheinbar
bewirtschafteten Hölle. Fiktionen besetzen die Wirklichkeit, musische Aktivitäten, auch
Aktionismus, verschleiern die Abfahrt des Güterzugs.
Zeittafel
1933
30.1.
Hitler wird Reichskanzler.
27.2.
Reichstagsbrand, Zerschlagung der KPD.
28.2.
Aufhebung der Grundrechte.
März
Konzentrationslager Osthofen errichtet.
20.3.
Konzentrationslager Dachau.
23.3.
Konzentrationslager Heuberg.
23.3.
Ermächtigungsgesetz.
1.4.
Boykottaktion der SA gegen Juden.
2.5.
Zerschlagung der Gewerkschaften.
10.5.
Bücherverbrennung.
1.11.
Konzentrationslager Oberer Kuhberg.
31.12.
Konzentrationslager Heuberg aufgelöst.
60
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1935
15.9.
Die sogenannten Nürnberger Gesetze werden verabschiedet: „Gesetz zum
Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“. Sie sind die Grundlage für die
Ausschaltung der Juden aus allen öffentlichen Arbeitsverhältnissen.
1937
1.7.
Martin Niemöller verhaftet.
16.7.
Konzentrationslager Buchenwald errichtet.
1938
17.8.
Alle Juden müssen zusätzlich den Namen „Israel“ bzw. „Sarah“ tragen.
Konzentrationslager Mauthausen errichtet.
9.-10.11.
„Reichskristallnacht“. Zerstörung von Synagogen, Geschäften und
Wohnhäusern. Über 26000 Juden werden verhaftet. Jüdische Kinder werden fünf Tage später
vom Besuch allgemeinbildender Schulen ausgeschlossen.
1939
30.1.
Hitler verkündet vor dem Reichstag die Vernichtung der „jüdischen Rasse“.
1.9.
Überfall auf Polen.
23.11.
Das Tragendes Judenstern wird zur Pflicht im Generalgouvernement.
1940
30.4.
Erstes Judenghetto in Lodz.
20.5.
Konzentrationslager Auschwitz errichtet.
16.10.
Errichtung des Warschauer Ghetto.
22.10.
Judendeportationen aus Baden, Saarland, Pfalz, Elsaß-Lothringen nach
Südfrankreich (Gurs).
1941
61
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25.-26.2.
errichtet.
Streiks in Holland gegen die Judenverfolgung, Konzentrationslager Natzweiler
Juni
Massenmorde der SS in der Sowjetunion.
13.9.
Erste Vergasungen in Auschwitz.
13.9.
Judenstern muß auch im Reich getragen werden.
10.10.
Heydrich bestimmt Theresienstadt als Ghetto.
1.12.
Deportation württembergischer Juden nach Riga.
1942
20.1.
Wannsee-Konferenz über die „Endlösung der Judenfrage“.
18.5.
Vernichtungslager Sobibor errichtet.
2.6.
1. Transport deutscher Juden nach Theresienstadt.
21.6.
1. Transport österreichischer Juden nach Theresienstadt.
23.7.
Vernichtungslager Treblinka errichtet.
18.9.
Gefangenenhöchstzahl in Theresienstadt: 58.491.
26.10.
Beginn der systematischen Transporte von Theresienstadt nach Auschwitz insgesamt 25 mit 46.000 Menschen.
1943
19.4.-16.5.
Aufstand und Vernichtung des Warschauer Ghettos.
30.4.
Bergen Belsen errichtet.
24.5.
Deutsche Pressevertreter besichtigen Theresienstadt.
27.6.
Deutsches Rotes Kreuz besucht Theresienstadt.
2.8.
Aufstand in Treblinka.
1944
Februar
„Stadtverschönerung“ wird für Theresienstadt angeordnet.
62
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23.6.
Dänisch-schweizerische Kommission besucht Theresienstadt.
20.7.
Maidanek von sowjetischen Truppen befreit.
20.7.
Attentat auf Hitler gescheitert.
1945
26.1.
Konzentrationslager Auschwitz befreit.
11.4.
Buchenwald befreit.
6.4.
Eine Kommission des Internationalen Roten Kreuzes besucht
19.4.
Dachau befreit.
2.5.
IRK übernimmt den Schutz des Lagers Theresienstadt.
8.5.
Theresienstadt wird durch die Rote Armee befreit. Bedingungslose Kapitulation.
Theresienstadt.
Nach den Untersuchungen von Ulrike Migdal gibt es für die Bühnen am Abgrund keinerlei
Zensur: „Aus dem Bewußtsein heraus, daß dies alles Todeskandidaten seien, gab man
den Gefangenen in der winzigen Frist, die ihnen noch zugestanden wurde, Narrenfreiheit.
Ob sie knapp vor ihrem Tode Heine rezitierten oder Goethe, ob sie Mahler spielten oder
Beethoven, war dem SS-Personal völlig gleichgültig“.58 Was empfinden die Zuhörer, die
Mozarts „Entführung aus dem Serail“ hören, Lessings „Nathan“ sehen? Man gibt Verdis
„Requiem“, auch Eichmann gönnt sich die Abschweifung ins Kulturelle in Theresienstadt
und ist mitten unter seinen Opfern.
1942 kreiert das tschechoslowakische Svenk -Kabarett in der Sudeten-Kaserne ein Lied,
das später die Bezeichnung „Theresienstädter Marsch“ erhält.
58 Migdal, Ulrike, 1986, S. 31.
63
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Alles geht, wer's versteht,
Faßt an Händen euch und seht,
Böser Zeit zum Trutz Humor im Herzen haben,
Jeder Tag, Schlag auf Schlag,
Stets die Übersiedlungsplag'
Und nicht mehr als 30 Worte für den Brief.
Holla, morgen fängt das Leben an,
Mit ihm beginnt die Zeit
Da werd'n wir uns're Ranzen packen
Und nachhause gehn befreit.
Alles geht, wer's versteht.
Faßt an Händen euch und seht,
Und auf Ghettotrümmern lachen wir uns schief.59
Deportation und letzte Fahrt schrumpfen zur „Übersiedlungsplag“. Die Angst befreit sich
im Lachen auf Trümmern, die die Kabarettisten beschwören. Das Hofer-Kabarett tritt allein
17 mal mit seinem Programm „Für Jugendliche verboten“ auf, die Ghetto-Swingers
begleiten das Unternehmen. Die Komiker Ernst Morgan und Bobby John sind dabei, Berti
Deutsch, Annie Frey und Lucie Hofer. Es gibt die Ensembles Lach mit uns, das Popper
Kabarett, ein Frauenkabarett und nicht zuletzt Das Karussel unter Leitung von Kurt
Gerron. Auf dieser Bühne sind die Songs aus der „Dreigroschenoper“ zu hören. Maceath
trägt sein Messer im Namen der Gefangenen und rächt die Gepeinigten für Augenblicke.
Der kunstvolle Protest wird nicht verboten. Die Schlächter goutieren die KunstNachrichten der Opfer als prickelnde Sensation, als eine genehmigte Verschwörung, die
nach Belieben beendet wird, in Polen oder durch die lapidare Erschießung in der
Garnison.
Dank dem lieben Cabaret
59 Hippen, Reinhard, 1988, S. 178.
64
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Zur tausendsten Blockveranstaltung gewidmet dem
Strauß-Ensemble
Hungrig sitz ich auf der Leiter –
Da erklingts auf einmal heiter,
Wiener Walzer, Prager Weisen
Und mein Herz geht gleich auf Reisen.
In den Hof hinunter rasch,
Daß ich noch ein Lied erhasch
Fort ist meines Hungers Weh,
Dank dem lieben Cabaret.
Müde komm ich und verdrossen
Abends von dem Dienst zurück Da, durchs Tor, nur halb geschlossen,
Klingt entzückende Musik,
Melodie auf Melodie,
Dargereicht mit viel Esprit
Fort ist bald des Tages Weh,
Dank dem lieben Cabaret.
Das sind unsre besten Truppen,
Unsre braven Künstlergruppen.
Durch der harten Zeiten Qual
Tönt ihr Lied „Es war einmal“
Und die Herzen fallen ein
„Es wird wieder einmal sein“,
Fort ist unsrer Sehnsucht Weh,
Dank dem lieben Cabaret.
Frieda Rosenthal60
60 Migdal, Ulrike, 1986, S. 70f.
65
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Wir jagen die Zeit
Wir jagen die Zeit,
Drehen das Rad der Geschichte,
Sie zieht durch Nebel
Ein verwundetes Schiff.
Hundert irreführende Lichter
Erschweren uns den Weg.
Hunderte Schwache
Verlangsamen den Lauf,
Das Schiff der Welt fährt
Voll von Sterbenden.
Das Ruder wollen wir,
Wir kämpfen darum.
Die morsche Welt Sträubt sich,
Die Barrieren zu überwinden,
Das Schiff schwankt,
Die Maschine setzt aus,
Die Angst vor Meuterei
Baut einen Galgen am Bug,
Allen den Mund stopfen
Will der blutige Henker.
Nur kurze Zeit habt ihr uns nicht gehört,
Deshalb ist die Stimme nicht erschlafft.
Das Schiff der Welt rettet
Niemand vor dem Untergang
Als wir und Die von uns erkämpfte Ordnung.
Auf seinem Mast Hissen wir unsere Flagge.
Sie können uns aufhalten,
66
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Doch nicht bezwingen.
Der Kampf hört nicht auf,
Das Deck kracht unter dem Balken,
Unter dem Rad der Geschichte
Hat nur der Schotter geknirscht.
Wir gehen von neuem,
Fester und stärker,
Unser Werk noch besser zu verrichten.
Karel Svenk, 1942 aufgeführt im KZ Theresienstadt61
Spuk in der Kaserne
In einer Stadt, von allem abgeschlossen,
In einem Land, das vielen heut noch fremd,
In einer Welt, in der viel Tränen flossen,
In einer Zeit, die alles in uns hemmt,
Erscheinen wir in festlich hellem Rahmen,
Vor Ihnen, meine werten Herrn und Damen.
Den jungen Menschenkindern, die sich fanden
Sie zu erfreuen, sei deshalb gedankt,
Sie haben selbst schon viel zu gut verstanden,
Was diese Zeit und was ihr Geist verlangt.
Doch mit dem Rechte ihrer jungen Jahre
Erblicken sie im Frohsinn nur das Wahre.
Wer wollte ihnen auch das Recht bestreiten,
Zu singen und im Tanze sich zu drehn,
Der vielbeliebte Hinweis auf die Zeiten
61 Hippen, Reinhard, 1988, S. 181.
67
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War stets bei denen nur, die abseits stehn:
Es läßt sich leicht von fern mit billgen Mitteln
Verständnislos an einer Leistung kritteln.
Sie haben sich nach ihren Arbeitsstunden
Die Lieder und die Tänze einstudiert,
Und echte Freude haben sie empfunden,
Als man mit ihnen dieses Spiel probiert.
Was so entstand - wer wollt es kritisch trennen -,
Ist das Produkt von Wollen und von Können.
Sie wollen Ihnen heute gar nichts zeigen,
Sie spielen für sich selbst das kleine Spiel,
Sie tanzen unbeschwert den muntern Reigen,
Das Publikum bekümmert sie nicht viel,
Wobei Sie keineswegs vergessen wollen,
Den Beifall, den so gern man hört, zu zollen.
Nun wird es Nacht, es leuchten schon die Sterne,
Es schläft die Stadt, fast jede Arbeit ruht,
Und nur ein Scherz, ein Spuk in der Kaserne,
Dringt in die Stille, voller Übermut.
Es geht ein Posten pflichtgemäß die Runde,
Das Spiel beginnt, es schlägt die Geisterstunde.
Manfred Greiffenhagen
1944 im KZ Theresienstadt vorgetragen62
Transport
62 Kühn, Volker, Kleinkunststücke, Bd. 3, S. 270.
68
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Nach hartem Kampfe mit den Elementen
War Menschengeist der stolze Sieg geglückt,
Mit der Verbindung zwischen Kontinenten
Hat man nicht nur Entfernung überbrückt.
Man maß im scharfem Wettbewerb die Kräfte,
Man exportiert und reist von Land zu Land,
Und dabei blühten nicht nur die Geschäfte,
Man kam sich nah und reichte sich die Hand.
Transport, Transport
Von Ort zu Ort,
Eilen die Wagen, sausen und jagen,
Ohne zu rosten, von West bis Osten,
Von Süd bis Nord
Transport.
Es brennt die Welt, es lodern die Flammen,
Darin die Erde schaurig sich erhellt,
Und krachend stürzt in Rauch und Glut zusammen,
Was sich der Mensch erbaut als seine Welt.
Was segensreich dem Frieden konnte dienen,
Gibt seine Kraft nun der Zerstörung her,
Im Tempokampf der Menschen und Maschinen
Erzeugt der Krieg gesteigerten Verkehr.
Transport, Transport
In einem fort
Rollen die Wagen, donnern und tragen
Millionenheere von Meer zu Meere,
Leistungsrekord!
Transport.
Wie häufig führte man das Wort im Munde.
Wie ahnungslos sprach man es vor sich hin,
69
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Bis für alle kam die schwere Stunde,
Da wir erfaßten seinen wahren Sinn.
Man rollt die Decken, ein paar Abschiedsküsse,
Ein rascher Händedruck, ein letzter Blick,
Es dampft ein Zug hinaus ins Ungewisse,
Und leere Schienen bleiben uns zurück.
Transport, Transport, Kennst du das Wort,
Kennst du die Wagen, hörst du die Klagen?
Eh du begriffen, ist abgepfiffen,
Und sie sind fort.
Transport.
Doch eines bleibt, es bleibt uns bis zum Tode,
Das ist der Glaube, ihm gehört der Sieg,
Einmal wird alles für uns Episode,
Und einmal, einmal endet auch der Krieg.
Wir fragen nicht nach Sieg und Niederlage,
Wir fragen nur, wann kommt Ihr uns zurück?
Wir Juden wolln den Frieden unsrer Tage
Und irgendwo ein ganz bescheidenes Glück.
Transport, Transport
tönt's dann sofort!
Wir sehen sie wieder, Schwestern und Brüder,
Lachend und weinend sich wieder vereinend
Am Schlußakkord
Transport!!
Manfred Greiffenhagen
1944 im KZ Theresienstadt vorgetragen63
63 Ebd., S. 294f.
70
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Manfred Greiffenhagen, der im Oktober 1944 nach Ausschwitz deportiert wird und
schließlich im KZ Dachau ums Leben kommt, beschreibt die Intention der letzten Lieder
vor dem Transport in den Tod. In Transport verweist der Autor auf eine Kunst, die nicht
mehr auf das Publikum setzt. Die Gesänge im Schatten der SS und der
Hinrichtungsmaschinerie sind in besonderem Maße Therapie im Dienste einer letzten
Überlebensstrategie. Die Klage gegen die letzte Fahrt im Zug dient nicht mehr der
Befriedigung eines satirisch disponierten Unterhaltungsbedürfnisses. Die kasernierten
Opfer von Theresienstadt, Buchenwald oder Westerbork betreiben in der extremen
Situation ein „psychodramatisches“ Schutztraining, das dem organisierten Wahnsinn der
Bewacher mit Ernst und Würde begegnet. Wenn die unterernährten Gefangenen ein
Potpourri aus dem Weißen Rössel intonieren, Villon-Balladen rezitieren oder Mozart
spielen, dann sind die Artisten zugleich der Adressat. Die uniformierten Schlächter
amüsieren sich an dem Spiel der Narren. Sie goutieren als wissende Bewacher die
Endspiele vor Abfahrt der Viehwaggons nach Auschwitz. Ob Carmen, La Boheme, Die
Fledermaus, ein Sketch oder Molieres George Dandin auf dem Programm steht, über die
Gefangenen sagt dies nur wenig aus. Auch das scheinbar unverbindliche
Unterhaltungslied aus Varieté und Operette rangiert in Theresienstadt in einem völlig
neuen Kontext und evoziert dadurch Qualitätssprünge. Aus der belanglosen
Unterhaltungskunst im bürgerlichen Rahmen entwickeln die Insassen die Kunst des
Überlebens schlechthin.
Hinter der blutrünstigen Haupt- und Staatsaktion von Rudolf Kalmar unter dem Titel „Die
Blutnacht auf dem Schreckenstein oder Ritter Adolars Brautfahrt und ihr grausiges Ende
oder Die wahre Liebe ist das nicht“64 verbirgt sich die historisch drapierte Abrechnung mit
Adolf Hitler. Das „komisch-schaurige Ritterstück in drei Aufzügen mit Musik“ wird 1943 an
sechs Wochenenden vor rund eintausend Häftlingen und „Ehrengästen“ der SS in Dachau
gespielt. Den Peinigern fällt die intendierte Parodie auf den amtierenden Reichstyrannen
freilich nicht auf. Die Ungeheuerlichkeit dürfen sich die Angesprochenen nicht
eingestehen. Sie lachen „manchmal verlegen mit, wenn die Gefangenen lachten“, notiert
der Autor in seinen Erinnerungen.65 Erwin Geschonneck - er überlebt das
64 Vgl. ebd., S. 310.
65 Zitiert ebd., S. 365.
71
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Konzentrationslager - spielt 1943 in Dachau den mythischen Blutritter Adolar. Rudolf
Kalmar bemerkt zu dem Auftritt Geschonnecks vor der Wachmannschaft:
„Er hielt sich in der pompösen Aufmachung seiner Raubritterrolle Wort für Wort an den
genehmigten Text und vermied - wie alle übrigen Mitglieder - jedes anzügliche Extempore. Aber
er betonte in seinen Tiraden die Zeitwörter gegen den inneren Sinn der jeweiligen Phrase und
ritardierte komplizierte Perioden, um sie plötzlich gegen den Schluß mit dem aufgeregten
Fortissimo eines wütenden Hundes herauszubellen. Anstatt Soldaten sagte er beharrlich
Soldatten und unterstrich bei passendem Anlaß auch noch durch hämmernde Gesten mit
geballter Faust, was ihm aus der Sprachparodie allein nicht deutlich genug zu sein schien. Der
Adolar des Erwin Geschonneck war die Hitler-Persiflage einer Pfeffermühle im
Konzentrationslager und wurde von den Gefangenen auch als solche erkannt.“66
Die Zauberflöte, Aida oder das berühmte Lied der Moorsoldaten - im August 1933 ist die
Uraufführung im Konzentrationslager Börgermoor im Rahmen der Kabarettveranstaltung
„Zirkus Konzentrazani“, 1000 Häftlinge hören zu - markieren an diesen Stätten keinen
Gegensatz zwischen erhabener Kunst und Liedgut der Unterdrückten. Im dialektischen
Brückenschlag ist das Wertekorsett zwischen ernster und unterhaltlich „leichter“ Kunst im
Lager aufgehoben. Die Kategorien oben und unten, bildend und erhebend, haben unter
den Bedingungen der Todeslager ihre normierende Wirkung eingebüßt. Es zählt vor
Abfahrt des Zuges nach Auschwitz allein die Hoffnung auf Veränderbarkeit. Die Lieder der
Verzweifelten sind Klänge, die auf den neuen Morgen setzen. Resignation gibt es, aber
sie hat nicht das letzte Wort. Witz und selbstkritischer Humor transzendieren das Elend,
schaffen mit an einer konkreten Friedensutopie.
Eines der frühesten Lieder gegen den Nazi-Terror ist aus dem Lager Heuberg in
Württemberg überliefert. Das Lied entsteht 1933. Auf dem Heuberg sind vor allem
Sozialdemokraten und Kommunisten festgehalten. Neben den Moorsoldaten erlangt das
Dachau-Lied von Jura Soyfer große Popularität. Das Lied ist im August 1938 erstmals zu
hören, geschrieben an einem schweren Arbeitstag, als der Literat und Kabarettist
zusammen mit dem Komponisten Herbert Zipper in der Kiesgrube Dienst leistet. Im März
1940 steht das Lied im Londoner Exil-Kabarett Laterndl auf dem Programm. Jura Soyfer
stirbt im Februar 1939 im KZ Buchenwald - „Typhus“ lautete die offizielle Diagnose.
66 Ebd.
72
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Dachau-Lied
Stacheldraht, mit Tod geladen,
Ist um unsre Welt gespannt.
Drauf ein Himmel ohne Gnaden
Sendet Frost und Sonnenbrand.
Fern von uns sind alle Freuden,
Fern die Heimat und die Fraun,
Wenn wir stumm zur Arbeit schreiten,
Tausende im Morgengraun.
Doch wir haben die Losung von Dachau gelernt,
Und wir wurden stahlhart dabei.
Bleib ein Mensch, Kamerad,
Sei ein Mann, Kamerad,
Mach ganze Arbeit, pack an, Kamerad:
Denn Arbeit, denn Arbeit macht frei,
Denn Arbeit, denn Arbeit macht frei!
Vor der Mündung der Gewehre
Leben wir bei Tag und Nacht.
Leben wird uns hier zur Lehre,
Schwerer, als wir's je gedacht.
Keiner mehr zählt Tag' und Wochen,
Mancher schon die Jahre nicht.
Und so viele sind zerbrochen
Und verloren ihr Gesicht.
Doch wir haben die Losung von Dachau gelernt,
Und wir wurden stahlhart dabei.
Bleib ein Mensch, Kamerad,
Sei ein Mann, Kamerad,
Mach ganze Arbeit, pack an, Kamerad:
Denn Arbeit, denn Arbeit macht frei,
73
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Denn Arbeit, denn Arbeit macht frei!
Heb den Stein und zieh den Wagen,
Keine Last sei dir zu schwer.
Der du warst in fernen Tagen,
Bist du heut schon längst nicht mehr.
Stich den Spaten in die Erde,
Grab dein Mitleid tief hinein,
Und im eignen Schweiße werde
Selber du zu Stahl und Stein.
Doch wir haben die Losung von Dachau gelernt,
Und wir wurden stahlhart dabei.
Bleib ein Mensch, Kamerad,
Sei ein Mann, Kamerad,
Mach ganze Arbeit, pack an, Kamerad:
Denn Arbeit, denn Arbeit macht frei,
Denn Arbeit, denn Arbeit macht frei!
Einst wird die Sirene künden:
Auf zum letzten Zählappel!
Draußen dann, wo wir uns finden,
Bist du, Kamerad, zur Stell.
Hell wird uns die Freiheit lachen,
Schaffen heißt's mit großem Mut.
Und die Arbeit, die wir machen,
Diese Arbeit, sie wird gut.
Denn wir haben die Losung von Dachau gelernt,
Und wir wurden stahlhart dabei.
Bleib ein Mensch, Kamerad,
Sei ein Mann, Kamerad,
Mach ganze Arbeit, pack an, Kamerad:
Denn Arbeit, denn Arbeit macht frei,
74
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Denn Arbeit, denn Arbeit macht frei!
Text Jura Soyfer, Melodie Herbert Zipper
Konzentrationslager Dachau 193867
Bertolt Brecht erinnert in seinem Gedicht „An die Nachgeborenen“ 1938 in der
Svedenborger Emigration, daß der Kampf gegen die Ungerechtigkeit in der Welt die Züge
der Menschen verzerre. „Auch der Haß gegen die Niedrigkeit / Verzerrt die Züge. / Auch
der Zorn über das Unrecht / Macht die Stimme heiser“, heißt es dort. Jura Soyfer greift etwa zur selben Zeit wie Brecht - das Motiv auf: Die Diktatur des Konzentrationslagers
gefährdet im Kampf um das Überleben auch die Integrität und Würde der Inhaftierten. Ein
von der SS installiertes Subsystem der internen Bespitzelung und Überwachung der
Gefangenen untereinander - verbunden mit kurzfristigen Privilegien und vermeintlichen
Vorteilen für die Blockältesten, Kolonnenführer usw. - sät Mißtrauen und Haß unter den
Inhaftierten. Es gibt zahlreiche Berichte, die dieses perfide System des
sozialdarwinistischen Überlebenskampfes im Konzentrationslager beschreiben. Im
Vernichtungskampf der Bewacher gegen jüdische Mitbürger und andere Opfer gehört die
interne Bedrohung der Gefangenen zum Kalkül der bestallten Mörder. Sich auf dieses
zerstörerische Spiel nicht einzulassen, das ist die entscheidende und Mut machende
Botschaft im Dachau-Lied. Wer das mörderische Spiel durchschaut, dem kann die
beispiellose Provokation am Lager-Tor - „Arbeit macht frei“ - nicht mehr viel anhaben. Der
bösen Einladung der Nazis zu Verstümmelung und Tod durch Arbeit wird im sarkastischen
Zitat die Spitze gebrochen. Der Hohn der Schlächter wird produktiv umgemünzt, der Satz
seiner Intention entkleidet und mit neuem Mut zum Leben, zum Überleben gewendet. Für
ein aufatmendes Lachen lassen die Verse keinen Spielraum. Es sind kleine literarische
Bojen, begründete Versprechungen für eine freilich noch uneingelöste angstfreie Zukunft
ohne Gaskammern. Dort, wo satirische Brechungen durchschimmern - eher verhalten
denn lautstark polternd -, gilt auch das Wort von Alfred Polgar. Er schreibt 1938: „Der
rechte Satiriker zieht, was er ins Lächerliche zieht, mit dem gleichen Griff auch ins
67 Soyfer, Jura, 1980, S. 246. Die Losung „Arbeit macht frei“ stand in großen Lettern über dem
Eingangs tor zum Konzent r a ti on slager.
75
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Ernstere.“68 Jura Soyfer zeigt zusammen mit Herbert Zipper solch ein Zusammenspiel von
Spott und Nachdenklichkeit.
Leo Strauß, der Sohn des Operetten-Komponisten Oscar Strauß, persifliert in
Theresienstadt vor seinem Abtransport im Oktober 1944 nach Auschwitz das
gespenstische Leben der Potemkinschen KZ-Garnison. Der Schrecken meldet sich
verschlüsselt zu Wort, das Vertraute ist Maske, ein Spiel von Figuren und
Marionetten rollt in der Garnison ab. Die unschwer zu vollziehende Dechiffrierung
entlarvt ein Gemeintes als Fassaden-Wirklichkeit. Das Cafe ist eine installierte Fata
Morgana, die Menschen dieser Geisterstadt bewegen sich im Irrealis, sie täuschen
sich Vergangenheit und Zukunft in ungesicherten Projektionen vor. Gefährdungen,
die Jura Soyfer beschrieben hat, Verlust der Mitmenschlichkeit, sie tauchen auch in
diesem Chanson auf. Die Stadt ist „als ob“, die Menschen sind Opfer lancierter
Gerüchte. Die Realität liegt außerhalb der Umzäunung, die Welt spult sich wie bei
der Ufa in Babelsberg als Film ab. Irgendwo draußen, fern ab von der Geisterstadt
Als-Ob, gibt es die geahnte Schreckensbühne. Dort gibt es Gleise, Bahnhöfe, den
Prellbock, Schornsteine. Das Kabarett-Lied erlangt in Theresienstadt große
Popularität und ist ein anrührendes Kabinettstück der artistischen Camouflage, der
enthüllenden Aussparung.
Als ob
Ich kenn ein kleines Städtchen,
Ein Städtchen ganz tipptopp,
Ich nenn es nicht beim Namen,
Ich nenns die Stadt Als-ob.
Nicht alle Leute dürfen
In diese Stadt hinein,
Es müssen Auserwählte
68 Zitiert in: Budzinski, Klaus, 1985, S. 219.
76
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Der Als-ob-Rasse sein.
Die leben dort ihr Leben,
Als obs ein Leben wär,
Und freun sich mit Gerüchten,
Als obs die Wahrheit wär.
Die Menschen auf den Straßen,
Die laufen im Galopp
Wenn man nichts zu tun hat,
Tut man doch so als ob.
Es gibt auch ein Kaffeehaus
Gleich dem Cafe de l'Europe,
Und bei Musikbegleitung
Fühlt man sich dort als ob.
Und mancher ist mit manchem
Auch manchmal ziemlich grob
Daheim war er kein Großer,
Hier macht er so als ob.
Des Morgens und des Abends
Trinkt man Als-ob-Kaffee
Am Samstag, ja am Samstag,
Da gibts Als-ob-Haché.
Man stellt sich an um Suppe,
Als ob da etwas drin,
Und man genießt die Dorsche
Als Als-ob-Vitamin.
Man legt sich auf den Boden,
77
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Als ob das wär ein Bett,
Und denkt an seine Lieben,
Als ob man Nachricht hätt.
Man trägt das schwere Schicksal,
Als ob es nicht so schwer,
Und spricht von schöner Zukunft,
Als obs schon morgen wär.
Leo Strauß
Konzentrationslager Theresienstadt, 194369
Karussell
In den lang entschwundenen Jahren,
Da wir kleine Kinder waren,
Hatten wir ein Ideal.
Wollt man Ruhe in der Wohnung
Oder gab es als Belohnung
Ein Geschenk nach unserer Wahl,
Riefen alle Kinder schnell:
Karussell, ach bitte, bitte, Karussell...
Wir reiten auf hölzernen Pferden
Und werden im Kreise gedreht.
Wir sehnen uns, schwindlig zu werden,
Bevor noch das Ringelspiel steht.
Das ist eine seltsame Reise,
Das ist eine Fahrt ohne Ziel Wir kommen nicht fort aus dem Kreise
Und dennoch erleben wir viel.
69 Kühn, Kleinkuns t s t üc ke, Bd. 3, S. 273f.
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Und die Musik vom Leierkasten
Vergessen wir im Leben nie,
Wenn lang die Bilder schon verblaßten.
Tönt noch im Ohr die Melodie:
Wir reiten auf hölzernen Pferden
Und werden im Kreise gedreht.
Wenn schwindlig wir haltmachen werden,
9.9.1944
Sehr geehrter Herr Eppstein!
Darf ich Sie daran erinnern, morgen bei der Dienststelle folgende Fragen zu klären:
1. Wann können wir in C III, 105 die „Karussell“-Dekoration aufbauen.
2. Wird der neue Prolog gestattet?
3. Werden weiterhin gestattet: Das Kasernenlied, die 2 französischen Refrains und das neue
Finale: „Ein Glück, wenn man keins hat“, dessen letzte Strophe noch nicht genehmigt ist.
Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn wir morgen mittag eine Antwort bekommen könnten.
Ergebenst: (gez.)
Kurt Gerron70
Dann wird man erst sehn, wo man steht.
Leer ist meistensteils das Leben
Und erst Leidenschaften geben
Seinem Ablauf Sinn und Wert.
Ehrgeiz, Börse, Lotterbetten,
70 Zitiert in: Hippen, Reinhard, 1988, 5.184; auch in Adler, H.G. Nachgewiesen. Gerrons Brief ist an den
Judenältesten gerichtet.
79
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Kino, Fußball, Zigaretten Jeder hat sein Steckenpferd.
Laßt uns unsre Sensation:
Illusion, ach bitte, bitte, Illusion ...
Wir reiten auf hölzernen Pferden
Und werden im Kreise gedreht.
Wir sehnen uns, schwindlig zu werden,
Bevor noch das Ringelspiel steht.
Das ist eine seltsame Reise,
Das ist eine Fahrt ohne Ziel
Wir kommen nicht fort aus dem Kreise
Und dennoch erleben wir viel.
Und die Musik vom Leierkasten
Vergessen wir im Leben nie,
Wenn lang die Bilder schon verblaßten,
Tönt noch im Ohr die Melodie:
Wir reiten auf hölzernen Pferden
Und werden im Kreise gedreht.
Wenn schwindlig wir halt machen werden,
Dann wird man erst sehn, wo man steht.
Menschen haben Ambitionen
Selbst, wenn sie im Elend wohnen,
Wollen sie was Beßres sein.
Hat auch keiner was zu reden,
Ist's doch ein Genuß für jeden,
Mit noch Ärmeren zu schrein:
Hört ihr das Gespensterlied:
Unterschied, ach bitte, bitte, Unterschied...
80
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Wir reiten auf hölzernen Pferden
Und werden im Kreise gedreht.
Wir sehnen uns, schwindlig zu werden,
Bevor noch das Ringelspiel steht.
Das ist eine seltsame Reise,
Das ist eine Fahrt ohne Ziel
Wir kommen nicht fort aus dem Kreise
Und dennoch erleben wir viel.
Und die Musik vom Leierkasten
Vergessen wir im Leben nie,
Wenn lang die Bilder schon verblaßten,
Tönt noch im Ohr die Melodie:
Wir reiten auf hölzernen Pferden
Und werden im Kreise gedreht.
Wenn schwindlig wir haltmachen werden,
Dann wird man erst sehn, wo man steht.
Leo Strauß, 1944 im KZ Theresienstadt vorgetragen71
Karussell, das anspruchvollste Kabarett in der KZ-Garnison, schart auf seinen Brettern die
hellsten Köpfe, Kritiker und Künstler. Stalingrad ist längst gefallen, die Gegenoffensiven
aus Ost und West rollen. Die Gefangenen in der Theresienstädter Scheinwelt ahnen von
der Wende der politischen Lage nur Unbestimmtes. Leo Strauß läßt in seinem KarussellLied zum schaurigen und ungewissen Finale aufspielen. Hölzerne Pferde jagen die Opfer
als Spielball und Marionette im Kreis.
Auf dem Jahrmarkt regieren Ohnmacht und Illusion. Die Triebkräfte des Bösen, die solch
mörderisches Spiel veranlassen, bleiben im dunkeln. Zum danse macabre trifft man sich
im Kabarett und auf dem Rummelplatz des Leo Strauß. Er kann keine Hoffnungen
machen, er weiß nicht, wie lang das Uhrwerk funktioniert. Sein Lied und Couplet über die
71 Kühn, Kleinkunststücke, Bd. 3, S. 287f.; Hippen, R., 1988, S. 183f.
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Gespensterstadt dient kaum der Unterhaltung. Es sind Strophen, gesungen am offenen
Grab - für die Künstler, die gebetenen und ungebetenen Gäste im Saal. Im Zug nach
Auschwitz hocken sie dann nebeneinander, die Sänger und Besungenen. Der letzte
Transport nach Auschwitz mit 2038 Gefangenen verläßt am 28. Oktober 1944 das
„Vorzeige-Ghetto“. Kurt Gerron, Leo Strauß und seine Frau Myra sind darunter, viele
andere Künstler und Namenlose mit dem Stern müssen mit auf die letzte Reise nach
Polen. Die Doppelgesichtigkeit in dem Wartesaal zum Tod hat Leo Strauß in dem Sketch
zweier Damen - zwischen einer vermeintlich Wissenden und einer im Ghetto gerade
Ankommenden - unter die Lupe genommen. Der Refrain spiegelt gestanzte NSPropaganda und enttarnt die Sprache der Bewacher.
ERSTE DAME
kommt im Reisekleid
mit Plaid und Vogelkäfig
Ich komm grad herein vom Land,
Bin hier gänzlich unbekannt,
Sagen Sie mir, wo ich hier
Mich am besten informier
ZWEITE DAME
im Putzkolonnen-Overall
kehrt nachlässig die Straße
Wollen Sie über mich verfügen,
Steh zu Diensten mit Vergnügen,
Als alter Wien-Transport
Kenn ich ganz genau den Ort
Theresienstadt, Theresienstadt,
Ist das modernste Ghetto, das die Welt heut hat.
Sagen Sie, wie kommt das bloß,
Gestern noch ganz stemelos,
Bin ich heute schon inmitten
Lauter polnischer Semiten?
Mancher, der die Nase rümpft,
Will sich tarnen, wenn er schimpft,
Drum frag ich ganz unverhohlen,
Gehörn Sie zu den Tarnopolen?
Theresienstadt, Theresienstadt,
Ist das antisemitischste Ghetto, das die Welt heut hat.
Ist das Klima hier gesund?
Oder geht man hier zugrund?
Ist das Mittagessen reichlich?
Ist hier Krankheit unausweichlich?
Kost ist knapp für starke Esser,
Für die Kranken sorgt man besser,
Will man stets gesund hier bleiben,
Muß man dauernd krank sich schreiben.
82
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ERSTE DAME
ZWEITE DAME
Theresienstadt, Theresienstadt,
Ist das humanste Ghetto, das die Welt heut hat.
Also nicht genug zum Essen.
hat man uns denn ganz vergessen?
Ist das meines Lebens Schluß,
Daß ich hier verhungern muß?
Bitte, schweigen Sie sofort!
Hunger ist ein garstig Wort.
Hier benennt man diese Chose
Vornehm Avitaminose.
Theresienstadt, Theresienstadt,
Ist das vornehmste Ghetto, das die Welt heut hat.
Wer besorgt mir mein Logis,
Ganz bescheiden, wissen Sie,
Zimmer, Küche, Kabinett,
Aber ruhig, sauber, nett?
Mit ein wenig Phantasie,
Meine Gnädge, träumen Sie
Von Zimmer, Küche, Kabinett
Auf dem obern Cavalett.
Theresienstadt, Theresienstadt,
Ist das verträumteste Ghetto, das die Welt heut hat.
Richtig, eh ich dran vergeß,
Wie stehts hier mit Evening-Dress?
Muß ein Mann, so möcht ich fragen,
Abends einen Frack hier tragen?
Meistens geht man hier salopp,
Und nur manche tun als ob.
Schmücken sich je nach Geschmack,
Mein Mann geht hier nur als Wrack.
Theresienstadt, Theresienstadt,
Ist das mondänste Ghetto, das die Welt heut hat.
Ich bin zwar recht abgespannt
Von der Reise in dies Land,
Dennoch möchte ich mich bequemen,
Heute noch ein Bad zu nehmen.
Gehn Sie nur direkt nach Haus,
Schlafen Sie sich richtig aus,
Denn die ersten Badekarten
Können Sie im Mai erwarten.
Theresienstadt, Theresienstadt,
Ist das hygienischste Ghetto, das die Welt heut hat.
Ach, noch etwas, mein Gepäck
Ist zum größten Teile weg,
Sagen Sie mir bitte an,
Wie ichs holen lassen kann.
Lassen Sie das Zeug nicht holen,
Denken Sie sich, Gott befohlen,
Jeder Schritt ist für die Katz,
Und Sie haben doch eh kein Platz.
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ERSTE DAME
ZWEITE DAME
Theresienstadt, Theresienstadt,
Ist das kulanteste Ghetto, das die Welt heut hat.
Apropos, ich möchte morgen
Vogelfutter hier besorgen,
Ach, mein Vogel braucht Diät,
Frißt nur prima Qualität.
Dafür gibts hier kein Import,
Gebens rasch den Vogel fort,
Wer hier einen Vogel hat,
Ist Cvokárna-Kandidat.
Theresienstadt, Theresienstadt,
Ist das verzwockteste Ghetto, das die Welt heut hat.
Sagen Sie mir noch zum Schluß,
Was ich dringend wissen muß,
Denn ich will nach Hause schreiben.
Wie lang werden wir hier bleiben?
Ja, da kann man sich nur richten
Nach den neuesten Berichten.
Heute hört ich beispielsweise Musik übertönt ihre Worte
Theresienstadt, Theresienstadt,
Ist das informierteste Ghetto, das die Welt heut hat!
Leo Strauß72
In Buchenwald, Westerbork, Dachau oder Theresienstadt singen Gefangene gegen ihre
Mörder, hier dichten, tanzen und steppen sie. Es ist der historisch singuläre Versuch,
unter der Herrschaft der SS sich Menschenwürde zu bewahren. Während im zerfallenden
Imperium nur noch Frontkabarettisten mit ihrem fragwürdigen Durchhalte-Humor geduldet
sind, intonieren die Theresienstädter Narren ihr Lied als ein vielschichtiges Couplet der
Entrechteten. Komik pervertiert in Bitterkeit, Zorn über die Wächter sucht sich die
Sklavensprache der Allusionen und Andeutungen. Es bedarf des gezielten Winks, des
kabarettistischen Kassibers, um sich in den Kasematten von Theresienstadt zu
verständigen. Erst als die verheerenden Bombennächte über Deutschland anbrechen,
Hamburg, Dresden und Stuttgart in Trümmern liegen, wagen sich nach und nach aus der
Asche der Städte anonyme Spötter ans Licht. Die satirischen Partisanen riskieren viel,
leben aber immerhin in Freiheit. Flugblätter aus unbekannter Hand verhöhnen den „Erlaß
des Führers über die Bildung des deutschen Volkssturms“ vom 25. September 1944.
72 Ebd., S. 272f.
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Leg weg das Strickzeug, liebe Olga,
und hör auch du her, Klaus, mein Sohn;
wir kämpfen nicht mehr an der Wolga,
wir fechten an der Neiße schon.
Vom Nil zum Rhein, vom Don zur Planke
mit Sack und Pack und Flak und Pferd,
welch niederschmetternder Gedanke:
der Krieg ist heim ins Reich gekehrt.
Wie anders kam es, als ich dachte,
Schatz, reich mir deine weiße Hand,
wir fahren in den Abgrund sachte
und nicht mehr gegen Engeland.
Nach Rache und Vergeltung lechz' ich,
drum auf zum Volkssturm, lieber Klaus!
Du bist erst zwölf, ich sechsundsechzig,
doch sehn wir fast wie Männer aus.
Und du, mein Weib - als Ehrengabe
sei dir der Spaten anvertraut.
O Olga, schippe, schanze, grabe,
ganz Deutschland ist auf Sand gebaut.
Gebiete, Teure, deinen Tränen,
wenn du auf deinen Garten schaust.
Ich knirsch' mit meinen letzten Zähnen
und ball' vor Wut die Panzerfaust.
Laßt uns die Gartentür verriegeln,
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dann werfe ich mich in den Schmutz.
Ich bin bereit, mich einzuigeln,
Gemeinnutz geht vor Eigennutz.
So wollen wir den Feind erwarten,
des Führers letztes Aufgebot,
durch Panzerschreck im Schrebergarten
zum Reichsfamilienheldentod.
Wir hissen die zerfetzten Segel
und wandern froh an Hitlers Stab
Mit Mann und Maus und Kind und Kegel
ins Massengrab, ins Massengrab.
Anonym, 194473
Trauerarbeit und Restauration
Erich Kästner gibt Nachhilfe
Die Metropolen sind zertrümmert, Aufräumarbeiten in der verfilmten Propagandafeste
Kolberg. Köln, Dresden, München verwüstet, apokalyptische Endzeit ohne Aussicht auf
gestaltbare Zukunft. Hiroshima und Nagasaki, das sind die anderen Katastrophen und
liegen weit entrückt vom deutschen Trümmerfeld. Die Sorge um das Brennholz und die
Lebensmittelmarke wiegt schwer. Die Überlebenden im amputierten Reich sind mit sich
selbst beschäftigt. Die Sieger schnüren das Korsett für die Besiegten. Kultur und das
befreite Radio unterstehen den Kontrolloffizieren der Alliierten. Die Freiheit bemißt sich
ganz selbstverständlich nach dem Freiheitsbegriff der militärischen Zensoren.
Im September 1945 besteht in Hamburg das Ausgehverbot noch immer. Um 22 Uhr 30 ist
Schluß der Vorstellung. In Turnhallen, die noch Fenster haben, gibt es
73 Zitiert in: Dokumentation: Das Dritte Reich, Bd. 4, 1984, S. 468.
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Theateraufführungen. Kirchen und Gemeindehäuser helfen im Dienste der neuen
Trümmerkultur aus. Reeducation ist im Namen der ungewohnten Demokratie und der
Alliierten angesetzt. Im Kino gehören Chaplins „Der große Diktator“, „Der Dritte Mann“ und
Staudtes Defa-Produktion „Die Mörder sind unter uns“ zum Nachhilfeprogramm.
Fragebögen über die nationalsozialistische Vergangenheit werden unters Volk gebracht.
Radio und Wochenschau dokumentieren in Ton und Bild die Nürnberger Prozesse. Das
Rote Kreuz fahndet nach den Verschollenen von Stalingrad. Die Opfer der
Konzentrationslager, die gezeichneten Überlebenden, bleiben stumm.
Sie haben keine Lobby und keine Stimme. Ein Unerschrockener, Eugen Kogon, bringt die
Fratze des SS-Staats zu Papier, störend für alle Mitläufer, die von nichts gewußt haben
wollen, entlarvend, aber nahezu folgenlos, für Täter, die sich bald wieder in deutsche
Amtsstuben einnisten oder unter der Sonne Südamerikas ihr Heil suchen. „Mit vielen und
mit Freunden zusammen hoffte ich, es werde, obschon einmalig in der Geschichte, aus
kollektiver Moral Politik entstehen können. Ungeheuerlich war doch das Erlebte
gewesen“74, darauf setzt in der Stunde Null der Gefangene von Buchenwald und spätere
Herausgeber der legendären „Frankfurter Hefte“. Viele Menschen suchen den ethischen
und moralischen Aufbruch, formulieren die Utopie eines sozial verantworteten
Christentums aus neuer Perspektive. Die evangelische Kirche bekennt sich im Oktober
1945 beispielhaft zur geschichtlichen Schuld und Mitverantwortung im „Dritten Reich“. Aus
dem Untergrund tauchen die unter dem Nationalsozialismus verfemten Dichter auf. Die
Verbotenen und Illegalen von einst melden sich zu Wort. Günter Weisenbom, Carl
Zuckmayer, Thomas Mann und Friedrich Wolf setzen auf die Zäsur. Der Appell an den
neuen Menschen hat kein gesichertes und stabiles Forum. Das meiste bleibt im
Vorläufigen. Der Applaus, wenn er denn kommt, ist eher bescheiden, und niemand schreit
hurra. Die Prospekte für die Zukunft sind rar. Angst und Entsetzen sitzen noch im Nacken.
Die Analyse des vergangenen Terrors ist einsamen Rufern überlassen, die das
persönliche Versagen in der Vergangenheit nicht verschweigen und mit in das Kalkül des
Wiederaufbaus integrieren. Die Mehrheit der Geschlagenen, die Millionen, sie schweigen
indessen.
74 Kogon, Eugen, 1974.
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Ablenkung und Unterhaltung werden großgeschrieben, weiterhin. Erich Kästner, der
„verbrannte Literat“, der sich mit Pseudonym und Glück bei der nationalsozialistischen
Propagandamaschinerie der Ufa mit dem Drehbuch für Münchhausen (1942)
durchmogelte, er ist jetzt im zerbombten München ein gefragter Texter für die kleinen und
größeren Kabaretts. Dort kann sich literarischer Zeitgeist nach der Liszt-Fanfare im
„Volksempfänger“ wieder melden. Zunächst verstohlen und zaghaft. Theateroffiziere
kontrollieren den Nachkriegsspaß. Es herrscht ganz selbstverständlich und
unwidersprochen Zensur im Namen der Demokratie und der Reeducation. Für drei Jahre,
bis zur Währungsreform, bestimmt die Münchner Schaubude das kabarettistische
Geschehen der Stadt. Im Theatersaal des Katholischen Gesellenvereins-Hauses ist am
21. April 1946 Premiere.
Ursula Herking, Hellmuth Krüger, Karl John und Siegfried Lowitz treten hier auf. Um den
Prominenten Erich Kästner versammeln sich Axel von Ambesser und Herbert Witt. Und
hier singt die vierunddreißigjährige Herking Kästners „Marschlied 1945“. Zeitzeugen
berichten von der „Betroffenheit“, die das Chanson unter dem Publikum auslöst. Der
Dichter, der Komponist Edmund Nick und die Interpretin bewirken in der Stunde Null die
Konvergenz zwischen Publikum und Bühne. Als zerlumpte Flüchtlingsfrau, mit Rucksack
und Koffer bepackt, intoniert die Kabarettistin das Lied von Niederlage und Neubeginn.
Jahre später heißt es in den Memoiren: „Schon nach den ersten drei Minuten war der
Kontakt da. Als ich den letzten Ton des Marschliedes gesungen hatte, sprangen die
Menschen von den Sitzen, umarmten sich, schrien, manche weinten, eine kaum
glaubliche ‘Erlösung’ hatte da stattgefunden. Das lag nur zum kleinen Teil an mir, es war
einfach das richtige Lied, richtig formuliert, richtig gebracht, im richtigen Moment! Das
kommt selten vor, ist kaum zu wiederholen.“75 Die Musik, eher schlicht in seiner liedhaften
bis „geschlagerten“ Melodie, untermalt mit eingängigen Klangmustern den Trauermarsch
der gebeutelten Flüchtlingsfrau.
Marschlied 1945
Prospekt: Landstraße. Zerschossener Tank im Feld. Davor junge Frau in
Männerhosen und altem Mantel, mit Rucksack und zerbeultem Koffer.
75 Herking, Ursula, 1973, 5.121.
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1.
In den letzten dreißig Wochen
zog ich sehr durch Wald und Feld.
Und mein Hemd ist so durchbrochen,
daß man's kaum für möglich hält.
Ich trag Schuhe ohne Sohlen,
und der Rucksack ist mein Schrank.
Meine Möbel hab'n die Polen
und mein Geld die Dresdner Bank.
Ohne Heimat und Verwandte,
und die Stiefel ohne Glanz, ja, das wär nun der bekannte
Untergang des Abendlands!
Links, zwei, drei, vier,
links, zwei, drei –
Hin ist hin! Was ich habe, ist allenfalls:
links, zwei, drei, vier,
links, zwei, drei –
ich habe den Kopf, ich hab ja den Kopf
noch fest auf dem Hals.
2.
Eine Großstadtpflanze bin ich.
Keinen roten Heller wert.
Weder stolz, noch hehr, noch innig,
sondern höchstens umgekehrt.
Freilich, als die Städte starben ...
als der Himmel sie erschlug ...
zwischen Stahl- und Phosphorgarben
damals war'n wir gut genug.
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Wenn die andern leben müßten,
wie es uns sechs Jahr geschah –
doch wir wollen uns nicht brüsten.
Dazu ist die Brust nicht da.
Links, zwei, drei, vier,
links, zwei, drei –
Ich hab keinen Hut.
Ich hab nichts als:
links, zwei, drei, vier,
links, zwei, drei –
ich habe den Kopf, ich hab ja den Kopf
noch fest auf dem Hals!
3.
Ich trage Schuhe ohne Sohlen.
Durch die Hose pfeift der Wind.
Doch mich soll der Teufel holen,
wenn ich nicht nach Hause find.
In den Fenstern, die im Finstern
lagen, zwinkert wieder Licht.
Freilich nicht in allen Häusern.
Nein, in allen wirklich nicht...
Tausend Jahre sind vergangen
samt der Schnurrbart-Majestät.
Und nun heißt's: Von vorn anfangen!
Vorwärts marsch! Sonst wird's zu spät!
Links, zwei, drei, vier,
links, zwei, drei –
Vorwärts marsch, von der Memel bis zur Pfalz!
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Spuckt in die Hand und nimmt den Koffer hoch.
Links, zwei, drei, vier,
links, zwei, drei –
Denn wir hab'n ja den Kopf, denn wir hab'n ja den Kopf
noch fest auf dem Hals!
Marschiert ab.
Erich Kästner, Musik von Edmund Nick vorgetragen am 21.4.1946 in
der „Schaubude“76
„Marschlied 1945“ - das ist ein eruptiver Aufschrei der Herking, der auch in dem
historischen Mitschnitt deutliche Spuren der Situaton von 1946 vermittelt. Der
Schulterschluß der Ausgebombten und Flüchtlinge ist hier in der Reitmorstraße möglich,
weil der Texter keine unbequemen Fragen nach Schuld und Mitverantwortung stellt. Krieg
und Feuerhagel sind in der Sprache von 1945/46 auch bei dem kritischen Feuilletonisten
des Münchner Blattes Die Neue Zeitung ein blindes Naturereignis. Kästner beschreibt in
melancholischen Chiffren die Krise der demoralisierten Nation. Einer „SchnurrbartMajestät“ - in handlicher und faßbarer Form des Diminutivum - ist das angesprochene
Publikum gefolgt. Die sprachlichen Figuren reflektieren das Entsetzen in verdaulichen
Häppchen. Noch ist nicht die Zeit der Aufarbeitung, geschweige der „Bewältigung“ der
Vergangenheit gekommen, auch nicht für den Kritiker Kästner. Die Trauer über den
Verlust der Menschen und den Krieg ist allgemein. Der Mut für die Zukunft kommt aus der
Vergangenheit, aus den Marschrhythmen, die ins Verderben geführt haben. Diese Sicht
unterstellt dem Autor keinen militaristischen Gestus. Das Lied offenbart aber aus dem
Abstand von nahezu fünfzig Jahren die Widersprüche und die Sprachlosigkeit gegenüber
dem Elend der gerade überwundenen Diktatur. Die Flüchtlingsfrau Ursula Herking besingt
mit trotziger Stimme die Leidensfähigkeit der Deutschen - ihres Publikums. Mehr noch:
Die geschundenen Verlierer sind unvergleichlich, auch im Erdulden. „Wenn die andern
leben müßten, wie es uns sechs Jahr geschah“, das sind Verse, die auf die besondere
Leidensfähigkeit der Deutschen hinweisen. Der Verlust von Menschen, Haus und Hof hat
76 Kästner, Erich, 1959, S. 49f.; Budzinski, Klaus, 1989, S. 8f.; Kühn, Kleinkunststücke, Bd. 4, S. 29f.;
Kabarett 1946-1969, CD 1, Nr. 1.
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auch bei Kästner (ganz konkret und wörtlich) fatale Ursachen, die außerhalb einer
geschichtlichen Verantwortung liegen. Die Ursachenforschung begnügt sich hier in dem
gefeierten Lied mit dem Anreißen von „deutschen“ Symptomen, beschreibt
Schicksalsschläge der verhängten Art.
Die Popularität des Chansons ist in diesem Sinne völlig einleuchtend, ja zwingend. Die
Konvergenz von Tätern und Opfern, von Ausgebombten und Eroberern schafft nach dem
Zusammenbruch dem bürgerlichen Kopf erst einmal Luft. Dabei liegt es Erich Kästner
gewiß fern, die Nazis direkt oder indirekt zu exkulpieren. Das Chanson spiegelt aber
gleichwohl die deutsche „Unfähigkeit zu trauern“, die von Alexander und Margarete
Mitscherlich zwanzig Jahre später aufgedeckt wird. Kästners Abrechnung mit der
Vergangenheit zählt fast alle Merkmale der kollektiven Entschuldung. Dazu heißt es
später bei Mitscherlich: „Zu den Mitteln der Schuldleugnung gehört die seither häufig
vertretene Auffassung, das Hereinbrechen einer Diktatur sei ein Naturereignis, das sich
getrennt von Einzelschicksalen vorbereite und gleichsam über sie hinweggehe.“77
Ansprechend und melodisch gestaltet, vermittelt das „Marschlied 1945“ bei aller kritischen
Intention des Autors vor allem Mitleidsaffekte für verschuldetes Elend. „Links, zwei, drei,
vier“ ist ein böser und ein satirischer Refrain. Er reflektiert den Weg von der Pfalz bis zur
Memel und zurück. Die Parole vom Wiederaufbau („nun heißt's von vorn anfangen!“)
macht dem Publikum Mut, Mut für eine ganz und gar unbestimmte Zukunft. Daß es in der
Realität - bei der Wiederbewaffnung, beim Ost-West-Konflikt - unverbesserliche
geschichtliche Wiederholungen geben würde, dies steht 1946 noch nicht zu vermuten. Die
Ohnmacht der melancholischen - mit hinreißendem Glissando gesungen -Argumente zeigt
die vage Verbindlichkeit des kritischen Kopfes.
Der kabarettistische Rückspiegel ist, wenn man so will, beschlagen. Mit den
unbestimmten Konturen läßt sich ein angekränkeltes Nachkriegs-Gemüt vorerst
beruhigen. In dieser Verschränkung von vermeintlicher Aufklärung und objektiven
Blindflecken ist die Zeitgenossenschaft des Liedes aus der Reitmorstraße begründet. Zur
Stunde Null ist es das Chanson par excellence. Der „Untergang des Abendlandes“ läßt
77 Mitscherlich, A. und M., 1990, S. 30.
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sich damit zeittypisch verkraften, ohne bindende Versprechen für einen qualitativen
Neuanfang.
Doch Kästner hat gelegentlich auch einen schneidenden, ja zynischen Zungenschlag.
Freilich, der kabarettistisch getrimmte Zorn unterschlägt Ursache und Wirkung, vermischt
das Symptom mit dem Bedingenden. Es entsteht dadurch für den Hörer und Zuschauer
ein Irrgarten der verschiedensten Befindlichkeiten. Die Wut ist ehrlich, das allgemeine
Schnauben über die Missetaten - die unbenannten - ebenfalls. Die Fragen nach dem
Wieso und Weshalb bleiben unbeantwortet. Die Stimmung ist schlecht und ein bißchen
traurig und misanthropisch. Und weil Taten und Untaten vielleicht doch einem zirkulärem
Gesetz unterliegen, deswegen gibt es aus der Sicht des berufenen Pessimisten keine
Perspektive für Besserung. Die nächste Völkerschlacht ist angesagt:
Wir richten Deutschland jedesmal zugrund –
Und dann kommt ihr und dürft es retten.
Dann schaun wir zu und schimpfen euch Verräter
und spotten all der Fehler, die ihr macht.
Habt ihr das Land dann wieder hochgebracht,
Entsenden wir die ersten Attentäter
Und werben für die nächste Völkerschlacht!
Soviel für heute, alles andre später.78
Mit diesem lustvollen „moralischen Pessimismus“ bespielt die Schaubude das Münchner
Publikum. Kästner setzt auf die Kritik des Eulenspiegels, auf die unbestimmte
Selbstheilung durch das satirische Wort, ohne daß die Bilder und Metaphern sich
analytisch und notwendig zuspitzen. Die Klage bleibt drohend und doch allgemein. Was
treibt also die spitze Feder des Satirikers im Jahre 1946? Kästner: „Satiriker können nicht
schweigen, weil sie Schulmeister sind. Und Schulmeister müssen schulmeistern. Ja, und
im verstecktesten Winkel ihres Herzens blüht schüchtern und trotz allem Unfug der Welt
die törichte, unsinnige Hoffnung, daß die Menschen vielleicht doch ein wenig, ein ganz
78 Kästner, Erich, 1959, S. 104.
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klein wenig besser werden könnten, wenn man sie oft genug beschimpft, bittet, beleidigt
und auslacht. Satiriker sind Idealisten.”79
Demokratisch - aber wie! Spötter wider die Reaktion
1947: Es ist die Geburtsstunde einiger Studentenkabaretts, des nonkonformistischen
Spotts zwischen Mensa-Tischen und der Alma mater. Die Amnestierten heißt ein solcher
Zusammenschluß an der Kieler Universität. Zunächst als „Reisekabarett“ mit literarischen
und politischen Ambitionen gestartet, schicken sich Joachim Hackethal, Klaus Peter
Schreiner, Walter Niebuhr und Ernst König an, hinter den Müll der braunen Vergangenheit
und Gegenwart zu leuchten. Die Männer haben etwas zu sagen, es gibt auch reichlich zu
beklagen. Den Namen legen sich die akademischen Kabarettisten in direkter Anspielung
auf einem Erlaß der Alliierten zu: Diese verfügen im Sinne der bürokratischen
Vereinfachung bei der „Entnazifizierung“ erst einmal, jeder habe als unbescholten und
unbelastet zu gelten, der nach 1919 geboren ist. Auch das erfüllt den Tatbestand der
„Gnade der späten Geburt“, ein Vorzug, von dem Jahrzehnte später der erste pfälzische
Bundeskanzler mit Nachdruck sprechen wird. Das Eingangslied der Amnestierten - sie
singen es in Cambridge und London, in Basel und in Skandinavien - kündet davon.
700.000 Reisekilometer legen die Kabarettisten bis zum Aus im Juni 1965 in Berlin
zurück.
Song der Amnestierten
Unbelastet,
Doch betroffen
Von den letzten tausend Jahren,
Hat man uns amnestiert,
Doch die Deutschen
79 Ebd., S. 489.
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Nur die Deutschen?
Sind von Nöten und Gefahren
Immer noch nicht ganz kuriert.
Wir können heute leicht begreifen,
Was damals nicht ganz richtig war.
Doch warum in die Ferne schweifen?
Seht, das Übel liegt so nah!
Man könnte alles auch ganz anders seh'n
Was nützen Ideale, wenn andre drauf spazierengehen?
Mit Witz allein ist es noch nicht getan!
Noch ist es Zeit zur Therapie, Aber höchste Eisenbahn
Joachim Hackethal, 194780
Immer wieder greift die Obrigkeit in das Kabarettgeschehen ein. Im April 1948 verbietet
ein britischer Theateroffizier wegen einer pointierten Hitler-Szene das Programm. Günter
Neumann, Chef der Insulaner in Berlin, übt in seinem Programm heftige Kritik an den
sozialistisch angehauchten Nestbeschmutzern, und der VDS, der Verband Deutscher
Studentenschaften, schließt Die Amnestierten 1950 aus dem Dachverband aus. Man
untersagt den Profis von studentischer Seite das werbewirksame Attribut
„Studentenkabarett“. Doch die eher kleinkarierten Nadelstiche lähmen die Arbeit der
Truppe nicht, sie sind Teil eines realsatirischen Aspekts und künden von der Permanenz
des zensorischen Kulturbetriebs, von einem verwalteten Kabarett, das sich der
verschiedensten Zugriffe erwehrt.
Ein Schuster, namens Krause, vergegenwärtigt bei den Amnestierten, im Wechsel mit
einem „Zeit-Chor“, das Elend der Kriege. Der Krieg ist zum beklagenswerten
Weltenschicksal verkommen, er kann wiederkehren. Der makabre Vergleich zwischen
den Gliedern Krieg und Leben/ Prothese und Bein verrät die kritische Distanz zur
Zeitgeschichte. Wie bei Erich Kästner bleibt es jedoch bei der allgemeinen Klage, die
80 Kühn, Volker, Kleinkunststücke, Bd. 4, S. 95; Kabarett 1946-1969, CD 1, Nr. 8.
95
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Ursachenforschung findet nicht statt. Der Text besagt, daß Krieg eine allemal
„scheußliche Geschichte“ ist, mit der der Zuhörer dem Grunde nach nichts zu tun hat. „Die
da oben“ haben das Elend ausgelöst, die andern haben es über sich ergehen lassen. Hier
sind bereits viele Muster des Verdrängens und Vergessens angelegt. Es fehlt an einem
analytischen Zugriff, an einer differenzierten Sprache und klarer Bildlichkeit. Immerhin, der
Tod ist als numerische Größe aufgelistet. Im Namen der Militärs hat man bombardiert,
präsentiert und liquidiert. Doch die Kritik nimmt sich aus heutiger Sicht eigentümlich
kraftlos und unverbindlich aus. Die Szene bleibt - und das ist allemal zeittypisch für das
Kabarett in Trümmern - im geschichtslosen Raum haften, auch wenn die Zahl der Toten
von Weltkrieg zu Weltkrieg beträchtlich angewachsen ist. Krieg, das ist bei den
Amnestierten zunächst ein unvermeidliches Desaster, aber nicht jede Kugel hat getroffen.
Was gestern war, kann morgen wieder kommen, so lautet die triste Botschaft. Es ist ein
Song der linken Melancholie, wie Walter Benjamin es für den Fall Erich Kästner
beschrieben hat. Die Betrachtung des Reisekabaretts schafft immerhin ein wenig Luft fürs
Überleben und das Arrangement mit dem Status quo.
Kriege wird es immer geben
Kriege werden immer sein.
Denn der Krieg gehört zum Leben,
wie die Prothese zu dem Bein!
Stimmen:
Präsentieren, schwadronieren
bombardieren, liquidieren,
triumphieren, salutieren,
internieren und erfrieren,
Kampf für kommende Generationen,
Volkssturm, Kapitulationen,
Massenaufgebote!
Krause:
96
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Für 1914-1918:
Zwei Millionen Tote!
Für 1939-1945:
Zehn Millionen Tote!
So spielt man mit uns Heldenspiel,
mal unten und mal oben.
Die Regel ist nur zu bekannt,
Gewinne stellt das Vaterland,
man wird von selbst geschoben.
Chor:
Ein Volk von Spielern steht bereit.
Entscheidend ist Geschicklichkeit.
Der Einsatz ist gegeben:
Er kostet nur das Leben!
Krause:
Na, eben!
Die Amnestierten81
Im Kabarett der Stunde Null ist der Blick auf die Mittäterschaft im „Dritten Reich“ ein
vermittelter. Das Klaglied über die Vermißten und Toten mündet oft in psychoanalytisch
begründeter Entschuldung des eigenen Mittuns. Das Böse und die Verbrechen, das
betrifft die „anderen“, verschmilzt zu einem Parameter, der als Selbstschutz außerhalb der
persönlichen Einflußsphäre steht.
Wo das Kabarett sich verantwortlich artikuliert, das plätschernde Gleichmaß der
Unterhaltung meidet, da ist auch die beherzte Abrechnung mit den neofaschistischen
Tendenzen, mit dem Tschingderrassabumm der Ewiggestrigen und den restaurativen
Strömungen in der neuen Republik zu entdecken. Die Hinterbliebenen, das
vagabundierende Reisekabarett aus Bad Reichenhall, erinnert in einem entsprechenden
81 Zitiert in: Budzinski, Klaus, Die öffentlichen Spaßmacher, 1966, S. 33f.
97
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Lied an den Fall Veit Harlan, den Regisseur der perfiden Propandafilme vor 1945, an die
Riege der Film- und Theaterprominenz, die Stehaufmännchen, die mit der Nachsicht einer
einäugigen Nachkriegsjustiz rechnen können. Ernst Leopold Stahl begeistert sich in der
Zeitschrift Die Quelle über den Biß der Kabarettisten und bemerkt:
„Man muß sich vorstellen, was es heißt: man führt uns zwei Stunden lang in der künstlerischen
Übertreibung von Parodie und Satire Vorgänge und Tatbestände vor, von denen jeder ohne
Ausnahme zum Heulen ist. Man bagatellisiert sie nicht, beschönigt nichts und schont niemanden
und vermag doch mit einem tollen Galgenhumor eine Wirkung zu erzielen, die zugleich nach
außen höchst heiter und nach innen tief ernst, will sagen nachdenklich stimmt. Das ist, mit zwei
Worten, Aristophanisches Theater.(...) Auf einer über die Parteipolitik erhobenen Ebene
geschieht eine demokratische Aufklärung und Erziehung des Volkes, die bisher in Deutschland
von keiner Stelle aus wirkungsvoller, gescheiter, phantasiebegabter und unterhaltender
durchgeführt worden ist.“82
Mit schwarzen Zylindern und violetten Mänteln ausstaffiert, verspotten die Künstler - sie
verstehen sich als kabarettistisches Gesinnungskollektiv - den politischen und kulturellen
Morast, den Sieger und Besiegte in großer Einmütigkeit pflegen.
Die pädagogischen Moralisten erinnern und ziehen auf ihrer Bühne zur Verantwortung.
Die braunen VIPs aus der Vergangenheit, die prominenten Mitläufer, die unter der Diktatur
Kasse gemacht und von den Segnungen des Hakenkreuzes bestens gelebt haben, sie
geben reichlich Stoff zum Lachen und Nachdenken.
Schüttelgereimte Conférence
Es geht ja schon vorwärts, im vierten Gang:
Spruchkammern gehn auf Privilegiertenfang.
Und die Bühnenwelt fühlt sich genesen:
Was? Schauspieler Nazis? Nie gewesen!
Man bat, daß die Kammer sich laß erweichen Und Frau Söderbaum spielt wieder Reichswasserleichen,
82 Stahl, Ernst Leopold, 1948, S. 118.
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Weil ihr Hermann einmal den Eh'ring gab,
Lehnt doch keiner die Emmy Göring ab,
Herr Krauss wird in Braus und Saus gegrüßt,
Weil die bittersten Zeit uns Herr Krauss „gesüßt“.
Es schöß wohl nur, wer ein Quängler war,
Gegen Furtsbusch und Knappertswängler quer;
Und wenn Zeugen sich wegen Herrn Wiemanns regen
Auch Heinz Rühmanns und Johannes Riemanns wegen,
Und wenn wieder Theater haben die Gründgens,
Dann beweist das: hier liegen's begraben, die Hündgens!
Doch da schon der alte Lärm anhebt,
Auch wenn nicht mehr der wackere Hermann lebt,
Da, um uns vor östlicher Macht zu beschützen,
Schon der Ami beginnt, unsern Schacht zu benützen,
Da es Männer schon gibt mit Verstümmlerhirnen
Hinter den markigen Himmlerstirnen,
Und da schon Demokraten wie Hitler schalten,
Kann getrost seinen Mund jetzt der Schüttler halten!!
Hermann Mostar83
Die kabarettistischen Attacken der Hinterbliebenen bleiben bis zu ihrem Abschied 1949
leidenschaftlich und scharf. Sie haben beileibe nichts von der Betulichkeit, die der
Kabarett-Direktor in Wolfgang Borcherts Hörspiel und Theaterstück „Draußen vor der Tür“
(1947) anmahnt. Die Radio- und Bühnenfigur verlangt die wohlfeile Unterhaltung für das
Publikum. Begriffe wie Kultur, Wahrheit und Schönheit dienen im Diskurs über die Qualität
der kleinen Bretterkunst meist als Totschlag-Argumente der Obrigkeit und sind gegen das
freie Wort gerichtet. Der CSU-Kultusminister Alois Hundhammer attackiert im Münchner
83 Zitiert in: Greul, Heinz, 1967, S. 385. Kristina Söderbaum war die Frau von NS-Regisseur Veit Harlan und
spielte in zahlreichen Propagandafilmen mit, aufgrund melodramatischer Rollen auch
„Reichswasserleiche“ genannt. Werner Krauss spielte in „Jud Süß“ die Hauptrolle. „Furtsbusch“ und
„Knappertswängler“ zielt auf die Dirigenten Furtwängler und Knappertsbusch. Sie hofierten das NSSystem mehr oder minder offen. Auch Rühmanns Verhältnis zum NS-Staat ist zwiespältig. Er trennte sich
von seiner jüdischen Frau und ließ sich für die Propaganda im Film einspannen. Hjalmar Schacht war
enger Wirtschaftsberater Hitlers, im Nürnberger Prozeß 1946 dann freigesprochen.
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Mittag (25.7.47) Die Amnestierten als „Kulturschande“. Die Kieler Narren prangern die
selektive Flüchtlingspolitik des Ministers respektlos an und verlieren das Wohlwollen des
Politikers.
Flüchtlinge können jetzt
das bayerische Bürgerrecht erwerben.
Auf zwei Arten,
durch Auswandern
oder durch Sterben.84
Der Krieg ist vorbei, Frieden eine ungesicherte Vision, und das militärische Denken ist
keineswegs ausgerottet. Günter Neumann, der gelehrige Schüler des Werner Finck,
verlacht in einer Kabarett-Revue mit dem Titel „Schwarzer Jahrmarkt“ den Militarismus,
angereichert mit den „schmissigen“ Klängen der „Alten Kameraden“, Neumann, den
später die Kritik „Frontkämpfer des Kalten Krieges“ tituliert, er findet im Umfeld des
Kabaret Ulenspiegel zu einer kritischen Diktion und rundet die jüngste deutsche
Zeitgeschichte zu einen packenden Panorama. Straßennamen stehen für Fakten
zwischen Monarchie, Republik und Diktatur, und die Marschmusik, das klingende Spiel,
schafft jene einfühlende Emotionalität, mit der sich die Kriegssehnsucht eines Offiziers
desavouieren läßt. Der verknöcherte Militarist, er träumt gar vom Weltkrieg Nummer drei,
er ist dem Spott preisgegeben und darf auf ein beifälliges Publikum rechnen. Im
bloßstellenden Lachen wird seine unverbesserliche Sehnsucht nach Krieg symbolisch
„vernichtet“, während der ängstliche Budenbesitzer in unschlüssiger Kumpanei auch die
objektive Unsicherheit vieler aus dem Saal reflektiert. 15. Dezember 1947,
Nürnbergerstraße 50 in West-Berlin, „Schwarzer Jahrmarkt“ im Ulenspiegel:
Alte Kameraden
Offizier (in Zivil mit Ledermantel und Schlapphut):
84 Zitiert in: Greul, H., 1967, S. 384.
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Saren Se ma - jibt's denn hier keene Schießbude? Man kommt ja ganz aus der Übung!
Budenbesitzer:
Schießbude is hier, mein Herr. Aber Schießen is nich mehr.
Offizier:
Nanu? Muß doch aber irjend'n Ersatz dafür jeben?
Budenbesitzer:
Sie können was einschmeißen. Sie kriegen 'ne Stoffkugel und töppern leere Konservenbüchsen
runter. Macht auch ganz schön Krach.
Offizier:
Na ja - aber der richtije Jenuß isses nich!
Budenbesitzer (mit leuchtenden Augen):
Nee, Herr Oberstleutnant!
Offizier (peinlich berührt): Sie kenn' mich?
Budenbesitzer:
Jawoll, Herr Oberstleutnant!
Offizier:
Rühren! Wo jedient?
Budenbesitzer:
In Ihrem Rrrrrrrement, Herr Oberstleutnant!
Offzier:
Rühren! Tja, soweit sind wir also jekommen. Nich mal jeschossen darf mehr werden. Und so
was nennt sich nu Volksbelustigung! (Singt nach den Melodien des Marsches „Alte
Kameraden“:)
Ein Jewehr
ham wir leider heut nich' mehr,
und wir schmeißen doch die Flinte nich' ins Korn!
Budenbesitzer:
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Jawoll, Herr Oberstleutnant
Offizier:
Zwei, drei Zeil'n,
und wir wer'n zur Fahne eil'n,
janz ejal zu welcher, und bejinn'von vorn!
Budenbesitzer:
Jawoll, Herr Oberstleutnant!
Offzier:
Wort wie
LKW und PKW,
Dienstbefehl und Einsatz sind noch nich' entfernt!
Budenbesitzer:
Jawoll, Herr Oberstleutnant!
Offizier:
Noch sind wir schwach nich' jeworden,
noch sind die Tage der Orden,
wir stehn ohne Jewähr bei Fuß,
jelernt is jelemt!
(Er flaniert nach alter Operettenart grüßend über die Bühne:)
Noch jibt's den
Kaiserplatz, Wilhelmplatz, Lützowplatz, Herrmannplatz
Kronprinzenallee!
Kaiserdamm, Preußenpark, Friedrichstadt, Bismarckplatz
und den Schlachtensee,
noch jibt's die
Kanonierstraße, die Jrenadierstraße,
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den Hohenzollemplatz!
Da komm'se wieder an
mit Stresemann,
alles für die Katz!
Augen gradeaus!
(Er legt Hut und Mantel ab. Darunter kommen Pickelhaube und ordenschwere Litewka zum
Vorschein. Er klimpert mit den Orden und beginnt wie ein Irrsinniger im Stechschritt auf der
Stelle zu marschieren.)
Unsre Zeit is' nich' vorbei!
Budenbesitzer (besorgt):
Sei'n Se doch bloß vorsichtig!
Offizier:
Wir sind noch da wie einst im Mai!
Budenbesitzer:
Sei'n Se doch bloß vorsichtig!
Offizier:
Erst kam Weltkrieg eins und zwei
Budenbesitzer:
Sei'n Se doch bloß vorsichtig!
Offizier:
Doch aller juten Dinge sind drei!
Budenbesitzer:
Sei'n Se doch bloß vorsichtig!
Offizier:
Demokratie - janz jut und schön,
Budenbesitzer:
Sei'n Se doch - ach was! (Er marschiert begeistert mit.)
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Offizier:
Bloß 'n Führer müßte oben stehn!
Was fängt man an
als deutscher Mann,
solang' man keinem treu jehorchen kann!
Günter Neumann, 194785
Am 30. September 1946 enden die Nürnberger Prozesse, der „größte“ Strafprozeß der
Geschichte, wie die Alliierten betonen. Doch die zwölf Todesurteile bemänteln letztlich die
gescheiterte „Denazification“- so der englische Begriff-, das große juristische Aufräumen
mit der Vergangenheit. Bis Ende 1949 finden 2,5 Millionen Überprüfungen durch die
zuständigen Spruchkammern in den drei Westzonen statt. 1,4% der Überprüften
rangieren als „Hauptschuldige“ oder „Belastete“, 9,4% als „Minderbelastete. 54 % der
untersuchten Fälle erhalten den Stempel „Mitläufer“ und nicht einmal 0,6 Prozent gelten
als zweifelsfrei „entlastet“, als Gegner des Naziregimes. Trotz des gewaltigen
publizistischen Aufwands, mit dem die Prozesse aufgerollt werden, ist das Trommelfeuer
der Presse und Justiz bei der „Aufarbeitung“ von zweifelhaftem Erfolg gekrönt. Die Richter
des „Dritten Reiches“ bleiben gänzlich ungeschoren und haben schon nach wenigen
Jahren ihre Schäfchen wieder im Trockenen. Die Herren Globke, Kiesinger, Filbinger oder
auch Gerstenmaier, sie alle demonstrieren mit Geschick und Raffinement, wie sich
Karrieren trotz brauner Vergangenheit mühelos wieder planen und einrichten lassen.86
Und wenn, Jahrzehnte später die „Großkopfeten“ dann doch ein später politischer Sturz
ereilt, dann haben die Täter und ehemaligen Blutrichter in aller Regel, wie einst die
Nomenklatura im Nürnberger Gerichtssaal oder, später, die Stasi-Schergen und
Mauerschützen, ein schlechtes Gedächtnis.
Der Kabarett-Autor Horst Lommer beschreibt die Nürnberger Vergeßlichkeit, die
retrograde Amnesie der Nazi-Größen vor den Schranken des Gerichts, und Hellmuth
85 Kabarett 1946-1969, CD1, Nr.5; Text in:Kühn, Volker, Kleinkunststücke, Bd. 4, l0lf.
86 Vgl. Hafner, Georg M., Jacoby, Edmund, 1992.
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Krüger vom Ulenspiegel sinniert über die Schuldfrage, über die Strategien der
Exkulpierung der eigenen Mittäterschaft.
Nürnberger Betrachtungen
Ich wandle wie im Traum einher,
Der Paralyse streb' ich zu,
Ich habe kein Gedächtnis mehr,
Das wirkt wie ein Theatercoup.
Ich sitze auf dem Sünderstuhl
Als Primadonna der Idee,
Ich weiß nicht, bin ich somnambul?
Bin ich Prophet? Bin ich Premier?
Wußt' ich als Hitlers rechte Hand
Nicht recht, was seine linke tat?
War ich Trabant, war ich Garant,
War ich Infant im Führerstaat?
Nach allem, was ich letztlich las,
Ist mir die Politik ein Graus.
Nur eine Politik macht Spaß,
Die Politik des Vogel Strauß.
Ach, litte doch die ganze Welt
An Rudolf-Heß-Gedächtnisschwund,
Dann wär es wohl um mich bestellt,
Zur Klage hätte keiner Grund.
Und keiner käm' mir auf die Spur,
Ich schwebte durch das Weltgericht
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Und blühte auf der deutschen Flur
Als herziges Vergißmeinnicht.
Horst Lommer 194687
Die Schuld
Einer muß die Schuld daran doch tragen,
Daß uns heute so die Schuld bedrückt,
Und wir wollen darum nicht verzagen,
Bis es ihn zu fnden uns geglückt.
War es Bismarck, der uns falsch geleitet?
Hat der Alte Fritz uns so versaut?
War es Nietzsche, der uns also zubereitet?
Hat uns Hegel das Gehirn verhaut?
Sind es die Gebrüder Grimm gewesen,
Deren Märchen Grausamkeit durchzieht?
Oder haben wir zu lang gelesen
In dem bösen Nibelungenlied?
Sicher werden wir den Kerl noch finden,
Also wappnen wir uns mit Geduld!
Sind es nicht die alten Adams Sünden,
Sind zum Schlusse doch die Radfahrer dran schuld.
Heldmuth Krüger, 194788
In einem dadaistischen Kabinettstück analysiert Fritz Winterling die Kunst des
Verdrängens und Abschiebens. Der Tod ist ein Meister aus Deutschland, und die Mörder
87 Hoche, Karl, 1984, S 47f.
88 Ebd., S. 46f.
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sind mitten unter uns. Bei den kleinen Schiebern ist das geradeso wie bei den großen aus
der Politik.
Du
mir.Ich
dir.Schwer!
Her!
Nein!!
mein!Schuft!
Luft!!!--tot?
tot!
Mord!
fort!!!
Fritz Winterding 194789
Das Kabarett, das aus der Kälte kam - Die Insulaner im Kampfanzug
Die Geburtsstunde der lnsulaner, des West-Berliner Rundfunkkabaretts, fällt unmittelbar in
den Zeitraum der Berlinkrise und der Blockade der Stadt durch die sowjetischen
Besatzungsmächte. Am 24. Juni 1948 kommt der gesamte Interzonenverkehr zum
Stillstand. Als Antwort auf die Bedrohung des westlichen Sektors der Frontstadt richten
die Westalliierten die legendäre Luftbrücke mit den „Rosinenbombern“ ein. General Lucius
89 Zitiert in: Hoche, Karl, 1984, S. 22.
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Clay, Militärgouverneur im amerikanischen Sektor der gespaltenen Metropole, macht ein
Bekenntnis: „Wir haben die Tschechoslowakei verloren. Norwegen ist bedroht, in Italien
bereiten sich entscheidende Wahlen vor. Geben wir Berlin auf, dann ist Westdeutschland
verloren. Wenn wir Europa gegen den Kommunismus verteidigen wollen, müssen wir
durchhalten.“90
Dieser politischen Einschätzung ist auch Günter Neumann, der Gründer der RadioInsulaner, weitgehend verpflichtet. Zunächst erscheint nur das gedruckte InsulanerMagazin, eine Satirezeitschrift, die sich bis zur Währungsreform beim Publikum
behauptet. Herbert Sandberg fungiert als Chefredakteur, setzt sich dann aber in den
Osten der Stadt ab. Günter Neumann kann dank gefestigter Verbindungen zum alliierten
Radiosender RIAS91 ein erstes Konzept für ein Radio-Kabarett anbieten. Geplant ist in
aller Bescheidenheit nur eine Sendung zum Weihnachtsfest am 25. Dezember 1948.
Doch es kommt in der Folge ganz anders. Der durchschlagende Erfolg der Kabarettisten
ermöglicht von 1948 bis 1968 über 150 Radio-Inszenierungen. Erst das aufkommende
Fernsehen Ende der fünfziger Jahre, aber auch die veränderte politische Landschaft in
den sechziger Jahren in Berlin, die außerparlamentarische Opposition,
Antiamerikanismus und Vietnam-Trauma bei der jungen Generation, verändern die
Rezeptionsbedingungen für Neumanns Truppe entscheidend - und zu seinen Ungunsten.
Mit den Protagonisten Tatjana Sais, Edith Schollwer, Rita Paul, Agnes Windeck, Joe
Furtner, Bruno Fritz, Walter Gross und Ewald Wenck tingeln die Sänger im Namen der
westlichen Freiheitsvorstellung in die Schweiz und nach Luxemburg. Der kalte Wind der
Konfrontation zwischen Ost und West, das Säbelgerassel der Herren Stalin, Wilhem
Pieck, Harry S. Truman, des Kanzlers am fernen Rhein, dienen als fruchtbarer Grund, auf
dem der durchschlagende Erfolg der trutzigen Adenauer-Barden wurzelt. Ihre
Erkennungsmelodie, das Lied der Insulaner, ist nicht nur eine patriotische Liebeserklärung
an den Westen, in Sonderheit an die Schutzmacht Amerika. Die Komposition ist eine
Reverenz an die swingende Liedtradition der Freunde aus den Staaten, an den
süßlichverkitschten Sound der Andrew Sisters. Der angeschlagene Ton referiert ganz
unverstellt das unter der jungen Generation beliebte AFN-Programm, Klänge, die nach
90 Clay, Lucius, zitiert in: Zentner, Christian, 1984, S. 63
91 d.i.: Radio im amerikanischen Sektor (RIAS).
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dem Überdruß des Badenweiler-Marsches ein neues Kulturverständnis - auch den Protest
gegen die braune Tradition versprechen. Amerikanisches ist in, mindestens im belagerten
Berlin. Die erhaltenen Aufnahmen der Erkennungsmelodie von Günter Neumann und
seinen Insulanern sind kostbare „Zeitmarken“.
Der Insulaner
Es liegt eine Insel im roten Meer, und die Insel heißt Berlin.
Der Osten ist nah, und der Westen ist fern,
und manch Flugzeug dröhnt durch die Nacht,
und wacht man dann auf, ham verärgerte Herrn
sich was Neues ausgedacht.
Wir woll'n unter fremdes Joch nicht,
trotz Drohungen und trotz Atom.
Wir bleiben auf dem Teppich,
und noch nich kriegen se uns auf den Boom!
Der Insulaner verliert die Ruhe nich,
der Insulaner liebt keen Jetue nich!
Und brumm' des Nachts auch laut die viermotor’ jen Schwärme,
det is Musik für unser Ohr,
wer red't vom Lärme?
Der Insulaner träumt lächelnd wunderschön,
daß wieder Licht ist, und alle Züge geh'n!
Der Insulaner hofft unbeirrt,
daß seine Insel wieder'n schönes Festland wird –
Ach, wär das schön!
Günter Neumann, 194892
92 Kabarett 1946-1969, CD 1, Nr. 7; vgl. Sweringen, van Bryan T., 1989, S. 137.
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Günter Neumanns Kabarettist eindeutig und unmißverständlich parteilich und etabliert
(unterhaltlich) den ideologischen Konsens im Kampf gegen alles, was nur den Anschein
von Sozialismus und Kommunismus im Panier mit sich führt. Das verzerrte Bild über den
Feind im Osten, das Klaglied über die gemutmaßte Gewaltbereitschaft aller Kommunisten
dieser Welt, perpetuiert die alten Urteile und Vorurteile, die während der faschistischen
Diktatur das Propagandaministerium und seine Unterabteilungen verbreiten. West-Berlin
ist in der Tat bedroht und abgeschnürt. Das Überleben in der Frontstadt können demnach
nur die Alliierten sichern. Im Gegensatz zu den kabarettistischen Entwicklungen in der
Bundesrepublik und der oft kritischen und oppositionellen Grundhaltung gegenüber der
Regierung zeigt sich Günter Neumann dem neuen amerikanischen Denken und damit der
Westpolitik, letztlich auch der Kommunisten-Hysterie des Senators Joe McCarthy,
verpflichtet. Der „Bolschewismus“ dient als das neue und alte Feindbild. Reflexion auf die
geschichtliche Mitverantwortung im Kalten-Kriegs-Geschehen ist in dieser geschichtlichen
Phase, vor allem in Berlin, nicht opportun. Dem Feind im Gewand der SED oder ihrer
roten Schutzmacht gilt aller Spott, ein Zugriff, der auch in den Rundfunkanstalten der
Bundesrepublik auf große Zustimmung rechnen kann. Die im Felde „mißglückte“
Vernichtung des Gegners kann so - im symbolischen Akt - quasi rituell zu dem
gewünschten Ende gedacht werden.
In der Neumann-Nummer „Der Funzionär“ - Walter Gross spricht zumeist diese
vielbeklatschte Repertoirefigur- zeigt sich sklerotisierter Witz im Kalten Krieg. Der SEDVertreter ist dumm, dreist und von dumpfer Naivität. Ihm gilt der Hohn im RIAS-Radio. Die
„volkseigene Reportage“ ist eine direkte Antwort auf die Interviewserien in der
sowjetischen Besatzungszone mit Werktätigen. Günter Neumann mixt Berliner mit
sächsischem Dialekt, läßt vom Chinesischen ins Russische stolpern und umgekehrt.
„Professor Quatschnie“ und der Chinese „Wat-Nu“ bilden ein freches Polit-Pärchen. Die
freundliche These von Hans Rosenthal, Neumann habe „nie mit dem Hammer gearbeitet“
93
ist kaum haltbar. Die intellektuelle Exekution des Ost-Feindes dient nicht allein der
selbstlosen Unterhaltung. Neumann bläst mit vernehmlichem Hurra zur Demontage des
Ostens, was dann oft auf Kosten der „Brüder“ und „Schwestern“ geht, die mit ihren realen
Nöten bei den Insulanern kaum zu Wort kommen. Der Spaß trägt fast immer Züge der
93 Rosenthal im Gespräch mit Sweringen, zitiert in Sweringen, van Bryant., 1989, S. 137.
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politischen Aufrüstung, ist die beredte Kampfansage an alle Duckmäuser, die sich etwa
mit denen „drüben“ und ihrer Politik arrangieren wollen. Mit dieser ideologischen
Stoßrichtung ist das Programm von höchstem Unterhaltungswert. Der deftige bis
aggressive Grundton, das Kalkül der Auf- und Abrechnung mit der sozialistischen
Ideologie, verschafft dem Programm jenen dramaturgischen Kitzel, der die Zuhörer und
Zuschauer fesselt. Das Gefühl einer kollektiven Unschuldsvermutung - bezogen auf den
Westen und seine Werteskala - kann sich via Radio breitmachen. Die Debilität der OstFiguren in der Insulaner-Schlacht bestärkt im vierwöchigem Rhythmus den
selbstherrlichen Traum vor der eigenen politischen Unbescholtenheit. Stets lauert der
Feind außerhalb des Sendesaales und wohnt ganz selbstverständlich jenseits der
Sektorengrenzen. Westlich polierte Hybris, flockig und suggestiv serviert. bekämpft im
RIAS-Kreuzzug östliche Borniertheit, ohne dabei die eigene Position je zu hinterfragen.94
Der Funzionär und die Planwirtschaft
Der Funzionär
... und damit, liebe Jenossen und Jenossinn', komme ick
nunmehr zu unsern heutijen Themata: Vorüberjehende Mangelerscheinung in unse Planwirtschaft!
Jenossen! Wat de DDR in de letzten Jahre jeleistet hat, das jeht
auf keene Kuhhaut! In eine Kette von beispiellose Erfolge
kann natürlich nich alles auf eenmal klappen, es jibt immer
mal wieder Kinderkrankheiten, aber der Zahn der Zeit wird
se schon abschleifen. Ihr müßt euch ja immer wieder
verwegenjewärtigen: Wat is bei uns losjewesen? Eier von
die jrößten Tirannen, den de Weltgeschichte je jesehn hat,
94 Der Verfasser bekennt gerne, die Sendungen zusammen mit seiner Insulaner-süchtigen Großmutter in
atemloser Spannung ein um das andere Mal im Süddeutschen Rundfunk gehört zu haben.
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hat de Oojen zujekniffen Alle:
Psst! Vorsichtig!
Der Funzionär:
Sehta! Wir ham uns alle jesagt, na, d e n Verbrecher sind wa los, hahaha!
Alle:
Pscht!
Der Funzionär:
Was habt ihr denn zu pischten? Also mit eenen Wort: Hitler war dot!
Alle:
Ach so!
Der Funzionär:
Also nu bringt ma hier nich durcheinander! Nach diesen schaotischen Zusammenbruch
herrschten bei uns die dollsten Zustände, und so kam es, daß unsa verehrter Jenosse
Präzedent eines Tages das Ruder in seine kummerjewohnten Hände nahm, um - ick will ma bei
das poetische' Bild bleiben - um als wettererprobter Steuermann die DDR in eine bessere
Zukunft rüberzuschiffen! Natürlich jehts bei sowas nich ohne Havarjen ab ! Det is nu mal im
Leben so! Ick möchte mal die Jenossen von de Landwirtschaft fragen: Wat passiert, wenn ihr'n
neuen Traktor kriegt?
Einer:
Dann jeht er erstmal kaputt!
Der Funzionär:
Na sehta. Jenau so isses mit de DDR. Det sagt nich, daß wa uns mit jede Panne abfinden
sollen, aber wir sollen ooch nicht unjeduldig werden. Die Zoffjetunion besteht nu schon über 35
Jahren, und wenn ihr vielleicht denkt, bei die is alles in Ordnung, denn seid ihr aber schief
jewickelt! Jut Ding will Weile haben! Ihr wert euch vielleicht fragen, weshalb ick dieses Problem
heute aufs Trapez bringe, aber das hat seinen juten Jrund! Bei de HO in Dresden hat sich
nämlich ein unliebsamer Vorfall zujetragen. Und zwar haben sich die Jenossen aufjeregt, weil
draußen dranstand: „Regenmäntel einjetroffen!“ Nu kamen se zu Hunderten mit ihre Punktkarte
anjetrabt, es waren aber nur fünf Mäntel da! Tablau! Wat hätten die Jenossen von de
Verkoofbrigade. machen sollen? Man kann doch keen Paletoto veranstalten! Also ham se die
Mäntel an die Verdienstesten abjeben wollen, und dabei hats natürlich böses Blut jejeben.
Eenen Tag drauf aber hat de Brigade Zwirn schon eenen rinjewürjt bekommen, und fürs
nächstes Jahr ham se schon eine hundertprozentige Steigerung der Lieferung garantiert, so daß
also 1954 schon zehn Rejenmäntel zur Verfügung stehen. Und soville regnet's ja jarnich in
Dresden. Ihr seht, mit jutem Willen jeht alles!
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Die Insulaner, 195395
Der RIAS weiß, was er seinen Insulanern schuldig ist und hofiert die Künstler aus gutem
Grund. Die Medien allgemein, das Radio zumal, feiern die Kabarettisten als die
beliebtesten und bekanntesten Botschafter der geteilten Stadt. Das, was mit der diffusen
Begrifflichkeit „Zeitgeist“ zu umreißen ist, die Focussierung objektiver gesellschaftlicher
Bedingungen, verdichtet sich im Funk-Kabarett aus Berlin in aller Schärfe.
Hans Rosenthal erinnert sich an den „Funzionär“ und an Herrn „Kummer“
Diese Rolle wurde bald Walter Gross’ Standardauftritt im Insulaner: Er wurde zum „Funzionär“,
der in einem aussichtslosen Kampf die Parteilinie gegen Wahrheit und Wirklichkeit, gegen
Widersprüche und Widerstand, gegen Vernunft und Logik zu verteidigen sucht. Würde
Lächerlichkeit töten, dann hätte Walter Gross mit diesen Auftritten ganzen Heerscharen von
SED-Funktionären die Existenzgrundlage entzogen.
Und da war auch Bruno Fritz als „Herr Kummer“. Er führte Telefongespräche mit einem
eingebildeten Partner, in denen er die politischen Zusammenhänge- immer neuen,
unentwirrbaren Mißverständnissen zum Opfer fallend - zu erhellen sich bemühte. Diese Figur
lehnte sich an Tucholskys berühmten „Wendriner“ an und hatte ein lebhaftes Publikumsecho.
Die meisten Sender in der Bundesrepublik übernahmen schließlich die „Insulaner“, deren
Aufnahmeleiter und späterer Regisseur ich war. Die Zeitschrift Günter Neumanns ging leider
trotz unserer Rundfunkhilfe ein. Blockade, Papierknappheit, ein Alltag des Mangels - vielleicht
auch unsere Radiokonkurrenz - hatten ihr das Leben zu schwer werden lassen. Fortan lebte
„Der Insulaner“ also im Äthermeer. Manchmal - vor allem, wenn wir mit der Sendung auf
Tournee in Westdeutschland waren und sie öffentlich produzierten - kam ich ganz schön ins
Schwitzen: Günter komponierte immer die Musik zuerst. Die Texte ließen auf sich warten. Das
Manuskript für den „Funzionär“ Walter Gross brachte er manchmal erst in der Pause an. Dann
reichte die Zeit nicht einmal für eine einzige Probe, sondern nur noch zu flüchtigem Durchlesen.
Aber gerade dieser Zeitdruck, der häufig zu Improvisationen zwang, hat der Sendung viel von
ihrem Esprit gegeben.96
Das Kolorit der Ost-Westkonfrontation, der Jargon der Ära Adenauer, mithin das FreundFeind-Denken, inkarniert sich in den satirisch-polemischen Sentenzen des Günter
Neumann:
95 Neumann, Günther, 1954, S. 23ff. Kühn, Volker, Kleinkunststücke, Bd.4, S. 115 ff. “Jrösten Tirannen” ist
eine Anspielung auf den Tod Stalins 1953.
96 Rosenthal, Hans, 1982, S. 162f.
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Die östlichen Herrn, die so prunkhaft reich,
sind äußerlich kapitalistengleich,
und dennoch gibt es da einen Unterschied,
den man auf den ersten Blick nicht gleich sieht:
der Kapitalist zahlt sein eigenes Geld,
er braucht nicht sein Volk auszumisten,
und in dem wunden Punkt
unterscheid'n sich die Herrn von den richtigen Kapitalisten!97
Das kaltkriegerische Weltbild ist populistisch. Nicht selten, so scheint es, sind die
kabarettistischen Attacken im blinden Eifer niedergeschrieben. Die kleine
„Kapitalismusanalyse“, die die Konvergenzen bei Ausbeutung und Korruption hüben und
drüben platt unterschlägt, macht die politische Einäugigkeit deutlich. Günter Neumann,
der lachende Star in der Ruinenstadt, hat für sich ein Programm entwickelt. Es lautet: „Wir
sollten unsere Zuschauer nicht aus dem Kabarett schicken mit der fragwürdigen
Quintessenz: ‘Von den Alliierten ist einer nicht besser als der andere’, und der mißmutige
Kabarettist, der mit Gott und der westlichen Welt nicht zufrieden ist, sollte entweder nach
Osten türmen oder sich und seinem Publikum klarmachen, daß er immerhin noch das
kleinere Übel erwischt hat.“98 Die Empfehlung, bei kritischer Distanz zum Westen die
Fronten zu wechseln, hat Tradition und beleuchtet das rauhe Klima im west-östlichen
Kräftespiel. Die Normabweichung wird getadelt, auch im Kabarett, das im Namen der
Freiheit und der Demokratie angetreten ist.
Die Hororatioren aus Kultur und Politik, zumal der Regierende Bürgermister der Stadt,
Willy Brandt, bedankt sich freundlich und mit großem Respekt für die 100. InsulanerSendung. Das Oberhaupt der Stadt schreibt am 19. Oktober 1957 in einem Brief an den
Insulaner-Chef:
97 Neumann, Günter, 1954, S. 46.
98 Neumann, Günter, in: Der Tag, 23.3.1952.
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„Günter Neumann und seine Insulaner sind ein Bestandteil Berlins. Sie sind unseren Weg durch
Dunkelheit, Kälte und Not mit uns gegangen bis zum heutigen Tage und haben mit Humor und
Scherz, mit Musik und Reim unserem Fühlen, Denken, Wollen und Sehnen so unübertroffen
Ausdruck gegeben. Der wahre Humor lacht und weint zu gleicher Zeit. Und das haben die
Insulaner trefflich verstanden, und deshalb gehören die Insulaner zu uns, wie wir zu ihnen
gehören. Dafür Ihnen meinen Dank zu sagen, ist mir Herzenssache an dem Tage, da Sie Ihre
100. Sendung machen. 100 Sendungen, die den Berlinern und unseren Mitbürgern und
Landsleuten jenseits des Brandenburger Tores Hoffnung und Mut und noch mehr Lachen und
Schmunzeln gegeben haben.“99
Die Insulaner vermögen wie kaum ein anderes Kabarett ihrer Zeit, Identität
widerzuspiegeln und diese gleichzeitig hervorzurufen. Ein überzeugendes Beispiel hierfür
liefert eine Liedcollage aus dem Jahre 1952. Ernst Reuters Verdienste für die Stadt und
ihre Menschen feiern die Kabarettisten geradezu enthusiastisch. Der „OB“ fungiert über
alle Parteigrenzen hinweg als der Held der geteilten Stadt, er ist ein Botschafter des guten
Willens, der anläßlich seines Amerikabesuchs die „Kasse“ für Berlin wieder auffrischt. In
der historischen Aufnahme überschlägt sich das Publikum geradezu in Ovationen für Die
Insulaner. Die Zuhörer bejubeln die Spitzen gegen Bonn, vor allem aber das
„Schuldbekenntnis“ der Amerikaner, denen der Texter die Zeilen in den Mund legt: „Hätten
wir lieber dat Jeld verjraben, das wir im Krieg an die Sowjets gaben.“ Musik und Text
treffen den Nerv des Publikums. Die kabarettistische Volte exkulpiert deutsches Tun,
zumal den Terror zur Zeit der Nazi-Dikatur. Das Rundfunk-Kabarett dient in diesem Sinne
als ein köstliches Ruhepolster, als die wohlschmeckende Medizin, die vor inquisitorischen
Geschichtsbetrachtungen schützt. Just in diesem Kontext sind Die Insulaner ein
Paradigma für den staatsnahen Spaß in der Ära Adenauer. Gründlicher als manches
Geschichtsbuch reflektieren die sechs Minuten im RIAS die Spuren der ideologischen
Befindlichkeit zur Zeit des Kalten Krieges. Das Medley dokumentiert -versteckt wie auch
immer - Wut der Besiegten über die verzweifelte Lage und ihre Liebe zum bürgernahen
Idol Ernst Reuter. Er verspricht personal faßbare Sicherheit nach verlorener Schlacht.
Ernst Reuter in Amerika
Keine Mark in der Kasse mehr,
auch der Stadtsäckel schlaff und leer,
99 Abdruck in: Sweringen, van Bryan T., S. 245f.
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täglich neue Probleme.
Reuter dachte, als er das sah:
„Hilft nischt, ick muß nach USA,
auf die Spendierhosen kloppen
sonst sitzen wer hier uffem Trocknen.
(Applaus)
Muß i denn, muß i denn, ja ick muß mal übern Teich,
muß mal übern Teich, und ihr bleibt an der Spree!
Wenn ich drüben unser Leid erzähl,
dann is gleich alles o.k.
Wenn ich komm, wenn ich komm, wenn ich wieder, wieder komm,
wieder, wieder komm, komm ich mit nem Portemonnaie.“
(Lachen. Applaus)
Drüben fuhr er an der Spitze eines Geleits durch die Leut.
Seine kleine Baskenmütze wurd mit Konfetti bestreut.
In janz New York war een Hallo
und Reuter dachte froh:
„Das gibts nur einmal, ick komm bald wieder
(Großer Applaus)
Das is ja mehr als jut jejang!
Es fällt Konfetti auf mich hernieder,
in Bonn wurd ich nie so empfangen!
(Tosender Applaus, lange und anhaltend)
Die netten Leute,
ick weiß schon heute,
daß ick hier Unterstützung krieg.
Mir scheint New York liegt
von uns aus näher als mancher Ort der Bundesrepublik!“
(Großer Applaus)
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Alle Amis standen da,
die mal in Berlin warn:
Herr McCloy und noch mehr von der Spree.
Clay, der in Erinnerung schwamm,
rief: „I have Heimweh nach se Kufürstendamm!“
(Beifall, tosend)
Und dann fuhrn se mit Gesang
immerzu den Broadway lang,
von det eene Restorang
in det andre Restorang.
Und dann gaben se an ihn
einen Scheck für West-Berlin,
und die Amis habn dazu im Chor jeschrien:
„Hätten wir lieber dat Jeld verjraben,
das wir im Krieg an die Sowjets gaben,
(Unterbrechung durch tosenden Beifall,
Füßegetrampel, zustimmendes Gejohle etc.)
könnten wir euch noch viel mehr jeben
als wirn Berlinern bisher jeben.“
Aber da kam schon der zweite Scheck,
Reuter erfuhr dann mit freudigem Schreck,
Dass er auch Aufträge bringt.
Zum Schluß hamse alle gewinkt:
„Auf Wijderseen, auf Wijderseen!
Bleib nicht zu lange fort!
Wenns wieder brennt:
Wir sind solvent
You know ein Män ein Word.
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Auf Wijderseen, auf Wijderseen!
Du sollst zum Dank fürs Geld
bald in Neukölln
neu Gruß bestellln:
Daß auch ne neue Welt!“
(Applaus)
Und wenn jetzt Reuter wiederkommt
jehn wir in langen Schlangn
nach Tempelhof zum Flugplatz hin,
den OB zu empfangen.
Wenn's Flugzeug kommt,
dann stehn wir da,
wie Kinder feingemacht:
„Du Onkel aus Amerika,
was haste mitjebracht!“
(Großer Schlußapplaus)
Die Insulaner, 1952100
Auf Günter Neumann trifft der Begriff „Nestbeschmutzer“ nicht zu. Sein Protest - anders
als kurz nach dem Krieg - sucht sehr bald den politischen Konsens mit der atlantischen
Westpolitik. Er tritt für die Wiederbewaffnung ein und feiert am 7. Dezember 1968 in
seiner letzten „Sonderausgabe des Insulaners“ kaum zufällig die Geschichte des Axel
Springer Verlags mit einer musikalischen Revue. Gleichwohl dankt sein Kabarett ab. Es
hat den kabarettistischen Kampf gegen Wolfgang Neuss, gegen revoltierende Studenten,
gegen Die Stachelschweine oder auch gegen Dieter Hildebrandt endgültig verloren.
Günter Neumann ignoriert nach Eintritt des latenten Tauwetters im Ost-West-Konflikt, des
„Wandels durch Annäherung“, die Veränderungen im gesellschaftlichen Umfeld. Sein
Kabarett gründet auf den Koordinaten des Kalten Krieges und der Insulaner-Chef
verweigert sich einem Denken, das die politische Konfrontation und den militanten
Antikommunismus auch nur für Augenblicke auf der Bühne oder im Radio vernachlässigt.
100Kabarett 1946-1969, CD 1, Nr. 13.
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Dieser Rigorismus macht den satirischen Fanatismus der Insulaner aus, ist aber zugleich
das Brandzeichen der Unversöhnlichkeit. In der Ära Adenauers geschrieben und gespielt,
tragen die meisten Nummern eine retrospektive Handschrift, eine Signatur, die ihre
Aggressivität dem nationalen Pathos der Zeit vor 1945 entlehnt zu haben scheint.
Der Tod ist ein Meister aus Deutschland und die Republik läßt wieder
rüsten
Die Mahnungen von Paul Celan oder Wolfgang Borchert und vieler anderer Künstler und
Intellektueller, nach innen und außen einen neuen Weg zu beschreiten, sich nicht erneut
dem militärischen Denken zu verschreiben, verhallen ungehört. Konrad Adenauer zielt
von Anfang an auf die Remilitarisierung der Bundesrepublik, eine Politik, die in ihrer
Konsequenz zwar latente Stabilität garantiert, gleichzeitig aber auch zur Verschärfung des
Kalten Krieges beiträgt. Die Politik der DDR operiert in den fünfziger Jahren mit den
gleichen Vorgaben, die Regierung ist Vasall und Vollzugsorgan der östlichen Welt- und
Großmacht und hat deren Interessen im Kalten Krieg mehr oder weniger bedingungslos
zu erfüllen. Adenauer fordert im November 1950 im Bundestag die Schaffung einer neuen
Armee und erklärt, daß die Bundesrepublik Deutschland, wenn sie von den westlichen
Mächten dazu aufgefordert wird, bereit sein müsse, einen „angemessenen“ Beitrag zu
dem Aufbau einer Abwehrfront zu leisten, und das in der Absicht, „die Freiheit ihrer
Bewohner und die Weitergeltung der westlichen Kulturideale zu sichern.“101 Die forsche
Gangart der Regierung in dieser Frage korreliert im übrigen allem Anschein nach nicht mit
den tatsächlichen Wünschen der Bevölkerung. Diese verhält sich eher ablehnend, ja
zurückhaltend. Eine Umfrage, die der Süddeutsche Rundfunk im Dezember 1949 zu
dieser Frage aufzeichnet, bestätigt in deutlichen Worten die ablehnende Haltung fast aller
Bevölkerungsschichten in dieser Frage.
101
Am 8.11.1950; Vgl. Tonaufzeichnung bei Weber, Jürgen, 1987, Kasette IV,1, Nr. 7.
119
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Soll es wieder deutsche Soldaten geben?
Eine Pfarrerswitwe spricht:
Wenn man wie ich seinen Mann und seinen einzigen Bruder im Krieg verloren hat und nun mit
seinen drei Kindern mehr oder weniger allein in der Welt steht, will man von Wiederaufrüstung
oder dergleichen nichts mehr hören. Man kann es nicht mehr. Bei dem bloßen Gedanken, daß
meine beiden heranwachsenden Söhne auch wieder den grauen Rock tragen und alles, was
damit zusammenhängt, erdulden müßten, möchte ich aufschreien und rufen: Nein und noch
einmal nein! Ich weiß, daß Wiederaufrüstung noch kein Krieg ist, aber der Weg dazu ist nicht
weit. Helfen Sie alle mit, daß wir endlich im Frieden leben können und unsere Kinder für ein
Leben in Frieden erziehen dürfen.
Es spricht ein Fischhändler, 32 Jahre alt, Kriegsteilnehmer, in Gefangenschaft gewesen:
Ich bin ein grundsätzlicher Gegner für die Remilitarisierung Deutschlands, nachdem ich selber
zwölf Jahre Soldat war und in amerikanische Gefangenschaft geraten bin. Ich lehne es
grundsätzlich ab, nachdem man mir diese Uniform, die ich zuletzt getragen habe, vom Leib
gerissen hat und nun heute wieder auch in eine Uniform für dieselben Westalliierten eintreten
soll, um ein Bollwerk gegen den Osten zu sein.
Ein junger Journalist, 26 Jahre alt, Kriegsteilnehmer und Flüchtling:
Ich würde eine Remilitarisierung Deutschlands geradezu für eine Katastrophe halten und zwar
aus zwei Gründen: aus innenpolitischen und aus außenpolitischen. Meiner Ansicht nach würde
eine Wiederbewaffnung Deutschlands einen Krieg, den sie angeblich vermeiden soll,
beschleunigt herbeiführen. Es ist in der Geschichte immer so gewesen, daß steigende
Rüstungen nie bewirkt haben, daß damit ein Konflikt hinausgeschoben wird, sondern ihn immer
noch schneller herbeigeführt haben. Rußland würde sich durch eine Wiederbewaffnung
Deutschlands bedroht fühlen, würde seinerseits Maßnahmen ergreifen. Die Westmächte würden
das gleiche tun. Und so würden wir uns eines Tages in der größten Katastrophe befinden.
Ein junger Student, 23 Jahre, Kriegsteilnehmer und Fliegergeschädigter:
Als Student habe ich zu einer Remilitarisierung folgendes zu sagen: Die meisten Studenten
haben ihre Ausbildung schon einmal unterbrechen müssen, um angeblich ein Vaterland zu
verteidigen und andere totzuschießen, denen man dasselbe gesagt hat. Die Aufstellung eines
sogenannten Verteidigungsheeres ist schon an sich eine der Bedrohungen des Weltfriedens. Ich
habe keine Lust mehr mitzubedrohen.
Aus einer Sendung im Süddeutschen Rundfunk am 7. Dezember 1949102
102Ebd, Kasette IV, 1, Nr. 1.
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Bekanntlich bestimmen die privaten und antimilitaristischen Äußerungen den Lauf der
deutschen Innenpolitik nicht. Die Aufnahme der Bundesrepublik in die Nato erfolgt 1955,
ein Jahr darauf marschieren die ersten 1000 Freiwilligen in die Kasernen der Bundeswehr.
In Konsequenz dieser Politik wird auch die sogenannte Stalin-Note von 1952 nie ernsthaft
als politische Möglichkeit für eine neue Deutschlandpolitik in Erwägung gezogen. Dem
Westen ist die damit verbundene Neutralisierung Deutschlands ein zu hoher Preis. Die
Note paßt ganz und gar nicht „in die politische Landschaft“, in der der Graue Rock wieder
in Mode kommen soll. Adenauer lehnt entschieden ab, Kriegsdienstgegner haben wieder
einen schweren Stand. Die Friedenstaube, die am 3. März 1952 bei einer Ansprache des
Kanzlers eingefangen wird, spricht für sich.
Die Spötter der Nation, sie protestieren auf breiter Front gegen das alte und neue Lied,
gegen die Wiederbewaffnung der Republik. Erich Kästner präsentiert sich im Kabarett Die
Kleine Freiheit in München als entschiedener Gegner des militärischen Kurses und
bemerkt rückblickend: „Während es in unserer Republik noch bei Strafe verboten war,
auch nur eine Jagdflinte zu besitzen, wurden Hitler-Generäle nach Bonn beordert, um
hinter verschlossenen Türen der Regierung wertvolle Ratschläge zu erteilen. -An Stelle
der im laufenden Geschäftsjahr geplanten Kasernen könnten vierhunderttausend
Wohnungen gebaut werden.“103 In dem „Solo mit unsichtbarem Chor“ beklagt der
prominente Dichter 1952 die Vogel-Strauß-Politik und die Blindheit der Militärs.
Wir kommen, sehn und siegen
in ziemlich allen Kriegen,
ganz wurscht, unter welcher Regierung.
Das ist eine Frage der Führung.
Na also und hurra: Drum sind wir wieder da.
Unter Hitler hieß es „Wehrmacht“.
103Kästner, Gesammelte Schriften, Bd. 5, 1959, S. 209.
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Unter Doktor Lehr heißt's „Lehrmacht“.
Doch ob Wehr - oder Lehr,
ist ja völlig sekundär.
Hauptsache, daß wir wieder Ordnung kriegen.
Und das deutsche Rückgrat wieder gradebiegen.
Und daß wir wieder gegen Engeland fliegen.104
Die Berliner Stachelschweine verspotten 1954 den neuen militaristischen Geist in ihrem
Garnisons-Lied. Die große Bonner Politik und ihre Intentionen werden darin aus der
Perspektive der Kleinstadt gesehen. Geld stinkt nicht und leitet auch den örtlichen
Gemeinderat.
(Solo:) Nach langem Sitzen.
(Chor repetierend:) Nach langem Sitzen.
(Solo:) Und heftigem Schwitzen.
(Chor:) Und heftigem Schwitzen.
(Solo:) Stell ich, Gemeinderat von Poppenlohn,
folgendes Themata zur Diskussion.
(Chor:) Folgendes Themata zur Diskussion:
(Solo:) Da wir aus der Stadt keinen Kurort können machen
(Chor:) Zum Lachen!
Zum Lachen!
(Solo:) Ham wir doch kein Wald und Quellen heiß und sauer
(Chor:) O Trauer, o Trauer!
(Solo:) Auch kein großer Mann in Poppenlohn geboren ist.
Und wenn wir Festspiele bereiten:
(Chor:) Nur Pleiten! Nur Pleiten!
(Solo:) Wenn wir Festspiele bereiten:
(Chor:) Nur Pleiten! Nur Pleiten!
104Ebd., S. 212; Robert Lehr war im ersten Kabinett in der Nachfolge Gustav Heinemanns Innenminister.
122
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(Solo:) Sage ich, Gemeinderat von Poppenlohn,
um zu retten diese Situation:
Gibt's nur eins, selbst für die Opposition:
Unsere Stadt wird Garnison
(Chor:) Garnison, Garnison!
Ovation,
Diskussion
Garnison, Garnison,
Ovation,
Diskussion!
(Solo:) Möchte, daß die Stadt sich drum darum bewerbe,
zu bekommen Deutschlands Tradition und Erbe.
Und der Stolze ruft dann brausend durch die Nation:
Poppen-lohn, Poppen-lohn:
Deutschlands schönste Garnison
(Chor:)
Poppen-lohn, Poppenlohn:
Deutschlands schönste Garnison!105
In den weiteren Strophen besingen Die Stachelschweine die offensichtlich zahlreichen
Vorzüge, die eine Garnisonsstadt im Bewußtsein des Spießers hat. Der Jubel ist
allenthalben, das erträumte Glück ein rosiges und vermeintlich ungetrübtes. Die Feier der
künftigen Militärniederlassung wird zur deutlichen Kritik an den bestehenden politischen
Verhältnissen. Die Mittel, die die Sänger einsetzen, sind parodistische Überhöhung und
satirische Verzerrung der kleinbürgerlichen Welt, die Musik ist sentimental und süßlich
verkitscht. Hinter dem Spießer, der das Militär herbeisehnt, steht dann freilich auch eine
Obrigkeit, die solches erst ermöglicht. Die Stachelschweine operieren hier ganz in der
Tradition des klassischen Kabaretts: Über den musikalischen Gestus werden die Affekte
angesprochen, die kitschigen Klänge dienen der Destruktion eines Unausgesprochenen in diesem Fall des Militärs. Die „Garnison“ fungiert als pars pro toto, wird zum
Schlüsselbegriff für die kritisierte Bonner Militärpolitik. Im Spott wird Einvernehmen mit
105Weber, Jürgen, 1987, Kassette IV/3, Nr. 22, Aufnahme vom 14.1.1954.
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dem Publikum provoziert. Die Intention ist bei aller Unterhaltung, die der Wechselgesang
anbietet, die auf Veränderung setzende Kritik.
Als einsamer Gegner aller pazifistischen Tendenzen im deutschen Kabarett beklagt
Günter Neumann mit den Insulanern jede militärische „Leisetreterei“. Er hat sich, wie
bereits weiter oben besprochen, ohne Einschränkung der Bonner Linie verpflichtet.
Neumanns Klagelied ist schrill, die Töne entstammen dem intellektuellen Sperrfeuer der
Militärs. Auge um Auge heißt die Devise aus Berlin.
Die Bundeswehr will man vom Osten hintertreiben,
die sind bewaffnet, darum soll'n wir schutzlos bleiben,
Herr Ebert schrie: Bonn soll das Militär entfernen,
allein der Osten hat das Anrecht auf Kasernen,
wo man sich nicht, wie wir, vor Uniformen scheute –
seid wachsam Leute.106
Die panische Angst vor dem Osten, die Furcht vor einer soldatenlosen Gegenwart in
Berlin, sie spiegelt nicht die gängige Auffassung der Kabarettisten wider. Landauf, landab
- zumal in den Westsektoren bekämpft das Ensemble der Kritiker auf den Kleinbühnen die
Remilitarisierung. Der Konsens, der hier herrscht, ist nahezu einhellig und unterscheidet
sich höchstens graduell, nicht jedoch prinzipiell. Das Kabarett, und das ist bei seinem
Hang zur Übertreibung und Überspitzung dann doch erstaunlich, befindet sich insgesamt
Mitte der fünfziger Jahre mit seinen antimilitaristischen Nummern in einem größeren
Konsens zu der Bevölkerung als die Mehrheit der Bonner Volksvertreter bei diesem
Thema. Eine repräsentative Untersuchung vom Allensbacher Institut für Demoskopie
signalisiert 1957 jedenfalls immer noch erhebliche Distanz der Befragten zu der
Einrichtung der Bundeswehr.
106Zitiert in: Sweringen, van Bryan T., 1989, S. 165.
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Das Untersuchungsergebnis kann für das regierungsnahe Institut am Bodensee und seine
Auftraggeber nicht befriedigend sein, zeigt es doch - trotz suggestiver Fragestellung - das
brüchige Verhältnis der Bevölkerung zu Heer und Waffen.
Frage: „Hier sind verschiedene Ansichten über die Aufstellung von deutschen Truppen. Welche
davon trifft am besten das, was Sie selbst darüber denken?“
Junge Männer
in %
Ich bin nicht so sehr für Militär, aber solange die anderen
Staaten Soldaten haben, brauchen wir auch welche:
23
Ich bin in jedem Fall gegen die Aufstellung von Truppen.
Wir brauchen in Deutschland kein Militär:
20
Ich bin nicht gegen Soldaten, aber zur Zeit wäre es für
Deutschland besser, keine Truppen aufzustellen:
18
Ich bin in jedem Fall für die Aufstellung von Truppen.
Wir brauchen in Deutschland ein starkes Militär:
14
Ich bin eigentlich gegen Militär, aber in der jetzigen
Lage braucht Deutschland eine Armee:
13
Mir ist es ganz egal, ob in Deutschland Truppen
aufgestellt werden oder nicht:
11
125
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Keine Angabe:
1
Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1957107
Ob Die Schmiere - „das schlechteste Theater der Welt“ nennt es sich - in Frankfurt a. M.
auftritt, Das Bügelbrett in Heidelberg oder West-Berlin sich Gehör verschafft, Die
Stachelschweine zur Jagd auf Ungereimtes in der Republik blasen, der Stachel gegen das
Militär wird jeweils tief in das Fleisch der alten Haudegen getrieben. Auf dem Höhepunkt
der Krisen am Suezkanal und in Ungarn schreibt Rolf Ulrich 1956 ein „Freiheitslied“ ganz
eigenen Zuschnitts. Im Programm „Die Wucht am Rhein“ beklagen die Kabarettisten den
Widerspruch von Freiheitsideologie und militärischer Aufrüstung, sie kritisieren die
postulierte Unabwendbarkeit von Kriegen, von „guten“, „gerechten“ und „heiligen“
Metzeleien.
Freiheit, Freiheit über alles,
höchstes Ziel auf dieser Welt!
Unser Leben, unser Sterben
dieses Wort zusammenhält.
Segen ruht auf allen Waffen,
ewig zieh'n mit Himmelsmacht
alle Völker, alle Rassen
für die Freiheit in die Schlacht.
Und keiner dachte an den dritten
Weltkrieg und schrie:
Halt! - Keiner!
Nicht in der Downingstreet -
107Noelle, Elisabeth/Neumann, Erich Peter, 1957, S. 152.
126
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Nicht am Arc de Triomphe –
Nicht in Manhattan –
Nicht auf dem Rudolph-Wilde Platz.
Nein, sie sangen:
Vorwärts, vorwärts für die Freiheit!
Was heißt schon Vernunft, Moral?
Nein: Millionen sterben ewig
für das Freiheitsideal.
Wann zerplatzt dies Wort einmal,
diese gold'ne Seifenblase?
Wann wird einmal klar gesagt:
Freiheit - du bist eine Phrase!?
Die Stachelschweine, 1956108
Die Wucht am Rhein
O wie schön, daß wir den Osten haben,
Die Gefahr aus Pankow, Moskau und den Don;
Denn der Osten ja der gab uns schließlich
Erst die Teilung Deutschlands und zum Glück dann Bonn.
Und durch Bonn da zogen Geld und Banken
An den Rhein und zogen Handel, Wirtschaft nach,
Millionäre - Fremde und Devisen
Und das Ganze krönt jetzt schließlich Andernach.
O es wär nicht auszudenken,
108Zitiert in: Budzinski, Klaus, Die öffentlichen Spaßmacher, 1966, S. 45f.
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Wenn jetzt plötzlich eine Einheit käm
Und statt unserm goldnen Rheine
Dann die Spree wär Deutschlands Diadem.
Und was mühsam haben wir erworben
Unter dem Geheimwort Provisorium,
Schnappte weg uns die Berliner Schnauze,
Und uns bliebn die Greise im Panoptikum.
Drum bewahret uns den lieben Osten,
Haltet Wacht und laßt auf kein Gespräch euch ein,
Kämpft um unsre Nibelungenschätze,
Sonst ist es vorbei mit unserer Wucht am Rhein!
Rolf Ulrich, 1956109
Die oberen Zehntausend in der Republik, die Herren aus Industrie und Wirtschaft, sie
haben schon wieder gelernt, mit Krisen zu leben und dabei auch kräftig abzusahnen. In
der Kleinen Freiheit in München leiht Martin Morlock ihnen das Wort. Makler und
Industrielle kommen auf den Brettern ins Grübeln und schwärmen trist und melancholisch.
Der Tod ist ein Meister aus Deutschland, aber es gibt auch Schwierigkeiten in dem
eisernen Gewerbe:
Erster Industrieller:
Daß die Lage so gespannt ist,
Will uns zwar betrüblich scheinen,
Doch ein Mensch, der bei Verstand ist
Und im Industrieverband ist,
Kann deshalb nicht dauernd weinen!
109Kühn, Volker, Kleinkunststücke, Bd. 4, S. 168. In Andemach wurde die erste Bundeswehreinheit
aufgestellt.
128
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Erster Makler:
Was den Laien so erschreckt, ist
Doch im Grunde das alte Spiel:
Wenn die Sahne abgeleckt ist,
Der Zivilbedarf gedeckt ist,
Braucht die Wirtschaft ein Ventil.
Zweiter Industrieller:
Wär' die Welt ein wenig weiser
Und die Propaganda beider
Hemisphären etwas leiser,
Bauten wir euch Fertighäuser.
So sind's eben Panzer.
Alle (zucken unschuldig die Achseln):
Leider
Zweiter Makler:
Denn das ist nun einmal der triste
Tatbestand auf diesem Stern:
Wenn der eine sicher wüßte,
Daß der andre, wenn er rüste,
Wüßte, daß er rüsten müßte,
Rüstete er halb so gern.
Erster Makler:
Weil jedoch in jedem Falle
Jeder glaubt, er habe mehr Macht
Als die andersgläub'ge Wehrmacht,
Rüsten alle ...
Martin Morlock, 1952110
110Zitiert in: Hoche, Karl, 1984, S. 84f.
129
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In dem Schwabinger Kabarett Die kleinen Fische nimmt das Ensemble unter Therese
Angeloff die geplante Wiederbewaffnung aufs Korn. Eine Damenriege, der „Louisenbund“,
träumt sich in die alten Tage der Kriegsmarine zurück. Ingrid van Bergen, Lia Pahl und
Anita Bucher gehören zu den trutzigen Amazonen, die bei der Verherrlichung der
stählernen Maschinerie alle Register ziehen. Dabei ist zu bedenken, daß zu diesem
Zeitpunkt die Diskussion um die Remilitarisierung noch nicht abgeschlossen ist, Franz
Josef Strauß, damals ein junger CSU-Abgeordneter, die parlamentarisch notwendigen
Seilschaften für ein neues Heer erst um sich schart:
„Wer als Deutscher dem deutschen Volke die innere Befähigung abspricht, Waffen zur
Selbstverteidigung zu erhalten, ohne gleichzeitig dem Militarismus zu verfallen, der hat innerlich
vor dem Militarismus kapituliert. Schließlich muß der Unfug einmal aufhören, daß man den
ehrlichen und anständigen Soldaten immer zum Militaristen stempelt. Der Ungeist des
Militarismus muß überwunden bleiben und wo er auftreten sollte rücksichtslos unterdrückt
werden. Die Verteidigungsbereitschaft des friedlichen deutschen Bürgers darf nicht durch die
Verunglimpfung des Ansehens des deutschen Soldaten geschwächt oder erstickt werden.“
Franz Josef Strauß, 10. Juli 1952111
So gesehen ist der kleine Damen-Kranz unter Abzug der ironischen Brechungen ganz auf
Kurs des Bayern und künftigen Atom- und Verteidigunsministers, wenn er jubiliert:
Wir sitzen auf dem Kanapee
und träumen Ach und Weh
Wir wollen wieder Kriegsschiffe taufen!
Mit deutschem Sekt am deutschen Heck!
Und wieder Margueriten verkaufen
zum wohltätigen Zweck!
Drum gründen wir ein Komitee,
111Spiegel, Der, Reden aus Deutschland, CD 1, Nr. 3.
130
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ein Wohltätigkeitskomitee,
Wir sind die Damen
mit gutem Namen,
die Damen vom Louisenbund!
Wir sind die kommenden Größen von morgen,
die für Sitte und Ordnung dann sorgen!
Unsre Fahne flattert fröhlich uns voraus!
Wir sterben niemals aus!
Die kleinen Fische, 1954112
Nach dem Beitritt der Bundesrepublik zur NATO, dem Unterzeichnen der Pariser
Verträge, geht die Bundesregierung in die zweite Runde und eröffnet die Debatte über die
Ausrüstung der Bundeswehr mit atomaren Gefechtsköpfen. Adenauer tritt
höchstpersönlich vor die Presse. „Unterscheiden Sie doch“, so erklärt der Kanzler am 5.
April 1957, „die taktischen und die großen atomaren Waffen. Die taktischen Waffen sind
nichts weiter als die Weiterentwicklung der Artillerie. Selbstverständlich können wir nicht
darauf verzichten, daß unsere Truppen auch in der normalen Bewaffnung die neueste
Entwicklung mitmachen.“113
Trotz einer großen Oppositionsbewegung kann die CDU-Mehrheit am 28. März 1958 den
Beschluß über die Atombewaffnung der Bundeswehr durchsetzen. Weder die Göttinger
Erklärung der 18 Atomwissenschaftler noch kirchliche oder gewerkschaftliche Proteste
ändern hieran etwas im grundsätzlichen. Die SPD hat ihr Nein zur atomaren Bewaffnung
ohnehin - im Zeichen der verlorenen Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen und im
Zeichen des kompromißbereiten und „moderaten“ Godesberger Programms - revidiert.
Wehner, Erler und Brandt bringen die Genossen auf Kurs. Der Sieg der CDU in der Frage
der Atombewaffnung erweist sich im nachhinein als innerparteilicher Pyrrhus-Sieg, da die
Verfügungsgewalt über die Atomwaffen bei den Alliierten liegt. Die öffentlichen Bedenken,
dies könne unter einer veränderten außenpolitischen Lage einmal anders werden, bleibt
jedoch bestehen.
112Zitiert in: Hösch, Rudolf, 1972, S.103.
113Vgl. Jäger, Uli, Schmid-Vöhringer, Michael, 1982.
131
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Der Aufruf der „Göttinger“ hat in der Bundesrepublik ein großes publizistisches Echo, wird
zum Anstoß für weitere Protestresolutionen und mahnende Appelle. Der Theologe Karl
Barth schaltet sich ein, Stefan Andres, Erich Kästner, Eugen Kogon, Walter Dirks und
viele weitere Intellektuelle richten eine Resolution an den Bundestag, sich der
„lebensbedrohenden Rüstungspolitik“ zu widersetzen. „Wir werden nicht Ruhe geben,
solange der Atomtod unser Volk bedroht“, geben die Wissenschaftler und Künstler zu
bedenken.114 Gerd Semmer, einer der wichtigsten Chansonautoren im Kontext der Lieder
gegen Militarismus und Atomrüstung, reagiert auf die Göttinger Erklärung ganz
unmittelbar und verfaßt ein Solidaritätslied, das Dieter Süverkrüp vertont. Das Lied nimmt
Bezug auf die Beschwichtigungsversuche aus der Bundeshauptstadt, die honorigen
Wissenschaftler mögen doch bitte ihre Finger aus der Tagespolitik lassen.
Göttinger Erklärung
Die Pläne einer atomaren Bewaffnung der Bundeswehr erfüllen die unterzeichneten
Atomforscher mit tiefer Sorge. Einige von ihnen haben den zuständigen Bundesministerien ihre
Bedenken schon vor mehreren Monaten mitgeteilt. Heute ist die Debatte über diese Frage
allgemein geworden. Die Unterzeichneten fühlen sich daher verpflichtet, ihrerseits auf einige
Tatsachen hinzuweisen, die alle Fachleute wissen, die aber der Öffentlichkeit noch nicht
hinreichend bekannt zu sein scheinen.
Erstens: Taktische Atomwaffen haben die zerstörende Wirkung normaler Atombomben. Als
‘taktisch’ bezeichnet man sie, um auszudrücken, daß sie nicht nur gegen menschliche
Siedlungen, sondern auch gegen Truppen im Erdkampf eingesetzt werden sollen. Jede einzelne
taktische Atombombe oder -granate hat eine ähnliche Wirkung wie die erste Atombombe, die
Hiroshima zerstört hat. Da die taktischen Atomwaffen heute in großer Zahl vorhanden sind,
würde ihre zerstörende Wirkung im ganzen sehr viel größer sein. Als ‘klein’ bezeichnet man
diese Bombe nur im Vergleich zur Wirkung der inzwischen entwickelten ‘strategischen’ Bomben,
vor allem den Wasserstoffbomben.
Zweitens: Für die Entwicklungsmöglichkeiten der lebensausrottenden Wirkung der strategischen
Atomwaffen ist keine natürliche Grenze bekannt. Heute kann eine taktische Atombombe eine
kleinere Stadt zerstören, eine Wasserstoffbombe aber einen Landstrich von der Größe des
Ruhrgebietes zeitweilig unbewohnbar machen. Durch Verbreitung von Radioaktivität könnte
man mit Wasserstoffbomben die Bevölkerung der Bundesrepublik heute schon ausrotten. Wir
kennen keine technischen Möglichkeit, große Bevölkerungsmengen vor dieser Gefahr sicher zu
schützen. (...)
Wir fühlen keine Kompetenz, konkrete Vorschläge für die Politik der Großmächte zu machen.
Für ein kleines Land wie die Bundesrepublik glauben wir, daß es sich heute noch am besten
schützt und den Weltfrieden noch am ehesten fördert, wenn es ausdrücklich und freiwillig auf
den Besitz von Atomwaffen jeder Art verzichtet. Jedenfalls wäre keiner der Unterzeichneten
bereit, sich an der Herstellung, der Erprobung oder dem Einsatz von Atomwaffen in irgendeiner
114Ebd., S. 19f.
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Weise zu beteiligen. Gleichzeitig betonen wir, daß es äußerst wichtig ist, die friedliche
Verwendung der Atomenergie mit allen Mitteln zu fördern, und wir wollen an dieser Aufgabe wie
bisher mitwirken.
12. April 1957115
Atomgedicht 57
Achtzehn Professoren durchbrachen
Das tobende Schweigen der Schallmauer,
Aufgebaut von bezahlter Journaille
Um den Massenmordplan.
Aber, meine Herren, was geht denn Sie das an?
Sie glauben, daß man einfach hereinreden kann?
Das ist doch Politik, wovon Sie nichts verstehen!
Mund halten, weiterforschen!
Sie sind gar nicht gefragt!
Keine Diskussion! Weitergehn!
Seit Generationen wuschen sie
Die Hände in reiner Wissenschaft.
Die Folgen haben sie nie gewollt.
Endlich machten achtzehn den Mund auf,
Männer zeigten Herz.
Aber meine Herren, was gehn Sie die Folgen an?
Sie glauben, daß man einfach hereinreden kann?
Machen Sie Ihre Arbeit, wovon Sie etwas verstehn!
Haben Sie denn kein Berufsethos?
Sie sind außerdem nicht gefragt!
Keine Diskussion! Weitergehn!
115Ebd., S. 18f. Zu den Unterzeichnern gehörten die Professoren Fritz Bopp, Max Born, Rudolf
Fleischmann, Walther Gerlach, Otto Hahn, Otto Haxel, Werner Heisenberg, Hans Kopfermann, Max von
Laue, Heinz Maie Leibnitz, Josef Mattauch, Friedrich-Adolf Paneth, Wolfgang Paul, Wolfgang Riezler,
Fritz Straßmann, Wilhelm Walcher, Carl Friedrich von Weizsäcker.
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„Ihre Kinder an sich drückend
Stehen die Mütter und durchforschen
Angstvoll den Himmel nach den Erfindungen
der Gelehrten.“
Aber meine Herren, was gehn Sie Kinder an?
Sie glauben, daß man einfach hereinreden kann?
Das ist unsere Politik, wovon Sie nichts verstehn!
Überlassen Sie das den Fachleuten!
Keine Diskussion! Auseinandergehn!
Gerd Semmer, 1957116
Der Ball ist rund und die Republik läßt es sich gutgehen
Es gibt neben der politisierten Republik freilich auch jene des stetig wachsenden Luxus,
der Nierentische und des genußvollen UKW-Empfangs am Kofferradio. Wer die Augen nur
halboffen hat, der kann es sich bequem einrichten. Die Werkstoffe Schaumgummi, Trevira
und PVC sind neben dem „Starmix“-Küchengerät und dem Nyltest-Hemd die
Versprechungen der Zeit. Die Republik im Westen hat mit den fünfziger Jahren äußerlich
wieder Tritt gefaßt. Freddy Quinn trällert seinen „Heimat“-Song, Cornelia Froboess - noch
ganz Kinderstar - darf ihre Badehose fürs „kleine Schwesterlein“ einpacken und Rudi
Schuricke schmelzt für die ersten wohlhabenden Italienurlauber sein Capri-Lied in den
Äther:
Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt,
Und vom Himmel die bleiche Sichel des Mondes blinkt
Zieh'n die Fischer mit ihren Booten aufs Meer hinaus,
Und sie legen in weitem Bogen die Netze aus.
Nur die Sterne, sie zeigen ihnen am Firmament,
Ihren Weg mit den Bildern, die jeder Fischer kennt,
116Zitiert in: Kühn, Volker, Kleinkunststücke, Bd 4, S. 227.
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Und von Boot zu Boot das alte Lied erklingt,
Hör' von fern, wie es singt:
Bella, bella, bella Mari,
Bleib mir treu, ich komm zurück morgen früh!
Bella, bella, bella Mari, vergiß mich nie!117
Die Schlager der Zeit mimen auf unerschütterlichen Optimismus. Lieschen Müller hat
wieder etwas zu knabbern und muß gar höllisch aufpassen, daß sie von der Fresswelle
nicht ganz verschlungen wird. Peter Frankenfeld und Liselotte Götz warnen am 12.
Dezember 1950 die Radiohörer des Süddeutschen Rundfunks vor den fatalen Folgen.
Das Essen ist Frau Müllers Lust,
das Essen ist Frau Müllers Lust, das E-e-s-s-e-n.
Sie ißt und frißt von früh bis spät,
kein Wunder, daß sie in die Breite geht,
daß die schlanke Linie pleite geht,
kein W-u-u-n-d-e-r.118
Seit dem 1. März des Jahres sind die Lebensmittelkarten endgültig abgeschafft. Es
scheint alles in Butter. Die Regenbogenpresse bejubelt 1951 die persische
„Märchenhochzeit“ von Soraya und Schah Reza Pahlevi auf dem Pfauenthron. In
Westminster läuten zwei Jahre später die Glocken für Königin Elisabeth II. von
Großbritannien. Das Fernsehen inszeniert die erste weltweite Übertragung, die
„Fernseh“-Queen ist geboren. Wer es sich leisten kann, fährt Mitte des Jahrzehnts einen
Hansa Borgward, bei knapperem Budget darf es eine Isetta oder der Vespa-Roller aus
Italien sein. Persil ist immer noch Persil, und Bauknecht glaubt zu wissen, was sich
Frauen wünschen. Auf dem Aktienmarkt spiegelt sich bald die Goldgräbermentalität derer,
117Zitiert in: Politik und Unterricht, 1991, H. 4, S. 19.
118Weber, Jürgen, 1987, Kassette IV/2, Nr. 1.
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die es geschafft haben. Die Spuren des Krieges sind noch nicht getilgt, aber die
Stimmung ist dank des „Wirtschaftswunders“ prächtig. Moskau läßt auf Initiative von
Konrad Adenauer die letzten 10.000 Kriegsgefangenen wieder frei, eine humanitäre
Aktion, die auch 12 Jahre später in repräsentativen Umfragen als die herausragende
Leistung des Kanzlers benannt wird. Am 4. Juli 1954 wird das auf dem Schlachtfeld des
Krieges geschlagene Deutschland Fußballweltmeister. Die Nation torkelt im Fußballglück,
die britische Presse mutmaßt in ihren Schlagzeilen eine heimliche „Rache für Stalingrad“.
Die sich formierende Freizeit-Nation sublimiert auf dem Rasen den verlorenen Krieg und
zeigt ihre Zähne. Die Sprache der Fußballmatadore ist verräterisch wie eh und je. Was
der Krieg verwehrt hat, erlaubt das runde Leder: dem Rest der Welt zu zeigen, daß die
Nation (mindestens) in einer Disziplin unbesiegbar ist. Die Schlachtenbummler verstehen
es so, der martialisch sprechende Reporter des Tages, Herbert Zimmermann, ohnehin,
und die hypnotisierten Fußballer auf dem Platz ebenfalls.
Fritz Walter erinnert sich:
Auf engstem Raum spielen wir einander zu. Vergeblich warten die Ungarn auf Steilpässe oder
weite Flanken. Nur wenn wir angegriffen werden, geben wir den Ball zu einem freistehenden
Mann, nach vorn, zur Seite oder auch zurück. Eine sportlich durchaus korrekte Form, gut über
die Zeit zu kommen. Niemand wird uns das verdenken. Natürlich erkämpfen sich auch die
Ungarn den Ball wieder und stürmen dann mit letzter Kraft noch einmal gegen das Tor.
Zwei Minuten noch. Eine Minute noch. Da bekommt Czibor bei einem überraschenden
Flankenwechsel halbrechts in Strafraumhöhe den Ball. Er wird ihm direkt auf den Fuß serviert.
Mir steht vor Schreck fast das Herz still. Jetzt, jetzt ist es passiert! denke ich, als Czibor aus
sieben, acht Metern einen Mordsschuß losläßt. Er zielt in die kurze Ecke, auf die sich Toni zum
Glück konzentriert. Blitzschnell geht unser Düsseldorfer zu Boden und befördert in fliegender
Parade den Ball mit beiden Fäusten in Richtung Eckfahne. Ebenso schnell setzt Werner
Kohlmeyer hinterher und will das Leder zum Linksaußen schlagen. In der Drehung rutscht es
ihm ab ins Aus. In diesen Sekunden stand unser Sieg auf des Messers Schneide. Einwurf der
Ungarn. Ich fange den Ball ab, versuchte ihn nach vorn zu schlagen. Aber das nasse Leder
rutscht wieder ins Aus. Ist denn noch nicht Schluß? Schiedsrichter Ling müßte jetzt abpfeiffen.
Ob er wegen Tonis Verletzung nachspielen läßt? Die Ungarn führen den Einwurf aus. In diesem
Augenblick höre ich - Mister Ling steht nur ein paar Meter von mir entfernt - den ersehnten
Schlußpfiff. Das Spiel ist aus! Das Unglaubliche ist wahr, das Unerwartete Wirklichkeit! Der
Fußball-Weltmeister 1954 heißt Deutschland.119
119Zitiert in:Siepmann, Eckhard (Hrsg.), 1988, S. 441.
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Freilich, das kritische Gewissen der Nation, das Kabarett auf der Bühne und im Film, es
betreibt Spurensuche in Nischen und Winkeln und begnügt sich nicht mit dem Gebrüll in
dem Stadion von Bern. Nach einem Roman von Hugo Hartung erzählen Heinz Pauck und
Günter Neumann zum Beispiel in dem Kurt Hoffmann-Film Wir Wunderkinder (1958) ein
ganz deutsches Märchen: Aufstieg und später Fall einer lokalen Nazigröße, die mit der
Durchschnittsbiografie eines sympathischen Journalisten (Hansjörg Felmy) kontrastiert
ist. Der Nazi-Terror wird nicht ohne Geschick mit satirischem Zugriff in seiner
Menschenverachtung und Gewalt geschildert. Neumanns Texte zeichnen sich hier durch
Witz und Biß aus, auch die neue Anpassung in der Ära Adenauer rückt in meisterlichen
Couplets- und Kabarettnummern ins treffliche Schwarz-Weiß-Bild. Von der Kritik hat
dieser im Genre ganz „besondere“ Film teilweise eine unverständliche Unterbewertung
erfahren. Man spricht von „positivistischer Grundhaltung“120, obwohl dieser filmische
Gehversuch vor allem im furiosen Finale die Restauration gekonnt ins Bild rückt. Der
kabarettistische Deutschlandfilm lebt übrigens nicht zuletzt von den köstlichen
Gesangseinlagen, den Moritatensängern Wolfgang Müller und Wolfgang Neuss.121 Der
Spaß stimmt nachdenklich und gibt über die Generation der „Großväter“ mittels der
pointierten Vergrößerung Auskunft. Das deutsche Lesebuch vom Kaiserreich bis
Adenauer ist nicht zwangsläufig ein politischer Aufklärungsfilm. Gleichwohl ist die Satire
mit deutlichem Strich gezeichnet. Das „Lied vom Wirtschaftswunder“ wird in diesen Jahren
zu einem vergnüglichen Hit. Es beschreibt mustergültig Faules und Oberfaules im neuen
demokratischen Staat und benennt die gärenden neonazistischen Umtriebe. Im
„Gnadenfieber“ des Jahres 1954 kehrt die Justiz mit der Billigung des Bundestages sehr
viel unter den Teppich. Das Straffreiheitsgesetz regelt den „Erlaß von Strafen und
Geldbußen und die Niederschlagung von Strafverfahren und Bußgeldverfahren“ für
Straftaten, die zwischen dem 1.10.1944 und dem 31.7.1945 verübt wurden.122 Auch für
NS-Verbrecher, die unter falschem Namen gelebt haben, gilt der befristete „Persilschein“.
Wolfgang Neuss und Wolfgang Müller nehmen solche von höchster Stelle dekretierte
Moral aufs Korn.
120Lexikon des Internationalen Films, S. 4336.
121Der Autor hat den Film in der politischen Bildungsarbeit mehrfach und mit gutem Erfolg eingesetzt.
122Vgl. Weber, Jürgen, 1987, S. 316
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Das Lied vom Wirtschaftswunder
Die Straßen haben Einsamkeitsgefühle,
Aus Pappe und aus Holz sind die Gardinen,
Und Bretter liefert nicht mehr die Fabrik!
Den Zaun verdeckt ein Zettelmosaik.
Nur ab und zu mal klappert eine Mühle,
Wer rauchen will, der muß sich selbst bedienen,
Ist ja kein Wunder, ist ja kein Wunder,
Ist ja kein Wunder nach dem verlorenen Krieg!
Einst waren wir frei, nun sind wir besetzt!
Das Land ist entzweit, was machen wir jetzt?
Jetzt kommt das Wirtschaftswunder,
Jetzt kommt das Wirtschaftswunder!
Jetzt gibt's im Laden Karbonaden schon und Räucherflunder!
Jetzt kommt das Wirtschaftswunder,
Jetzt kommt das Wirtschaftswunder!
Der deutsche Bauch erholt sich auch
Und ist schon sehr viel runder!
Jetzt schmeckt das Eisbein wieder in Aspik!
Ist ja kein Wunder, ist ja kein Wunder.
Ist ja kein Wunder nach dem verlorenen Krieg!
Die Läden offenbaren uns wieder Luxuswaren,
Wer Sorgen hat, hat auch Likör und gleich in hellen Scharen!
Man muß beim Autofahren nicht mehr mit Brennstoff sparen!
Die ersten Nazis schreiben fleißig ihre Memoiren,
Denn den Verlegern fehlt es an Kritik!
Ist ja kein Wunder, ist ja kein Wunder,
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Ist ja kein Wunder nach dem verlorenen Krieg.
Wenn wir auch ein armes Land sind,
Zeig'n wir, daß wir imposant sind!
Und so ziemlich abgebrannt sind!
Weil wir etwas überspannt sind!
Wieder hau'n wir auf die Pauke!
Wir leben Hoch! Hoch! Hoch! Hoch! Hoch! Hoch! Hoch! Hoch!
Das ist das Wirtschaftswunder, das ist das Wirtschaftswunder!
Zwar gibt es Leut', die leben heut
noch zwischen Dreck und Plunder.
Doch für die Naziknaben,
Die das verschuldet haben,
Hat unser Staat viel Geld parat und
Spendet Monatsgaben!
Wir sind 'ne ungelernte Republik!
Ist ja kein Wunder, ist ja kein Wunder,
Ist ja kein Wunder nach dem verlorenen Krieg.
Aus dem Film“ Wir Wunderkinder“ 1958.
Text: Günter Neumann, Musik: Franz Grothe123
Der Reflex auf die neuen Machtverhältnisse in der Republik, die Kritik an einer
Wirtschaftspolitik, die den ohnehin Habenden zu weiterem Wohlstand verhilft und die
sozial Schwachen wie gehabt im Schatten stehen läßt, kann mit vielen Kabarettnummern
belegt werden. Die zweite Bundestagswahl endet mit einem überwältigenden Sieg der
CDU/CSU (45,2%). Konrad Adenauer beruft im Oktober 1953 sein Kabinett, der
Wiederaufbau floriert, drei Jahre später speckt der Kanzler das Kabinett auf 16 Minister
ab, Generalmajor Reinhard Gehlen baut mit Billigung der Alliierten wieder einen
Nachrichtendienst auf.124 Alles läuft nach Plan, alles steuert peu à peu auf die
123Kabarett 1946-1969, CD 1,Nr.12; Text u.a. in: Hippen, Reinhard, Das Kabarett-Chanson, 1986, S. 152f.
Kühn, Volker, Kleinkunststücke, Bd. 4, S. 126f.
124Vgl. Friedrich, Jörg, in: Hafner, Georg M., Jacoby, Edmund, 1992, S. 26.
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Wiederbewaffnung zu, die am 2. Januar 1956 mit der Einberufung von 1.000 Freiwilligen
praktisch besiegelt ist. Joachim Hackethal schreibt auf diesem zeitgeschichtlichen
Hintergrund das raffinierte Lied von der „Bundesmodenschau“, einer komplexen Metapher
auf das neue Bonner Klima. Ursula Noack singt die kleine kabarettistische Kostbarkeit.
Die Anspielungen aus der Zeit sind souverän drapiert, die Decodierung der Bezüge
können die Zuschauer der Zeit bei den Amnestierten unschwer lösen.
Die Bundesmodenschau
Ich begrüße Sie herzlich, meine Damen,
und auch die Herren, die mit Ihnen kamen
zur großen Bundesmodenschau –
oh, hier ist noch ein Platz frei, gnädige Frau!
Ich bitte um Ruhe und Aufmerksamkeit!
Laufsteg frei für das erste Kleid!
Sehr viele Bonner Damen wählen
das Modell Geheim aus dem Hause Gehlen;
vorne zu und hinten geschlossen,
der Stoff undurchsichtig und etwas verschossen,
er stammt nämlich noch aus dem letzten Krieg,
obwohl das Modell jüngst im Preise stieg.
Wiewohl sehr prunkvoll in der Gestaltung,
verleiht es doch abwehrende Haltung.
Die Taschen in V -Form, unsichtbar verbunden,
ein Kleid so richtig für Dämmerstunden.
Ein Tusch! Und erneute Aufmerksamkeit,
Laufsteg frei für das nächste Kleid!
Das Modell Konjunktur wird an heißen Tagen
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von den Bonner Damen bevorzugt getragen,
weil es in keiner Weise beengt.
Es läßt sehr viel Spielraum nach unten und hängt
an hauchdünnen Trägern aus schwarzem Kredit,
die man beliebig verkürzt, wenn es zieht.
Der Unterbesatz aus buntem Diskont.
Er kann heraufgesetzt werden, wenn es sich lohnt.
Die Qualität des Modells ist es nicht, was wirkt.
Wichtig ist, daß es vieles verbirgt.
Einen Tusch! Und erneute Aufmerksamkeit,
Laufsteg frei für das nächste Kleid!
Das Modell Juliusturm aus dem Hause Schäffer
bezeichnet man gewöhnlich als den besten Treffer.
Denn je nachdem, an welchen Tagen,
kann man es doppelseitig tragen:
Die eine Seite schäbig und ärmlich,
ein wenig zerschlissen und ziemlich erbärmlich,
trägt man gewöhnlich bei Rentendebatten
und im deutschen Wirtschaftswunderschatten.
Die schäbige Form ist auch noch zu preisen
bei Gewerkschaftsempfängen und Auslandsreisen.
Die andere Seite - reich, goldverziert
und sechzigmilliardenfach demarkiert
trägt man gewöhnlich bei Haushaltsdebatten
und beim Besuch exotischer Potentaten.
Als Steuersäckel getarnt sind die Taschen,
außen verdeckt durch weite Maschen.
Und ist der Inhalt auch noch so schwer,
man hat stets das Gefühl, der Säckel sei leer.
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Ein Tusch! Und erneute Aufmerksamkeit,
Laufsteg frei für das nächste Kleid!
Das Modell Verfassung wurde gerade geändert
und ein wenig auf zackig gerändert.
An den Hals kam ein engangliegender Wickel,
auch benötigt das Kleid wieder etliche Zwickel.
Man versucht es zwar schon mit Gummizügen,
doch das wollte dem Zuge der Zeit nicht genügen.
Es war zu eng für die Bonner Figuren,
trotz mancherlei Kuren.
Ein Tusch! Und erneute Aufmerksamkeit,
Laufsteg frei für das nächste Kleid!
Das Modell Kabinett aus schwarzem Ressort
herrscht neuerdings im Straßenbild vor.
Es war kürzer und wird seit einigen Tagen
nur noch mit 16 Knöpfen getragen.
Doch sind auch von diesen Knöpfen fast alle entbehrlich,
weil letztlich die Konradin-Schnalle das ganze Modell zusammenhält,
und alles stürzt, wenn die Schnalle fällt.
Ein Tusch! Und erneute Aufmerksamkeit,
Laufsteg frei für das nächste Kleid!
Meine Damen und Herren, Sie sehen jetzt unseren Dernier cri,
ein Import-Modell aus den USA, das Luxus-Kleid Demokratie.
Das, meine Damen und Herren, war wirklich noch nicht da.
Ich bitte Sie, diesem Modell Ihr Auge zu leihen.
Ehm, was ist denn das?
Oh, meine Damen und Herren,
bitte, Sie müssen verzeihen,
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aber der Mannequin weigert sich, nackt zu kommen,
der Importeur hat das Kleid wieder mitgenommen.
Text von Joachim Hackethal, gesungen von Ursula Noack 1957 bei
den „Amnestierten“125
Vermauertes und Vernageltes. Die sechziger Jahre
zwischen Aufbruch und Protest
Eiszeit in den Köpfen
Westdeutschland rüstet sich zum vierten Bundestagswahlkampf, als in den
Nachmittagsstunden des 13. August 1961 unter dem Schutz gepanzerter Einheiten die
Nationale Volksarmee Sperren gegen die Westsektoren Berlins errichtet. Vier Divisionen
der bewaffneten DDR-Einheiten sind nach Berlin beordert, Staatssicherheitschef Mielke
hat bei Androhung der standrechtlichen Erschießung äußerste Diskretion erzwungen und
auch die westlichen Geheimdienste hinreichend getäuscht oder im unklaren gelassen. Die
anschwellende Flüchtlingslawine von Ost nach West - im April verlassen allein 30 000
Menschen die DDR droht zur ökonomischen Katastrophe für das Ulbricht-Regime zu
werden, 50 Prozent der Flüchtlinge sind Jugendliche unter 25 Jahre, die dem
sozialistischen „Arbeiter- und Bauernstaat“ den Rücken kehren. Die überrumpelten
Westalliierten greifen nicht ein, während Betriebskampfgruppen und Soldaten die
Sektorengrenze systematisch abriegeln und den Steinwall errichten. Von nun an gilt der
Schießbefehl, die Bernauerstraße erlangt triste Berühmtheit durch ihre Toten, die
verzweifelten Zeugnisse eines letzten Fluchtversuchs.
Wie die Mauer zu beseitigen sei, das ist die bestimmende Frage in den Debattierklubs am
Stammtisch, aber auch im Bundestag. Protestierende Bürger im Westen bauen jeweils am
Jahrestag symbolische Gedenkmauern quer durch belebte Geschäftsstraßen.126 Die
Betroffenheit ist zum Teil echt, aber auch mit ganz handfesten merkantilen Interessen
125Kabarett 1946-1969, CD 1, Nr. 9.
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gepaart, wie bei der Bildzeitung. Sie zählt von nun an im Titelblatt das Bestehen der
„Schandmauer“ Tag für Tag mit. Erst nach Jahren wird das Spiel des bigotten Protestes
aufgegeben. Auch dem greisen Kanzler am Rhein, Konrad Adenauer, kommt die
Entwicklung der Mauerkrise nicht einmal ungelegen, zementiert das Bollwerk doch für
jedermann sichtbar die Teilung der Welt. Über die Wiedervereinigung läßt sich von der
Regierungsbank zwar weiterhin vollmundig sprechen, doch Handlungen in diese Richtung
sind überflüssiger denn je. Die Mauer schützt über drei Jahrzehnte vor der Überprüfung
eigener politischer Positionen, sie zementiert eine Spaltung, die vielen Politikern und
Intellektuellen nicht unwillkommen ist. Das Gabenpaket in die „Zone“ mit steuerlicher
Absetzbarkeit ist allemal die bequemere Variante im Vergleich mit den denkbaren
Problemen, die ein wiedervereinigtes Deutschland mit sich bringen würde. Trauer über die
Gegenwart und die Teilung ist im Parlament angesagt, doch wer was wirklich denkt, ist
von den Politikern so ohne weiteres nicht zu erfahren. Umfragen vor der Wahl im
November 1961 zeigen den Vertrauensverlust des Kanzlers. 47 Prozent der Befragten
meinen immerhin, er habe sich in der Krisenzeit „nicht richtig“ verhalten, nur 31 Prozent
stützen ihn noch.
Aus Berliner Sicht, aus der Sicht der Bedrohten, aus der Perspektive der RIAS-Insulaner
ist die Einschätzung verhältnismäßig einfach. „Die Mauer muß weg“, so lautet die Devise.
Am Brennpunkt des Kalten Krieges ist keine Zeit für Psychologisieren, an
Ursachenforschung - zumal dann, wenn am Haus gezündelt wird - ist niemand
interessiert, auch Günter Neumann nicht. Er läßt in schweren Berliner Tagen das
Insulaner-Lied durch den Durchhalte-Song Woll'n wir wetten? ersetzen. Neumann gibt wie
in früheren Tagen Unterricht im Überlebenskampf gegen den Osten. Die Rechnung ist die
nämliche wie vor dem Mauerbau, und überhaupt: Der Westen wird siegen.
Woll'n wir wetten?
1.
126Das gilt auch für die kleineren Städte, z.B. Schauplatz Esslingen am Neckar, Innere Brücke. Hier wurde
die Einkaufsstraße am Jahrestag symbolisch „zuge ma u e r t“.
144
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Berlin is eine schöne Stadt,
die Mumm und Lebensfreude hat,
drum zuppelnse ooch immer an uns rum.
Da muß man gute Nerven haben,
und daß wir die Nerven haben,
das nimmt uns der kleene Ulbricht krumm.
Auch daß hier gute Freunde sitzen,
und daß uns die Freunde schützen,
davor is dem Spitzbart mehr als mies.
Obendrein kommt vom Westen
oft 'ne Schar von Gästen,
nehm'n Se nur die vielen Kennedys.
Woll'n wir wetten,
woll'n wir wetten,
woll'n wir wetten
woll'n wir wetten,
wer sich von uns länger hält:
Herr Ulbricht oder Berlin?
Woll'n wir wetten,
was Bestand hat auf der Welt?
Herr Ulbricht oder Berlin?
Denn wenn Ulbricht längst kassiert is
oder gar am Kinn rasiert is,
bleibt Berlin - immer noch Berlin!
Denn wenn Ulbricht längst jeschaßt is
oder wenn er gar im Knast is,
bleibt Berlin - immer noch Berlin!
2.
Was sahn wir in den wilden Tagen
hier für 'n Haufen Möbelwagen,
weil so mancher nach dem Westen fuhr.
145
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Dann hörten draußen die Jewitzten,
daß se ohne Anlaß flitzten,
und nu kam'n se reumütig retour.
Ein oller Urberliner Knacker
von Beruf her Möbelpacker
schleppte 'ne Kommode mit Elang.
Und zum Kunden sprach er bieder:
Türmen Sie schon wieder?
Nehm' Se doch een Abonnemang!
Woll'n wir wetten,
woll'n wir wetten,
woll'n wir wetten
woll'n wir wetten,
wer sich von uns länger hält:
Herr Ulbricht oder Berlin?
Woll'n wir wetten,
wer aus de Pantinen fällt:
Herr Ulbricht oder Berlin?
Denn kiekt Ulbricht in der Fremde
ziemlich dußlich aus dem Hemde,
bleibt Berlin - immer noch Berlin!
Und sind alle für uns schwier jen
Volksbeglücker in Sibirien,
bleibt Berlin - immer noch Berlin!
(...)
Die Insulaner, März 1962127
Auch die anderen Kabarett-Ensembles melden sich sehr bald mit dem Thema „Mauer“ zu
Wort. Die Mauer fungiert fortan als Metapher für politische Unvernunft schlechthin, für die
Konfrontation zwischen Blöcken, Menschen und Systemen. Das in Beton gegossene
Bauwerk eignet sich in besonderer Weise für assoziative Sprünge und Pointen. Es dient
127Zitiert in: Sweringen, van Bryan T., 1989, S. 169ff.
146
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zur Codierung der verschiedensten politischen Widersprüche, es taugt zur Kombination
von zunächst Unvereinbarem. Mit Mauer und Demarkationslinien lassen sich - trefflich für
die Bretter- und Fernsehkunst - ideologische Verkrustungen anreißen. Die Mehrzahl der
Künstler sehen hinter dem Symbol der Teilung eben mehr als eine faktische, auch
todbringende, Grenzziehung. Wo das deutschsprachige Kabarett auf dem Höhepunkt der
Zeit und mit ihr agieren kann, weitet sich das Bild zur kritischen Zwischenbilanz einer bis
dato objektiv gescheiterten Deutschlandpolitik. Damit verbunden ist die Erkenntnis, daß
bislang nichts zu bewegen ist, auch nicht durch die beiderseitigen
Konfrontationsstrategien im Kalten Krieg. Dieter Hildebrandt beschreibt die gängigsten
Muster der deutsch-deutschen Empörung, sie sind gleichzeitig eine Schule des privaten
und öffentlichen Euphemismus, des Schönredens aus sehr durchsichtigem Anlaß.
Die Mauer
(Vor der Mauer versammelt sich eine Schulklasse aus „dem Westen „. Der Lehrer baut sich zu
einer Belehrung auf.)
Lehrer: Jungs und Mädels! Wir stehen vor der deutschen Schicksalsmauer, und was denken wir
dabei?
Schülerin: Daß wir nächste Woche darüber einen Schulaufsatz schreiben müssen.
Lehrer: Nein. Sondern?
Schüler: Daß es eine Schande ist.
Lehrer: Richtig. Und was denken wir noch?
Schülerin: Daß sie wieder weg muß!
Lehrer: Gut. Und wie?
Schüler: Indem wir ... indem wir ... indem die ... Weiß nicht, also wie?
Lehrer: Das weiß ich auch nicht, wir haben sie ja schließlich nicht hingemacht!
Schülerin: Nein, das waren die da drüben, weil sie Angst vor uns haben.
Lehrer: Und ist das berechtigt?
Schülerin: Na klar! Immer wenn wir Onkel Max in Neuruppin besuchen, sagt der: Jetzt kommen
die Angeber wieder mit ihren Scheiß-Appelsinen!
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(Schulklasse ab. Eine Referentin tritt auf, ihr nachfolgend der Minister.)
Referentin: Fahren Sie den Wagen des Herrn Ministers vor, wir sind in Eile! Das ist sie, die
Mauer, Herr Minister. Wie sind Ihre Eindrücke?
Minister: Ich bin erschüttert.
Referentin: Dort ist Ihr Wagen, Herr Minister. (Beide gehen schnell ab. Zwei Herren betreten das
Aussichtspodium.)
Produzent: Das ist sie, Schleierkorn! Habe ich Ihnen zuviel versprochen?
Schleierkorn: Fabelhaft beklemmend!
Produzent: Eben. Da muß Ihnen doch was einfallen. Hier Deutschland - da Deutschland - in der
Mitte die Mauer! Ist das ein Film? Was? Schleierkorn: Toller Stoff. Den Film mache ich.
Produzent: Aber hart!
Schleierkorn: Na ja, wenn ich mir das so überlege ...
Produzent: ... wie tief das gehen kann!
Produzent: Mit Berlin?
Schleierkorn: Nein mit dem Stoff.
Produzent: Schleierkorn! Der Stoff schreibt sich von selbst!
Schleierkorn: Haha. Der Billy Wilder hat einen Ost-West-Stoff gemacht, der war heiter, da kam
die Mauer dazwischen - aus. Stellen Sie sich vor, wir machen einen harten Stoff ganz ernst
und ...
Produzent: Und?
Schleierkorn: Und die Mauer ist weg!
Produzent: Malen Sie den Teufel nicht an die Wand.
Die Berliner Stachelschweine, 28. August 1961128
128Hildebrandt, Dieter, Was bleibt mir übrig, 1989, S. 133ff.
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Die Vermarktung der Mauer in Film und Pädagogik ist hier trefflich eingefangen und
berührt den ambivalenten Mauer-Protest zu Beginn der sechziger Jahre: Das Bauwerk ist
das materielle Korrelat zum sklerotisierten politischen Bewußtsein. Der Ruf nach
Mauerabriß trägt a priori Spuren der Halbherzigkeit und des rhetorisch geschulten
Euphemismus in sich. Das Gesagte wird nicht mit Ernsthaftigkeit verfolgt, die Herolde des
Westens bedienen sich ein um das andere Mal der „uneigentlichen“ Redeweise. Das Alsob beherrscht den Zungenschlag über den Berliner Status. Hannelore Kaub leuchtet in
das neue ideologische Schattenreich tief hinein und bringt 1963 die doppelte Moral der
Politiker scharfzüngig aufs Tapet. Diese Offenherzigkeit und Direktheit bekommt der
Leiterin des Bügelbretts indessen nicht. Für die Fernsehaufzeichnung im Juli 1964 wird
das Chanson auf Weisung wieder flugs aus dem Programm genommen, ein Fall von
Zensur. Die hehren deutsch-deutschen Gefühle will sich das Fernsehen nach den BerlinBekenntnissen des John F. Kennedy jedenfalls nicht entweihen und beschmutzen lassen.
Und jeden Tag ein Stück
Am 13. August 1961 begann der Bau der Mauer durch die Regierung der DDR.
Kein Mensch im Westen hat sie gewollt, und jeder von uns verurteilt sie. Und
denoch wird sie täglich höher, denn wir ...
Wir bauen an der Mauer,
und jeden Tag ein Stück.
Wir bauen an der Mauer
mit tränenfeuchtem Blick.
Wir bauen mit Verbissenheit,
wir bauen für die Ewigkeit,
und merken's nicht einmal.
Wir bauen an der Mauer
gedankenlos und satt,
wir bauen an der Mauer,
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weil man die riesengroße Angst im Nacken hat.
Ein bißchen Lüge und nicht dran denken,
doch jeden Festtag gesamt-gerührt.
Ein paar Briketts per Päckchen schenken –
wir mögen nicht, wenn unser Bruder friert.
Pauschales Mißtrau'n, pauschale Liebe
für den Bruder, den man nur aus Briefen kennt.
Pauschales Mitleid, pauschale Lüge,
doch im Grunde ist uns unser Bruder fremd.
Wir haben ihn zu lange warten lassen,
wir rieten ihm nur immer: hab Geduld!
Eines Tages wird uns unser Bruder hassen,
er wird sagen: Ihr im Westen, ihr seid schuld!
Was haben uns in diesen vielen Jahren
eure Worte und Versprechen denn genützt?
Wir haben auf euch gehofft und nur erfahren,
daß ein Weihnachtsstollen nicht vor Hunger schützt.
Wir bauen an der Mauer
aktiv und resolut.
Wir bauen an der Mauer
und meinen's doch nur gut.
Wir bauen an der Mauer,
und jeden Tag ein Stück.
Wir bauen an der Mauer
mit tränenfeuchtem Blick.
Wir haben stets auf Gott vertraut
und still-ergeben zugeschaut,
ob sich das Wunder tut.
Wir bauen an der Mauer
mit Phrasen und Geschick.
150
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Wir bauen an der Mauer
mit dieser fünfzehn Jahre falschen Politik.
Und einmal jährlich ein Tag der Einheit,
mit Richard Wagner - ein Volk hat frei.
Man spricht von Einheit in Frieden und Freiheit,
als ob das nicht ganz selbstverständlich sei.
Wann wird man aufhören mit dem Bekennen
und der Wunschvorstellung: Was wir tun, ist gut!
Wann wird man die Dinge beim Namen nennen?
Warum fehlt uns denn für Tatsachen der Mut?
Warum können wir die Wahrheit nicht vertragen,
daß man Chancen, die wir hatten, glatt vertat?
Warum darf man es nicht laut und offen sagen,
daß da drüben ist ein zweiter deutscher Staat?
Man kann nicht nur von der deutschen Einheit träumen,
es ist nötig, daß man mit den andern spricht.
Doch das heißt, Kompromisse einzuräumen.
Na, wir wollen doch die Einheit. Oder nicht?
Wir bauen an der Mauer
verbissen wie noch nie.
Wir bauen an der Mauer
und einer Utopie.
Wir bauen an der Mauer
und jeden Tag ein Stück.
Wir bauen an der Mauer
mit tränenfeuchtem Blick.
Wir hören, wie's dort drüben ist,
fast jeder ist ein Kommunist,
nur unser Bruder nicht.
Wir bauen an der Mauer,
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verdummt und schizophren.
Wir bauen an der Mauer,
und das Ende ist vorerst nicht abzuseh'n.
Selbständig handeln, politisch denken
hat unser Staat uns nicht gelehrt.
Es wurde immer schon bewußt nicht aufgeklärt.
Und dann die Angst und das Erkennen:
die da drüben sind geschult und instruiert –
man wird uns geistig überrennen –
wir sind in Kürze kommunistisch infiltriert.
Das fürchtet man und ist darum dagegen.
Diese Haltung ist gefährlich doch bequem.
Dabei sind wir doch dem Osten überlegen
mit unsrem westlich demokratischen System.
Wir woll'n das ganze Deutschland neu vereinen
ohne Opfer und reale Konzeption.
Doch solange wir den zweiten Staat verneinen,
bleibt die deutsche Einheit eine Illusion.
Wir bauen an der Mauer,
und jeden Tag ein Stück.
Wir bauen an der Mauer
mit tränenfeuchtem Blick.
Und wenn die Wiedervereinigung kommt - die Mauer, die
der Osten errichtet hat, ist an einem Tag niedergerissen,
doch die geistige Mauer, an der wir beide arbeiten, wird
in zehn Jahren noch nicht abgetragen sein.
Hannelore Kaub, 1963129
129Kabarett 1946-1969, CD 3, Nr. 5; Kühn, Volker, Kleinkunststücke, Bd. 4, S. 243f.
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Was vor dreißig Jahren der Fernsehzensur zum Opfer fällt, weil das Medium Fernsehen
sich wieder einmal als verlängerter Arm der Regierungsgewalt versteht, das klingt heute
wie eine weitsichtige Offenbarung, die die Schwierigkeiten der Deutschlandpolitik der
neunziger Jahre beschreibt. Das Lied der Hannelore Kaub darf rückblickend als die
scharfsinnigste „Mauer-Analyse“ im deutschsprachigen Kabarett der Zeit bezeichnet
werden. Der Blickwinkel ist analytisch und beschreibt die vorgefundene Wirklichkeit in
ihrer doppelten Facette. Nicht nur die Mauer hat geteilt, auch der Westen gibt sich Janusgesichtig. Deutsches Tremolo bestimmt die Lieder an der Mauer der Klage und verdeckt
das politische Kalkül der Regierungen Adenauer und Erhard. Beider Blick ist bis Mitte der
sechziger Jahre - ungeachtet aller Beteuerungen stramm nach Washington und Paris
gerichtet.
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Der beredte Außenseiter - Wolfgang Neuss
Vereinnahmen läßt sich das kabarettistische Urgestein Wolfgang Neuss, der Kabarettist
mit der veritablen Metzgerlehre, nicht. Er gehört zu Berlin, die Stadt zu ihm: Der
Exzentriker ohne Beispiel mischt sich nicht nur nebenbei ein, seine Nachrichten über das
geteilte Deutschland lassen die Medien erzittern. Er ist ein Verfolger und Verfolgter, ein
messianischer Eulenspiegel und ein salbadernder Guru. Er hat bis zu seinem Tod im Mai
1989 nie die Bühne verlassen, auch nicht als zahnloser Aussteiger, als Kiffer und Fixer,
der sich am Schluß seines Lebens dem Kulturbetrieb in gezielter masochistischer
Provokation verweigert und von Sozialhilfe lebt und dies auch will. Er sympathisiert mit
einer linken SPD, die es nicht gibt, wirbt 1965 für Willy Brandt im Wahlkampf und
empfiehlt zugleich die DFU mit der Zweitstimme zu bedenken. Neuss liebt das
Anarchische und überprüft sich und das System in allen Ecken und Nischen auf
Glaubwürdigkeit. Im Berliner Abend verrät der Clown 1962 in einer privaten Anzeige, wer
der „Halstuch“-Mörder in der Fernsehserie ist. Das Fernsehpublikum von West-Berlin tobt,
die Presse ebenfalls. Es gibt Drohungen an die Adresse des deutschen Nonkonformisten,
den unnachahmlichen Schnelldenker und Schnellsprecher, den Akrobaten der
verwegenen und kruden Assoziation. Neuss - und dieses Dokument hat verpflichtenden
Charakter – demontiert 1983 in einer Talk-Show des SFB den Regierenden Bürgermeister
von Berlin und zukünftigen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker.
Außerlich gezeichnet vom Abstieg in die soziale Randzone, vollführt Wolfgang Neuss hier
in knapp bemessenen Sendeminuten - wild, exzentrisch, naiv und zudringlich-die verbale
Ausbeinung des Politikers. Gemeinplätze des politischen Jargons desavouiert der
Zahnlose, rhetorische Staffagen des Bürgermeisters zertrümmert der furiose Künstler und
Kabarettist in einer wilden Kür. Nummerntheater und gelebtes Bekenntnis vermischen
sich beispiellos. Der ins Fernsehen gerufene Clown holt aus, trifft sie alle noch mal, die
Schönredner und Möchtegerns. Der Bogen, den Neuss gespannt hat, ist mit Pfeilen
bestückt, die die Heuchler und Bigotten treffen.
Im Jüngsten Gerücht, einer Solo-Nummer über Gott und die Welt, vor allem aber über
Bonner und deutsch-deutsches Getümle, demonstriert Wolfgang Neuss ab Dezember
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1963 im Domizil am Lützowplatz monomanische Kabarettkunst. Das Feuerwerk
unverbindlicher Verbindlichkeiten, die Kaskaden des politischen Witzes machen ihn
endgültig berühmt. Die Schallplattenindustrie kümmert sich jetzt auch um das Talent, und
die Lobby beehrt die Gerüchtsverhandlung mit dem „Preis der deutschen
Schallplattenkritik“.
Das Jüngste Gerücht
(Schlagzeugwirbel, von Neuss unterlegt)
Faites votre jeu et venez au milieu!
Guten Abend! Rauchend und trällernd begrüßt Sie hier ein Bebrillter. Ich rauche sehr gern. Sie
doch auch, na klar?! Wer hat Angst vor Virginia Filter? Guten Abend! Guten Abend, auch Du
politischer Banause! Wir können hier richtig deutsch diskutieren, richtig deutsch. Wir haben
Verbandszeug im Hause. (Schlagzeug weiter.) Schön vorsichtig sein, hier im Keller. Der
Rotwein ist getauft. Schon gehört? Der Neuss ist von der SPD gekauft. Schon gehört? Pfui
Deibel! Das Schwein läßt sich mit Rompilgern ein. (Singt und johlt, Schlagzeug weiter.)
Prinzessin Irene von Holland ist nach Spanien konvertiert, nicht zu fassen. Nun können wir ja
wieder niederländische Eier nach Bayern lassen. Ein protestantischer Christ war in Madrid und
stellt fest: Franco ist kein Faschist, sondern Antikommunist. Man beachte, daß da ein
Unterschied ist. Guten Abend! Ich seh' Sie hier alle nicht ohne Rührung. Sie sehen so schön
einig aus! Einig in der Passierscheinfrage, einig mit der Bundesregierung. (Schlagzeug weiter.)
Nur keine Risikotaten ! Am 8. April nächste „Halstuch“-Folge. Ich glaube, ich muß bald mal
wieder einen Mörder verraten! (Lachen des Publikums, Schlagzeug weiter.) Übrigens: Asylrecht
kann ich hier nicht gewähren, am Schluß muß man raus aus dem Keller! Nur dadurch kann man
wiederkehren. Wir alle müssen von der „Morgenpost“ genesen, wir müssen viel mehr Bücher
lesen. Nächste Woche tagen im Reichstag die Bundestagsfraktionen - auch die CDU/CSU.
Nanu, im Reichstag? Hat man was erkannt? Im Reichstag? Fürchtet man wieder Brand(t),
Brand(t) im Reichstag? Bundesmickymaus Felix von Eckardt streut Gerüchte aus (Schlagzeug).
Adenauer liest chinesische Gedichte. Chinesisch entspricht seinem Wesen. Das soll uns erst
einer nachmachen: Mit 88 noch senkrecht lesen!
Das jüngste Gerücht, hat mir Felix erzählt: Adenauer will Marlene Dietrich heiraten. Ich sage, na
und? Muß er? - So meine Damen und Herren, spätestens an dieser Stelle beginnt die Pflicht, bis
hierher war Kür. Ach, die Höcherl-Membrane hab ich noch nicht ausprobiert. Ich klage im
Moment gegen Höcherl. Ich bin einer der wenigen Berliner Telefonbesitzer, die nicht abgehört
werden. Ich meine, so unwichtig bin ich ja nun auch nicht, nicht? Ich sehe mir jede Woche einen
polnischen Film an. Da muß man doch langsam abhörreif sein. Ich will mal ein richtiges Gerücht
machen: Vor dem Bundesverfassungsgericht 1966 steht der ehemalige Außenminister Gerhard
Schröder, Scheitel-Gerhard, my fair Schrödi, und sagt aus, daß er für seine englandfreundliche
Politik im vergangenen Jahr von Augstein bezahlt wurde. Hui, ich merke schon, akustisch haut
das alles hier noch gar nicht richtig hin. (Singt:)
Sag mir, wo die Falken sind, wo sind sie gebl... (bricht ab). Die wollen doch nach Oslo, wollen
die jetzt, ja. Und Senator Neubauer, der ist übrigens noch im Amt (lautes Lachen). Der hat eine
völlig, der hat eine völlig neue Gerüchtslinie rausgegeben: Mit städtischem Reisegeld darf im
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Ausland nicht mehr gelogen, sondern muß die Wahrheit verschwiegen werden. Also, wenn man
das einhält, dann dürfen die Falken hin, wo sie wollen. (...)130
Zur Zeit der Studentendemonstrationen agiert und agitiert „der Große Kleine Mann, der
vollkommene Kabarettist“131 selbstverständlich gegen die Schlachten im fernen Vietnam.
Er erklärt dem Krieg den Krieg, nimmt an den Zirkeln des SDS teil. Doch kopflastiges
Debattieren ohne Konkretion liegt ihm nicht. In dem autobiografischen Roman „Der Mann
mit der Pauke“ nimmt sich das Zusammtreffen des Kabarettisten mit den Spontis,
Dogmatikern und Kommunarden und Demonstranten recht amüsant aus:
„Wir saßen am Ofen. Viele andere standen, Sie sollten die Demonstration besprechen, aber was
man hörte, waren theoretische Erinnerungen an den Ursprung des Vietnamkrieges. Ich wollte
sofort abhauen. Aber die Leute, die an der Tür standen und sie versperrten, sahen so düster
aus, daß ich ängstlich sitzen blieb und ein intelligentes Gesicht machte, als ob ich den ganzen
Quatsch tatsächlich verstehen würde. Die SDS-ler erinnerten sich weiter. Sie erinnerten sich
derart intensiv an den Vietnamkrieg, daß sie daraus eine Wissenschaft machten. Man wußte
nicht, wogegen sie eigentlich waren und wofür, und inzwischen wurde der Krieg immer
schlimmer. Ich hatte mir vorgenommen, den Mund nicht aufzumachen. Außerdem hatte ich
Angst, eine unheimliche Angst, mich zu blamieren.“132
Der Protest gegen die amerikanische Kriegspolitik ist besonders in Berlin laut und
vernehmlich. Die großen Zeitungskonzerne werden von der linken Szene als
Ideologieträger dieser Politik entlarvt. „Haut dem Springer auf die Finger“ lautet das Motto,
während die Demonstranten am Verlagsgebäude des Bechtle-Drucks in Esslingen a.N.,
schwäbisch verkleinernd, „Bechtle, Bechtle - Springers Knechtle“ skandieren. Wolfgang
Neuss rechnet mit der BILD-Zeitung auf seine Weise ab. Hannelore Kaub hat schon 1963
ein ganzes Kabarettprogramm im Bügelbrett dem Massenblatt gewidmet, der Titel:
„Millionen BILD-Leser fordern“. Wenn Neuss über das Massenblatt spricht, dann ist dies
immer zugleich auch die ganz persönliche Abrechnung mit der Berliner Journaille, die den
Kabarettisten im vermeintlichen Interesse ihrer bürgerlichen Leser über Jahre mit
Verunglimpfungen traktiert. Neuss über sein verhaßtes Blatt:
Neuss spricht BILD
Das jüngste Gewerbe der Welt
Zweistimmiges Anhearing. Zum Abtreiben der Manipulation.
Nicht von Schering.
130Kabarett 1946-1969, CD 3, Nr. 8; Felix von Eckhardt lebte von 1903-1979 und war 1956-1962 Leiter des
Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 1962 - 1965 Bundesbevollmäc h tigte r für
Berlin.
131Vgl. Salvatore, Gaston, 1981.
132Ebd., S. 311.
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BILD ist eine deutsche Geschlechtskrankheit. Mit Leichtigkeit,
ohne Beschwerden kann sie in eine heilsame Zwerchfellentzündung umgemünzt
werden
Denn BILD ist magnetisch. Durch Neuss wird sie phonetisch.
Eine Köstlichkeit: offen undemokratisch-freimütig reaktionär
liberal bis zur
täglichen Mord-Anstiftung für den gelungenen Ernstfall.
Ich werde mich der einflußreichen Spalte annehmen.
Ich benutze die Plattform, um Stellung zu nehmen mit Haltung.
Ich huste den Annoncenteil. Die Anzeigen.
Wir zeigen BILD an. BILD ist guuut. Machen Sie sich ein BILD,
und Sie wissen
wie man System mit System austreibt.
In dieser Gesellschaft heißt Springer enteignen Springer beklaun.
BILD verlor seinen Starreporter Roy Clark
und damit erstmals
Malz und Hopfen. Axel enteignen heißt Schulterklopfen
(...)
BILD fordert: Radikalinskis in den Osten und Wiedervereinigung!
BILD, wir fragen DICH, warum erscheinst du täglich?
Arbeite lieber!
Wolfgang Neuss, Asyl im Domizil133
Das Kabarett von Wolfgang Neuss, seine Texte und Glossen nehmen in diesen zehn
Jahren zwischen Adenauers Alleinherrschaft, der Großen Koalition und der SPDRegierung den politischen Gegner ins Fadenkreuz. Es gibt keine vornehmen oder
zurückhaltenden Ausweichmanöver, keine Flucht in die Unverbindlichkeit. Die Mächtigen
in Staat und Gesellschaft sind dem Scharfzüngigen allemal suspekt. Neuss verwaist
schonungslos auf die braunen Wurzeln des neuen Staates, auf die Seilschaften aus der
133Neuss, Wolfgang, Asyl im Domizil, 1968, S. 101f.
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nationalsozialistischen Ära. Der Sänger klopft die Wohlstandsfassade des dicken
Ludwigs, des gepriesenen Architekten des Wirtschaftswunders ab. Was er dort findet
mieft nach Morast. Und darauf will er hinaus, der Barde, auf die Kenntlichmachung
usurpierter Macht. Strauß als Sinnbild des Herrschaftsmenschen, gezeichnet durch die
Spiegelaffäre von 1962 und schon wieder auf dem Weg nach oben. Er ist das
Schreckgepenst der kritischen Intelligenz in West-Berlin und in der Bundesrepublik. Der
ehemalige Minister für Atomfragen, der Verteidigungsminster von 1956-1962, ist immer
wieder Gegenstand der heftigsten Attacken. Neuss mißtraut dem Aufrüster und
parlamentarischen Schwindler, malt das Menetekel eines Auferstandenen an die Wand.
O Sonnenkanzler Ludwig
lange braucht der Narr sich zu besinnen.
Nie wird der Staat in dem du lebst
sagst du
'neu Krieg beginnen.
Du willst es ganz bestimmt von mir nicht hörn:
Ich würd dir so gern einmal den Krieg erklärn.
Gebt doch dem Bulln aus Rott am Inn
Zurück´s Ministeramt.
Ihr habt ihn doch nicht für die Ewigkeit verdammt.
Ihr wißt
sein Appetit auf Macht ward ihm zum Grab
die liberalen Neider knöpften ihm sein Pöstchen ab.
Schaut auf den Kerl
ein weibverschlingender Koloß
er ist für das System (in dem ihr gerne lebt)
der ideale Boß.
Ein Mann der halbe Kälber zehrt
ein Krematorium voll Fleisch und Bier
sein Leib bringt ihn nicht um.
Der Franz aus dem Moränenland hat mehr Verstand
als selber du!
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Nur er schafft aus der CD eine originale NSCDU
Faschist ist er?
Ei freilich
doch ich sage mir
ein kalter Ofen ist der Grund warum ich frier.
Was uns erwartet
das verrät uns Strauß aus erster Hand.
Rehabilitiert den Mann
er liebt sein Vaterland.
Verzeiht ihm doch
daß er zu früh euch weckt
zur Schlacht ums Abendland
die euch - ich weiß - nicht schmeckt.
j'
Ach wenn die westzonale Sau sich bunt benimmt
so seid ihr wenn sie sich eins grunzt - noch lange nicht froh.
Jedoch wenn es euch juckt
so ist das nicht ihr Floh.
Ihr seht
es kommt darauf an daß man den Vorteil nimmt
den uns die Fabrikanten vor die Füße tun
in Krokolederschuhn.
Aus dem Programm „Neuss Testament“, 1965134
134Zitiert in: Budzinski, Klaus, Vorsicht, die Mandoline ist geladen, 1970, S. 194f.
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Mit strahlendem Gesicht
In der großen Politik herrscht saturierte Selbstzufriedenheit, die nur durch die atomare
Bedrohung gefährdet werden könnte. Der Optimismus ist grenzenlos und wird durch ein
neues Zivilschutz-Konzept untermauert. Der Bevölkerung wird in breitangelegten
Kampagnen die rosigen Aussichten nach einem Atomkrieg vor Augen geführt. Überleben
läßt sich immer, lautet die obszöne Verteidigungsdevise 1965. In der strahlenden Zukunft
kann die Aktentasche, ein Stuhl, ein Tisch - so trommelt es in Faltblättern - Lebensrettung
bringen. Doch in den Ostermärschen wird das Mißtrauen gegenüber jedweder Atom- und
Rüstungspolitik Jahr um Jahr von der außerparlamentarischen Opposition bekräftigt und
in Erinnerung gebracht. Dieter Hildebrandt kritisiert seit 1962 in der Münchner Lach- und
Schießgesellschaft den Beschwichtigungsschwindel der Bonner Politik, die ihren Bürgern
die Harmlosigkeit einer atomaren Katastrophe durchaus und sehr plump schmackhaft
machen will. Der Bürger soll nach den Vorgaben der Innenpolitik lernen, mit der Bombe zu
leben. Wer auf die Straße geht, dagegen aufmuckt oder gegen die Verharmloser
protestiert, hat ausgespielt oder ist womöglich bezahlter „Agent“ aus dem Osten. Bei
Hildebrandt wird jetzt angesungen, frech, laut und auch notwendig. Es sind Lieder gegen
die Gewöhnung an das Undenkbare, gegen den Gleichschritt bürgerlicher Mitläufer.
Überleben Sie mal
Überkleben Sie Plakate, Transparente,
wo geschrieben steht, es ist nun alles aus.
Überlassen Sie das bitte dem Talente,
der Voraussicht unsrer Herrn im Bundeshaus.
Übergeben Sie suspekte Elemente,
die das sagen, der Verfassungspolizei.
Auch der Untergang der Welt war eine Ente.
Pazifismus ist nur leere Rederei.
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Weil alles halb so wild ist,
wenn man nur recht im Bild ist.
Weil man nur angeschmiert ist,
wenn man nicht informiert ist.
Weil alles halb so schwer ist,
weil alles kein Malheur ist,
weil jeder Amateur ist,
der sich dabei empört.
Überheben Sie sich sämtlicher Bedenken,
Eine Bombe kostet nicht gleich jeden Kopp,
Und die Kirche sagt, der Herr wird sie schon lenken,
Und der lenkt sie in den Osten. Na und ob...
sie aber über Oberammergau
oder aber über Unterammergau,
oder aber überhaupt nicht fällt,
ist nicht gewiß.
Bürgerin: Der Mensch von heute soll nicht höher als höchstens im Hochparterre wohnen.
1.Bürger: Warum denn das?
Bürgerin: Je höher der Stand der Technik, um so tiefer muß der Mensch wohnen.
1.Bürger: Weswegen?
Bürgerin: Damit er's nicht so weit in den Keller hat.
2. Bürger: (Zieht ein Buch heraus) „Eine moderne Fernrakete hat eine Geschwindigkeit von 28
000 Stundenkilometern. Die Flugzeit von Bratislawa bis München würde also fünf Sekunden
betragen.“
3. Bürger: Sagen Sie!
2. Bürger: Nein, sagt der Fachmann.
1. Bürger: Sie vergessen unser hochentwickeltes Warnsystem; es kann uns nichts passieren.
3. Bürger: Unser was?
1. Bürger: Warnsystem. (Zieht eine Broschüre heraus und liest:) „Bei einem drohenden Angriff
wird die Bevölkerung durch den Rundfunk über die allgemeine Lage laufend unterrichtet.“
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3. Bürger: Sagen Sie?
1. Bürger: Nein, sagt diese amtliche Broschüre.
3. Bürger: Moment, das möchte ich wissen. Ich gehe jetzt hinaus und bin die Rakete. Einer von
Ihnen spielt den Bayerischen Rundfunk, und einer zählt von 21-25, und dann schlage ich ein...
Dieter Hildebrandt, 1962135
In den Ostermärschen der fünfziger und sechziger Jahre wird das Mißtrauen gegenüber
der „Verteidigungs“-, Atom- und Rüstungspolitik Jahr um Jahr von der
außerparlamentarischen Opposition bekräftigt und in Erinnerung gebracht. In der
„Kampagne für Abrüstung“ - die Vorläuferin der Ostermarsch-Bewegung - organisieren
sich bürgerliche und sozialistische Intellektuelle, Kriegsdienstverweigerer, Mitglieder von
SPD und DGB und auch die Naturfreundejugend. Der nur locker formierte oppositionelle
Zusammenschluß versteht sich Mitte der sechziger Jahre zugleich als Forum für die
Gegner einer Notstandsgesetzgebung und reklamiert die Anerkennung der DDR. Trotz
einer noch weitgehend stabilen Wirtschaft bis 1967, ist die Stimmung eher kritisch als
optimistisch. Die Hatz auf verdächtige Sozialisten und Kommunisten verstärkt sich wieder
einmal. Was Senator McCarthy mit der Verfolgung Andersdenkender vorexerzierte, findet
in Westdeutschland durchaus Nachahmer. Aber nicht nur politisch stehen die Zeichen auf
Sturm - die CDU-Mehrheiten bröckeln -, mit dem Gespenst von der feindlichen und
atomaren Bedrohung versucht das christlich-liberale und später christlich-soziale
Regierungsbündnis nach bewährtem Freund-Feind-Schema von eigenen Schwierigkeiten
abzulenken. Die Bevölkerung, die der atombestückte Bundeswehr „entbehrt“, wird
weiterhin auf die Apokalypse eingeschworen. Günstige öffentliche Kredite für die
Zwischenfinanzierung privater Atombunker im heimischen Garten sollen den Eindruck
erwecken, als sei das atomare Inferno prinzipiell und mit optimalen Chancen zu
überleben. Das Schüren tiefsitzender Ängste gehört zur Strategie im Feldzug gegen den
östlichen Feind. Die Arbeitsämter werden für den Fall der Fälle wieder mit
Lebensmittelmarken ausgestattet, die in der Stunde X, merkwürdig genug, zur Verteilung
kommen sollen. Dieter Hallervorden macht sich als Kopf der Wühlmäuse in diesem
135Hildebrandt, Dieter, Was bleibt mir übrig, 1989, S. 144ff.
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verteidigungstechnischen Sinne mit einer Assistentin seine Gedanken. Man schreibt das
Jahr 1965.
Maske in Gas
(Hallervorden: ) Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sie wundern sich vielleicht, warum
ich - von Ihnen aus gesehen von links außen - operiere. Aber es handelt sich um eine sehr
delikate Angelegenheit, die von hinten rum an das Volk gebracht werden muß. Kurzum, hier
erhalten Sie Ihre Überlebenschance im Falle des Atomkrieges, wie sie die BILD-Zeitung vom
10. Juli 65 verspricht, eine Überlebenschance für 4250 Pfennige. Meine MTA, meine
Medizinisch-technische -Assistentin
(Sie): N´abend
(Hallervorden:)...wird jetzt einige Möglichkeiten Ihren Pupillen preisgeben. Denken Sie zunächst
mal an so verschieden kleine Dingelchen, die Sie sich laut Gesetz ab 1.1.68 sowieso anschaffen
müssen. Hier zunächst dieses zauberhaft süße kleine Gasmaske Modell...
(Sie): Atomtod
Hallervorden (korrigiert): Atemnot, mit der Sicherungsklappe „Schluckauf“. Also die ziehen Sie
sich über den Kopf. Die ist elektronisch geprüft für höhere Ansprüche, von äußerster
Sensibilität, für ganze 15 Mark. Also mal ehrlich, 15 Mark, dafür kriegen Sie sonst keine
Kleidungsstücke für, nicht mal neu Hut oder so. Und manch einer hat sowieso nicht so ein
schönes Gesicht, dem kommt das dann zugute. Und dann hätten wir hier noch diesen (? C. H.)
mit der Notverpflegung für 20 Mark, sozusagen die Henkersmahlzeit, nicht? Da ist also drin:
Kohlrüben, Brom, Kohlrüben, Schlaftabletten, Kohlrüben, Kaugummi, Kohlrüben, Kohlrüben,
Kohlrüben, Kohlrüben, Kohlrüben. Oh? Kohlrüben! Also eine sehr phantasievolle
Zusammenstellung für den Feinschmecker. Und dazu bekommen Sie noch für 5 Mark einen
Verbandskasten und der Rest geht drauf - ich meine, für ein paar Kleinigkeiten geht der Rest
drauf. Gratis dazu bekommen Sie ein nettes kleines Büchelchen, versiegelt, erst nach Eintreten
des Ernstfalls zu lesen, mit dem wunderschönen Titel: „Zu spät“. Und außerdem ist dann noch
vorgesehen, daß Sie sich in 10 Übungsstunden auf den Ernstfall vorbereiten. Nun werden Sie
fragen, warum gerade 10 Stunden? Mal ehrlich: So lange dauert es doch schon, bis Sie das
Vaterunser wieder können, nicht? Sollten Sie sich jetzt immer noch nicht entschließen können,
den Dingen geistig näherzutreten, dann werde ich die Dinge jetzt mal bei ihrem richtigen Namen
nennen. Da sag ich nämlich: Luftschutz, Löschsand, Volksgasmaske, Phosphorregen, statt:
(Sie:) Selbstschutzbau, Vorsorge, Inspektion
(Hallervorden:) Heissa, das ist ein kleiner Unterschied, oder? Na, was ist denn, der Herr? Wollen
Sie nicht freudestrahlend zustimmen? Bitte? Sie sind schon 66? Da haben Sie unverschämtes
Schwein gehabt, denn selbstschutzverpflichtet ist man nur bis 65. Für alles, was über 65 ist,
möchte ich jetzt sozusagen außer meiner sonstigen Tätigkeit bei den deutschen
Wochenschauen, mal nen ganz lieben Rat geben: Nehmen Sie ein großes weisses Tischtuch
übern Arm, in die andere Hand nehmen Sie einen schönen großen Blumenstrauß, und dann
gehen Sie schon mal g-an-n-zz l-ang-sa-m -mm in Richtung Friedhof.
Dieter Hallervorden, vorgetragen bei den „Wühlmäusen“136
136Kabarett 1946-1969, CD 5, Nr. 5; Kühn, Volker, Kleinkunststücke, Bd. 4, S. 228.
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Unziviles - Agitation und APO-Kabartett
Ein Blick in eine Anthologie ausgewählter „Primanerlyrik-Primanerprosa“ aus dem Jahre
1965 zeigt den politisierten Konaflikt zwischen der Väter- und Söhnegeneration. Eine
gemeinsame Sprache gibt es nicht mehr. Die Jüngeren protestieren vernehmlich gegen
die Gleichgültigkeit der Eltern, die das „Dritte Reich“ zugelassen oder mitgetragen haben
und jetzt im Wohlstandsrausch weiteres Unrecht dulden: Vietnam. Viele Jugendliche und
Kinder fühlen sich betrogen und wollen auf der vorgezeichneten Einbahnstraße nicht
mitziehen. Sie fordern Rechenschaft von den Vätern.
Vorwurf
Uns stellt ihr
euch
als Helden dar.
Jeder von euch will
in den Krisenjahren
ein Widerständlergewesen sein.
Im stillen Kämmerlein
so viele Jahre durch.
So frag ich
mich,
wer war es, der
gejubelt, der ja gesagt
und zugestimmt?
Ihr!
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Ihr alle,
angefangen bei euch,
die ihr doppelt mir
an Alter heut' überlegen.
Alle seid ihr schuldig,
nicht nur wenige;
nicht bloß einige.
Alle!
Primanerlyrik 1965137
Aber nicht nur in der „Schubladenlyrik“ der jungen Generation artikuliert sich Spannung zu
den Vätern. Auch im populären Schlager der Zeit wird die Krise sinnenfällig - wenigstens
hin und wieder. Obwohl der Schlager meist der ideologischen Kaschierung und
Vernebelung verpflichtet ist, gibt es Belege, die, konträr, seine Aktualität und
Zeitgenossenschaft dokumentieren. Wie auf der Bühne des Kabaretts vermag die
ansprechende und raffinierte Komposition im Zusammenspiel mit lebendigen oder
zeitnahen Texten eine treffende Zustandsbeschreibung abzulichten. Dem Hazy
Osterwald-Sextett („Kriminaltango“) glückt 1966 mit Der Fahrstuhl die emotionale Nähe
zum Gegenwartsgeschehen, zur politischen Realität in der Republik und zeigt
Bruchstellen auf. Der Schlager ist in die erste Rezession der Republik plaziert, das
Vertrauen in den ungebrochenen wirtschaftlichen Boom erstmals erschüttert. Die Große
Koalition fungiert als Krisenmanagerin. Kurt Feltz, der Texter, hat Risse im System mit
Osterwald zum Klingen gebracht.
Der Fahrstuhl
Der Fahrstuhl nach oben ist besetzt
Sie müssen warten
Sie können zum Weg nach oben jetzt
137Zitiert in: Schmid, Armin (Hrsg.), 1965, S. 72.
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erst später starten
Der richtige Fahrstuhl für Sie
fährt unter Umständen nie
Der Fahrstuhl nach oben ist besetzt
Sie müssen warten
Sie sind kein kleiner Mann, Sie sind kein großer Mann
Sie sind die Mitte
Doch ab und zu stehn Sie dem Schicksal vis-ä-vis
mit einer Bitte
Sie denken, so dumm kann ja ich nun auch nicht sein
ich steig mal in den Karriereaufzug ein
Der Fahrstuhl nach oben ist besetzt
Sie müssen warten
die lassen zum Weg nach oben jetzt
die andern starten
Sie haben da keine Schuld
drum haben Sie nur Geduld
Der Fahrstuhl nach oben ist besetzt
Sie müssen warten
Sie möchten auch einmal laut rufen: hörn Sie mal
und Leute jagen
Sie möchten Schritte tun, wenn's sein muß Tritte tun
und nicht erst fragen
Sie möchten fühlen, daß Respekt Sie rings umgibt
Sie möchten können, was der andre heut noch übt
Der Fahrstuhl nach oben ist besetzt
Sie müssen warten
die Herren von der Wirtschaft geben Schecks
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als Eintrittskarten
Minister mußt du schon sein
sonst gibt dir keiner 'nen Schein
Der Fahrstuhl nach oben ist besetzt
Sie müssen warten
Text: Kurt Feltz, Musik: Peter Laine, 1966138
Als das iranische Kaiserpaar im Frühsommer 1967 die Bundesrepublik und West-Berlin
besucht, kommt es zu gewalttätigen Ausschreitungen. Angeheuerte „Jubel-Perser“ auf der
einen Seite und eine brutal zuschlagende Polizei auf der anderen heizen die Stimmung in
Berlin an. Eine Vermittlung zwischen Demonstranten und Ordnungskröten ist aufgrund der
militanten Stimmung nicht möglich. Am Abend des 2. Juni wird der Germanistik-Student
Benno Ohnesorg von einer Polizeikugel hingestreckt. Polizeiobermeister Karl-Heinz
Kurras gibt um 20 Uhr 30 die beiden tödlichen Schüsse ab. Der Journalist Jürgen
Henschel erinnert sich:
„Wir Journalisten machten unsere Arbeit, angesteckt von der allgemeinen Stimmung. Ich
pendelte hinter, vor und zwischen den Polizeilinien. So kam ich auch in den Garagenhof, wo ein
kopfverletzter Jugendlicher gerade von einer jungen Frau, die offenbar nicht zu den
Demonstranten gehörte, versorgt wurde. Ich wechselte mit der Frau einige Worte, machte eine
Aufnahme, auch noch, als der Jugendliche auf einer Trage ins Sanitätsauto gebracht wurde.
Spät in der Nacht erst endeten die Auseinandersetzungen. Am nächsten Morgen teilte der
Rundfunk mit, daß ein Jugendlicher bei dem Polizeieinsatz `zum Schutz der öffentlichen
Ordnung´ ums Leben gekommen war.“139
Kaum ein Jahr später wird der intellektuelle Kopf der Studentenbewegung, Rudi Dutschke,
am Gründonnerstag 1968 von Josef Bachmann durch Kopfschuß schwer verletzt. Tage
zuvor hat die Deutsche Nationalzeitung (22.3.68) zur bedenkenlosen Hatz auf den
Studentenführer aufgerufen. „Stoppt Dutschke jetzt! Sonst gibt es Bürgerkrieg“ - so lautet
die Schlagzeile im braunen Kampfblatt. Bachmann liest den Aufruf und setzt das
Gelesene naiv und bedenkenlos in die Tat um. Die Saat der Presse geht auf, und ein
kleiner Teil der Studenten wird sich in der Folgezeit weiter radikalisieren, bis hin zur
folgenschweren Abirrung des RAF-Terrors.
138Zitiert in: Buhmann, Heide, Liederbuch der Rock- und Songpoesie, Bd. 2, 1993, S. 198.
139Henschel, Jürgen, in: Siepmann, Eckhard (Hrsg.), Heiss und kalt, 1988, S. 569.
167
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Wolf Biermann findet in diesen Schreckenswochen als erster zu Wort und (künstlerischer)
Stimme. In Ost-Berlin komponiert und textet er ein Lied, das Protest und Revolte zugleich
ist. Das Attentat versteht er wie die Linke nicht als bedauerlichen Einzelfall. Es ist ihm
Indiz für eine aus dem Ruder gelaufene Politik, die in Bonn zum Beispiel durch den AltNazi Kurt Georg Kiesinger bestimmt wird, in Berlin durch den Regierenden Klaus Schütz.
Dessen verächtliche Sentenz über demonstrierende Studenten („Ihr müßt diesen Typen
nur ins Gesicht sehen“) erlangt unrühmliche Popularität.
Drei Kugeln auf Rudi Dutschke
1
Drei Kugeln auf Rudi Dutschke
Ein blutiges Attentat
Wir haben genau gesehen
Wer da geschossen hat
Ach Deutschland, deine Mörder!
Es ist das alte Lied
Schon wieder Blut und Tränen
Was gehst Du denn mit denen
Du weißt doch, was Dir blüht!
2
Die Kugel Nummer Eins kam
Aus Springers Zeitungswald
Ihr habt dem Mann die Groschen
Auch noch dafür bezahlt
Ach Deutschland, deine Mörder!
3
Des zweiten Schusses Schütze
Im Schöneberger Haus
168
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Sein Mund war ja die Mündung
da kam die Kugel raus
Ach Deutschland, deine Mörder!
4
Der Edel-Nazi Kanzler
Schoß Kugel Nummer Drei
Er legte gleich der Witwe
Den Beileidsbrief mit bei
Ach Deutschland, deine Mörder!
5
Drei Kugeln auf Rudi Dutschke
Ihm galten sie nicht allein
Wenn wir uns jetzt nicht wehren
Wirst Du der Nächste sein
Ach Deutschland, deine Mörder!
6
Es haben die paar Herren
so viel schon umgebracht
Statt daß sie Euch zerbrechen
Zerbrecht jetzt ihre Macht!
Ach Deutschland, deine Mörder!
Es ist das alte Lied
Schon wieder Blut und Tränen
Was gehst Du denn mit denen
Du weißt doch, was dir blüht!
Wolf Biermann, 1968140
140Biermann, Wolf, in: Budzinski, Klaus, Vorsicht, die Mandoline ist geladen,1970, S. 213f.
169
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Frankfurt, 15.5.1968
Du hast nicht nur drei Kugel verdient, du hast vier Kugel verdient. Leider, eine hat gefehlt. Aber
du sollst nicht verrecken sondern dein ganzes Leben Krüppel bleiben und leiden, leiden...Als
kommunistisches Schwein und Verräter hast du es verdient.
Aber dann verschwinde aus Deutschland, Verräter. Hau ab nach Moskau, du kommunistisches
Schwein!
P.B
Bielefeld, den 16.4.68
Lieber Rudi!
HAU AB AUS DEUTSCHLAND!
IHR ROTEN AHNT NOCH NICHTS VON EUREM GLÜCK:
BACHMANN HATTE EINE SCHLECHTE WAFFE. MEINE MÄNNER HABEN BESSERE
GUTE BESSERUNG
Heinrich M
GENANNT:“GESTAPO MÜLLER“
Drohbriefe nach dem Attentat auf Rudi Dutschke
Die allenthalben zu konstatierende Konfrontation zwischen Staatsmacht und
studentischer Revolte provoziert die Kabarettisten in Deutschland. In der politisierten
Auseinandersetzung müssen sie Stellung beziehen. Sie werden befragt nach ihrer
Einstellung zu den Ereignissen, nach den Grundsätzen ihrer Parteilichkeit.
Unentschiedenheit ist nicht möglich, „bürgerliches“ Lavieren unpopulär. Ansonsten eher
literarisch orientierte Kabarettisten wie Hanns Dieter Hüsch bekennen sich jetzt zur
Veränderbarkeit der Gesellschaft. Die Botschaft ist verbindlich. Die Hoffnung liegt in einer
demokratisierten Gesellschaft, sozialistischen Zuschnitts ganz gewiß, vielleicht auch
170
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kommunistisch. Verismus siegt über obsolete Innerlichkeit. Es werden Utopien formuliert,
Entwürfe gegen die Verkrustung entstehen. Der Kabarettist und Pädagoge Jürgen
Henningsen formuliert 1967: „Das Kabarett ist ein Instrument der Aufklärung im
klassischen Sinn: „Durch Mündigkeit soll Freiheit realisiert werden, wobei geistige und
politische Freiheit als Einheit verstanden werden. Dieses gerade in Deutschland immer
wieder suspendierte Programm scheint heute trotz aller reaktionären Tendenzen eine
echte Chance zu haben, zumindest bei einer aktiven Minorität.“141
Heißer Herbst
Komm heißer Herbst und mache
Die Bäume alle rot
Komm heißer Herbst und lache
Die Herrschenden lausetot
Verändre unsre Reime
Denn Kunst tut nicht mehr not
Grad wie die großen Bäume
Mach unsere Träume rot
Komm heißer Herbst und zeige
Das Fallen der Blätter im Wind
Daß sich kein Mensch verneige
Vor denen die oben sind
Verändre unsre Lieder
Die Herrschenden zittern schon
Komm heißer Herbst komm wieder
und mache Revolution
141Henningsen, Jürgen, 1967, S. 77.
171
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Oktober soll es werden
Oktober soll es sein
Des Menschen Not auf Erden
Sie soll zum Himmel schrein
Komm heißer Herbst und bringe
Weil ja sonst nichts geschieht
Den Sturm zu uns und singe
Mit uns ein neues Lied
Ein Lied das alle hören
Im Elend und in Gefahr
Und sich mit uns verschwören
Im Herbst und immerdar
Komm heißer Herbst komm wieder
Die Herrschenden zittern schon
Verändre unsre Lieder
Und mache Revolution.
Hanns Dieter Hüsch, 1968142
Das utopische Moment ist nicht zufällig zentrales Anliegen in dem Bekenntnis-Lied. Die
Hoffnung gründet sich in der Annahme, der historische Augenblick zur Revolutionierung
der Gesellschaft sei jetzt, Ende der sechziger Jahre, gekommen. Selbstbestimmung,
antiautoritäre Erziehung, Ablösung der Ordinarien-Universität durch basisdemokratische
Strukturen, das sind die Träume in der linken Szene. Patriarchalische Strukturen kommen
zwar nicht (immer noch nicht) zum Einsturz, doch das im Modell vorangetriebene Denken
und Handeln hat Folgen für die kommenden beiden Jahrzehnte zwischen 1970 und 1990.
142Zitiert in: Kühn, Volker, Kleinkunststücke, Bd. 4, S. 327f.
172
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Rückblick 1993:
Von Zweifeln geplagt, der Bauch gerundet
Die 68er-Generation feiert silbernes Jubiläum
25 Jahre nach den 68er Studentenunruhen: Was ist davon übriggeblieben? Unter diesem Tenor
diskutierten im Frankfurter Römer die alten Kontrahenten von damals die heutige Situation. Und
viele kamen- zum Teil auch im Edel-Gammellook und mit Fettpölsterchen, die sich im Laufe der
Jahre angesammelt hatten. Eine Nostalgie-Veranstaltung von Protestlern, die sich feiern
wollten? Mitnichten. Werner Schneider etwa, damals in der APO, stellt den Gegenwartsbezug
her: „Es ist eine Art Kulturkampf um 68 ausgebrochen, eine Generalabrechnung.“
Was er meint, sind politische Angriffe Konservativer, wie etwa der Vorwurf, die 68er hätten mit
der antiautoritären Erziehung durch das Nicht-Anerkennen von Autorität zum Aufkommen
Rechtsradikaler beigetragen. Die Frage, was ein ehemaliger 68er heute als Position
dagegenhalten könnte, beschäftigte die Diskutanten und über 1000 Besucher bis in die Nacht.
Es war eine Suche nach der Antwort auf die Frage: Was ist links? Ist es links, wenn Joschka
Fischer selbstkritisch meint, daß das Streben nach Utopien „uns in eine tiefe Krise gestürzt“
habe?
Alexander Gauland (CDU), Ex-Chef der Wiesbadener Staatskanzlei unter Walter Wallmann, hat
so gut wie keine Probleme mit vielen Positionen Fischers. Aber „ich frage mich, was daran noch
links sein soll“. Ein Beispiel: Würde man die damalige Technologiegläubigkeit der Linken als
Maßstab anlegen, wäre „der Bundesverband der deutschen Industrie links“ - und Fischer
konservativ.
Es gab viel Selbstkritisches zu hören, etwa zur zeitweiligen „Schizophrenie“ im politischen
Denken. Ein Beispiel nannte Alt-Sponti Daniel Cohn-Bendit: Um seinerzeit überzeugend gegen
die Militärmacht USA zu demonstrieren, hätte man nicht mit dem Stalinismus in Vietnam zu
sympathisieren brauchen - Blindheit auf dem linken Auge.
Es blieb Cohn-Bendit vorbehalten, mit seinem moralischen Rigorismus in der JugoslawienDebatte fast die Veranstaltung zu sprengen: Während er vehement für ein militärisches
Eingreifen auch Deutschlands eintrat, hatte Fischer aus historischen Gründen damit seine
Probleme.
Klaus Jürgen Schröder, Südwestpresse Ulm, 24. 3. 1993
Ohne die Radikalität des Protestes von 1968 lassen sich die Teilerfolge der
Friedensbewegung im kritischen Jahr 1983 kaum denken, ohne den damaligen Aufbruch
173
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hätte die Protestkultur bei der Abrüstungsdebatte sicherlich ein anderes Gesicht
bekommen. Der Irrweg der letztlich „unpolitischen“ RAF-Genossen ist dabei mitzudenken.
Von deutlich aggressivem Zuschnitt im Kontext der Wohlstands- und Kapitalismuskritik ist
Mitte der sechziger Jahre der Floh de Cologne, das satirisch-politische Chaoten-KabarettEnsemble aus Köln. Die Truppe um Dieter Klemm versteht sich ohne Ausflüchte und
Hintertürchen dezidiert als ein systemkritisches APO-Kabarett, das gegen saturierte
Bequemlichkeit und auch die externe Gewalt im Vietnam-Krieg laut und vernehmlich
opponiert. Die Presse reagiert auf die gewagten Auftritte immer wieder mit Kopfschütteln.
Den Kritiker des Reutlinger Generalanzeiger packt 1969 anläßlich des 7. Programms das
schiere Entsetzen und er ruft nach dem Staatsanwalt. So hat der bestallte Kritiker nicht
gewettet. Er sorgt sich um die „guten“ Sitten und den „guten“ Geschmack. Der Floh ist
angetreten, die Große Koalition (1966) von CDU/CSU und SPD zu „entlarven“ und muß
sich nach und nach die begrenzte Einflußmöglichkeit durch die kabarettistische Agitation
eingestehen. In einem Selbstbekenntnis der Truppe aus dem Jahr 1969 heißt es lapidar:
„Mit dem bürgerlichen Kabarett kann man bei dem bürgerlichen Publikum als Sozialist
nichts erreichen. Man kann die Kassen füllen, man kann den Schreiberlingen der
Feuilletonspalten zu erhöhtem Zeilenhonorar verhelfen, man kann sich auf den Kopf
stellen und „Sozialismus“ brüllen, das Publikum wird klatschen, weil es in dieser Art noch
keiner gesagt hat. Man will eine scharfe Kritik genießen, sich anbrüllen lassen und das
Ganze eine Spur zu einseitig finden. Diese Leute lassen sich sogar anpissen, wenn es
formal gut gelöst wird.“143
Die neue, auch verzweifelte Rache des Flohs lautet zum Beispiel im Programm für die
Reutlinger Tonne: „Antiautoritär vom Scheitel bis zum Pimmel.“ Die Provokation hat sich
als Ultima ratio und anstelle des sanften oder aufklärerischen Diskurses in die
Theatergewölbe eingeschlichen. Die Agitation der Hoffnungslosen gipfelt in juristischen
„Grenzüberschreitungen“, im Affront gegen das bürgerliche Wertesystem und -korsett:
„Zieht in leerstehende Häuser und Wohnungen ein! Treibt vorehelichen
Geschlechtsverkehr oder Ehebruch! Stehlt die Grundnahrungsmittel, die ihr braucht!“ Im
143Floh de Cologne, 1971, S. 61.
174
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biederen Schwaben, im stillen Mekka von Deutschlands Millionären, in der Friedrich ListMetropole Reutlingen klingt das so:
wenn den Blinden das Astloch im Zaun stört
wenn Frau Schulze dem Minirock-Mädchen mal ordentlich den Hintern versohlen will
wenn Herr Schulze dem Langhaarigen mal gehörig den Marsch blasen will
wenn Frau Mayer den Studenten in ein Arbeitslager schicken will
wenn Frau Müller den Lustmörder lynchen will
wenn Herr Schmidt dem Rocker mal ordentlich eins in die Fresse hauen will
wenn Müllers Aggressionen Ruhe stiften
wenn Mayers Sadismus Ordnung schafft
wenn Schulzes Verdrängungen für Sitte und Anstand sorgen
wenn die eigenen verbotenen Träume durch Menschenopfer beschwört werden sollen
wenn die Moral ihre Lustmorde braucht, um sich zu rechtfertigen
wenn die lüsterne Beschreibung des Lustmords zugleich die Todesstrafe fordert
wenn die Sühne am Lustmord zur Lust am Mord wird
wenn sich also jemand für sein schlechtes Gewissen an anderen rächt, so geschieht Recht
wenn das Recht zum Recht auf Sadismus wird
dann ist Himmelfahrt
dann besuchen wir Kardinal Spellmann
sitzend zur Rechten Gottes
umringt von den amerikanischen Heerscharen
dann besuchen wir die Päpste
175
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wenn sich die Hirten erheben
sitzend zur Linken Gottes
stapfen sie durch Milliarden
abgetriebener und verhungerter Kinder
Frau Müller, Sie haben die Erlaubnis,
den Lustmörder zu lynchen.
Wo fangen Sie an?
Frau Müller, wo fangen Sie an?
Frau Müller, wo fangen Sie an?
Würden Sie ihn zuerst nackt ausziehen?
Würden Sie ihn nackt ausziehen?
Frau Müller, an welcher Stelle fangen Sie an?
An welcher Stelle fangen Sie an?
Frau Müller, wo fangen Sie an
Herr Müller, es geht um die Freiheit.
Sie haben den Befehl, diesen Vietcong zu foltern.
Wo fangen Sie an?
Herr Müller, wo fangen Sie an?
Herr Müller, wo fangen Sie an?
Würden Sie ihn zuerst nackt ausziehen?
Würden Sie ihn nackt ausziehen?
Herr Müller, an welcher Stelle fangen Sie an?
An welcher Stelle fangen Sie an?
Herr Müller, wo fangen Sie an?
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Floh de Cologne, 1969144
Die Revolte-Lieder sind in ihrer Mehrzahl von literarisch gewiß nur mittlerer Qualität. Der
Protest gegen die Gewalt des bestehenden Systems ist oft ein ungelenker anarchischer
Aufschrei. Dennoch argumentiert der Floh verhältnismäßig stringent. Es geht nicht (nicht
nur) um Zerschlagung der verfestigten Strukturen. Die neue Gesellschaft und die Utopie
werden gleichzeitig angemahnt. Die Kabarett-Analytiker in den Zeitungen übersehen das
gelegentlich und lassen sich von der analen Vulgarität (wie gewünscht) einschüchtern
oder blenden. Anders als Dieter Süverkrüp, der mit dem Floh 1968 eine LP
herausbringt145, verkriecht sich die provinzielle Journaille hinter den Postulaten der Ruhe,
Ordnung und Sauberkeit.
Floh de Cologne im Gespräch
Aber ihr wart doch schon ein relativ etabliertes Kabarett?
Kabarett schon, aber ohne daß wir es wirklich sein wollten. Wir haben mit Studenten-Kabarett
angefangen im Rahmen der Kölner APO, SDS-Linie. So Stichworte: Wir sind alle mal nach
Berlin gefahren, haben ordentlich Rabatz gemacht auf dem Kudamm. Haben Marx bis Marcuse
gelesen und das so verarbeitet. Haben sozusagen das Ding „für die APO“ gemacht.
Trotzdem hattet ihr gute Resonanz bei den Schlipsen?
Ja, ging los wie die Tiere. Die waren alle gewöhnt an „Lach- und Schießgesellschaft“ und die
Berliner „Stachelschweine“ im Fernsehen. Und die war'n also brav und wir war'n also frech ...
Und so saßen wir da, wir hatten auch 'n festen Spielort in Köln. Da paßten so hundert Leute
rein, die zweimal in der Woche kamen. Da kamen die ersten Bürger nach Feierabend hin, 'ne
Pulle Sekt, und dann ließen sie sich von uns alles erzählen, lachten, freuten sich, „nette Jungs“.
Und ihr habt denen „schön radikal“ einen vorgekaspert?
Ja. So hübsch hat das noch keiner gesagt. Leider ist das falsch. Das ist die Reaktion gewesen
bei den Bürgern und ihrem Kabarett.
Ihr habt Schock-Therapie betrieben, das hat funktioniert, und die Leute sind euch weggelaufen
67/68.
144Ebd., S. 64f.
145 Ihr Titel: „Vietna m“.
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Das Ding hieß „7. Programm“ und war 'n absolutes Anarcho-Programm! Haben da auf der
Bühne rumgewichst und uns ausgezogen, und da steht auch 'ne schöne Kritik irgendwo in
Reutlingen, wo der Bürgermeister unter Protest den Saal verlassen hat und alle anderen mit.
Das war so die Linie: das Bürgertum aus dem Saal zu prügeln, und wenn der Saal dann leer ist,
könnten wir uns überlegen, wen wir uns reinholen. So war auch die ganze Systemkritik damals
angelegt: erst mal alles kaputtmachen und dann gucken, was wir danach machen.
Das war gut zu erklären aus der Zeit. Ja, und heute haben wir uns überlegt, für wen wir spielen
wollen. Wir haben gedacht, junge Leute, Lehrlinge, Arbeiterjugend, die ändern sich noch im
Kopf. Die sind noch nicht so kaputt und konsumorientiert wie die älteren Kollegen. Also erst mal
am besten den Spiel-Ort aufgeben, die kommen nicht dahin, wo du bist, sondern die mußt du dir
suchen.146
Schmutz aus Köln
Peinliches Gastspiel in der Reutlinger Tonne
Unter dem Vorwand, ein kabarettistisches Programm zu bringen, haben fünf Männer aus Köln
am Wochenende in der Reutlinger „Tonne“ kübelweise Schmutz und Dreck über das Publikum
gegossen. Ihre Ausdrücke, Wortbilder und Vergleiche muten einen wie eine Blütenlese aus
Kaschemmen an, in denen der menschliche Abschaum verkehrt.
Das Programm dieses fragwürdigen Quintetts, das sich „Floh de Cologne“ nennt, war zudem so
bar jeden Geistes, Witzes und künstlerischer Qualität und so voller Plattitüden und
Ungereimtheiten, wenn es „politisch“ wurde, daß jeder Vergleich auch mit der denkbar
niedrigsten künstlerischen Produktion hinken müßte. Was da geboten wurde, war ganz schlicht
und einfach Schmutz und Dreck aus Köln, für den Alf André, Leiter der „Tonne“, hier die Bühne
freigab. Diese Abschaum-Pornographie wurde zudem noch als Textbuch an Jugendliche
verkauft!
Hut ab vor denen, die nach den ersten Schweinereien und Unflätigkeiten dieser „Flöhe“ (ein
treffender Name, denn Flöhe sind Ungeziefer) die Tonne verließen, weil ihnen dieser Schmutz
vermutlich einen Brechreiz verursachte. Der Protest des Publikums wurde am Premierenabend
auch sonst deutlich: Keine einzige Hand erhob sich, als die letzte Jauche verspritzt war. Kein
Beifall.
Weil es jugendgefährdend wäre, gegen Sitte und Anstand verstoßen und unsere Leser anekeln
würde; können hier keine Textproben gebracht werden. Die Feststellung muß genügen, daß in
der „Tonne“ verletzt, beleidigt und beschmutzt wurde, was nur denkbar ist: Der gute
Geschmack, jede Moral, die Frauen, die Kirche, der Staat und last not least Bundeskanzler Kurt
Georg Kiesinger. Zu einer anderen Darstellung als etwa eines Koitus oder des Onanierens auf
offener Bühne zeigten sich diese Leute unfähig. Ihre einzige Fähigkeit bestand darin,
ohrenbetäubend laut zu sein.
Hier hat der Kritiker zu schweigen. Hier haben Staatsanwalt, Richter und
Jugendschutzbehörden tätig zu werden, und zwar schnell. Am kommenden Wochenende soll
dieser „Floh“-Schmutz nämlich über Tübingen ausgegossen werden. Auch von einer
subventionierten, mit Steuergeldern finanzierten Bühne herab!
E.G. Schäfer, Reutlinger Generalanzeiger, 24. März 1969
146Abdruck in: Peinemann, Steve B., 1980, S. 22f.
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Mit dem Wechsel von der Großen Koalition zur sozialliberalen Regierungsmannschaft im
September 1969 hat sich auch das Selbstverständnis vieler Kabarettisten geändert.
Einige Künstler setzen auf die neuen politischen Akzente, doch ist ihnen damit gleichzeitig
der Boden zur Kritik an den Bonner Verhältnissen entzogen. Willy Brandt formuliert mit
Egon Bahr die neue Deutschland-Politik und mahnt zur Versöhnung, die Akteure der Ära
Adenauer hat es auf die Oppositionsbänke verschlagen. Das ist für das Strauß- und CDUfixierte Kabarett in Deutschland nicht eben lustvoll, weil der Stein des Anstoßes zunächst
im Abseits liegt. Zu kabarettistischem Mißmut ist freilich kein ernstlicher Anlaß: im
sozialdemokratischen Frühling wachsen die Skandale heran, der Sauerteig fürs gute
Kabarett. Mit den Berufsverboten, die sich die Regierung Brandt leichtfertig aufschwatzen
läßt, mit der Einengung der Grundrechte im RAF-Fieber wuchert unversehens wieder
neuer Stoff heran. Willy Brandt taugt nicht als Figur fürs Kabarett, allenfalls für die
zahlreichen Stimmenimitatoren, die sich schon lange an Herbert Wehner und dem
Bayern-König Strauß üben. Der Konsens über das, was Kabarett soll und was es kann,
schwindet. Die Kabarettisten sprechen selbstkritisch von Krise, die Revolution ist erst
einmal vertagt. Hannelore Kaub vom Bügelbrett beschreibt die Krise in der Krise.
Das Kabarett ist tot, es lebe das Cabaret!
Wir können noch so bös-satirisch
bis zum Tag St. Nimmerlein
gegen Notstandsrecht und Springer
und den Krieg in Vietnam sein.
Gegen atomare Rüstung,
gegen Staat und Parlament,
das perfekte Koalieren,
gegen das Establishment.
Gegen Waffenlieferungen
an das Pattakos-Regime Kabaretts, die dürfen so was.
Links zu sein ist legitim!
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Wir genießen Narrenfreiheit.
Unsereins, der ist für die
mit dem ungeheuren Phlegma
das bequeme Alibi.
Ihr Do-it-yourself-Ersatz,
d.h. alles, was wir brachten,
was wir tun und was wir machten,
war umsonst und für die Katz.
Unsretwegen ist kein Kanzler
durch die Hintertür entwichen.
Unsretwegen wurde noch kein
Polizeichef suspendiert.
Unsretwegen hat Justitia
sich nie auf so jämmerliche
Art und Weise bloßgestellt
und bis auf die Haut blamiert.
Wir hab'n weder Bürgermeister
noch Senat zu Fall gebracht.
Höchstens mal zum „Drüber-lachen“,
doch nie lächerlich gemacht.
Wir hab'n engagiert und witzig
kritisiert und resigniert,
uns're Ohnmacht rührend, tapfer
so wie Märtyrer goutiert.
Und sie hab'n gelacht.
And're hab'n für uns gehandelt:
revoltiert statt diskutiert,
den Protest der Minderheiten
zu Opposition formiert.
Und aus Ohnmacht wurde Macht.
And're haben es gewagt.
Wir dagegen hab'n versagt.
180
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Die Peitsche liegt in andern Händen.
Traurig, traurig so zu enden.
Das Kabarett, das Kabarett,
das Kabarett ist tot!
Es lebe das Cabaret!
Fritz Teufel bei der Haftentlassung
mit Adventskranz aufem Kopp.
So ein Gag sagt dreimal mehr aus
als zwei Stunden Agitprop.
Selbst die kleine Anti-SpringerKampfplakette am Jackett
regt den Durchschnittsbürger mehr auf
als zwei Stunden Kabarett.
Jeder Piepser der Kommune,
jede Kunzelmann-Aktion
hat beim Publikum mehr Chancen
auf gereizte Reaktion.
Der Gefängnishof von Tegel
als Protestfeld für Vietnam Teufel sagt uns, was Satire
heute noch erreichen kann.
Schon alleine die Idee,
einfach Strafanstaltsinsassen
gegen Krieg marschieren lassen.
Wir gehör'n ins Cabaret.
Mit Vietnam hab'n wir noch keinen
aus dem Sessel hochgerissen.
Bei Vietnam, da wurde nur noch
leise, höflich applaudiert.
181
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Seit dem Tage, als die andern
Eier und Tomaten schmissen,
wird das Thema doch zumindest
oft und offen diskutiert.
Hochschulkrise, Bildungsnotstand,
das hat keinen aufgeweckt.
Erst ein Wurfgeschoß aus Pudding
hat die Leute aufgeschreckt.
(...)
Hannelore Kaub, 1967147
Zwanzig Jahre später bemerkt die Kabarettistin sichtlich resigniert: „Die gesellschaftlichen
und politischen Wirklichkeiten haben sich so verändert, daß die menschliche Fantasie
eigentlich nicht ausreicht, um sich die nächste Steigerung zum Bösen überhaupt
vorzustellen (siehe: Südafrika, islamischer Fundamentalismus, Umwelt,
Menschenverachtung beim Thema Asyl, Schamlosigkeit der Politiker etc. etc.). Und da
das Kabarett auf Realität reagiert, werden auch wir immer böser, schärfer,
verzweifelter.“148
Verzweiflung, Wut und Schrecken
Der überwachte Staat
Die blutigen Anschläge der RAF-Terroristen Anfang der siebziger Jahre und die
Reaktionen darauf haben in kurzer Zeit die Hoffnungen auf den liberalen und
sozialdemokratisch orientierten Rechtsstaat zerschlagen. Mit der Befreiungsaktion von
147Kaub, Hannelore, zitiert in: Meyer, Ellen, S. 260ff.
148Ebd., S. 264.
182
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Andreas Baader aus dem Berliner Gefängnis eskaliert im Mai 1970 der Straßenterror der
RAF. Mord und Totschlag gehören zum einkalkulierten Risiko der stalinistischen
Desperados, die eine fremde Sprache sprechen und sehr bald auch in der linken Szene
keine Unterstützung mehr finden. Im US-Hauptquartier explodiert 1972 eine Bombe und
tötet drei Soldaten. Peter Lorenz, Landesvorsitzender der CDU in Berlin, wird entführt,
Generalbundesanwalt Siegfried Buback im April 1974 ermordet. Im Göttinger Untergrund
stiftet ein unbekannter „Mescalero“ mit seinem Rechtfertigungs-Nachruf Verwirrung: „Ich
konnte und wollte (und will) eine klammheimliche Freude nicht verhehlen“.149 Das kleine
Wort „klammheimlich“ ist von da an für Jahre unbrauchbar. Es ist ein „Un-Wort“, besetzt
mit fahrlässiger Verachtung für das Leben und den politischen Diskurs. „Klammheimlich“
wird aber auch zur Schlag-tot-Keule gegen Intellektuelle, die nicht müde werden wollen zu
differenzieren, um zu verstehen. Wer den sogenannten Buback-Nachruf abdruckt, muß
sich nun seinerseits der Verherrlichung von Gewalt bezichtigen lassen. Den PsychologieProfessor Peter Brückner erwartet in diesem Sinne ein mehrmonatiges Verfahren. In
Stuttgart-Stammheim werden Baader, Ensslin und Raspe zu lebenslänglich verurteilt, im
Oktober begehen sie in ihren Zellen Selbstmord.
Der Terror der RAF hebt die Republik nicht aus den Angeln. Der Amoklauf hat gleichwohl
schwere Folgen für die Demokratie und den Rechtsstaat. Der „Radikalenerlaß“, der
Beschluß der Ministerpräsidenten der Länder vom Januar 1972, ist ein solcher
gravierender Einschnitt. Wer im öffentlichen Dienst arbeitet, hat mit hochnotpeinlichen
Überprüfungen zu rechnen. Verfassungstreue und eine „untadelige“ politische Weste sind
gefragt. Das gilt nicht nur für den Lehrer und den Gerichtsreferendar, auch der Briefträger
und der Schaffner bei der Bundesbahn müssen den Lebenslauf unter Beweis stellen. Die
Angst vor der beruflichen Zukunft schlägt bis in die Seminare der Universitäten durch: Es
werden jetzt unverfängliche Diplom- und Magisterarbeiten geschrieben, politischen
Fragestellungen weichen verunsicherte Studenten tunlichst aus - sicher ist sicher.
Der politischen Realität, die Mitte der siebziger Jahre in der Republik vorzufinden ist, läßt
sich nicht mehr mit sanften Späßen begegnen. Wo es den Literaten nicht die Sprache
verschlagen hat, da üben sie sich bei Gelegenheit in der decouvrierenden Satire, dem
Aufschrei gegen die gewachsene Deformation in der Gesellschaft. Peter O. Chotjewitz
149Abdruck in: Flemming, Thomas, Chronik 1977, Dortmund 1991, S. 61
183
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bekennt sich zu seinen politischen Schwächen und hofft, vor diesem seinem Staat Gnade
zu finden.
Beichte des Staatsbürgers
Herr, im Lichte Deiner Wahrheit erkenne ich, daß ich gesündigt habe in Gedanken, Worten und
Werken. Ich soll Dich meinen Staat und Herrn über alles lieben, aber ich habe mich selbst mehr
geliebt als Dich. Du hast mich zu Deinem Diener gemacht, aber ich habe die Zeit vertan, die Du
mir anvertraut hast. Du hast mir Gesetze gegeben, sie zu lieben wie mich selbst, aber ich
erkenne, wie ich versagt habe in Hochmut und Eigenmächtigkeit meines Geistes. Darum
komme ich zu Dir und bekenne meine Schuld. Richte mich, mein Staat, aber verwirf mich nicht.
Ich weiß keine andere Zuflucht, als Dein unergründliches Erbarmen. Verfolge mich wegen
Unterstützung einer kriminellen Vereinigung, Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener,
Verherrlichung und Verharmlosung von Gewalt, durchsuch mein Haus mit Maschinenpistolen
bei Gefahr im Verzug, nimm mich vorläufig fest und verhäng über mich die Präventivstrafe der
Kontaktsperre auf daß ich dreißig Jahre lang kein Lebenszeichen von mir gebe, verurteile mich
in einem Schnellverfahren mit gefälschten Beweisen und ohne Anwälte meines Vertrauens,
bestrafe diejenigen, die sich für meine Haftbedingungen und meinen Prozeß interessieren,
insbesondere aber jene, die die Öffentlichkeit aufzuklären versuchen, wie mich selbst,
unterrichte alle Zeitungen und Rundfunk- und Fernsehanstalten, damit die Welt erfahren möge,
daß ich gesündigt habe wider Deinen Geist, aber ich bitte Dich: Vergib mir alle meine Sünden.
Ich glaube an den Staat, den allmächtigen Schöpfer Himmels und der Erden und an die
freiheitlich demokratische Grundordnung, unser unerklärliches Gesetz, empfangen vom
internationalen Finanzkapital, geboren vom parlamentarischen Rat, gelitten unter Max
Reichmann und der außerparlamentarischen Opposition, gekreuzigt, gestorben und begraben
vom deutschen Bundestag, niedergefahren in die Massenmedien von dannen sie kommen wird,
zu richten die Lebenden und die Toten. Ich glaube an das Kapital, die freie Marktwirtschaft, den
deutschen Bundestag, die Gemeinsamkeit der Demokraten, die Bundesanwaltschaft, das
Bundeskriminalamt, den Bundesverfassungsschutz, den Bundesnachrichtendienst, den
Bundesgrenzschutz, Auferstehung des Fleisches und ein ewiges Leben, Amen. Schmidt
erbarme Dich unser, Kohl erbarme Dich unser, Strauß erbarme Dich unser. Ehre sei dem Staat
in Bonn und Friede auf Erden und egal wie es den Menschen geht, Halleluja, halleluja, halleluja!
Peter O. Chotjewitz, 1977150
Im Bundestag geht im Herbst 1977 alles drunter und drüber. Im Parlament dabattieren am
29. September die Abgeordneten ein Gesetz über die zeitlich begrenzte „Kontaktsperre“
für inhaftierte Terroristen. Bereits am folgenden Tag stimmt das Hohe Haus der Vorlage
zu. Der Disput zwischen den Befürwortern und Gegnern der Vorlage spiegelt die
explosive Stimmung wider, es herrscht ein Klima der Unterstellung und wechselseitigen
Verunglimpfung. Abwägen der Argumente ist nicht gefragt. Aus der Distanz von rund
zwanzig Jahren hat der Schlagabtausch etwas Gespenstisches, ist selbst Teil eines
Cabaret macabre.
150Chotjewitz, Peter O., in: Boehnecke, Heiner u.a., Nicht heimlich und nicht kühl, 1977, S. 38.
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Bundesminister Dr. Vogel
Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren, namens der Bundesregierung danke
ich allen, die in dieser Woche unter Anspannung ihrer Kräfte am Zustandekommen dieses
Gesetzes mitgewirkt haben. Die Bundesrepublik hat damit ihre Handlungsfähigkeit unter
Beweis gestellt und das Erforderliche ebenso besonnen wie entschlossen getan. Die
Verfassungsorgane dieser Republik werden ihre Pflicht unter diesen Gesichtspunkten und
Maximen auch künftig tun.
(Beifall bei der SPD und der FDP und bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Vizepräsident Stücklen: Das Wort hat der Herr Abgeordnete Coppik.
Coppik (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute ein Gesetz, das
erst gestern in diesem Bundestag eingebracht wurde und dessen endgültiger Wortlaut den
Abgeordneten sogar erst heute früh, also vor wenigen Stunden, vorgelegt wurde. Bei einem
wichtigen Gesetz ist das ein ungewöhnlicher, ja, ein einmaliger Vorgang.
(Dr. Stark (Nürtingen) (CDU/CSU): Sie waren doch bei der Beratung gar nicht dabei!)
Da bei diesem Gesetz Grundfragen des Verhältnisses von rechtsstaatlichen
Verfahrensgarantien und den Notwendigkeiten der Terrorismusbekämpfung angesprochen
werden. macht die Geschwindigkeit der Verabschiedung es um so notwendiger, alle hier zu
berücksichtigenden Gesichtspunkte mit aller Sorgfalt abzuwägen. Die Sorgfalt und die
Nüchternheit dieser Abwägung werden dadurch zusätzlich erschwert, daß wir dieses Gesetz in
einer außerordentlichen Situation beraten. Die Morde von Köln und in den Niederlanden und die
ungeklärte Situation im Entführungsfall Schleyer haben eine breite Welle berechtigter Empörung
in der Bevölkerung hervorgerufen. In einer solchen Situation ist es außerordentlich schwer,
Gehör gilt Argumente zu finden, die für Besonnenheit werben.
Vizepräsident Stücklen: Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn
Abgeordneten Dr. Stark (Nürtingen)?
Coppik (SPD): Nein, ich bedaure. Ich möchte keine Zwischenfragen gestatten.
(Dr. Ritz (CDU/CSU): Die wären Ihnen sehr peinlich! - Weitere Zurufe von der CDU/
CSU).
Es ist außerordentlich schwer, Gehör für Argumente zu finden, die für Besonnenheit werben.
(Dr. Klein (Göttingen) (CDU/CSU): Warum waren Sie denn nicht im Rechtsausschuß? Dr. Stark (Nürtingen) (CDU/CSU): So eine Unverschämtheit! Unerhört!)
Da ist es viel einfacher, mit einer Handbewegung über solche Argumente hinwegzugehen und,
dem Gefühl folgend, mehr Härte zu verlangen, auch dann, wenn man bei sorgfältiger Prüfung
feststellen würde, daß diese Härte zwar nichts verhindert, aber die Erscheinungsformen dieses
Staates schrittweise so umgestalten kann, daß seine rechtsstaatlichen Grundstrukturen in
Gefahr geraten.
(Leicht (CDU/CSU): Pfui!)
185
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Damit keine Mißverständnisse aufkommen, möchte ich an dieser Stelle eine Bemerkung
machen, die mir infolge der bisherigen öffentlichen Diskussion erforderlich zu sein scheint, bei
der seitens einiger Oppositionspolitiker der verantwortungslose Versuch unternommen würde,
alle, die sich mit dem Problem des Terrorismus differenziert auseinandersetzen.
(Dr. Jenninger [CDU/CSU): Sie waren ja gar nicht im Ausschuß, Herr Kollege!)
alle, die nicht nach Popularität, sondern nach der Vernunft ihre Meinung bilden,
(Dr. Jenninger [CDU/CSU): Sie sollten in die Ausschußsitzungen gehen!- Weitere Zurufe
von der CDU/CSU)
als Sympathisanten, geistiges Umfeld und ähnliches zu diffamieren.
(Dr. Jenninger (CDU/CSU]: Warum gehen Sie nicht in du Rechtsausschuß, Herr
Kollege? Ich wäre an Ihrer Stelle bei den Ausschußberatungen gewesen - Dr. Stark
(Nürtingen) (CDU/CSU]: So eine Unverschämtheit - Dr. Ritz [CDU/CSU]: Unerhört! Weitere erregte Zurufe von der CDU/CSU)
- Man merkt, wie schwer es für Sie offensichtlich ist, Argumente anzuhören.
(Dr. Jenninger (CDU/CSU): Im Rechtsausschuß haben wir Argumente beraten! - Unruhe
bei der CDU/CSU)
Damit Sie s nicht zu einfach haben,
(Dr. Klein (Göttingen) (CDU/CSU): Warum haben Sie Ihre Argumente nicht im Ausschuß
vorgebracht?)
sage ich hier ganz deutlich: Ab demokratischer Sozialist lehne ich Mord, Terror und überhaupt
Gewalt in einer parlamentarischen Demokratie ab, und zwar ohne jedes Wenn und Aber.
(Beifall bei der SPD - Dr. Jenninger (CDU/ CSU): Das haben wir gern) - Dr. Klein
(Göttingen) CDU/CSU): Das ist ja ungehäuerl! - Dr. Stark (Nürtingen) (CDU/CSU): Das
ist ja wohl das wenigste! - Dr. Jenninger (CDU/CSU): Arbeiten sollte man wenigstens Weitere Zurufe von der CDU/CSU)
Das Ziel einer humanen, einer sozialistischen Gesellschaft ist mit den Mitteln des Mordes und
des Verbrechens weder vereinbar noch erreichbar.
(Beifall bei der SPD - Erhard (Bad Schwalbach) (CDU/CSU): Wer sich entschuldigt, klagt
sich an! - Weitere Zurufe von der CDU/CSU)
Coppik
Terror nutzt objektiv nur den Kräften der Reaktion.
(Zurufe von der CDU/CSU: Unglaublich! Unerhört! Pfui!)
Mit ihren Schüssen schafft die RAF die Stimmung, die die Reaktionäre in unserem Land
brauchen, um das kaputtzumachen, was in vielen Jahren mühsam an demokratischen
Errungenschaften und rechstsstaatlichen Garantien erkämpft wurde. Auch deshalb bin ich
gegen Gewalt und Terror. Aber auch deshalb,
186
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(Reddemann (CDU/CSU): Auch deshalb! Und der kommt aus einer Regierungspartei!)
damit diese Rechnung der Terroristen nicht aufgeht, bin ich gegen jeden Abbau der
Freiheitsrechte in unserem Land, und deshalb bin ich auch gegen dieses Gesetz.
(Weitere Zurufe von der CDU/CSU)
Nach dem vorliegenden Gesetzentwurf sollen bei terroristischen Anschlägen die Gefangenen,
die der Zugehörigkeit zu einer terroristischen Vereinigung verdächtigt werden, von jeder
Verbindung untereinander und mit der Außenwelt isoliert werden. Das hört sich zunächst
unproblematisch an. Die Probleme werden aber besonders deutlich, wenn man bedenkt, daß
diese Regelung auch für die nach einem solchen Anschlag neu Verhafteten gilt. Und wer da
auch noch sagt:"Was geht das mich an? Ich habe nichts mit Terroristen zu tun", dem muß
deutlich gesagt werden, daß nach dem neuen Gesetz niemand, und sei er noch so unschuldig,
davor sicher sein kam, etwa auf Grund einer Denunziation verhaftet zu werden und für Wochen
und Monate ohne jeden Kontakt zu einem Rechtsenwalt
(Pfui-Rufe bei der CDU/CSU)
oder auch nur zu seinen Familienangehörigen in einem Gefängnis zu verschwinden.
(Zurufe von der CDU/CSU)
Ich halte das unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten für unerträglich.
(Zurufe von der CDU/CSU)
Inzwischen liegt uns ein Änderungsantrag vor, der sich mit dieser Kernproblematik befaßt. Es ist
nicht möglich, jetzt etwas zu diesem Antrag zu sagen, zumal da er uns erst seit ganz kurzer Zeit
vorliegt und die Aussichten seiner Annahme von mir jetzt nicht zu beurteilen sind, wobei immer
noch die Frage ist, welche Zielsetzung diesem Gesetz dann verbleibt. Ich muß von dem
ausgehen, was uns hier als Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses vorliegt.
(Dr. Stark (Nürtingen) (CDU/CSU): Haben Sie es wenigstens gelesen?)
Es ist nun einmal so, daß die Möglichkeit, sie im Falle der Verhaftung mit einem Rechtsanwalt
eigener Wahl in Verbindung zu setzen, zu den grundlegenden Bedingungen eines
rechtsstaatlichen Strafverfahrens gehört. Ich bezweifle, ob der Ausschluß dieser Möglichkeit
überhaupt mit den Bestimmungen der Menschenrechtskonvention vereinbar ist.
Meine Damen und Herren, daß auch ein Unschuldiger verhaftet werden kann, ist doch nicht nur
eine theoretische Möglichkeit; das wissen wir doch alle. Dieser Unschuldige kann dann über
einen längeren Zeitraum ohne Kontakt im Gefängnis sitzen, denn das Gesetz kennt ja keine
feste zeitliche Begrenzung. Die Feststellung, daß die Isolation notwendig sei, kann ja mehrfach
wiederholt werden.
(Frau Pack [CDU/CSU]: "Isolation!" – Dr. Klein [Göttingen] [CDU/CSU]: Das ist nicht zu
glauben! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU)
Ich bin davon überzeugt, daß in solchen Fällen die neue Regelung dazu führen würde, daß das
Vertrauen in den demokratischen Rechtsstaat auf das tiefste erschüttert und damit letztlich
jenen Kräften in die Hände gearbeitet würde, die diesen Staat ohnehin für verdammenswert
halten und zur Gewaltanwendung aufrufen.
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Nun wird dagegen argumentiert, man sehe die Gefahren dieser Regelung, aber schließlich
müsse man abwägen zwischen den Kontaktbedürfnissen der Gegangenen auf der einen
Seite und der Lebensbedrohung auf der anderen Seite. Da könne man sich nur für die
Lebensrettung entscheiden. Ich glaube nicht, daß diese Argumentation den Kern der Sache
trifft, und zwar nicht nur deshalb, weil man sehr daran zweifeln kann, ob die Isolation von
Gefangenen wirklich hilft, das Leben einer Geisel zu retten, die schließlich nicht in der Gewalt
von Gefangenen, sondern von in Freiheit befindlichen Terroristen ist.
Aber unabhängig davon halte ich insgesamt die Abwägung "hier Leben eines Menschen, dort
rechtsstaatliche Grundprinzipien" für nicht möglich. Die Aufgabe rechtsstaatlicher
Grundprinzipien rettet nämlich kein Menschenleben, schafft aber Lebensverhältnisse, in denen
die friedliche demokratische Entwicklung in einem Rechtsstaat gefährdet wird und damit weitere
Menschenleben in Gefahr geraten.
(Dr. Stark [Nürtingen] [CDU/CSU]: Unwahrscheinlich!)
Meine Damen und Herren, der Kampf gegen den Terrorismus wird nicht durch Sondergesetze
gewonnen, sondern durch eine entschlossene Anwendung des geltenden Rechts, verbunden
mit einem glaubwürdigen und überzeugenden Entfalten der rechtsstaatlichen Prinzipien und
einem unermüdlichen Kampf für mehr soziale Gerechtigkeit im Inland und in den internationalen
Beziehungen.
(Dr. Jenninger [CDU/CSU]: Vor allem arbeiten im Rechtsausschuß! – Dr. Klein
[Göttingen] [CDU/CSU]: Finden Sie es sozial gerecht, wenn Kollegen im
Rechtsausschuß bis in die Nacht arbeiten und Sie inzwischen feiern?)
Nur wenn junge sozial engagierte Menschen darauf vertrauen können, daß es im
parlamentarischen Bereich Kräfte gibt, die diesen Weg ohne Rücksicht auf opportunistische
Überlegungen kompromißlos gehen, werden sie gegen Gewaltpredigten falscher Propheten
immun sein.
Deutscher Bundestag, 29.9.1977
Die berufenen Kabarettisten verstummen nicht. Doch sie sind merklich verunsichert. Die
politische Realität provoziert Fragen nach dem kabarettistischen Selbstverständnis. Der
Floh de Cologne zeigt 1976 erste Auflösungserscheinungen, 1983 verabschiedet sich das
Ensemble unwiederbringlich mit dem Hinweis auf die veränderten Zeiten. „Wenn wir jetzt
so mithalten wollten, daß ein besseres Leben herausschaut - Fettaugen sind wir sowieso
nie gewesen, es hat immer gerade so gereicht -, dann müßten wir richtig kommerziell
hinlangen. Das aber wäre unter dem Namen Floh de Cologne unmöglich, das wäre der
Ruin dieses guten Namens.“151 Die Fanfarenstöße in Rock und Pop gibt es nicht mehr.
Von der miesen und verkorksten Stimmung draußen lassen sich Die 3 Tornados nicht
unterkriegen. Holger Klotzbach, Günter Thews und Arnulf Rating trommeln zwar mächtig
auf Sozialismus und Weltkommunismus, aber auf der anarchischen Arche Noah aus
Berlin darf kräftig gelacht werden.
151Zitiert in: Budzinski, Klaus, Das Kabarett, 1985, S.78.
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Im Lied von der „Terror-Rosita“ lugt der Schalk des selbstironischen Kommentars
zwischen den Zeilen hervor. „Ob Stromboykott und Rucksackreisen, Frauenbewegung
und Männergruppen, Piratensender und Schreinerkollektive,
Wohngemeinschaftsfrühstücke und Beziehungskisten, unser alternativer Alltag war
Kabarett“. Das schreibt Kuno Kruse anläßlich des Tods von Günter Thews. Und weiter:
„Wir tanzten auf TuNix und im Tempodrom, wir lagen vor Brokdorf, Grohnde und
Wackersdorf, und dort waren auch die Tornados: Zwischen Schlamm,
Tränengasschwaden und Haßkappen spazierten sie - in weissem Smoking, Strohhüten
und Ringelsöckchen.“152
Terror-Rosita
Nachdem von den 50 gesuchten Terroristen bereits 100 erschossen wurden
und inzwischen wieder 30 auf der Fahndungsliste stehen, meist Frauen,
widmen wir das folgende Lied der Terror-Rosita und ihrem Anwalt so wie sie
in der bürgerlichen Presse dargestellt werden werden.
Zwei Tellerminen im Haar
Und an der Hüfte Granaten,
Ja, das ist die Welt,
Die Rosita gefällt.
Sicher noch übers Jahr,
Das kann man heute schon sagen,
Zieht der Terror ins Feld
Gegen jeden mit Geld.
Und alle Leute in der Stadt sagen:
„O la-la-la! Solch eine Terroristin
War noch nie da.“
Aus Präsidenten
Werden überall Leichen,
152Kruse, Kuno, Irgendwie sauwahr, in: Die Zeit, 12.2.1993.
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Der Terror setzt Zeichen.
Rosita ist da!
Und zwei Kassiber im Arsch
Und in der Akte Raketen,
Ja, das ist die Welt,
Die dem Anwalt gefällt.
Sicher noch übers Jahr
Baut der Terror sein Plan,
Zieht er selber ins Land
Ein MG in der Hand.
Und der Anwaltverein,
Der sagt: „O la-la-la!
So eine starke Verteidigung
War noch nie da!“
Und der Rechtsanwalt
beschreibt mit den Leichen
Sein Aktenzeichen Der Terror ist da!
Die 3 Tornados153
Die alternative und grüne Bewegung ist Ende der siebziger Jahre, im Gegenzug zur
Agonie im politischen Alltag in Bonn, im Aufbruch. Robert Jungk, der Verbündete des
neuen konstruktiv-oppositionellen Denkens, warnt vor dem Fortschritt in die
Unmenschlichkeit und schreibt das aufklärerische Kultbuch „Der Atomstaat“. Es beinhaltet
das Vermächtnis gegen blinden Fortschrittsglauben und ist ein Aufruf gegen die
industrielle Beherrschung des Menschen.154 Die Katastrophe von Harrisburg im April 1979
hat die Anti-Atomkraftbewegung neu formiert. Im niedersächsischen Gorleben soll die
Wiederaufbereitungsanlage installiert werden. Es kommt zu Auseinandersetzungen
153Tornados, Die 3, Rundschlag am Mittag, Kassette.
154Vgl. Jungk, Robert, Der Atomstaat, 1977; ders., Menschenbeben, 1983
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zwischen der Polizei und Demonstranten in Brokdorf und Grohnde. Klaus Pokatzky ist
1979 fünfundzwanzig Jahre alt und resümiert als junger Journalist den Wandel in der
Republik, den Weg von der APO-Dialektik zur neuen Kultur und Subkultur. Die alternative
Generation hat Veränderung im Kleinen und im sozialen Mikrokosmos auf ihre Fahnen
geschrieben.
Die Kinder der Republik
Die demonstrierenden Studenten vor zehn Jahren kannten Furcht, die sehr konkrete Furcht vor
Polizeiknüppeln und Wasserwerfern - die von heute hingegen sind von einer abstrakten Angst
befallen, die dieser Staat des Radikalenerlasses und der Kernkraft ausströmt. Vielleicht ist dies
einer der Gründe, wenn der Abschied, den der Jugendprotest von der Bundesrepublik
genommen hat, wenn das Entstehen der alternativen Subkultur radikaler und konsequenter ist,
als es der studentische Protest vor zehn Jahren war.
Denn die da in Berlin, Hamburg oder Frankfurt zu ihrer eigenen geschlossenen Gesellschaft
zusammengefunden haben, scheinen eine weitaus widerstandsfähigere Subkultur zu errichten,
als dies die so rasch wieder auseinanderfallende Studentenbewegung vermochte. Sie bilden
das Fundament einer neuen politischen Kraft, die womöglich als erste in der Existenz der
Bundesrepublik die Chance zu dauerhaftem Bestand hat. Das Engagement gegen die Atomkraft
hat dabei eher die Funktion eines Katalysators. Im Kampf gegen Atom und
Wachstumsfetischismus versammelt sich mittlerweile alles, was aus dieser Gesellschaft weg
will, dafür aber nicht bereit ist, die Hoffnung auf eine bessere aufzugeben - eine bessere, die
freilich nicht errichtet wird von den Politikern und sonstigen Repräsentanten des Bestehenden.
Journalisten, die nur die herkömmliche und nicht sonderlich phantasievolle Berichterstattung
über die etablierten Parteien gewohnt sind, stehen ratlos vor den Werten, die bei den
„chaotischen“ Alternativlern obenan rangieren.
Klaus Pokatzky, 1979155
Nachgerüstet - Wettlauf zwischen Schwertern und Pflugscharen
Am 12. Dezember 1979 faßt die NATO in Brüssel den Beschluß zur sogenannten
Nachrüstung. Er bedeutet für Europa eine massive Um- und Aufrüstung, auch die
Erhöhung des Kriegsrisikos, da die Reaktion der Sowjetunion nicht genau einzuschätzen
ist. Die veralteten Mittelstreckenrakten vomTyp Pershing Ia sollen durch die „moderneren“
Pershing-II-Raketen ersetzt werden. 464 bodengestützte Cruise-Missiles, die
155Pokatzky, Klaus, 1979, S. 47.
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„Marschflugkörper“,kommen hinzu. Zugleich sollen Verhandlungen eingeleitet werden mit
dem Ziel, „durch Rüstungskontrolle ein stabileres, umfassendes Gleichgewicht bei
geringeren Beständen an Nuklearwaffen auf beiden Seiten zu erreichen.“156 Damit ist der
NATO-Doppelbeschluß auf der Tagesordnung, der in Europa, vor allem aber in der
Bundesrepublik, zu einer breiten Protestbewegung führt. Die Friedensbewegung
veranstaltet im November 1980 in 350 Orten der Republik „Friedenswochen“. Vier
Millionen Menschen werden bis Februar 1983 den „Krefelder Apell“ unterzeichnen. - In
ihm wird die Bundesregierung aufgefordert, ihre Zustimmung zur Stationierung der neuen
Waffensysteme nicht zu geben.
Gert Bastian, Generalmajor der Bundeswehr und späterer Bundestagsabgeordneter der
Grünen, bittet um Versetzung in den Ruhestand und begründet seine Ablehnung des
Beschlusses in einem ausführlichen Schreiben an den Verteidigungsminister Hans Apel:
„Bei einem Versagen der Abschreckung würden zunächst einmal die Deutschen vom ersten
Schuß an den Krieg im eigenen Land erleiden. Selbst ohne den Einsatz von Nuklearwaffen
müßten die Auswirkungen verheerend sein. Auch ein nicht auszuschließender Einsatz nuklearer
Gefechtsfeldwaffen würde in erster Linie Mitteleuropa verwüsten. Und erst wenn dieser Krieg
auf einer höheren Stufe der Eskalation auf das Territorium der Supermächte übergriffe, müßten
dort vergleichbare Schäden befürchtet werden. Schon bei der gegenwärtigen Verteilung der
Kriegsmittel würde Mitteleuropa dehalb nicht von weiteren nuklearen Schlägen verschont
bleiben. Bei einer Neuverteilung der nuklearen Kapazitäten, wie sie am 12.12.1979 in Brüssel
beschlossen worden ist, wären die Überlebenschancen der Mitteleuropäer bei einem Versagen
der Abschreckung allerdings noch geringer, nämlich gleich Null.“157
Auch die Kabarettisten der Republik formieren sich unter dem Eindruck der drohenden
Nachrüstung zum satirischen und intellektuellen Widerstand. Das Fernsehen wird
verstärkt zur Artikulation des Protestes genutzt. Es ist wichtig, daß jetzt von exklusiver
Stelle vor allem prominente Kabarett-Köpfe auftreten. Am 18. Januar 1981 gibt es eine
ZDF-Matinee, in der das achtzigjährige Wiegenfest der deutschen Kleinkunst gefeiert
wird. Helmut Ruge und Reinhard Hippen schreiben ein Drehbuch wider die Krieger und
Säbelrassler. Kabarettisten als „Antikriegsverbrecher“ in Geschichte und Gegenwart
werden auf den Bildschirm gebracht. Ob an Borchert oder Mühsam dabei erinnert wird,
die Kritik der Satiriker gilt der Gegenwart, ist ein Beitrag gegen die Aufstellung neuer
Raketen. Die Ausstrahlung der Sendung ist nicht selbstverständlich, aber sie findet statt.
156Zitiert in: Gehlhoff, Beatrix, 1992, S. 21.
157Ebd.
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Selbstschutz-Übung
In der letzten Stunde unserer Aufklärungsreihe: „Überleben leicht gemacht“ haben wir, meine
Damen und Herren, gelernt, daß die modernen Kriegswaffen in technischer Hinsicht einen
enormen Höchststand erreicht haben, die Mittel aber, die einem Zivilisten zur Verfügung stehen,
um dieses zu überleben, im wesentlichen gleich geblieben sind. Worin besteht nun unsere
Chance? Nun, meine Damen und Herren, eine Bombe kann nur auf einen ganz bestimmten
Punkt fallen. Wem es gelingt, zum Zeitpunkt des Abwurfs nicht an diesem Punkte zu verweilen,
hat schon die erste Voraussetzung zu einem gütlichen Ausgang geschaffen. Die im Umkreis von
ca. 100 Kilometern einsetzende Strahlung behandeln wir später.
Nun aber kommen wir zun einem weitaus interessanteren Thema, zu der strategischen
Lenkflugwaffe, der Rakete. Ich darf Sie darauf aufmerksam machen, daß wir ab nächster
Woche im 3. Programm um 10 Uhr morgens einen Raketenerkennungsdienst ausstrahlen
werden, der Sie darüber informieren wird, was Ihnen gegebenenfalls ins Haus steht. Wir haben
es im wesentlichen mit zehn bis zwölf verschiedenen Raketentypen zu tun. Es handelt sich
dabei selbstverständlich um eine Dunkelziffer. Alle Zahlen, die sich im militärischen Bereich
bewegen, sind Dunkelziffern. Dieses aber wissen wir: Es handelt sich dabei um unbemannte
Verteidigungswaffen, die auch als Angriffswaffen verwendet werden können. Das ist eine Frage
der Auslegung.
Wir notieren also: Long-Distance-Raketen, die inzwischen mit bewundernswerter Zielsicherheit
jedes zu treffende Ziel zu treffen in der Lage sind. Das, meine Damen und Herren, erfüllt uns
nun wieder mit zusätzlicher Überlebenshoffnung, da es sich ja nicht, wie in früheren Kriegen um
Sprengkörper zu handeln scheint, die in flächendeckender Weise wahllos Zerstörung
beabsichtigen, sondern um gezielt eingesetzte Flugkörper, die ganz bestimmte - dem Feind
bekannte! - Personen oder Sachen aufsuchen, ja - sogar solange um das Haus kreisen, bis der
Gemeinte in es hineingegangen ist. Auch wissen wir, daß diese fliegenden Atomköpfe so
programmiert zu sein scheinen, daß eine zusätzliche Sachbeschädigung tunlichst vermieden
wird. Das heißt? Na? (Holt vom Tisch der Verteidigung Sandeimer und Feuerpatsche.)
Diese programmierte Rakete wird erst in das Haus hineinfliegen, wenn ihr durch Zufall jemand
die Tür öffnet! Daraus ist zu folgern: Haben Sie aufgrund Ihres abgeleisteten
Raketenerkennungsdienstes eine dieser Raketen ausgemacht, schließen Sie unverzüglich die
Haustür. Daran sehen wir, daß der Zivilist mehr als eine Möglichkeit hat, auch einen
hochtechnisierten Konflikt zu überstehen.
Dieter Hildebrandt, 1981158
Lied vom sogenannten Frieden
Frieden hienieden
Soll immer von oben kommen
Kommt aber nicht von oben
158Hildebrandt, Dieter, 1981, S. 59f.
193
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Soviel wir auch den MEISTER loben
Frieden hienieden
Soll stets um unsre Seelen kreisen
Kreist aber nicht um unsre Seelen
Sooft es uns die Herren auch empfehlen
Und zwar daß wir
Vor unsrer eignen Tür
Den berühmten Besen schwingen
Dann wird schon der Friede in uns dringen
So zu uns leis
Wie jeder weiß
Wird dann der bekannte Engel durch die Stube fliegen
Und in uns den innren Schweinehund besiegen
Ja Frieden hienieden
Soll tief in unsrem Innern wohnen
Wohnt aber nicht in unsrem Innern
Sooft uns die Apostel auch erinnern
Und zwar daß wir
Weil der Mensch kein Tier
Erstmal in der kleinsten Zelle
Beispielsweise der Familienhölle
Uns die Hände reichen
Dann wird schon der Satan aus dem Schornstein schleichen
Und zu uns leis
Wie jeder weiß
Wird dann eine unsichtbare Orgel spielen
Und jeder wird den Frieden deutlich in der Magengrube fühlen.
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Ja Frieden hienieden
Soll ganz von alleine kommen
Kommt aber niemals von alleine
Denn er hat zu kurze Beine
Also müssen wir uns Beine machen
Und den Herren die sich ins Fäustchen lachen
In den orthodoxen Hintern treten
Wenn Sie grade für den Frieden beten
Denn sie haben da so ein System
Das ist ihnen äußerst angenehm
Daß man ab und zu die Menschheit dezimiert
Damit man von dem Rest dann wieder profitiert
Und dann darf wieder Frieden hienieden
Unser Herz zu Freudentränen rühren
Und das Volk kann seine Krüppel pflegen
Bis die Herrn sich's wieder anders überlegen
Darum hütet euch vor diesem Frieden
Hütet euch vor diesen Hunden
Die sich Mörder mieten
Daß die Dutschkes Kings und Kennedys verbluten
Die den Frieden nur für sich und ihresgleichen
Daß die Armen ärmer und die Reichen reicher werden
Nur für sich erfunden
Doch Frieden hienieden
Soll endlich unser Frieden werden
Soll endlich mal von unten kommen
Mag das auch den hohen Herrn nicht frommen
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Denn wir sind aus Fleisch und Blut und nicht aus Lehm
Ja aus Fleisch und Blut und nicht aus Lehm
Aus Fleisch und Blut und nicht aus Lehm
Drum verändert das System
Drum verändert das System
Drum verändert das System
Drum verändert das System
Hanns Dieter Hüsch, 1981159
Kriegsvoyeure
Gegen 19 Uhr warten wir immer auf den Krieg.
Meistens kommt er an zweiter Stelle von „Heute“
Und an dritter Stelle von der „Tagesschau“.
Der Krieg: Iran / Irak geht für meinen Geschmack
Schon etwas zu lange.
Eine Serie hat dreizehn Folgen.
Und dann sollte man wechseln.
Sonst glaubt man, der Mann am MG sei immer der Gleiche.
Oder mal eine schöne Wiederholung bringen.
Mir tun ja die Leute leid,
Die hinter der Glasscheibe sterben,
Bloß damit wir Fernsehen können.
Je größer der Bildschirm,
Umso größer unser Mitleid.
Wir haben schon viele Kriege beim Abendbrot gesehen.
Wir sehen einfach zu.
159Hüsch, Hanns Dieter, Lied vom sogenannten Frieden, in: Kürbiskem, 1981, H. 2, S. 61f.
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Wenn wir wissen, daß regelmäßig ein Krieg kommt,
Dann essen wir schon leichter,
damit uns der Krieg besser bekommt.
Wenn es manchmal zu laut ist
Stellen wir den Krieg einfach leiser.
Das ist das Schöne am Fernsehen.
Man kann ihn auch heller und dunkler stellen
Oder ihn einfach abschalten.
Aber wer macht das schon gerne.
Neulich war ich in der Küche
Und habe eine Tonstörung gehört.
Als ich ins Zimmer kam, war es ein Todesschrei.
Das menschliche Leid ist eine Frage
Der Bild- und Tonschärfe geworden.
Gestern stand der Krieg unentschieden.
Mal sehen, wer gewinnt.
Mir sind beide recht.
Ich habe da keine Ressentiments.
Wenn ein Krieg gezeigt wird,
Meint man manchmal, das Bild ist zu rot.
Und ruft die Störungsstelle an.
Das Bild ist nicht zu rot.
Eine Stadt brennt.
Manchmal bin ich ganz froh,
Daß vor den Schüssen eine Trennscheibe ist.
Die Toten stinken nicht im Zimmer
Und man muß kein Blut vom Teppich waschen.
197
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Das wäre nämlich eine Riesensauerei,
Wenn das alles auf den Teppich tropfen würde,
Was man auf dem Bildschirm sieht.
Dann würde ich mir keine Kriege mehr anschauen.
Kleinere, begrenztere Kriege sind für das Fernsehen besser.
Denn bei'm großen Knall sehen wir bestimmt nichts mehr.
Und bei der Neutronenbombe
Läuft höchstens noch der Apparat.
Helmut Ruge, 1981160
Am 10. Juni 1982 demonstrieren im Bonner Hofgarten rund 450.000 Menschen gegen die
Nachrüstungspolitik, im Herbst 1983 formiert sich eine 108 Kilometer lange
Menschenkette zwischen Stuttgart und Ulm. Die Massendemonstrationen haben den von
Bundeskanzler Helmut Schmidt gebilligten NATO-Doppelbeschluß nicht verhindert. Die
Mobilisierung Hunderttausender Rüstungsgegner stärkt jedoch das heterogene
Selbstbewußtsein im alternativen politischen Spektrum. Über Wochen herrscht zumindest
in den Universitätszirkeln, in Theater und Kneipen, Aufbruchsstimmung. Der große
organisatorische Erfolg täuscht zunächst über die tatsächlichen Machtverhältnisse
hinweg. Die neue Regierungsmannschaft mit Helmut Kohl läßt sich in ihrer
eingeschlagenen atlantischen Bündnispolitik nicht erschüttern und erfüllt die alten
Vorgaben aus SPD-Zeiten. Die Belagerer von amerikanischen Kasernen und Depots
werden wie eh und je vor die Gerichte gezerrt und als Straftäter behandelt und verurteilt.
Die Verfahren werden sich über Jahre hinziehen. Nur wenige Prominente, wie zum
Beispiel Walter Jens, erlangen durch die Auseinandersetzung zwischen Individuum und
staatlichem Machtmonopol zusätzliche Popularität und geben Beispiele provozierender
und radikaldemokratischer Gesinnung.
Herbst 1983, das bringt nach dem Wechsel im Regierungsgeschäft in Bonn ein
ambivalentes Resultat für die pazifistische Bewegung in Deutschland und Europa. Doch
die eindrückliche Solidarität bildet eine markante Zwischenstation, die entscheidende
160Helmut Ruge, Kriegsvoyeure, ebd, S. 67f.
198
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Folgen in der politischen Kultur der alternativen Szene hat. Die Reaktion der bürgerlichen
Öffentlichkeit in den neunziger Jahren auf Rassismus und Ausländerfeindlichkeit
reflektiert diese kollektive Erfahrung zumindest in Teilen und reagiert damit spät - fast zu
spät - auf die rechtsextremen Provokationen in der Republik. Wenn die Beobachtungen
nicht trügen, so haben sich fast alle maßgeblichen Gaukler des Worts und des
Mienenspiels mit in die Phalanx der Atomwaffen-Kritiker gestellt. Es gibt hier keine
Ausnahmen, wenn man einmal von bunten Abenden bei CDU-Wahlveranstaltungen oder
Parteitagen absieht.
Der engagierte und stets politisch argumentierende Liedermacher Franz Josef
Degenhardt meldet sich im Jahr der Nachrüstung mit „Lullaby zwischen den Kriegen“
nochmals zu Wort. Das Lied, im öffentlichrechtlichen Rundfunk von 1983 kaum gespielt,
erzählt vom Ohnmachtsgefühl und der stillen Wut, die vorherrschen. Die verschlüsselte
„Heilsbotschaft“ am Schluß - „die roten Reiter sind schon über den Fluß“ - mag ein billiges
Zugeständnis an parteiliches Denken sein. Der kunstvollen Verarbeitung der Angst in
einer fernsehregierten Gesellschaft tut dies aber in dem Schlaflied keinen Abbruch.
Lullaby zwischen den Kriegen
Nimm meine Faust und wünsch dir was.
Ja, unsere Fenster sind schußsicheres Glas.
Und der galaktische General
mit den Tressen aus Milchzähnen, den Fingern aus Stahl,
zieht sich Pantoffeln an, spielt mit E.T.
Wie lang eine Nacht langt, das weiß man nie.
Natürlich, das Mädchen ohne Beine und Hand
unter den Trümmern im Morgenland,
im Arm noch die Puppe, die Schleife im Haar,
hat nichts mehr gespürt, als es soweit war.
Ja, ich guck nochmal unter dein Bett,
ob Krümelmonster sich da nicht versteckt.
199
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Das Fieber steigt,
das Fieber sinkt,
schlafen mußt du, mein Kind,
träumen mußt du allein, mein Kind.
Nein, das Rauschen ist nicht im Fernsehgerät,
das ist ein Flieger, der fliegt noch so spät.
Aber nein, der stürzt ganz gewiß nicht ab,
nämlich das ist der strategische Stab,
der macht einen Ausflug nach Engeland.
Nein, Stuttgart ist noch nicht abgebrannt.
Ja, Mr. Spock von der Enterprise,
der ist dabei, weil er alles weiß.
Der beamt uns vielleicht auf den grünen Planet,
wo deine Mutter am Info-Stand steht.
Die Unterschriftliste ist sicher schon voll,
dann treibt es Herr Reagan nicht mehr so toll.
Das Fieber steigt,
das Fieber sinkt,
schlafen muß du, mein Kind,
träumen mußt du allein, mein Kind.
Horch, Kind, horch, wie der Sturmwind weht.
Nein, das Lied sing ich nicht,
weil das Lied nicht mehr geht.
Wir hören uns dafür, was der schwarze Mann
in der Silberhose so lustig singt, an:
Daß morgen ganz sicher der Morgen beginnt
und Bobby Ewing doch noch gewinnt.
Ja, Max und Moritz, die beiden sind tot,
200
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die sind zermahlen zu braunem Schrot.
Ja, Donald Duck, der hat das gefressen.
Ja, auch den bösen Wolf, den kannst du vergessen,
Mickey Mouse hat uns davon befreit.
Die Mainzelmännchen, die wissen Bescheid.
Das Fieber steigt,
das Fieber sinkt,
schlafen mußt du, mein Kind,
träumen mußt du allein, mein Kind.
Ja, träumen mußt du allein, mein Kind,
weil träumen hilft nur allein, mein Kind.
Komm auf die Brücke aus Knüppeln und Bast
und halte dich fest an dem stürzenden Ast.
Na, siehst du, das ging doch bis jetzt ganz gut.
Dein Dröhnen im Kopf ist dein Leben im Blut.
Hab auch keine Angst vor der engen Schlucht,
da kommen wir durch auf unserer Flucht.
Die blauen Soldaten, die reiten nicht mehr,
die haben keine Kugeln mehr für ihr Gewehr.
Ja, heute, das war der letzte Schuß,
und die roten Jäger sind schon über den Fluß.
Das Fieber steigt,
das Fieber sinkt,
schlafen mußt du, mein Kind,
träumen mußt du allein, mein Kind.
Franz Josef Degenhardt, Juni 1983161
161Degenhardt, Franz Josef, Polydor 815 227-1.
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Von Wende zu Wende
Neues aus Skandalusien
Mit hehren moralischen Versprechungen auf den Lippen übernimmt das christlich-liberale
Not- und Überläuferbündnis am 4. Oktober 1982 die Bonner Regierungsgeschäfte. Die
Resignation unter dem gestürzten Hanseaten Helmut Schmidt und seiner Mannschaft ist
beträchtlich. Das konstruktive Mißtrauensvotum im Bundestag hat ihn zu Fall gebracht,
die sozialdemokratische Regierungsarbeit ist mit einem spektakulären innenpolitischen
Finale beendet. Spott über den ungeliebten Nachfolger Kohl vermag die Stimmung auf
den Brettern gelegentlich ein wenig aufzuhellen. In einer fiktiven Regierungserklärung läßt
Karl Hoch den neuen Kanzler tremolieren:
„Die Regierung wird Atome spalten, aber nicht unser sowieso schon geteiltes Land. Wir wollen
weg von der Konfusion und hin zur Kernfusion. Dann wird eines Tages auch die Stunde
schlagen, da die Endlagerung für unsere Menschen hier und draußen nicht mehr weit ist. Es ist
Zeit, die Gräben zuzuschütten. Es geht doch um die Gemeinsamkeit der Demokraten über den
Gräben.“162
Die postulierte Harmonie in Bonn ist selbstverständlich alles andere als von untadeliger
Beschaffenheit, und so feiert die Satire landauf, landab wieder ihre Renaissance, im
Chanson und im Kabarett. Der beschworene Aufschwung wird von den Barden mit
monströsen Volten ins Lächerliche gezogen. Die Nachrüstungsdebatte ist gelaufen, die
Realpolitik ist im Sinne der Falken entschieden, und die Kleinkunst hat wieder einen
politischen Kontrahenten, der auf der Regierungsbank sitzt. Der Neokonservatismus, der
sich wieder ungehemmt Bahn bricht, läßt sich nach der Frontbegradigung offen
attackieren. Die alten klassischen Muster von rechts und links aus Kaiserzeit und Ära
Adenauer haben wieder Gültigkeit. Degenhardt besingt das neue Lebensgefühl, die
Rückkehr zur Bürgerlichkeit und law and order, die Losung heißt Restauration, und in
seiner „Aufschwungs-Hymne“ jubeln teutonische Mannen:
162Hoche, Karl, 1984, S. 229.
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Wieder alles im Lot und auf Vordermann.
Die Börse ist froh und der Herr Pastor.
Die Feuerwehr rückt wieder ein, und dann
singt der vereinigte Män-n-e-er-ch-o-o-r:
Juwi juwi di haha ha...163
Werner Schneyder ist in seinem „Liederkabarett“ zu einem ganz ähnlichen Wende-Befund
gekommen. Deutschsein hat wieder Konjunktur - in einem überwunden geglaubten Sinne.
Bitterkeit spricht aus den Zeilen, der Zorn einer gescheiterten Bemühung. Die Niederlagen
unter der vorigen Regierung sind bereits vergessen. Das, was kommt, kommen könnte,
scheint bedrohlicher als vergangene Halbherzigkeiten unter Helmut Schmidt oder Willy
Brandt.
Jetzt reden wir wieder Fraktur
Vorbei sind die bitteren Jahre
der sprachlichen Duckmäuserei.
Man muß nicht mehr Worte abwägen.
Die Zeiten sind endlich vorbei.
Wir tragen das Herz auf der Zunge.
Das hat uns die Wende geschenkt.
So ist uns der Schnabel gewachsen.
Ein Schuft, der nicht sagt, was er denkt!
Jetzt reden wir wieder Fraktur!
Wer hat schuld am KZ? Pazifisten!
Sie brauchen sich nicht zu entrüsten,
Sie vaterlandslose Figur!
163Degenhardt, Franz Josef, Polydor 815 227-I.
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Wenn Staatsanwälte den Verdacht
gegen Minister formulieren,
dann ist das, wie wenn Terroristen
eine Geisel liquidieren!
Wir können wieder Blutzoll leisten.
Das Wort ist wieder eingeführt,
damit der einfache Soldat
auch sprachlich was von Wende spürt.
Jetzt hat unser Deutsch Konjunktur!
Mit Worten, die nichts mehr vernebeln.
Jetzt sitzen wir an den Hebeln.
Und wir reden wieder Fraktur.
Es ist die deutsche Geschichte
in Illustrierten zu lesen.
Wie spannend, wie sie an der Ostfront
am deutschen Wesen genesen.
Jetzt darf man auch wieder sagen,
wie decorum et dulce es est,
wenn man für die Heimat auch einmal
das blühende Leben läßt.
Jetzt reden wir wieder Fraktur!
Wir haben schon lang drauf gewartet!
Entartet bleibt immer entartet!
Und unsre Natur ist Natur!
Man darf wieder von Dolchstoß sprechen
und Auschwitz leicht relativieren.
204
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Es gibt hier viel zuviel Kanaken!
Wir werden sie schon reduzieren.
Ein freies Leben führen wir und
rüsten voller Wonne!
Und wer etwas dagegen sagt,
ist Moskaus 5. Kolonne!
Schaut nur besorgt auf die Uhr!
Es ist nicht zwölf, es ist später.
Die Sprache ist ein Chronometer!
Und wir reden wieder Fraktur.
Werner Schneyder, 1984164
An kleineren und größeren Skandalen fehlt es in der Republik nicht. Es macht auch
keinen Unterschied, wer an der Macht ist. Die Verfügbarkeit angehäufter materieller und
politischer Gewalt hat die Politiker quer durch die Parteienlandschaft verführbar und
erpressbar gemacht. Die Barschel-Affäre des Jahres 1987, zum Beispiel, ist nicht allein
Affäre der CDU, wie sich später zeigt. Sie hat auch auf der Opferseite Spuren
hinterlassen. Im Wechselbad der Macht bleibt die Makellosigkeit der Westen und der
Moral eine uneinlösbare Utopie. Moralität reduziert sich bei Opposition und Regierung auf
Augenblicke, Dogmen der Unfehlbarkeit haben auf lange Sicht keinen Bestand. Der
Kabarettist hält wie der Fotograf ein Sofort-Bild in der Hand. Er kritisiert notwendig aus
dem Augenblick und kann nicht wägend abwarten. Er bezieht Stellung, radikal, und muß
mit Revisionen rechnen.
Der Kabarettist zur Kießling-Wörner-Affäre. Ein Viersterne-General wird entlassen, weil er
als Homosexueller für den Minister und die NATO angeblich zum Sicherheitsrisiko
geworden ist. Der Minister sitzt aus und rehabilitiert den Geschaßten.165
164Schneyder, Werner, 1984, S. 61f.
165Vgl. Sichtermann, Barbara, Die Affäre Wörner/Kießling, in: Hafner, Georg M. und Jacoby, Edmu n d,
1989, S. 243ff.
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Vorzeitig entlassen werden kann man in diesem Land ja aus den verschiedensten Gründen, wie
man in jüngster Zeit erfahren hat. Ich möchte zu diesen Affären nur eines sagen: Ob homo-,
hetero-oder asexuell, ich halte Generäle an und für sich für ein Sicherheitsrisiko. Worum ging es
eigentlich? Erst ging es um den Kopf von Wörner und um den Hintern von Kießling. Dann ging's
kurz um den Kopf von Kießling und um den Hintern von Wörner. Dann haben sie sich anläßlich
eines großen Zapfenstreiches verlobt. Wissen Sie, wer für mich der Mieseste in dieser ganzen
Affäre war? Der Kießling. Der läßt sich von einem Herrn Wörner die Ehre zurückgeben! Also
eine Ehre, die Herr Wörner einmal in der Hand gehabt hat, an die würde ich nicht einmal mehr
anstreifen wollen.
Werner Schneyder, 1984166
Über die Fremde - Dialektales und Dialektisches
Der Dialekt, der geläufige oder grenzüberschreitende Akzent im Kabarett, im politischen
Lied und im Chanson, gehören zu den beliebten künstlerischen Ausdrucksmitteln. Sie
verleihen, je nach Intention des Texters und Protagonisten, dem Fremden Vertrautheit
und Nähe, die die Nüchternheit der Hochsprache auf der Bühne nicht einräumt. Dialekt
oder fremdländischer, mit Akzent behafteter Sprachgebrauch, schenken der dargestellten
und besprochenen Wirklichkeit eine neue „Optik“ im akustischen Kontext. Die Nähe, die
sich zum Zuhörer - gewissermaßen einschmeichelnd - herstellen läßt, verschafft unter
Umständen eine dramaturgisch gewollte und sprachliche Spannung zum Inhalt des
Textes. „Der brave Soldat Schweyk“, von Helmut Qualtinger gesprochen, ist nicht nur
wegen des Inhalts für den Zuhörer von Interesse. Was über Krieg und Frieden hier im
böhmischen Dialekt gesagt wird, trifft den Zuschauer, weil regionaler Sprach- und
Sprechgebrauch der Tatsache des Krieges intime Nähe verleihen. Dialekt ist auf Bühne
und Schallplatte selten dem Zufall überlassen. Die Mundart ermöglich in aller Regel die
schamloseste Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen. Mit ihr kann die kognitive
Verkrustung beim Zuschauer leichter überlistet werden. Das gilt freilich auch dann, wenn,
umgekehrt, Fremde und Ausländer im „deutschen“ Kabarett auftreten. Die Realität läßt
sich durch diesen absichtsvollen Kunstgriff ein weiteres Mal spiegeln: Durch einen
Ausländer, der einen Deutschen spielt und durch den fremden Akzent, der die Konflikte
166Schneyder, Werner, 1984, S. 50.
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zwischen Ausländern und Deutschen aus ungewohnter akustischer Perspektive
transparent macht.
Das Ulmer Knobi-Bonbon-Kabarett der türkischen Einwanderer Mushin Omurca und
Sinasi Dikmen macht solches in seinen Programmen deutlich, zuletzt in dem Programm
Der Beschneider aus Ulm. Beim Abgang unterhalten sich die beiden nochmals über ihre
Erlebnisse als türkische Fremde unter Deutschen.
Omurca: (Nach der Verbeugung) So, das wärs ... Tschüüß! (Ab)
Dikmen: Du darfst noch nicht gehen!
Omurca: (Von hinten) Warum nicht? Ich bin fertig, hab Hunger ...
Dikmen: Die (zu den Zuschauern) sind noch da!
Omurca: Mein Gott! Müssen wir uns denn immer auf türkische Art verabschieden? Erst müssen
die Gäste raus, dann wir. Das stinkt mir aber langsam!
Dikmen: So sind eben die Kabarett-Zuschauer! Wenn sie was bezahlt haben, bleiben sie bis
zum bitteren Ende da!
Omurca: (Kommt zurück zu Dikmen) Merken die nicht, daß wir fertig sind?
Dikmen: Wenn sie es gemerkt hätten, wären sie schon längst draußen.
Omurca: (Zum Publikum) Guten Abend! Draußen ist noch schöner Abend! ... (Zu Dikmen)
Keiner rührt sich!
Dikmen: Die sitzen immer noch.
Omurca: Schön, daß ihr da wart!
Dikmen: ... gewesen seid!
Omurca: Merkwürdig, die kapieren nicht.
Dikmen: Langsam wird es mir aber zu blöd, ich gehe!
Omurca: Spinnst Du, was soll ich denn machen?
Dikmen: Kein türkischer Abend ohne Bauchtanz!
Omurca: Warte doch! ... O.K. ich mache etwas Bauchtanz, aber du hast die Gage kassiert in der
Pause. Gib mir meinen Anteil, dann kannst du gehen.
Dikmen: Nimm! (gibt Omurca einen Hunderter)
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Omurca: He! Was soll das? Das ist nicht die Hälfte!
Dikmen: Tschuldigung! Ich hätte es dir vorher sagen sollen: Mein Bruder Osman ... ,Ossi` ... ist
in Schwierigkeiten.
Omurca: Was habe ich mit deinem Bruder Osman zu tun?
Dikmen: Theoretisch nichts, aber praktisch schon!
Omurca: Ich komme überhaupt nicht mit.
Dikmen: Dann bleibe eben da, wo du bist.
Omurca: Mann, ich bin doch nicht der Bruder deines Bruders!
Dikmen: Sei doch froh!
Omurca: Ihr seid Brüder! Außerdem, ihr beide wohnt in zwei Eigentumswohnungen
nebeneinander ... Ich dagegen bin zur Miete hier ...
Dikmen: Nein, nein, nein! Nicht zwei Wohnungen! Sondern nur eine!
Omurca: Nur eine? Ach, hat der Ossi seine Wohnung verkauft?
Dikmen: Nicht direkt ... Wir haben die Wände dazwischen abgerissen und ...
Omurca: Ach soo. Wiedervereinigung, sozusagen.
Dikmen: Ja. Ein bißchen.
Omurca: Weißt du, ich habe nichts dagegen ....
Dikmen: Keiner war dafür.
Omurca: ... aber, wenn ihr beide euch eine doppelt große Wohnung leisten wollt, dann müßt ihr
beide sie finanzieren, nicht ich, oder?
Dikmen: Das ist nur ein Solidaritätsbeitrag.
Omurca: Solidaritätsbeitrag ist abgeschafft worden! Nicht mehr aktuell!
Dikmen: Dann ist es ... Zwangsanleihe!
Omurca: Du hast mich aber nicht mal gefragt, ob ich mich mit euch beiden solidarisieren will,
zahlen will, zahlen kann ...
Dikmen: Na gut! Hiermit stelle ich dir die Frage in aller Öffentlichkeit: Entweder zahlst du ...
oder ... zahlst du!
Omuca: Sehr demokratisch.
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Dikmen: Und die Antwort?
Omurca: Ooo! Ich darf sogar wählen! ... Mmmmm ... Ich nehme den zweiten, aber unter einer
Bedingung: Ich möchte mitentscheiden, was ihr aus meinem Geld macht!
Dikmen: Na! Na! Na! Vertraue uns doch! Du weißt gar nicht, was gut oder was schlecht ist!
Mensch sei doch froh, daß du nicht gezwungen wirst zu denken! Wir werden auch für dich
denken müssen! ... Apropos: denken ... Im nächsten Monat ziehe ich dir 50,- Mark ab.
Omurca: Wofür muß ich den Fuffi zahlen?
Dikmen: Denksteuer! Auch das Denken muß bezahlt werden! (Ab)
Omurca: Arschloch! (Zum Publikum) ... Seid ihr immer noch da?! ... Also, meine Damen und
Herren, aus kabarett-wirtschaftlichen Gründen, können wir leider eure Aufenthaltserlaubnis in
diesem Saal nicht mehr verlängern, gute Nacht!
Knobi-Bonbon: „Der Beschneider von Ulm", 1993167
Die deutsch-türkische Gruppe Yarinistan mit ihren Gründern Geo Schaller und Nadim
Hazar vermag in hervorragend arrangierten Songs die Vermischung der Kulturkreise
zwischen Okzident und Orient zu artikulieren. Die Lieder sind durch ein hohes Maß an
Selbstironie und sarkastischer Zuspitzung äußerst wirkungsvoll. Die Rolle, die der
deutsche Spießer dem Türken als Kloputzer und Straßenfeger für des Deutschen
Behaglichkeit und Bequemlichkeit zugedacht hat, sie wird von der singenden Truppe nur
allzu bereitwillig artikuliert. Die verkrusteten Vorurteile werden spielerisch als gegeben
und richtig angenommen, intellektuell bloßgestellt und dialektisch enttarnt. Die Balladen,
Schau- und Hörstücke erzählen von „Emigrantenschicksalen, Hodschas,
Bauchtänzerinnen, von Heimat und Heimatlosigkeit in der Großstadt“, so die
Liedersammler Heide Buhmann und Hanspeter Haeseler. Und weiter: „Dabei gelingt es
Yarinistan, zeitgenössische Musik zu kreieren, die aus deutscher, türkischer und
kurdischer Kultur Anregungen schöpft, um sie zu etwas Neuem zu vereinen. Interessante
Rhythmen der Balkanfolklore, die reizvollen Klänge der traditionellen Volksinstrumente,
mischen sich mit Sequenzen des Rock.“168
167 Unveröffentlichte s Manuskript von Mushin Omurca,de m Autor freu n dlich zur
Verfügung gestellt.
168Buhmann, Heide, Haesler, Hanspeter, 1993, S. 420.
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Türken sind froh
Zigeuner sind lustig, die Türken sind froh
trinken viel Raki und putzen das Klo
Im dritten Stock boxt Mohammed
der Orient erwacht
Kopftuch-Schönheit, Hosen bunt
Ali winkt und lacht
Fatma tanzt mit ihrem Bauch
andre tanzen auch
Kewapspieß und grüner Türke
Oh Allah bin ich zu
Saßgedudel, Trommelklang
Frauen sind tabu
Ali singt vom Schwarzen Meer
alle weinen sehr
Zigeuner sind lustig, die Türken sind froh
trinken viel Raki und putzen das Klo
Sie feiern bis der Morgen graut
der Selim ist schon weg
Draußen in den Pissoirs
wartet schon der Dreck
Keiner sagt, was jeder weiß
Deutschland ist ein S ........
Im dritten Stock kehrt Ruhe ein
der Tschai schmeckt heimatlich
Türken bleiben, Türken sind
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lieber unter sich
Aber fröhlich könn' sie sein
alle stimmen ein
Zigeuner sind lustig, die Türken sind froh
trinken viel Raki und putzen das Klo
Yarinistan, 1987169
Uli Keuler, der schwäbische Solist und Moralist aus Mähringen, betreibt kabarettistische
Aufklärung, indem er gängige Klischees über „den Islam“ ins Absurde steigert. Die
landläufige Unwissenheit über die Weltreligion und ihre Vertreter wird durch den
geschwätzigen - in der Aufführung deftig schwäbelnden - „Kenner“ drastisch bestätigt. Die
Nummer ist aus Anlaß des Golfkrieges 1991 geschrieben und fordert die Selbstprüfung
des Zuhörers und Zuschauers heraus. Teilt er die Tatsachenbehauptungen, die wüsten
ethnischen und religiösen Unterstellungen, oder hat er andere Erfahrungen gemacht? Der
schwäbische Dialekt ermöglicht die Verschränkung von „großer Politik“ mit der Erfahrung
in der Provinz und am Stammtisch. Reaktionäres Denken und Sprechen, die
Animalisierung der fremden Rasse und Kultur gewinnen im Dialekt an Plastizität.
Hochdeutsche Rationalität muß nicht erst durchdrungen werden, um die Borniertheit zu
desavouieren. Schwäbisches kommt gewissermaßen heimtückisch, ja „hinterfotzig“ daher.
Die Distanz der hochdeutschen Nachrichtensprache zwischen einem Gesagten und
einem Gemeinten verringert sich hier im rustikalen Dialekt auf ein relatives Minimum.
Horväth, Karl Valentin oder Liesl Karlstadt bedienten sich ganz selbstverständlich dieses
Mittels. Kein Künstler, der es stimmlich handhaben kann, wird auf diese suggestive
Möglichkeit verzichten. Die bodenständige Aussprache, sie wirkt zudem stets
„authentischer“ als gemeißeltes Mediendeutsch. Kabarett, das sich dieser Technik
bedient, ist beim Publikum in aller Regel hochwillkommen und genießt einen
„Vertrauensvorsprung“.
169Ebd. S. 216. Text: Jürgen Fischer, Musik: Nedim Hazar und Georg Schaller.
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Was wissen wir über den Islam?
Meine Damen und Herren, was wissen wir über den Islam ? Als mir diese Frage vor einigen
Monaten zum ersten Mal gestellt wurde, da war ich zunächst etwas ratlos. Ich hatte das Wort
zwar oft gelesen, aber mir nie Gedanken darüber gemacht. Ein Sondierungsgespräch mit
Fachleuten aus der Winzerstube meines Stammlokals „Zum Rössle“ ergab zunächst ein recht
uneinheitliches Bild. Der Islam... Die einen erklärten, es handle sich um eine Geheimwaffe von
Saddam Hussein, andere sprachen von einer afghanischen Rebellenorganisation und wieder
andere meinten, es handle sich um eine Art Wirbelsturm, der sich über Asien zusammenbraue,
und dann gut Nacht um sechse .... Der Informationsstand war so unübersichtlich, daß ich kurz
davor stand, in einem dieser Dinger da nachzusehen, mit denen man normalerweise Blumen
preßt und den Diaprojektor waagrecht hält. Dank Ausbruch des Golfkriegs blieb mir diese
Prozedur erspart. Und inzwischen darf ich sagen: 15 Fernsehkanäle und ein Videogerät haben
mich zu einem der profundesten Islamkenner zwischen der Straße von Hormuz, der Straße von
Gibraltar und der „Lindenstraße“ gemacht.
Was wissen wir über den Islam? Das hervorstechendste Merkmal des Islam ist sein
granatenmäßiger Fanatismus. So hat es einer der lautesten Islamkenner auf der S-BahnStrecke Stuttgart-Plochingen formuliert, gestützt auf Ergebnisse eines Kolloquiums, das im
Rahmen des Cannstatter Volksfestes stattfand. Im Islam ist alles verboten: Schweinefleisch,
Alkohol, Bomerlunder, Saurer Fritz, Fernet Branca, Strümpfelbacher Trollinger, Asbach Uralt,
Sechsämtertropfen, Amselfelder, Sannwald Weizen ... und das ist nur ein repräsentativer
Querschnitt. Ebenso düster sieht's in anderen Lebensbereichen aus. Wo in den Tagen der
Kreuzfahrer der Minnedienst für die orientalische Frau in zarten Versen verherrlicht wurde, da
werden heute Frauen im Namen Gottes gegängelt und bevormundet, daß sogar der Vatikan
schon von einer Annäherung zwischen den Weltreligionen spricht. (...) Wir haben bislang nur
über die religiösen Grundlagen des Islams gesprochen. Aber was wäre der Islam ohne den
Moslem? Nun, was wissen wir über den Moslem? Wie wir seit den Orientstudien des
Ethnographen Kara Ben Nemsi wissen, lebt der Moslem in würfelförmigen Lehmbehausungen,
die er bevorzugt in Oasen errichtet. Zur Vernichtung seiner Feinde benutzt er diese Oasen auch
gerne als Fata Morgana. Das ist ein arabisches Wort und bedeutet „Christenfopper“. Der
Moslem neigt zur Vielweiberei, die jedoch im Rückgang begriffen ist und das macht ihn
aggressiv. Er rottet sich daher gerne mit anderen Artgenossen zusammen, um den Amerikaner
für jeden Hennenfurz verantwortlich zu machen.
Uli Keuler 1991170
Gerhard Polt hat zusammen mit dem Kabarettautor Hanns Christian Müller die
bloßstellende Schlagkraft des Dialekts auf der Bühne zur anerkannten Meisterschaft
getrieben. Müllererhält 1982 für seine Arbeit den Adolf-Grimme-Preis und hat an
zahlreichen Scheibenwischer-Sendungen als Autor mitgewirkt. Polt schaut bei seiner
Interpretation dem Volk nicht nur aufs bayerische Maul, er seziert mit sprachlichen und
szenischen Mitteln die kleinbürgerlichen Ängste und ihre gewalttätigen Obsessionen. Man
hat gelegentlich auf die Nähe der Poltschen Figur zu Ödön von Horváths Theater
verwiesen, und der Kabarettist selbst räumt diese Nähe auch ein. Bei Horváth und Polt
170Unveröffentlichtes Manuskript, dem Autor freundlich zur Verfügung gestellt.
212
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liegen Lächerliches und Schockierendes eng beieinander. Polt läßt seinen Spießer eine
„entstellte“ und entstellende Sprache sprechen. „Weniger der Inhalt als vielmehr die Art
der Rede gibt Aufschluß über den Redner selbst“, betont Mario Gamper in einer
Untersuchung zur Sprache des Münchner Kabarettisten.171 DerUmgang mit völkischen
und ethnischen Ressentiments reflektiert das Sprechstück über den Russen. Das Fremde
wird als zoologisches Ereignis begriffen, als ein organologisches „Phänomen“, das den
deutschen Stammtischbruder und Spießer immer wieder „staunen“ läßt. Tiefsitzende
Urängste gegen den alten Kriegsgegner kommen beiläufig an die Oberfläche. In einer
weiteren Ebene ist es der Argwohn des Bajuwaren gegen alles Fremde, den Ausländer
schlechthin, der sein extremes Recht einfordert. Erreicht wird solches auch durch die
Schilderung einer „Russin“, die „sogar“ Mensch ist. Das Normale dient als Beleg für die
Anomalität in dieser schlitzohrigen Völker-Posse, die aus der Negation ihre pädagogische
Intention für den Zuschauer zieht.
Alles über den Russen
(...) Schaun Sie, jetzt sag ich Ihnen mal was: Ich mein, der Russe
das Feindbild - der Russe, net ... Ich mein, der Kontakt zum Russen ist ja gewissermaßen seit
der letzten Kriegsgefangenschaft ziemlich abgerissen. Der Russe ... Ich war ja drüben, aber wie
soll ma den Russen, mein Gott ... Der Russe ist natürlich sehr vielfältig, verstehen Sie, es gibt
ihn zum Beispiel in der Form von jüngeren Russen, net? Den Russen gibts auch älter ... in der
Form vom Senior praktisch, nicht wahr ... Der Russe, eh ... Was, farblich? Ja, er geht praktisch
vom Flachsblonden ... geht der Russe hinüber ins Braune, also bis ins Kastanienbraune, nicht
wahr, rothaarig ist auch dabei ... Ja, schwarzhaarig ... Na ja, also bis ins Grau-Weiße geht er
hinein, zweifellos...
Interessant ist der Russe ... Da hab ich a interessante Beobachtung gemacht: Also, so im
Herbst, wissens, was er da macht? Der Russe, da zieht er sich an Mantel an, und so a Mütze ...
Des macht er gern. Und im Sommer, da läuft er, wenns heiß is, direkt hemdsärmelig herum. Net
wahr. Wissens, was er gern mag ??? A Eis. A Speiseeiserl.
Wissen Sie, ich muß Ihnen noch was sagen. Es ist ja schon interessant: Wenn er grinst, der
Russe, oder wenn er lacht, wissens, was ma glauben könnte? - Da könnt ma glaubn, der hat a
Gaudi!
171Gamper, Mario, Die Sprache als Verräter. Der Kabarettist Gerhard Polt, Tübingen 1991, S. 5
(unveröffentlicht e s Ms.).
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Ich habe folgende Beobachtung gemacht ... muß ich Ihnen schildern, weil - das ist interessant:
Ein Russe, ein weiblicher, beugt sich über einen so winzigen, klitzekleinen Russen ... So a
gewindelter Russe, net wahr. Und ich mein, sprachlich kann ichs nicht so, aber ich versuchs. Er
sagt da zu dem kleinen Russen: „Guggugguggug, dadadada“. Und dieser kleine Russe, der hat
gestrahlt! Dem is der Diezl ausm Mund gfalln. Der war restlos begeistert.
Was er nicht mag, der Russe, des is der Krieg, den mag er gar net - interessanterweise. Den
lehnt er direkt ab. Ma könnt sagn, er hat Angst davor. Aber wissen Sie, des is des, was ma dazu
sagn kann. Die haben Angst. Und drum frag ich Sie: Wenn dieser Russe kommt ... verstehn
Sie ... wissen Sie, was dann los ist? - Der Russe, wenn er kommt, dann is er da.
Gerhard Polt, 1984172
Das Gespenst des Pazifismus
Vitus Maria Deutelmoser entnimmt seiner Mappe einen Apfel, beißt hinein und räsoniert.
Deutelmoser:
Jetzt werd ich doch A 13, im Staatsdienst, gel. Da is überraschend eine Stelle freiworden, weil,
es hat sich herausgestellt, daß der ander a Pazifist gwesen waar. Der hat sich öffentlich dazu
bekannt, ohne das geringste ah, Schamgefühl, sagn mir mal. Ja, des hat doch keinen Sinn, daß
man so jemand hinläßt. A 13, diese Position, und dann so a Einstellung, des geht doch net, da is
doch der Pazifismus fehl am Platz. Weil simmer uns doch amal ganz ehrlich: Unsere
Friedenssituation, des is doch eindeutig nur das Verdienst vom Militär. - Im Osten genauso. I will
da gar nichts beschönigen. Da werd der Pazifist sogar - huit, Sie verstehen, de wissen genau,
warumsn eisperrn, i muaß sagn, da kimmt er bei uns no direkt guat weg.
Jetzt stelln Sie sich amal vor, mir hätten in der gesamten Welt lauter so Pazifisten, und nacherd
kimmt der Ernstfall: Dann stehen sich Ost und West einander praktisch wehrlos gegenüber und
dann bumsts, dann hammem Krieg. Denn diese Pazifisten habn ja noch nie an Krieg verhindert.
Oder können Sie mir irgend einen Krieg nennen, den wo die verhindert hätten? - Eben. Und im
Krieg selber sans praktisch so gut wie ein Ausfall, direkt eine Schwächung, und hinterher schlau
daherreden, net, des kann ajeder. I moan, was so einer privat macht, des is dem seine
Privatsache, gut, Schwamm drüber. Aber im öffentlichen Dienst waar er annähernd ein
Schädling, und des haben die im Verwaltungsgericht ihm auch prompt anerkannt. - Er soll ja
gsagt habn. Ost und West waar net desselbe, aber er hat überhaupt nix Eindeutiges gegan
Osten direkt gsagt, und des is doch eine gefährliche Tendenz, wenn man so einen dann hi laßt.
Bitte, ich mein, als Entschuldigung hat er angführt, daß sei Vater a Pfarrer war oder so, aber
wenn die Kirche schon solche Gedanken aussprengt, na muaß ich ihm darauf verweisen, daß
mir hier leben, hier, net in Wolkenkuckucksheim - Sie sehng ja, wer den Posten kriagt hat. Also i
muaß schon sagn, mit diesem Pazifismus kimmr er net weit, jedenfalls nicht zum Staat.
Gerhard Polt, Hanns Christian Müller: Da schau her, 1984173
172Polt, Gerhard/Biermösl Blosn, CD 33.624; auch in: Hildebrandt, Dieter, Müller, Hanns - Christian,
Krieger Denkmal, 1984, S. 78ff.
173Polt, Gerhard, Müller, Hanns-Christian, Da schau her, 1984, S. 23f
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Die Ansprache im Dialekt - als Berliner Schnauze wie Günter Neumann, als „Schlesischer
Schwan“ wie Ludwig Manfred Lommel, als schwäbischer Nörgler wie Willy Reichert, als
kritische Instanz wie Polt oder Keuler - läßt sich für die Ablichtung subjektiv erlebten
Unglücks oder sozialen Leids, in der Wirkung intensiv und „zudringlich“, ganz vorzüglich
nutzen. Die Mundart demaskiert nicht nur Protagonisten, sie erlaubt auch den Blick in
bedrohte Innenräume, auf den Zustand der psychischen Verunsicherung durch
Arbeitslosigkeit zum Beispiel. In diesem Kontext haben Joana Emetz und Joy Fleming
1986 mit dem Chanson Butzekrampele ein ansprechendes Lied kreiert. Der Mannheimer
Dialekt schafft Nähe, aus der das Bild einer anonymen und feindlichen Gesellschaft sich
abhebt. Die Welt wird im Chanson als insgesamt dichotomisch erfahren: Der Idylle ist das
drohende Schreckgespenst der Arbeitslosigkeit vermittelt, die von anonymen Kräften
(„was mache se bloß?“) gesteuert ist. Das Lied argumentiert nicht durch eine Geschichte,
es überzeugt durch Emotionalität im vorgetragenen Ton. Seine Rationalität ist die
Perfektion der Künstlerinnen Joana Emetz (Text und Musik) und Joy Fleming (Gesang),
„ein musikalisches Gassenkind, das Musik nicht liest, nicht lesen kann, sondern hört, das
Sprachen durch Singen gelernt hat, das nur ein paar Takte Rhythmus und eine
Andeutung von Melodie wahrzunehmen braucht, um sofort in Musik zu verfallen“.174
Butzekrampel
1.
Do renne se moi kläne Butze,
Vertreiwe drauß de Rege.
Mache Wind bis in die Wolke,
Daß die sich bewege.
Lache, pfeife, mache Krach
Un en Mordskrakeel,
Un ich steh unner'm Regedach,
Hab Wolke uff de Seel':
Die werre bald groß,
Was mache se bloß?
174Sack, Manfred, 1991, S. 62.
215
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Mit Arweit is nix los,
Die hocke uff de Stroß ...
2.
Warum solle se dann fleißisch soi
Un lerne wie die Affe?
Un äner besser wie der anner,
In de Schul sisch dabbisch schaffe?
Dann stehe se do, als Verlierer,
Leit, des is beschisse,
Wenn se schaffe wolle un wie Hausierer
Um ä Lehrstell bettle misse!
Die werre bald groß ...
3.
Geh her, mein kläner Butzekrampel,
Ich nemm dich in de Arm.
Sie steht noch net uff Grün, doi Ampel,
Noch hoschts trocke un hoschts warm.
Noch hoschts dehäm schä, wie en Ferscht,
Weescht nix von Lug und Trug:
Im große Lewens-Rege werscht
Demnächscht noch naß genug ...
Die werre bald groß...
Text und Melodie Joana Emetz, 1986175
175Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin.Unter dem Titel „Moi kläne Butze“ auch in:
Kröher, Hein und Oss, 1991, S. 356f.
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Eine Zensur findet statt
Das Kabarett hat von jeher die Zensur - was immer dies global betrachtet meint - und ihre
scheinbar zivil und nur dem Recht und dem Geschmack verpflichteten Obmänner in den
Funk- und Fernsehanstalten beschäftigt. „Eine Zensur findet nicht statt“ wird im
Grundgesetz Artikel 5 freundlich und bestimmt behauptet. Die Realität sieht freilich auch
nach 1949 anders aus und ist mit der Verfassungswirklichkeit weiterhin nicht in Deckung.
Dabei ist von vornherein zu fragen, ob die Interventionen von kirchlicher, staatlicher oder
öffentlich-rechtlicher Seite für die Kabarett-Kunst nicht zugleich stets eine fruchtbare
Provokation bedeuten. Das klingt ketzerisch, dient gleichwohl der Standortbestimmung
der öffentlich befehdeten Kunst. Es gibt die bislang nicht widerlegte These, daß das
Kabarett ganz allgemein, vor allem aber das politische, den direkten Schlagabtausch mit
der Obrigkeit als kreatives Potential für sich nutzt. Wäre alles geduldet, gäbe es nicht
immer wieder öffentlich-rechtliche Nachstellungen und Verfolgungen in Richtung
Kleinkunst, dann müßte dieser Kunstbetrieb um seine Legitimation und seine literarische
Wirkung zu Recht fürchten. Es ist eine schizophrene und zugleich, wenn man so will,
sadomasochistische Ausgangslage: Das Kabarett wird von den Rezipienten gerade dort
als unverzichtbares Instrumentarium verstanden, wo es auf Kollisionskurs mit einer
mächtigen oder staatstragenden Auffassung ist. Die Spannung, die Werner Finck
erzeugte, liegt gerade im unausgesprochenen Verbot, in der Möglichkeit zum staatlichen
Eingriff. Die verfolgte Kunst lebt von dem Tanz auf dem Vulkan und von der relativen
Ungewißtheit ihrer Wirkung auf die Politik. Zensur, wenn sie heute im Kontext des
Kabaretts stattfindet, hat ihren Ort in der Fernsehgesellschaft fast ausschließlich im
Fernsehmedium selbst. Im Theatersaal, auf den Kanälen der Rundfunksender ist nahezu
alles erlaubt, herrscht nächtens ein gerüttelt Maß an Narrenfreiheit, wobei freilich immer
noch die feinen Mechanismen der „inneren Zensur“ in Rechnung zu stellen sind. Der
öffentliche Skandal, der registrierte, er findet seit den späten fünfziger Jahren in bezug auf
das Kabarett nur noch im Fernsehen statt. Emsige Staatskanzleien zwischen München
und Kiel, geschaftelhuberische Rundfunkräte prüfen mit Bedacht, ob Sitte und Anstand in deren Sinne - gewahrt bleiben, und die Kirche - heute leiser als früher- läßt ebenfalls
die Übereinstimmung mit ihren verfügten Dogmen und Moralwerten prüfen. Jeder dieser
Eingriffe von seiten der bestallten Fernsehwächter alarmiert die Kabarettisten, weil die
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Folgen meist viel weiterreichen als der konkrete Einzelfall zunächst signalisiert. Zu
erinnern ist hier an den „Fall“ Mathias Richling vom Oktober 1989. In einer
„Nachschlag“-Sendung des SDR hat der Künstler die Äußerungen des Papstes zur
Empfängnisverhütung frech und „schamlos“ auf die Schippe genommen. Der SDR stellt
sich nach Protesten der katholischen Kirche nur noch halbherzig vor den Kabarettisten
und gibt dem Künstler zumindest für diese Sendereihe den Laufpaß.
An dem Beispiel werden die Mechanismen der Zensur vermittelt sichtbar. Ihr Gesicht
präsentiert sich seit den Tagen des Fürsten Metternich in vielerlei Gestalt und
Kostümierung. Sie genießt Bestandsschutz und provoziert die Rituale präventiver
Vorsichtsmaßnahmen bei den verantwortlichen Fernsehredaktionen und den Akteuren am
Bildschirm. Die krude und nackte Zensur findet heute in der Tat nur noch sporadisch statt,
doch ist sie aus dem Medienalltag nicht wegzudenken. Die Praxis belegt es, wenngleich
die Einflüsse von seiten der Politik insgesamt subtiler geworden sind. Der Eingriff des
Bundeskanzlers, der seine „Betroffenheit“ über den Fernsehfilm „Die Terroristen“176
artikuliert, weil er darin als (fiktives) Opfer eines gescheiterten Anschlags benannt wurde,
hat für den Kunstbetrieb freilich erhebliche Folgen. Die Empörung des Politikers ist stets
bedeutsam, weil sie der Liberalität im Kulturbetrieb fast immer entgegensteht. Das Husten
der Volksvertreter schlägt, kalkuliert und beabsichtigt, Wellen und dient in aller Regel der
Einschüchterung. Auf die Presse, zumal auf die aus der Provinz, machen Minister-Rügen
Eindruck. Der politische Effekt der indirekten Kunstdisziplinierung ist damit erreicht.
Bösartig
Der Fernsehausschuß des Südwestfunks hat mehrere Stunden nachgedacht und ist nach dieser
schwierigen Übung zu dem Schluß gekommen, daß man es gerade noch einmal durchgehen
lassen kann, wenn in einem vom SWF zu verantwortenden Film der Bundeskanzler ein bißchen
zum Abschuß freigegeben wird. Der Ausschuß konnte logischerweise auch keine Gründe für ein
Mißtrauen gegenüber der SWF-Spitze erkennen, die in einem schwierigen Abwägungs- und
Entscheidungsprozeß gestanden habe. Die Senderwirklichkeit sah etwas anders aus: Die
Verantwortlichen waren entweder nicht greifbar oder sie ließen sich von nachgeordneten
Chargen versichern, der Film sei gänzlich harmlos. Senderwirklichkeit ist: Die
Kontrollmechanismen beim SWF funktionieren nicht, ob aus Inkompetenz oder Desinteresse
bleibe dahingestellt.
176Südwest Presse, 23.11.92.
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Der Ausschuß drehte sich so gequält, weil der Intendant nur noch kurz im Amt ist und weil man
ihm zum Abschied keine Rüge mitgeben wollte. Das ist nett, dient aber nicht der Reinlichkeit des
Senders. Wer einen bösartigen Schwachsinn zu verantworten hat, wie er in dem Film „Die
Terroristen“ zu besichtigen war, der muß sich auch noch am letzten Tag an seine
Verantwortung erinnern lassen.
Ulrich Wildermuth, Südwestpresse, 5.12.1992
Zensur sei die mit Machtmitteln versehene Kontrolle menschlicher Äußerungen, haben die
Wissenschaftler Michael Kienzle und Dirk Mende notiert.177 Zensur führt nach dieser
Einschätzung bei Bedarf „zu rechtsförmigen und außerrechtlichen Sanktionen.
Beispielsweise zur Behinderung, Verfälschung oder Unterdrückung von Äußerungen vor
oder nach ihrer Publizierung.“ Die Grenzen, die dabei berührt oder auch überschritten
werden sind fließend, manchmal auch schwierig in ihrer Bewertung. Die Ablehnung eines
zur Uraufführung eingereichten Schauspiels durch den Intendanten kann mit Zensur
etwas zu tun haben, es ist aber nicht zwingend. Die objektiv zensurierende Arbeit im
Lektorat des Senders steht gelegentlich unter dem Verdacht der Literatur-Beugung. Das
Terrain ist allemal schlüpfrig, die Begriffe müssen am jeweiligen Fall stets neu definiert
werden. Der Rotstift kommt gelegentlich ganz leichtfüßig und mit dem beliebten Argument
des „Sachzwangs“ daher. Ein solches Beispiel bringt Hanns Dieter Hüsch zu Papier. Die
Satire ist der Realität absolut gewachsen und belegt die Mutationen der Zensur, zeigt
alten Wein in neuen Schläuchen.
Eins dreißig
„Jaa ...“, sagte der junge Redakteur Roland Müller-Remscheid, „Ihr Textbeitrag ist ja
hochinteressant. Aber zu lang, zu lang.“
„Wie lang ist er denn?“, fragte ich.
„Frau Bachmann, wie lang ist der neue Hüsch-Text?“
„Etwas über neun Minuten“, rief Frau Bachmann zurück.
177Kienzle, Michael/Mende, Dirk, 1980, S.231.
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„Über neun Minuten. Das ist leider zu lang.“
„Und wie lang darf er sein?“, fragte ich.
„Eins dreißig, notfalls auch eins vierzig.“
„Seh'n Sie“, sagte er, „es ist ja in der Hauptsache eine Musiksendung.“
„Ich dachte, es wäre eine Wortsendung. Kulturelles Wort.“
„Ja schon“, sagte er, „aber in Musik verpackt, gell? Das Wort sozusagen als Schmuggelware.
Aber Ihr Text ist zu lang.“
„Neun Minuten, das kann ich beim besten Willen nicht machen. Ich kann nur eins dreißig
machen, maximal.“
„Viellleicht kann man den Beitrag singen“, sagte ich, „dann wär's ja Musik.“
„Ja, wenn es Poesie wäre“, sagte er, „aber es ist ja Prosa und da geht ja dann der
Informationscharakter flöten.“
„Wenn er flöten geht“, sagte ich, „ist er doch schon verpackt.“
„Nein, nein“, sagte er, „es ist ja alles drin, von Johannes über Zefirelli bis zum Kirchentag. Der
Text ist ausgezeichnet, gar keine Frage. Ich hab' ihn unserer Putzfrau vorgelesen als Test, sie
war begeistert. Nur: Es wird in ihrem Text zu viel gesprochen, versteh'n Sie. Wir lassen ja schon
zum Teil unsere Moderatoren die Ansage singen.“
„Und das geht?“, fragte ich.
„Natürlich geht das. Die jungen Burschen heutzutage sind doch flexibel.“
„Tja“, sagte ich, „dann machen Sie doch nur noch Musik. Ein Programm völlig ohne Wort.“
„Das geht nicht“, sagte er, „wir haben ja einen Auftrag. Etwas muß schon gesprochen werden.
Und wenn's ein Telephon-Interview von 20 Sekunden ist. Der Hörer soll schon ab und zu seine
Muttersprache hören.“
„Seh'n Sie mal“, sagte er. „Ich würde ja Ihren Beitrag ungekürzt auf mich nehmen. Aber ab
Herbst dürfen die meisten Texte sowieso nicht länger als 40 Sekunden sein.
„Ja“, sagte ich, „was mach' ich da?“
„Oh ... Und wenn wir die neun Minuten jeweils nach einer Minute mit Musik unterbrechen. Also,
den Text neunmal unterbrechen wie einen Fortsetzungstext. Das wäre eine Möglichkeit“, sagte
er. „Aber dann müßte ich alle anderen Textbeiträge rausschmeißen.“
„Wie lang sind die?“
„In der Regel 15 Sekunden: eine Frage, eine Antwort. Und dann rasch wieder Musik.“
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„Sie müssen Ihren Text eben noch mal verdichten“, sagte er. „Es tut mir leid, aber Sie machen
doch Kleinkunst, Sie bevorzugen doch die kleine Form, und jetzt müssen Sie eben noch etwas
kleiner werden, eins dreißig, das hat auch was Spannendes, und was wegfällt, fällt nicht durch,
das wissen Sie ja (...)
Hanns Dieter Hüsch, 1992178
Mit dem Tatbestand der unmittelbaren Rundfunkzensur muß sich Hüsch neben anderen
Kollegen schon Ende der fünfziger Jahre auseinandersetzen. Der öffentlich-rechtliche
Rundfunk der Ära Adenauer ist machtgeschützt und vertritt das pluralistische Prinzip nur
insoweit, als er nicht mit Bonner Interessen kollidiert. Die Antiatombewegung hat es im
Radio schwer und kann sich anfänglich nicht durchsetzen, und das gilt auch für Hüsch.
Der Niederrheiner erinnert sich in einem Interview: „Ich bekam eine Auftragsarbeit und
zwar vom Südwestfunk. Diese Sache kriegten glaube ich vier Leute. Ich weiß nicht, wer
die anderen drei waren. Jedenfalls, es sollte etwas über die Atombombe gemacht werden.
Und zwar sollte das in einer Form gemacht werden, die so ein bißchen oratorisch war. Ich
glaube, der Kästner hat damals auch noch mitgemacht. Und ich habe dann meine später
sehr bekannt gewordenen vier Gesänge gegen die Atombombe geschrieben. Das war 58
oder 57, jedenfalls Ende der fünziger Jahre und das wurde dann in Baden-Baden mit
Musik produziert, mit meiner eigenen Musik, und nicht gesendet und auf Eis gelegt. Das
war das erste Mal. >Ja warum können Sie es nicht machen?< - >Ja, wir können es nicht
machen, es ist zu scharf und aggressiv.< Es war eine schöne Mischung aus Bibelzitaten
usw. Aber dann wurde das 1965, dieselbe Geschichte, neu produziert vom
Saarländischen Rundfunk. Und auf einmal ging es. Das heißt, das ist die alte Geschichte:
Die Zeit, sagen wir der Sturm war vorbei, nun konnte man das machen. Man konnte es
praktisch historisch machen. Das ist genauso, wenn man sagt: Tucholsky kann man
immer machen, man muß nur die Jahreszahl dazu sagen.“179
Hannelore Kaub, das streitbare Kabarett-Haupt vom Bügelbrett, erfährt im Juli 1964, was
es mit der öffentlich-rechtlichen Zensur im Fernsehen auf sich hat.180. Das Mauer- und
178Hanns Dieter Hüsch, Eins dreißig, 1992, S. 48.
179Hippen/Jacobshagen, SDR: 4.11.89.
180Vgl. S. 152ff.
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Deutschlandbild der Kabarettistin ist nicht genehm und paßt nicht in die kaltkriegerische
Fernsehlandschaft der einseitigen Schuldzuweisung. „Das war die erste und letzte
Chance, die wir je hatten, im Abendprogramm zu landen. Und das sollte erst ein und eine
Viertelstunde sein, dann eine Stunde und als dann wirklich gesendet wurde, waren es nur
noch 45 Minuten. Es war alles rausgeschnitten, was spannend und neu war und darunter
auch dieser Mauersong. Den könnte man heute noch singen.“181 Die Kabarettserie „Hallo
Nachbarn“ des NDR wird 1965/66 trotz reichlicher Zuschauerproteste ersatzlos
gestrichen, mancher Biß sitzt den Verantwortlichen denn doch zu tief. Peter Altmann
befindet: „Als die Hamburger Intendanz die Sendung „Hallo Nachbarn“ absetzte, tat sie es
aus Sorge um das vermutlich weitgehend unmündige Publikum. Das fatale Elite-Denken
also in Reinkultur, verbunden mit einer autoritären Verneinung des Kabarettisten-Rechts
auf öffentliche Wirksamkeit - raffiniert ausgedrückt durch die Unterstellung, das Kabarett
maße sich ein Mandat an, das niemand erteilt habe.“182
Wolfgang Neuss wird durch eine Springer-Kampagne in West-Berlin mit
Aufführungsverboten belegt oder in den Medien bewußt ausgegrenzt.
Er hat schließlich in seiner satirischen Postille Neuss Deutschland die Leser ermahnt, kein
Geld mehr für die amerikanischen Soldaten im Vietnamkrieg locker zu machen. 1972 fällt
das Programm „Der Abfall Bayerns“ der Fernsehzensur zum Opfer. Die euphemistischen
Drahtseilakte einer vermeintlichen Entschuldigung oder Begründung sind immer noch
hörenswert. Fernsehdirektor Helmut Oeller gibt anrührende Erklärungen einer
gewundenen Medienrhetorik zur Entschuldigung ins Mikrofon. O-Ton Oeller: „Es war so,
daß wir in einigen Nummern der Ansicht waren, daß diese zu verbessern seien. Wir
konnten uns darüber mit Sammy Drechsel und seinen Freunden nicht verständigen. Ich
habe das sehr bedauert, zumal wir schon 20 Sendungen gemacht hatten. Ich glaube aber,
diese Qualitätsfrage war nicht nur eine Frage der Lach- und Schießgesellschaft, sondern
auch der Entwicklung.
181In: Hippen/Jacobshagen, SDR: 4.11.89.
182Altmann, Peter, Was darf und was ist der politische Kabarettist: Hofnarr oder Agitator?, in: Die Andere
Zeitung, 24.3.1966, hier zitiert nach: Meyer, Ellen, 1988, S. 33.
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Es war einfach nicht mehr so viel da, was die Lach- und Schießgesellschaft provoziert und
animiert hätte, entsprechend gut und scharf zu sein.“ Und weiter meint der
Fernsehgewaltige: „Satire darf aufklären, informieren, kritisieren. Aber wo ist die Grenze?
Ich glaube die Grenze ist dort, wo statt Information Unterstellung stattfindet, wo statt
Information Voyeurismus gemacht wird. Ich glaube, sie hat ihre Grenze dort, wo statt
Aufklärung möglicherweise sogar Verleumdung stattfindet, wo statt notwendiger
Unterscheidung, notwendigem Gefecht, möglicherweise schutzwürdige religiöse oder
sittliche Werte verletzt werden.“183
Z wie Zensur
Wichtig nicht, ob sie so heißt!
In einer Demokratie sind jene, welche sich zensieren lassen,
noch schuldiger als die Zensoren.
Die hündischste aller Zensuren: die eigene Vorzensur!
Wieviele Worte werden von dem Blick auf die
Fernsehgage zensiert.
Der teuflischste aller Zensoren „das Geld“.
Rundfunk und Fernsehen sind bemüht, das Volk vor der Luft
zu schützen, die möglicherweise nicht nach dem eigenen
Käse riecht.
Zensoren haben eine gute Nase. Denken Sie mal mit der Nase.
Sie kastrieren und halten das Ergebnis noch für Potenz.
183Hippen/Jacobshagen,SDR: 4.11.89.
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Sie machen das öffentliche Leben zu einer Bühne. Zu einer Bühne gehören Versatzstücke,
Vorhang und Kulissen.
Eine Gesellschaft, in welcher ein Busen anrüchig ist und ein Marschallstab eine Reliquie.
Rudolf Rolfs, 1967184
Franz Josef Degenhardt, Dietrich Kittner, Die 3 Tornados, der unerschrockene Siegfried
Zimmerschied aus Passau185, auch der Floh de Cologne, sie alle haben als Kabarettisten
oder Ensemble die Zensur am eigenen Programm erfahren. Es gibt Prozesse wegen des
Verdachts der Religionsbeschimpfung im Falle der Tornados. Sie melden zum Beispiel
Zweifel an der sogenannten unbefleckten Empfängnis der Mutter Maria an und handeln
sich damit eine Strafverfolgung ein. Der Generalsekretär der Bischofskonferenz, Prälat
Schätzler, hat jedenfalls gegen die Überwachung und Reglemetierung des Kabaretts im
Fernsehen dem Grunde nach keine Bedenken. Im Gegenteil: „Wenn ich jetzt im
Rundfunkrat bin, oder wenn ich als Sekretär der Bischofskonferenz plötzlich nach einer
solchen Sendung auch eine große Anzahl Briefe bekomme, von Leuten, bei denen ich
annehme, daß sie nicht nur jetzt schreiben, damit sie auch schreiben, sondern, die
wirklich betroffen sind, die sich beleidigt fühlen, dann kann ich annehmen, daß das eine
größere Gruppe ist. Und dann habe ich sogar die Verpflichtung, daß ich öffentlich gegen
so etwas auftrete und öffentlich den Sender befrage: Wie kommt ihr dazu, den Leuten, die
euch die Gebühren geben, so etwas vorzulegen und vorzusetzen. Und dann frage ich
mich natürlich auch, wieso kommt denn so ein Dilettant, der sich als Satiriker ausgibt
dazu, permanent die Mattscheibe zu mißbrauchen?“186
Zensur, einmal protegiert und geduldet, erzieht zur fatalen Duckmäuserei, zur Anpassung
an die vorherrschende Moral und staatliche Doktrin. Im Scheibenwischer vom 16. Juni
1988 wird solches besungen. Aus der Sicht der Kabarettisten ist das angepaßte Verhalten
184Rolfs, Rudolf, 1967.
185Vgl. Landshuter, Walter/Liegl, Edgar, 1987.
186In: Hippen/Jacobshagen, SDR: 4.11.89.
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im übrigen die beste Voraussetzung für einen gehobenen Posten bei einer öffentlichrechtlichen Anstalt.
Lieber Gott mach mich fromm,
daß ich weit nach oben komm,
hilf mir meinen Mund zu halten,
vor den irdischen Gewalten,
laß mich nicht zu tolerant sein
und ein bißchen Intrigant sein,
daß mich der Herr Pfarrer liebt
und mir Heiligenbildchen gibt.
Lieber Gott mach mich kalt,
daß ich nie zu Schwachen halt,
hilf mir Treue vorzuheucheln
und den Mächtigen zu schmeicheln,
laß mich nicht an Dogmen zweifeln
und mich hüten vor den Teufeln,
die stets alles kritisieren
und des Lehrers Gunst verlieren.
Lieber Gott mach mich dumm,
daß ich niemals frag warum.
Hilf mir stets das eigne Denken
auf den Alltag einzuschränken,
vor Geboten mich zu ducken,
gegen Zwang nicht aufzumucken,
dann schaff 's ich mit dieser Tour
sicher bis zum Abitur.
Lieber Gott mach mich fromm,
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daß ich weit nach oben komm.
Laß mich stets ein dumpfer Christ sein,
nie ein grüner Anarchist sein.
Ich will statt zu demonstrieren
an Fronleichnam mitmarschieren.
Hilf mir nirgends anzuecken,
alle Stiefel blank zu lecken,
dann werd ich, das hoff ich sehr,
einmal Fernsehredakteur.
Scheibenwischer, 16.6.1988187
Zu spektakulärer Berühmheit gelangt die radikale Zensurmaßnahme des Bayerischen
Rundfunks vom 22. Mai 1986. Der Sender setzt im Einvernehmen mit der
Programmdirektion und dem Intendanten Reinhold Vöth die Sendung ab. Die
Reaktorkatastrophe von Tschernobyl (26. April 1986) findet in das Programm zwar nicht
direkten Eingang, immerhin reflektiert aber Lisa Fitz den Vorgang in ihrer Nummer vom
verstrahlten Opa auf einer surrealen Ebene. So hat aber der BR nicht gewettet und macht
von der Möglichkeit Gebrauch, sich im Namen seiner Zuschauer auszublenden. Die
Sittenwächter des Südens haben wieder einmal mächtig zugeschlagen, wobei sie aber
nicht mit der vehementen öffentlichen Reaktion rechnen. Die Presse auf den
bajuwarischen Zensurstreich ist jedenfalls verheerend, die nachträglichen
Rechtfertigungsversuche des Fernsehdirektors Helmut Oeller an den Haaren
herbeigezogen und mit der üblichen „machtgeschützten Ästhetik“ begründet.
Der verstrahlte Großvater
(Lisa Fitz kommt auf die Bühne, setzt sich ans Telefon und wählt.)
Lisa Fitz: Ja? Hallo? Ist dort die Strahlenschutzkommission?
187Ebd.
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Ja? Na prima, also es geht um folgendes: Unser Großvater, gestern ist er übrigens 91
geworden, der war neulich draußen im Garten, das heißt, er saß eben draußen in seinem
Rollstuhl ... der macht das übrigens fast jeden Tag, das ist bei dem ganz normal, bloß jetzt war's
eben so, daß es auf einmal angefangen hat zu regnen und ... von uns hat leider keiner dran
gedacht, den Großvater reinzuholen, und auf die Art und Weise ist der gute Mann geschlagene
vier Stunden im Regen gesessen. Klar, das wär natürlich nicht weiter schlimm, aber wir haben
uns jetzt eben gedacht, wegen dem russischen Kernkraftwerk, wissen Sie, da hat's doch
geheißen, man soll sich bei Regen möglichst nicht im Freien aufhalten ... ich mein, wie soll ich
sagen, wir befürchten jetzt eben, daß der Großvater schon ordentlich was abgekriegt hat von
der Radioaktivität und wie gesagt, gestern ist er 91 geworden, da muß man ja auch jeden Tag
mit dem Schlimmsten rechnen ... und deswegen ... ich mein, den kann man ja nicht so einfach
begraben, am Ende verstrahlt der noch den ganzen Friedhof ... und jetzt wollt ich eben wissen:
Müssen wir unseren Großvater jetzt endlagern? Oder vielleicht muß man ihn ja auch
wiederaufbereiten, ich versteh von diesen Dingen ja nichts, aber man macht sich nun mal so
seine Gedanken, wo ich doch erst kürzlich in der Zeitung gelesen hab, daß radioaktiv
verseuchte Leute nicht normal begraben werden dürfen. Die sind doch praktisch ... wie sagt
man dazu?
Sondermüll, richtig. Ja, gut, können Sie mir vielleicht sagen, wie das laufen soll, weil irgend so
etwas wie eine Beerdigung muß man einem Menschen ja geben ... gibt's da vielleicht Richtlinien
dafür, zum Beispiel ob der Pfarrer seine Predigt im Strahlenschutzanzug halten muß? ... Gibt's
nicht, aha ... aber eine anständige Beerdigung, das ist doch das einzige, worauf sich der
Großvater jetzt noch freut, ich meine, vielleicht täte es eine richtig weihevolle Endlagerung ja
auch, aber ein bißchen christlich müßte es eben schon zugehen ... Wieso geht das nicht?! ...
Ach was! Die Halbwertzeit von meinem Großvater interessiert mich nicht! Solche Sachen hätten
Sie sich eben überlegen sollen, bevor Sie mit der Atomspalterei angefangen haben, jetzt haben
wir den Salat, und der Großvater darf's ausbaden ... Ja, ebenfalls, wiederhörn.
(Sie legt den Hörer auf.)
Opa lassen wir nicht mehr an die frische Luft. Ab 100 Millirem ist man nämlich kein Christ mehr.
(Lisa Fitz geht ab.)
Scheibenwischer vom 22.5.86188
Interview mit dem Intendanten
Interview mit dem Intendanten Reinhold Vöth zur Nichtübernahme der Sendung
„Scheibenwischer“ am 22.5.1986, gesendet in „Funk Intern“ auf Bayern 1
März: Von Zensur, Entmündigung, Sauerei, Diktatur und Unverschämtheit war die Rede nach
dem Ausblenden des BR aus dem „Scheibenwischer“. Der bayerische Zuschauer hat sich
gefragt, warum er eigentlich nicht selber entscheiden kann darüber, ob er ein Programm sehen
will oder nicht. Herr Vöth, warum hat der Bayerische Rundfunk ausgeblendet?
Vöth: Für das Programm des Bayerischen Rundfunks gibt es klare gesetzliche Regelungen. Wir
haben hier ein eigenes Rundfunkgesetz. In diesem Gesetz sind auch die Verantwortlichkeiten
geregelt, wer entscheidet, was im Programm kommt. Das ist nun einmal so geregelt, und wenn
188In: Hildebrandt, Dieter, Zensur, 1986, S. 29ff.
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die Verantwortlichen, in diesem Fall der Fernsehdirektor, der für das Fernsehprogramm
zuständig ist, und in der Gesamtverantwortung der Intendant, sich entscheiden, etwas nicht zu
bringen, dann tun sie das in Ausfluß ihrer Verantwortung. Das Gesetz sieht nicht vor, den
sogenannten mündigen Fernsehzuschauer, der nun selbst entscheidet, was er sehen will und
was nicht, sein Programm gewissermaßen selber macht. Wenn man das wollte, müßte das
Gesetz geändert werden. Dann könnte alles gesendet werden. Dann gibt es aber auch keine
aufsichtsrechtlichen Beanstandungen und keine Debatten im Rundfunkrat, ob Sendungen des
Bayerischen Rundfunks oder der ARD gegen das Rundfunkgesetz verstoßen haben, ob wir
Programmdefizite vielfältiger Art haben. Dann ist das eben reguliert über den sogenannten
mündigen Fernsehzuschauer und Radiohörer, der selbst entscheidet, ob er einschaltet oder
nicht. Solange aber das Gesetz besteht, und solange klare Verantwortlichkeiten hier festgelegt
sind, mit der Konsequenz, daß der für diese Maßnahme Verantwortliche jederzeit mit der
Mehrheit des Rundfunkrates abberufen werden kann, so lange müssen diese Verantwortungen
wahrgenommen werden. Und da kann man nicht von einer Zensur sprechen, da kann man auch
nicht von einer Sauerei sprechen oder einer Entmündigung. Das ist ein gesetzlicher Auftrag und
eine Verpflichtung, die wir haben und die wir erfüllen müssen.
März: Was im „Scheibenwischer“ war denn der Anlaß, daß man sich ausgeblendet hat?
Vöth: Diese Sendung war eine Livesendung des Senders Freies Berlin, die der SFB in das
ARD-Programm eingebracht hat. Das ändert aber nichts an der Tatsache, daß der Bayerische
Rundfunk für die Ausstrahlung dieser Sendung die volle rundfunkrechtliche Verantwortung trägt.
In Wahrnehmung dieser Verantwortung hat der Fernsehdirektor den SFB gebeten, informiert zu
werden über die Inhalte dieser Sendung. Nachdem es hier einige Probleme der Information
gegeben hat, kam dann das Manuskript, und der Fernsehdirektor kam beim Studium des
Manuskriptes zu dem Ergebnis, daß er diese Sendung nicht verantworten kann. Es hat sich hier
um Passagen über einen strahlenverseuchten Großvater und seine Beerdigung, die
Diffamierung der Bundeswehr, das im Krieg als Düngemittel vergossene Blut auf schlesischem
Boden und die Dekontaminierung des Papstes nach der Berührung der Erde gehandelt.
März: Herr Vöth, was wäre denn umgekehrt gewesen, wenn dieses Programm ausgestrahlt
worden wäre?
Vöth: Da hätte es sicher Beschwerden von Zuschauern gegeben; da hätte es sicher eine
Behandlung im Rundfunkrat gegeben. Aber das alles war nicht das Motiv unseres Handelns. Wir
haben das in eigener Verantwortung getan, weil wir der Meinung waren, daß hier etwas
geschehen ist, was umschrieben werden kann mit Verletzung des Geschmacks, der
Lebenswerte und der Würde anderer. Und damit wir uns richtig verstehen: Es geht nicht darum,
daß Kabarett nicht sein kann. Das Kabarett braucht einen Spielraum; das Kabarett muß die
Möglichkeit haben, kritisch zu formulieren, Überspitzungen und Provokationen als Stilmittel
einsetzen zu können. Aber es gibt eine Grenze auch hier im Kabarett. Darüber haben wir oft
gestritten. Die Grenze ist unserer Meinung hier verletzt worden. Ich möchte hier auch einmal
grundsätzlich etwas sagen. Wir haben hier die Toleranz, die immer gefordert wird, nun auch
einmal so gesehen, daß sie nicht einseitig von denen in Anspruch genommen werden kann, die
den Freiraum für den Affront ständig für sich beanspruchen, sondern daß die Toleranz auch
denen zugebilligt werden muß, die hier verletzt werden. Sie müssen dabei ja bedenken, daß
eine solche Sendung von uns gewissermaßen frei Haus an die Zuschauer geliefert wird. Ich
möchte nicht wissen, wieviele unserer Zuschauer durch persönliche Beziehungen im
Verwandtenkreis, im Familienkreis betroffen sind, wenn Opfer des letzten Krieges und der
Vertreibung in Schlesien, das Blut, das dort geflossen ist, als schlechtes Düngemittel bezeichnet
finden, um nur ein Beispiel zu nennen.189
189Ebd., o.S.
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Der normative Diskurs des Intendanten, seine rhetorischen Finten und Ausflüchte, die
Fülle der Schutzbehauptungen sind keineswegs „historisch“. Die verbale Flucht hinter die
Bürde der „Verantwortung“, das vorgegebene Wissen um den „guten Geschmack“, sind
alles klassische Argumentationsmomente im alten Kampf zwischen Zensurkräften und
dem abgetrotzten Anspruch auf künstlerische Freiheit. Die ästhetischen Parolen dienen
wie zu Zeiten der römischen censura der mehr oder weniger geglückten Kaschierung der
realen politischen Absichten. Die Absetzung eines Kabarettprogramms aus vorgeblichen
Gründen der künstlerischen Unzulänglichkeit hat nicht nur Tradition, sondern gehört zu
den Regularien im machtgeschützten Kulturbetrieb, zumal im öffentlich-rechtlichen, der
die Vorzensur de jure und aus politischen Motiven eben nicht vorsieht.
Ausgelacht - Das Kabarett unter Hammer und Sichel
Kabarett unter den Bedingungen der sich sozialistisch nennenden Kulturpolitik der DDR
heißt 40 Jahre Auseinandersetzung mit einer expliziten oder auch impliziten Zensurpolitik.
Diese ist ganz gewiß nicht mit den Rahmenbedingungen in der Bundesrepublik zu
vergleichen. Berufsverbot oder Androhung der Verhaftung in der DDR tangieren nicht nur
das künstlerische Selbstverständnis der Artisten der Leipziger Pfeffermühle, der Distel
oder der Academixer. Die Kontrolle durch Stasi einerseits und die sogenannten
Bezirkskommissionen andererseits, denen die Manuskripte vorab vorzulegen sind,
bedeutet Vorzensur der extremen Art. Insofern ist der staatliche Zensureingriff in der DDR
von fundamental anderer Qualität als hierzulande. Es gibt Konvergenzen der staatlichen
und öffentlich-rechtlichen Kabarettpolitik, die Unterschiede sind aber dennoch gravierend.
Nicht immer fühlen sich die Künstler der Kabaretts in der DDR kontrolliert. Das staatlich
verordnete Wohlwollen kann von Fall zu Fall auch zur zweiten, unkritisch übernommenen
Selbstzensur der Kabarettisten werden. Rainer Otto, vor der Wende noch der Leiter der
Leipziger Pfeffermühle, läßt solches jedenfalls 1989 noch mehr oder minder unverblümt
durchblicken. Er beteuert im Interview in naiver Unschuld: „Erstens schreibt mir niemand
vor, was ich schreiben soll worüber ich schreiben soll. Es gibt natürlich immer mal
Auseinandersetzungen, Differenzen zwischen bestimmten Funktionären und uns; und ich
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finde, ein Satiriker der so etwas nicht erzeugt, der ist kein guter Satiriker. Wer sich keine
Feinde macht, der sollte sowieso von der Satire lassen.“ Es gebe über „einzelne“ Sätze
und Nummern „gelegentlich“ Diskussionen, räumt Otto ein, und weiter: „Und wenn man
uns nachweist - das machen andere Kabaretts in der Bundesrepublik zum Beispiel auch-,
wenn man uns nachweist, daß die Fakten nicht stimmen, wenn man uns nachweist, daß
das, was wir auf der Bühne sagen, nicht der Wirklichkeit entspricht, dann sind wir natürlich
auch bereit, darüber nachzudenken.“190
Das Zitat belegt anschaulich die Zwickmühle im alten DDR-Kabarett. Hurra-Humor ist
unter der staatlichen Aufsicht ebenso gegeben, wie gelegentlich kritischer Widerstand zu
vernehmen ist. Das Programm „Lebensverweise“ (1979) der Pfeffermühle wird abgesetzt.
Die Aufsicht moniert eine Passage, in der Volkskammerpräsident Horst Sindermann als
„Kaviarfreund“ und notorischer Intershop-Kunde bezeichnet ist. Eben das geht zu weit.
Der Pfeffermühlen-Gag: „Sie wissen ja, warum wir so viele Schlaglöcher haben - weil wir
die nicht exportieren können“, führt zu einem sechsmonatigen Aufführungsverbot. Die
gesteckten Grenzen bleiben allemal eng.191 Schon 1957 wird Konrad Reinhold auf offener
Bühne verhaftet, vier weitere Pfeffermühlen-Chefs müssen den Hut nehmen.
Doch es gibt auch, von Fall zu Fall, die Möglichkeit auf kleinere Miß- oder Übelstände zu
verweisen. Die Kritik richtet sich dann vor allem gegen „menschliche Schwächen“ und
politische „Untugenden“. Ein stürmisch gefeiertes Lied von 1974 belegt diese Möglichkeit
der verdeckten Systemkritik.
Ja verzeihen Sie die Befragung:
Warn Sie schon einmal auf einer Tagung?
(Er war schon einmal auf einer Sitzung.)
Was ich jetzt leicht bringe, ist keine Überspitzung:
Jede Sitzung hat ein Protokoll,
Worin verzeichnet steht, wer reden soll.
190In: Antl/Naumer, SDR: 17.6.1989.
191Vgl. ebd.
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Erstens spricht der Direktör,
Und wer spricht dann hinterher?
Danach spricht Kollege Schade
von der Renommier-Brigade.
Danach spricht der BGL,
aber nicht besonders schnell,
denn er hat sein Manuskript
aus Versehen nicht getippt;
und nun hat er's nicht dabei,
deshalb spricht er heute frei.
Danach spricht die FDJ,
zur Verwunderung ziemlich flott,
denn der Jugendsekretär
ist ja nicht der Jüngste mehr.
Dann kommt die DFD heran,
mit dem Frauenförderungsplan.
Doch die Rede schrieb ein Mann,
man merkt's den Kraftausdrücken an.
So läuft die Sitzung wie sie soll,
nach dem Protokoll, nach dem Protokoll.
Wenn man Bier trinkt, und in Mengen,
spürt man ein gewisses Drängen.
Das einzige, was Erleichterung brächte,
wär die Tür am Eingang da, die rechte.
Festgelegt ist, wer wann soll –
in 'nem Protokoll, Protokoll.
Erstens geht der Ehrengast,
und es folgen voller Hast
Direktör und Meister Schade
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von der Renommier-Brigade.
Danach geht der BGL,
aber nicht besonders schnell,
denn er weiß nicht, was er soll,
doch ihn zwingt das Protokoll.
Und so ist er dann bereit
und tut seine Schuldigkeit.
Und dann kommt die FDJ,
und die muß besonders flott,
denn der Jugendsekretär
steht auf einem Bein nurmehr.
Und dann fragt die DFD
- daß kein Irrtum hier entsteh -,
woher sie denn nun erführ,
wo für sie die rechte Tür,
wo sie darf und wo sie dürfen soll,
steht im Protokoll, steht im Protokoll.
Der Betrieb und alle seine Kader
gehn zuweilen auch in ein Theater,
gehn zuweilen auch ins Kabarett
- schön wär's, wenn auch das gefallen tät.
Naja, und auch da geht's weiter wie es soll
nach dem Protokoll, nach dem Protokoll.
Erstens lacht der Direktör,
dann erst lacht sein Sekretär,
dann erst lacht Kollege Schade
von der Renommier-Brigade,
danach lacht der BGL,
aber nicht sofort sehr schnell;
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schaut erst einmal hin und her
hin zu seinem Direktör.
Wie er sieht, daß der sich krümmt,
na da wird auch eingestimmt.
Und dann lacht die FDJ,
na die lacht besonders flott,
geht vor Lachen in die Höh
und sie haut der DFD
lachend auf das linke Knie;
Na, und nun lacht auch die.
Denn die Höhen der Kultur,
die erstürmt man lachend nur,
aber stets nur wie man soll,
nach dem Protokoll, nach dem Protokoll.
Leipziger Pfeffermühle, 1974192
Ein Jahr vor der Vereinigung der beiden Teile Deutschlands spitzt sich die Sprache im
DDR-Kabarett merklich zu. Die Kabarettisten sprechen jetzt unverhohlener und deutlicher
über die Mißstände im eigenen Land. Was früher unmöglich schien, hat sich die Plattform
des Kabaretts erobert. In dem Programm „Neudeutsch für DDR-Bürger“ experimentiert
das Leipziger Ensemble Academixer 1988 mit dem noch Unerlaubten, kritisiert nahezu
ungetarnt Ideologie und Sprechweise der Nomenklatura. Auf der Schallplatte heißt es
indessen eher abwiegelnd und beschwichtigend: „Es ist politische Satire, wo wir
Zeitgenossen in Zeitverhältnissen vorführen und spielerisch mit dieser widersprüchlichen
Wirklichkeit umgehen - und zwar so, daß gelacht werden kann und Veränderungswille und
Widerspruchsgeist der Zuschauer bestärkt werden.“193
Die Zurechtbiegung der Sprache als ideologisches Machtinstrument der Funktionäre
demonstrieren Die Academixer in der Endphase der alten Republik mit Deutlichkeit. Von
einer verdeckten „Sklavensprache“, einem Rösselsprung zwischen einem Gesagten und
192Ebd. - BGL d.i. Betriebsgewerkschaftsleiter; DFD d.i. Demokratischer Frauenbun d Deutschla n d.
193Academixer, Neudeutsch für DDR-Bürger; Text: Jürgen Hart.
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dem Gemeinten, ist nunmehr, Monate vor dem Einsturz der Mauer, kaum noch etwas zu
spüren. Die Academixer agieren offensiv und mit fröhlicher Unerschrockenheit. Es gibt
nichts mehr zu verlieren.
Unter Kollegen
Anke Geißler: In unserem ersten Unterrichsabschnitt wollen wir uns mit dem
Vollständigkeitsprinzip beschäftigen. Wir nehmen einen beliebigen Satz.
Christian Becher: Die Schuhe stehen im Schrank.
Anke Geißler: Oder:
Christian Becher: Der Hund bellt auf dem Hof.
Anke Geißler: Oder:
Christian Becher: Die Kollegen stellten unbequeme Fragen.
Anke Geißler: Ja, wir nehmen den letzten Satz, denn dieser ist ungenau und unvollständig. Ein
DDR-Bürger in leitender oder mittlerer Position weiß nichts damit anzufangen.
Christian Becher: Worum geht's?
Anke Geißler: Sehen Sie! Denn nicht alle Kollegen stellten unbequeme Fragen.
Christian Becher: ... und sie stellen auch nicht immer unbequeme Fragen. Besser ist also
Gong
Anke Geißler: Einige unserer Kollegen stellten anläßlich der Vorbereitung der
Gewerkschaftswahlen unbequeme Fragen.
Christian Becher: Halt! Sie merken: Hier paßt die zweite Hälfte des Satzes „unbequeme Fragen“
nicht mit der ersten Hälfte des Satzes „anläßlich der Vorbereitung der Gewerkschaftswahlen“
zusammen. Also vervollständigen wir:
Gong
Anke Geißler: Einige unserer Kollegen stellten anläßlich der Vorbereitung der
Gewerkschaftswahlen interessante und anregende Probleme zu Diskussion.
Christian Becher: Sie merken: Der Satz ist vollständig und somit druckreif.
Die Academixer, 1988194
194Ebd.
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Es folgen dann weitere groteske Beispiele aus der sozialistischen Sprachfabrik. Das Kind
ist demnach in die sozialistische Schülerpersönlichkeit zu übersetzen, aus Jugendliche
wird Vertreter der heranreifenden jungen Generation. Der Satz Wir sammeln Kartoffeln
lautet demzufolge sozialistische Schülerpersönlichkeiten, Vertreter der heranreifenden
jungen Generation unseres Landes beteiligen sich erfolgreich an der verlustlosen
Einbringung der Hackfruchternte.
Das Program der Ost-Berliner Distel „Keine Mündigkeit vorschützen“ fällt 1988 der Zensur
zum Opfer. Die Autoren haben das verbotene Programm in Auszügen inzwischen
dokumentiert. Der inkriminierte Text reflektiert in einem Beitrag die fehlende Freizügigkeit
im Reiseverkehr der DDR. Nicht zuletzt an dieser Einschränkung und den damit
verbundenen Demütigungen zerbricht die DDR ein Jahr später. Die kesse Distel nimmt
hier vieles vorweg - ohne Publikum, auf dem Papier, nur zur Lektüre für die
Bezirkskommission, die Stasi und ihre Funktionäre. Was niemand sehen darf, trägt die
Überschrift:
Die Vorhut des Kommunismus
(Im Reisebüro. Mann A und Reisebüroangestellte R)
A: (provozierend) Ich möchte eine Reise zum Wolfgangsee buchen.
R: (sehr freundlich) Wieviel Personen bitte?
A: Ich meine den Wolfgangsee in Österreich.
R: Ich weiß, wo der Wolfgangsee liegt, ich war schließlich im „Weissen Rössl“. Wieviel
Personen?
A: Drei. Ich, meine Frau und unsere 17jährige Tochter.
R: Mal sehen, was wir noch haben ... (schlägt ein Buch auf) Seeblick oder Waldblick?
A: Beides.
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R: Dann geht's nur noch Juni, Juli oder August.
A: Ich nehme alle drei Monate.
R: Ihren Ausweis bitte.
A: ( Provokatorische Haltung, kippt, plötzlich sehr erschrocken) Aber wieso denn?! ... Es war
doch nicht so gemeint ... Man wird sich doch noch einen kleinen Scherz. Ich hab'doch mit
meinen Kumpels von der Gießerei gewettet, daß ich mich traue! ... Ich nehme auch Halle-Süd
im November oder Bitterfeld mit Werkblick!
R: (immer gleichmäßig freundlich) Ich denke, Sie wollen nach Österreich? Und dazu brauch' ich
Ihren Personalausweis.
A: Ich weiß genau, warum: Personenkennzahl - und dann geht alles seinen Computergang! Sie
wollen doch meiner Tochter nicht die Zukunft vermasseln!
R: Wieso vermasselt sich Ihre Tochter die Zukunft, wenn sie mal nach Österreich fährt? Was
glauben Sie, wie viele Söhne und Töchter des Landes nach Österreich fahren! Und die haben
alle eine Bombenzukunft vor sich.
A: Ja diiie! - Sie müssen mich verwechseln. Wir gehören nicht dazu.
R: Ich verwechsle Sie nicht. Im Gegenteil ...
A: Und warum wollen Sie mir dann eine Österreich-Reise andrehen!? Sie, das ist eine
Provokation! Gleich verlange ich Ihren Ausweis!
R: Aber Bürger! ... Ich werd Ihnen das mal erklären ... Seh'n Sie mal: der Kommunismus ...
A: Damit dürfen Sie mir gar nicht kommen. Der ist ja nun vertagt bis zum - nach dem Jüngsten
Gericht.
R: (Immer noch lächelnd) Ja eben. Und trotzdem haben wir doch die schönsten Vorstellungen
von den Möglichkeiten des Kommunismus. Und damit uns diese schönen Vorstellungen in den
Alltagskämpfen nicht verloren gehen, hat sich eine kleine Schar von Vorkämpfern - also ein
bewußter Vortrupp - ohne großes Aufheben bereit erklärt, die materiellen Möglichkeiten schon
jetzt vorzuleben. Und dazu gehört auch Urlaub am Wolfgangsee.
A: Und zu diesen Vorkämpfern gehöre ich nicht! Ich bin keine Kulturprominenz und ich hab'
keinen Onkel in der Politprominenz!
R: Aber Bürger ... Damit es nicht heißt, diese ... vorweggenommene Zukunft sei auf die Dauer
nur für eine bestimmte Elite vorgesehen, sondern für alle, werden jedes Jahr drei ganz normale
Bürger unserer Republik reingelassen. Und dazu gehören Sie!
A: (Entsetzt) Drei im Jahr?
R: (leise) Unter uns: Im Jahr 2000 werden es 10 sein. Die Jahrtausendüberraschung.
A: Drei im Jahr ... !
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R: Man kann nicht alle 17 Millionen auf einmal reinlassen. Die Leute sind ja nicht vorbereitet.
Sieht man ja an Ihnen, wie Sie sich sperren. Und dann sagt sich ja der Vortrupp: Wozu kämpfen
wir vor, wenn die anderen so schnell nachkommen. Fehlt ja jegliche Motivation!
A: Dann gehöre ich also jetzt zu den Privilegierten, gegen die ich immer gewettert habe ... Wie
stehe ich denn da vor meinen Kumpels?
R: Sie können getrost mit sich im reinen bleiben, denn wir haben keine Privilegierten. Wir haben
nur Leute, die sich aufgrund ihrer eigenen Verdienste oder der Verdienste anderer so verdient
gemacht haben, daß... ich nicht weiß, ob wir den Satz zu Ende denken sollten.
A: (Unglücklich, verzweifelt) Also nun muß ich an den Wolfgangsee? Oder wie?
R: Sie müssen nicht. Das Reinlassen in die Klasse der Vorleber von morgen findet auf
freiwilliger Basis statt.
A: Wie ist man denn ausgerechnet auf mich gekommen?
R: Eine Fügung dunkler Schicksalsmächte. Wer zu den Glücklichen gehört - der fährt und fragt
nicht.
A: Und wer nicht zu den Glücklichen gehört?
R: Der fährt nicht - und fragt erst recht nicht. In der Hoffnung, daß er vielleicht doch mal fährt.
Man will sich doch die Schicksalsmächte nicht verärgern, die im Dunklen webenden und
wägenden.
A: Und wenn ich mich weigere?
R: Dann wären Sie schön dumm. Wir haben noch mehr Sonderknüller im Angebot:
Sonderläden, Sonderautos, Sonderärzte, Sonderwohnungen, Sonderkuren ...
A: Nun sage einer, bei uns kann man nicht wie im Paradies leben.
R: Man muß nur DAZU gehören.
A: Und wer bestimmt, wer dazu gehört?
R: Na die, die dazu gehören.
Die Distel, 1988195
Die anfängliche Wende-Begeisterung weicht über Nacht in den Neuen Ländern der
Nachdenklichkeit. So hat man sich die Wiedervereinigung nicht vorgestellt. Die
Spaßmacher der Herkules-Keule in Dresden, das Kabarett am Obelisk in Potsdam oder
195Zitiert in: Oechelshaeuser, Gisela (Hrsg.), 1990, S. 91f.
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die Hallenser Kiebitzsteiner kritisieren unisono die „Abwicklung“ ihrer Kultur und die
kolonialen Handlungsmuster der Wessis. Von Zusammenwachsen keine Spur, allenfalls
von unkontrollierten Wucherungen, die soziales Handeln vermissen lassen. Die
Academixer beklagen solches in dem Programm „Schlag auf Schlag“ (1993), Die Distel
konstatiert die Struktur der aufziehenden Konkurrenz- und Ellenbogengesellschaft schon
früher. Auch jetzt, im Zuge der neugewonnenen Meinungsfreiheit, erfüllt das östliche
Kabarett eine Ventilfunktion. Das Syndrom der mentalen und psychischen Unterwerfung
unter das Diktat des Geldes und Marktes ist allenthalben (kritisch) spürbar. Das Kabarett
verschafft im Rahmen seiner bescheidenen, aber doch kathartisch disponierten
Möglichkeiten einen kleinen, aber wichtigen spielerischen Freiraum. Kabarett jenseits der
Elbe rechnet mit den spezifischen Alltagsnöten seiner vereinigten Zuschauer. Anders als
das westdeutsche Fernsehen, das einem egalitären Humor von Lübeck bis Garmisch
verpflichtet ist, ist das Ost-Kabarett auf regionale Problemstellungen eingestellt. Der
Bundeskanzler und die große Politik ist ein Thema, aber nicht das entscheidende. Die
Selbstbehauptung gegen Westarroganz ist wichtiger als die nochmalige stimmliche
Imitation von Blüm oder Kohl. Demnach gibt es in der Breite deutliche Unterschiede in der
Struktur der Satire und der Persiflage.
Winter ade
Zensor ade - scheiden tut weh.
Aber das Scheiden macht,
daß jetzt kein Aas mehr lacht.
Komm Stück für Stück
heimlich zurück.
Stasi ade - schipp Sand und Schnee.
Doch in der Produktion
kriegt ihr nur Leistungslohn.
Aus Horch und Guck
wird jetzt Hauruck.
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Privilegiert war, wer regiert.
Aber der Handwerker lacht,
denn er behält seine Yacht.
Weiter regiert,
wer repariert.
Grenzen ade - Reisen tut weh,
wenn man im Trabbi zwängt,
finanziell eingeschränkt,
geht's uns auch mies,
wir fahr'n nach Paris.
Winter ade - scheiden tut weh.
„Der scharfe Kanal“ - Distel-Programm vom 31.12.1989196
Lieder zur Niederlage
Einheit, schöne Götterspeise –
Deutsche ins Elysium.
Auf zur deutschen Hochzeitsreise,
himmlisches Delirium.
Kohl und Modrow binden wieder,
was einst Ulbricht streng geteilt.
Alle Deutschen werden Brüder,
wo ihr rechter Flügel weilt.
Seid verschlungen Millionen
von dem Kuß der Deutschen Bank.
D-Mark heißt der Göttertrank.
Leistung muß sich wieder lohnen.
Brüder, in der Deutschen Bank
muß ein lieber Vater wohnen.
196Ebd., S. 21. Text: P. Ensikat.
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Auferstanden aus Ruinen
und dem Wohlstand zugewandt,
lasset uns jetzt mitverdienen
deutsche Hand wäscht deutsche Hand.
Laßt uns brüderlich verteilen
Deutschland Ost an Deutschland West.
Laßt sie um die Beute keilen.
In den Mond wie eh und je
sieht der dumme Rest,
sieht der dumme Rest.
Süßer Versprechen nie klingen
als bis zum 18. März.
Grad als ob Engelein singen,
wolln die Partein dir ans Herz.
Was sie gesungen in heiliger Schlacht,
das ist vergessen in eiliger Nacht.
Erst wenn die Stimmen gezählt,
sieht man auch, was man gewählt.
Im Märzen der Wähler die Stimme abgibt.
Hier wird bloß der Bundestagswahlkampf geübt.
Ob Kohl oder Genscher und ob Lafontaine,
das wolln die drei hier bei uns bloß mal sehn.
Wir wähln Amateure für Profis in Bonn –
egal, wer verliert - bei uns wird nicht gewonn'.
Ob Eppelmann, Böhme, ob Schnur, de Maizière –
die legen sich Oskar und Helmut nicht quer.
Das Wählen ist des Bürgers Lust,
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er hat es ja noch nie gemußt –
das Wählen.
Das muß ein guter Wähler sein,
der unterscheidet die Partein.
Wer unterscheidet die Partein?
Der Wähler.
Mein Haus hat eine Ecke –
es ist ein Westgrundstück.
Nun kommt der Eigentümer
und will das Stück zurück.
Ich hab das Haus gebauet.
Doch das macht ih'm nichts aus.
Er hat's schon angeschauet
sein Grundstück und mein Haus.
Der Hai ist gekommen,
die Räume mißt er aus.
Nun zieht endlich Freiheit
und Einheit ins Haus.
Wenn die Makler erst da sind,
dann wohn' wir im Zelt.
Es stand doch der Sinn uns
nach der freien, freien Welt.
Die Distel am 10.3.1990197
197Ebd., S. 27f. Text: P. Ensikat.
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Deutscher Epilog
Spreng-Sätze
Es fing alles ganz harmlos an.
Irgendwann mußte Friedrich Karl Flick
eintausendachthundertmillionen DM vorbeibringen. An der
Steuer. Legal.
Das Volk ließ ihn mit dieser Bürde allein.
Einzig die Herren Minister Friedrichs, Lambsdorff, Matthöfer,
Karry, Kiep, Lahnstein, sowie die Kanzler Schmidt und Kohl
hatten Mitleid und nahmen ihren Anteil. Ebenso nahmen Anteil
die CDU, CSU, FDP und SPD. Der SPIEGEL war dabei.
Darauf beschloß der Handelsvertreter Norbert M. für seine
Reisekostenabrechnung die Strecke Stuttgart-München künftig
um 60 Kilometer zu verlängern.
Irgendwann hatten die Vorstandsmitglieder der NEUEN
HEIMAT soviel Anteil genommen, daß die NEUE HEIMAT
liquidiert werden mußte, der SPIEGEL war dabei.
Irgendwann, nachdem Gewerkschaftsfunktionär Alfons Lappas
siebzigtausend Wohnungen verkauft hatte, mußte sich das
Gewerkschaftsmitglied Erich K. mit seiner dreiköpfigen
Familie eine neue Heimat suchen, der SPIEGEL war nicht dabei.
Irgendwann gab ein Ministerpräsident sein „persönliches Ehrenwort“.
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Irgendwann wurde er in einer Schweizer Badewanne tot aufgefunden.
Der STERN war dabei.
Irgendwann gab's „Tutti frutti“.
Irgendwann war die Antenne am VW-Golf der Altenpflegerin
Monika W mutwillig abgebrochen worden.
Irgendwann entstand in Libyen eine deutsche Giftgasfabrik.
Irgendwann konnte Herr K. seine Kredite nicht mehr abzahlen
und brachte sich um.
Irgendwann gab es die Fernbedienung.
Irgendwann zog Schalck-Golodkowski an den Tegernsee.
Irgendwann zog es Honecker nach Chile und Möllemann kam
aus der Dominikanischen Republik zurück.
Irgendwann wurden die Landschaften in den
Hochglanzanzeigen immer exotischer und schöner.
Irgendwann setzte sich der achtzehnjährige Günter L. in einer
Bahnhofstoilette den Goldenen Schuß.
Irgendwann starb Miss Elli - und am blauen Ascona von
Herrn S. war der Seitenspiegel abgeknickt.
Irgendwann wurden die Mieten erhöht.
Irgendwann hatte sich der Treibhauseffekt verdreifacht.
Irgendwann wurden die Diäten erhöht.
Irgendwann erfand SAT 1 das Glücksrad.
Irgendwann kündigte die Wohnungsbauministerin –
wegen Eigenbedarf.
Irgendwann sagte der Kanzler: „Gemeinsam werden wir es schaffen.“
Irgendwann wurden die Menschen in den Hochglanzanzeigen
immer reicher und schöner, und der bayerische Ministerpräsident
verreiste mit seiner Familie nach Kenia.
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Irgendwann stand in den drei Kinderzimmern der Familie F.
jeweils ein Fernseher.
Irgendwann hatte Rambo als Held ausgedient, an seine Stelle
trat ein Ehemann, der für eine Reality-Show seine Frau erschoß.
Darauf beschloß Herr Mayer, wohnhaft in Günzburg, Drosselweg 16,
nicht länger Zuschauer zu sein.
Irgendwann fand man das Beil, mit dem er seine Frau
erschlagen hatte, in einem Wäldchen bei Neu-Ulm.
BILD war dabei.
Irgendwann gab's Computerspiele.
Irgendwann gab's Computerkriege.
Irgendwann intervenierte der amerikanische Präsident George
B. in der Golfregion.
Irgendwann ertrug der Jugendliche Marco T. die Einsamkeit
der Techno-Disco nur noch mit crack.
Irgendwann gab's das Schweigen der Lämmer.
Irgendwann hatten wir die Freiheit, eine Kreditkarte zu nutzen.
Irgendwann entdeckte man im Kernkraftwerk Brunsbüttel Risse und Petra Kelly
und Gert Bastian tot in ihrer Wohnung. Keiner war dabei.
Irgendwann sagte ein Vater zu seinem zwölfjährigen Sohn:
„Laß dir nichts gefallen!“
Irgendwann packte der Lehrer H. aus Berlin zu seinem Frühstücksbrot eine
Gaspistole in seine Aktentasche.
Irgendwann hatte der Jurist und Abgeordnete Wissmann
zehntausend Mark Strafe wegen Steuerhinterziehung bezahlt.
Daraufhin wurde er Forschungsminister.
Irgendwann wurde der querschnittsgelähmte Bernd G.
an einem verkaufsoffenen Samstag in der Fußgängerzone
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aus seinem Rollstuhl gestoßen.
Irgendwann hat so ein Rotzlöffel auf dem Nachhauseweg
dem überfüllten Abfalleimer an der Bushaltestelle
den Boden weggetreten.
Dabei hatte alles so harmlos angefangen.
Irgendwann mußte jemand eintausendachthundert Millionen
ganz legal an der Steuer vorbeibringen.
Irgendwann stank der Fisch vom Kopf,
und die Republik hatte sich verändert.
Thomas Freitag, 1993198
198Thomas Freitag (1993). Dem Autor freundlich zur Verfügung gestellt.
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Anhang
Das Kabarett in der Bildungsarbeit
Wenn die Beobachtung nicht täuscht, dann steht die Kabarett-Kultur in der
Bundesrepublik in Blüte. Nach Hanns Dieter Hüsch wäre solches durchaus ambivalent,
denn: „Kabarettisten sind Protestanten. Man hat ihnen ein Leids angetan, und nun zahlen
sie's heim mit barem Spott.“ Der Konsum der literarischen Kabarett-Kost ist vor allem
bequem, manchmal auch billig, wenn sie im Fernsehen angeboten wird.
Über die didaktische Umsetzung des Genres in der Bildungsarbeit und im politischen
Unterricht ist freilich bislang nur wenig nachgedacht worden.199 Dabei könnte sich
durchaus ergeben, daß das Kabarett in hervorragender Weise geeignet ist, um die
verschiedenen Nahtstellen zwischen Literatur und Politik, Kultur und Subkultur und
satirisch gespiegelter Zeitgeschichte exemplarisch herauszuarbeiten. Anders als das
Geschichtsbuch, das dem „objektiven Rückblick“ verpflichtet ist, setzt das Kabarett in
Lied, Wort und Ton auf die subjektive, auch polemische Ablichtung von gesellschaftlichen
Fragen und Ereignissen. Es geht dabei nicht um den allgemeinen Standpunkt, sondern
um die Bewertung der Geschichte durch das artistische Individuum.
199Die didaktischen Hinweise wurden in Zusammenarbeit mit Günther Gugel, Verein für
Friedenspädagogik, Tübingen, entwickelt.
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1. Interpretation und Neuformulierung
Text 1: Der Mond ist aufgegangen
Helmut Kohl spricht Matthias Claudius
Der Mond,
meine Damen und Herren, und
das möchte ich hier in aller Offenheit sagen,
ist aufgegangen!
Und niemand von Ihnen, liebe Freunde, meine Damen und
Herren, wird mich daran hindern, hier in aller Entschlossenheit
festzustellen:
Die goldnen Sternlein prangen
und wenn Sie mich fragen, meine Freunde, wo, dann sage ich es
Ihnen:
am Himmel!
Und zwar, und das sei hier in aller Eindeutigkeit gesagt, so, wie
meine Freunde und ich uns immer zu allen Problemen geäußert haben:
hell und klar.
Und ich scheue mich auch nicht, hier an dieser Stelle ganz
konkret zu behaupten:
Der Wald steht schwarz und ...
lassen Sie mich das hinzufügen
und schweiget.
Und hier sind wir doch alle aufgerufen - gemeinsam -,
die uns alle tief bewegende Frage an uns gemeinsam zu richten:
Wie geht es denn weiter? Und ich habe den Mut und die tiefe
Bereitschaft und die Entschlossenheit, hier in allem Freimut
und aller Entschiedenheit zu bekennen, daß ich es weiß!
Nämlich:
Und aus den Wiesen steiget
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das, was meine Reden immer ausgezeichnet hat:
der weiße Nebel wunderbar.
Quelle: Dieter Hildebrandt, Was bleibt mir übrig, 1989, S. 286 f.
Tonaufzeichnung: KLIG H.D. Hüsch, K. Wecker, D. Hildebrandt,
Merkton, Doppel - CD 882 976
Vorschläge zur Interpretation
– Vor welchem Hintergrund ist der Text vermutlich entstanden?
– Welches sind die Stilmittel, die Hildebrandt einsetzt?
– An welche Zielgruppe richtet sich der Vortrag?
– Welcher Vorkenntnisse bedarf der Leser / Hörer?
– Was wird kritisiert?
– Welches Verständnis von Politik verbirgt sich hinter dem Vortrag?
– Ist der Text auch auf andere Persönlichkeiten im öffentlichen Leben übertragbar?
– Worin besteht der Unterschied zwischen der gedruckten Fassung und dem
Tondokument?
– Wie ist die Reaktion beim Fernsehpublikum einzuschätzen im Gegensatz zu einem
Bühnenvortrag?
Umgangsmöglichkeiten mit dem Text
– Skizzieren Sie auf einem Blatt Papier in groben Umrissen ein Bühnenbild für den
Kabarettvortrag.
– Welche Regieanweisungen würden Sie einem Kameramann für die
Fernsehaufzeichnung geben? Notieren Sie entsprechende Anweisungen an den Rand
des Textes.
– Schreiben Sie eine kurze Zeitungskritik von 10 bis 15 Zeilen in der Rolle: eines erklärten
Gegenes von Hildebrandt bzw. eines begeisterten Zuschauers.
– Wählen Sie ein Volkslied (z.B. „Fuchs, du hast die Gans gestohlen“ oder „Alle meine
Entchen“) und legen Sie den Text nach dem obigen Muster einer bekannten
Persönlichkeit in den Mund.
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2. Was darf die Satire?
1986 wurde eine Folge der Sendereihe Scheibenwischer vom Bayerischen Runfunk
abgesetzt. Der folgende Text von Lisa Fitz erzürnte die bayerischen Mediengewaltigen:
Text 2: Der verstrahlte Großvater
(Lisa Fitz kommt auf die Bühne, setzt sich ans Telefon und wählt.)
Lisa Fitz: Ja? Hallo? Ist dort die Strahlenschutzkommission?
Ja? Na prima, also es geht um folgendes: Unser Großvater, gestern ist er übrigens
91 geworden, der war neulich draußen im Garten, das heißt, er saß eben draußen
in seinem Rollstuhl ... der macht das übrigens fast jeden Tag, das ist bei dem ganz
normal, bloß jetzt war's eben so, daß es auf einmal angefangen hat zu regnen
und ... von uns hat leider keiner dran gedacht, den Großvater reinzuholen, und auf
die Art und Weise ist der gute Mann geschlagene vier Stunden im Regen
gesessen. Klar, das wär natürlich nicht weiter schlimm, aber wir haben uns jetzt
eben gedacht, wegen dem russischen Kernkraftwerk, wissen Sie, da hat's doch
geheißen, man soll sich bei Regen möglichst nicht im Freien aufhalten ... ich mein,
wie soll ich sagen, wir befürchten jetzt eben, daß der Großvater schon ordentlich
was abgekriegt hat von der Radioaktivität und wie gesagt, gestern ist er 91
geworden, da muß man ja auch jeden Tag mit dem Schlimmsten rechnen ... und
deswegen ... ich mein, den kann man ja nicht so einfach begraben, am Ende
verstrahlt der noch den ganzen Friedhof ... und jetzt wollt ich eben wissen: Müssen
wir unseren Großvater jetzt endlagern? Oder vielleicht muß man ihn ja auch
wiederaufbereiten, ich versteh von diesen Dingen ja nichts, aber man macht sich
nun mal so seine Gedanken, wo ich doch erst kürzlich in der Zeitung gelesen hab,
249
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daß radioaktiv verseuchte Leute nicht normal begraben werden dürfen. Die sind
doch praktisch ... wie sagt man dazu?
Sondermüll, richtig. Ja, gut, können Sie mir vielleicht sagen, wie das laufen soll,
weil irgend so etwas wie eine Beerdigung muß man einem Menschen ja geben ...
gibt's da vielleicht Richtlinien dafür, zum Beispiel ob der Pfarrer seine Predigt im
Strahlenschutzanzug halten muß? ... Gibt's nicht, aha ... aber eine anständige
Beerdigung, das ist doch das einzige, worauf sich der Großvater jetzt noch freut,
ich meine, vielleicht täte es eine richtig weihevolle Endlagerung ja auch, aber ein
bißchen christlich müßte es eben schon zugehen ... Wieso geht das nicht?! ... Ach
was! Die Halbwertzeit von meinem Großvater interessiert mich nicht! Solche
Sachen hätten Sie sich eben überlegen sollen, bevor Sie mit der Atomspalterei
angefangen haben, jetzt haben wir den Salat, und der Großvater darf's ausbaden ...
Ja, ebenfalls, wiederhörn.
(Sie legt den Hörer auf.)
Opa lassen wir nicht mehr an die frische Luft. Ab 100 Millirem ist man nämlich kein
Christ mehr.
(Lisa Fitz geht ab.)
Scheibenwischer vom 22.5.86 (194) (Quelle: Scheibenwischer
Zensur, S.29-32.)
Text 3: Unmündig? BR blendet sich erneut aus
Man mag die Begründung der bayerischen Rundfunkgewaltigen zur Absetzung des
Scheibenwischers drehen und wenden, wie man will: der Vorgang ist und bleibt ein
Skandal. Denn erneut wurde damit dem „frei“-staatlichen Zuschauer eine TV-Sendung
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vorenthalten, die alle anderen Bundesdeutschen getrost sehen durften und gegen die
sämtliche anderen ARD-Anstalten auch nichts einzuwenden hatten. Der unmündige
Bürger als idealer BR-Konsument: So hätten sie's wohl gern. Und das offerierte
Ersatzprogramm unter dem Titel: „Heiße Ware Swing“ deutet - ob nun unter Mitwirkung
Dieter Hildebrandts oder nicht - auf eine in jedem Fall bedenkliche Tendenz hin. Ohnehin
nämlich hat ebenso unverbindliches wie unsägliches Tralala anstelle Anstoß erregender
Beiträge ein unerträgliches Übergewicht auf dem Bildschirm bekommen.
Sowieso wird uns so ziemlich jeder erdenkliche Mattscheibenschwachsinn zugemutet. So
läßt sich denn über die Grenzen des guten Geschmacks in der Tat trefflich streiten.
Nicht aber darüber, daß in einer freiheitlich verfassten Demokratie und im öffentlichrechtlichen Rundfunk Satire erlaubt sein muß. Die jedoch ist nun einmal oft genug nicht
nach dem Geschmack jener Entscheidungsträger, welche die bevorzugte Zielscheibe für
professionelle Spötter abgeben.
Bleibt ihnen und ihrer Verträglichkeit die letztwillige Verfügung überlassen, dürften wir wir
über kurz oder lang in die alles nivellierende, anödende, kritikfreie Röhre gucken.
Nürnberger Nachrichten, 23. Mai. 1986
Positionenspiel
Zwei TeilnehmerInnen übernehmen in Rede und Gegenrede die Position „Der Text darf
nicht gesendet werden, weil ...“ bzw. „Der Text muß gesendet werden weil ...“.
In einer Ecke des Raumes steht der „Pro-Redner“, in der anderen der „Kontra-Redner“,
die übrigen Teilnehmer stehen im Raum dazwischen. Nun tragen die beiden Redner
abwechselnd je ein Argument vor. Die Zuhörer verändern ihren Standpunkt, je nach
Zustimmung oder Ablehnung des Argumentes. Sich auf den Redner hinbewegen bedeutet
Zustimmung. Sich von ihm fortbewegen, Ablehnung. Dabei sollen die Zuhörer nur auf die
vorgetragenen Argumente hören und nicht aufgrund ihrer Vorüberzeugung reagieren.
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Nach jedem vorgetragenen Argument verändern also die Zuhörer ihren Stand-Punkt. An
der Stellung und Verteilung der Gruppe im Raum läßt sich die Überzeugungskraft der
jeweiligen Argumente ablesen.
Diskussionsübung
Im Rundfunkrat wird die bereits erfolgte Absetzung einer PolitikerParodie heftig diskutiert.
Der Intendant hat sie mit seinem Fernsehdirektor verfügt. Der Rundfunkrat hat über die
Entscheidung nachträglich zu befinden. Es kommt zu kontroversen Stellungnahmen und
einer Abstimmung. An der Sitzung nimmt nebem dem Intendanten und dem
Fernsehdirektor ein Vertreter der CSU, CDU, FDP, SDP und der GRÜNEN teil. Hinzu
kommen die Vertreter der „gesellschaftlich relevanten Gruppen“ im Rundfunkrat. Sie
werden u.a. durch die Gewerkschaften, die Kirchen, Städtetag, Bühnengenossenschaft,
Bauernverband, Journalistenverband oder auch Landesfrauenverband repräsentiert; auch
sie beteiligen sich an der Diskussion. Die Vertreter diskutieren die Entscheidung der
Intendanz und sollen nach ca. 30 Minuten ihr Votum abgeben. Diese Übung kann in
simultanen Kleingruppen oder als Podiumsdiskussion vor dem Plenum durchgeführt
werden. Der monierte Text ist dabei zunächst nur den Teilnehmern der Diskussionsrunde
bekannt. Im Anschluß an die Abstimmung wird er auch dem Plenum vorgetragen.
3. Schlagzeilen
Das Münchner Crüppel Cabaret
Die Kabarettisten im Rollstuhl fanden sich Anfang der achtziger Jahre zu gemeinsamer
Arbeit zusammen. Wer ihr Programm gesehen hat, ist zur Überprüfung des eigenen,
vermeintlich „gesunden“ Standorts aufgerufen. Der Vortrag ist Provokation, ein Schlag
gegen betuliches caritatives Handeln im Sinne einer beliebigen
Wohltätigkeitsveranstaltung. Die „Versehrten“ im Rolli zeigen auf Doppelbödiges in
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unserer Gesellschaft, auf die Ideologie von strahlenden athletischen Körpern, wie sie uns
die Werbung präsentiert, und auf ihren berechtigten Anspruch ernstgenommen zu
werden.
Text 4: Schlagzeilen knüppeldick
Halbblinder Arzt operierte:
Zwei Tote!
In einem Koblenzer Krankenhaus
operierte dieser Mann
kranke Menschen dann und wann.
Zwei Patienten starben kurz darauf.
Der Skandal war perfekt, der Arzt flog auf.
Keine Lehrstelle für behinderten Sohn:
Vier Tote!
Architekt brachte die ganze Familie um.
Kinderlähmung war der Grund.
Der Vater flippte aus,
machte allen den Garaus.
Auch er selbst macht sich hin.
Es geschah in Berlin.
Aus Verzweiflung: Todkranke Mutter vergiftete ihr Kind!
Danach schnitt sich die Frau ihre Pulsadern auf.
Multiple Sklerose hatte sie,
hatte Angst, sie zu vererben
und ihr Söhnchen zu verderben.
Grad drei Jahre war der Knabe,
und schon trug man ihn zu Grabe.
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Medizin tötet mehr Menschen
als Straßenverkehr!
Geheimstatistik: Jährlich lassen 15.000 ihr Leben.
In der Bundesrepublik müssen viele Menschen leiden,
weil die Ärzte Mist verschreiben.
Selbst Kleinkinder, die aufmucken,
müssen Tranquilizer schlucken.
Anwalt spricht von Skandal:
Rollstuhlfahrer in Haar eingesperrt!
Zum Notarzt wollt der Rolli hin.
Doch er landete in Haar,
weil er eigensinnig war,
und dort sperrte man ihn ein;
Eigensinn, der darf nicht sein.
Gelähmter Bruder aus Mitleid erstochen!
Der Vierundzwanzigjährige bat: Erlöse mich!
Er tat es aus Liebe zu ihm,
zu dem Bruder, der ihn bat:
Mach ein Ende, schreit zur Tat.
Stich dein Messer mir ins Herz,
und vorbei ist all mein Schmerz
Weil es verkrüppelt auf die Welt kam:
Vater erschlug Baby im Kreißsaal!
Eine Hasenscharte war der Grund,
Der Vater konnte sie nicht ertragen,
deshalb hat er sein Kind erschlagen.
Aus dem Brutkasten raus,
an die Wand und aus.
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Das war ein Überblick
über Schlagzeilen krüppeldick.
Wenn die Presse von uns auch nichts
wissen mag,
jeden Mord an einem Krüppel bringt sie an den Tag
in Schlagzeilen krüppeldick.
Wie gesagt, das war nur ein Überblick.
Werner Geifrig, Neues aus Rollywood, 1987
Text 5: Die Kunst des aufrechten Ganges im Sitzen
Ganz unten, da sind die „Rollis“, wie sie sich selbst bezeichnen, die hinaufschauen
müssen, wenn Passanten den Betreuer fragen, ohne den Gemeinten anzuschauen,
„was er denn hätte“. Die Solidarität der Nichtbehinderten, die nie daran denken,
dass der Rollstuhl um die Ecke stehen kann. Oder ist der Text, den eine PRAgentur für das Verkehrsministerium erfand: „Blöder Radler“ - „Sturer Autler“ „Bumms!“ nicht so gemeint, daß man in Sekundenschnelle aus der Mitte der
Gesellschaft verschwinden und sich in einer „Randgruppe“ wiederfinden könnte?
Randgruppen werden von Politikern als „Paket“ behandelt. Sie stehen außerhalb
der gesunden Gesellschaft, nörgeln an ihrem Status herum, fühlen sich nicht
integriert, möchten nicht zusammen mit Asozialen, Chaoten oder Terroristen in
einem Atemzug genannt werden und vor allem keine Almosen erhalten. Sie fühlen
sich als Restrisiko der Gesellschaft, die sich im Kriegszustand befindet. Zum
Zuschauen gezwungen, sehen sie den Kampf Chemie gegen die Natur,
Arbeitsplatzinhaber gegen Arbeitslose, Auto gegen Auto, Erwachsene gegen
Kinder, Menschen gegen Tiere, Medien gegen Menschen oder Nullen gegen NullLösungen, fühlen sich unschuldig an der Entstehung des ganz normalen
Wahnsinns, sehen aber mit Erstaunen, dass sie die Rechnung bezahlen sollen. Die
Urheber von Katastrophen beschließen, sparsamer zu werden, suchen lobbyarme
Gruppen, finden sie unter anderen in den Behinderten und sanieren ihren Haushalt
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mit Abstrichen am Haushalt der Schwächsten. Regt sich Protest bei den
Betroffenen, den man eigentlich gar nicht erwartet hatte, dann klärt man die
Mehrheit der Nichtbehinderten kühl und knapp auf, wie viele Millionen es kostet, die
Behinderten, die keine Gegenleistung erbringen könnten, am Leben zu erhalten.
Dieter Hildebrandt in: Werner Geifrig: Neues aus Rollywood, 1987
Fragen zu den Texten
– Wie wirkt Text 4, wie Text 5 auf Sie?
– Welche Gefühle werden angesprochen?
– Welche Methoden der Distanzierung werden bei Ihnen aktiviert? Was beschreiben die
„Schlagzeilen knüppeldick“?
– Welches Verständnis von der Gesellschaft steht dahinter?
– Deckt sich ein solches Kabarett mit Ihrer Auffassung von „Kunst“? Was wollen die
Behinderten erreichen?
– Was kann ein „Rollstuhl-Kabarett“ beim Zuschauer, bei Wohlfahrtsfunktionären und bei
Politikern auslösen?
Möglichkeiten der Weiterarbeit
– Text 3 wird ohne die Schlagzeilen verteilt. Die TeilnehmerInnen sollen jeweils eigene
Schlagzeilen formulieren. Diese werden dann mit den Schlagzeilen von „Rolli“
verglichen.
– Die 6. Schlagzeile berichtet von einem Tod auf Verlangen. Nehmen Sie darauf in einem
Brief an die Autoren des Kabaretts Stellung.
– Suchen Sie aus der Tagespresse Meldungen und Berichte über Behinderte. Lesen Sie
diese Berichte laut in der Gruppe, ohne Kommentar. Lesen Sie die Meldungen in
verschiedener Betonung und verschiedenem Rhythmus. Kontrastieren Sie dieAussagen
durch Werbeaussagen.
– Stellen Sie sich vor, es ist Volkstrauertag. Am Kriegerdenkmal der Stadt wird mit Musik
und Ansprachen der Opfer von Kriegen und Gewaltherrschaft gedacht.
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– Ein junger Behinderter im Rollstuhl liest zum Abschluß der Veranstaltung Wolfgang
Borcherts Aufruf „Dann gibt es nur eins“. Im Anschluß an die Feier kommen
nacheinander der Bürgermeister, der Pfarrer und ein Ortsvorsitzender der örtlichen
Mehrheitspartei zu dem Rollstuhlfahrer. Wie verlaufen vermutlich die Gespräche?
Spielen Sie diese als kleine Szene mit verteilten Rollen.
– Ein junger Nicht-Behinderter der provokativ einen Rollstuhl benützt, macht in ernster
Absicht dasselbe. Wie reagieren nun die drei Personen?
Glossar zum Kabarett
Bühne
Sie spielt im Kabarett eine untergeordnete Rolle, zumal kleine provisorische Spielstätten
wie Kellertheater oder Varietébühnen bevorzugt werden. Das Spiel mit dem Unfertigen
und Unkonfektionierten im Kabarett mag hier sein Korrelat haben. Gleichwohl haben sich
die Kabaretts immer wieder um Originalität beim Dekor bemüht, um augenfällige Akzente
zur Hervorhebung des individuellen Ansatzes. Wolfgang Neuss setzte im Berliner Domizil
auf die Pauke und die vorhandenen architektonischen Besonderheiten des Raumes.
Hanns Dieter Hüsch tingelt seit Jahr und Tag mit dem Harmonium durch die Lande und
hat dieses zu seinem Markenzeichen gemacht. Die Bühne ist im Idealfall für den
Kabarettisten das, was er dazu erklärt: zusammengeschobene Mensatische, eine
stillgelegte Fabrikhalle.
Conférence (französisch: Vortrag)
Der Conférencier war vor allem in den zwanziger und dreißiger Jahren im Kabarett von
herausragender Bedeutung. Zunächst nur als Überleitung zwischen den einzelnen
Nummern gedacht, enwickelte sich die Zwischenansage zu einer selbständigen Gattung
mit solistischem Charakter. Finck pflegte dieses Genre mit vielen weiteren Kollegen. Bei
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Unterhaltungssendungen im Rundfunk kommt die Conférence gelegentlich noch zum
Vortrag. „Doppelconférencen“ sind von Paul Morgan und Kurt Robitschek überliefert.
„Eine Doppelconférence ist ein Dialog zwischen einem G'scheiten und einem Blöden,
wobei der G'scheite dem Blöden etwas Gescheites möglichst gescheit zu erklären
versucht - mit dem Resultat, daß zum Schluß der Blöde zwar nicht gescheiter, aber dem
Gescheiten die Sache zu blöd wird. Beide haben daher am Ende nichts zu lachen. Dafür
desto mehr das Publikum.“( Karl Farkas, Wiener Kabarettist)
Couplet (französisch: Pärchen)
Seit dem 19. Jahrhundert ist es die Bezeichnung für ein scherzhaftsatirisches Lied, oft
zweideutig und pikant-erotisch. Meist mit gleichlautender Endzeile oder Kehrreim
vorgetragen, aber keineswegs ausschließlich. Claire Waldoff, Otto Reutter, Willy Rosen
sind bekannte Couplet-Sänger. Das Couplet steht in engster Nachbarschaft zum
Chanson. Überschneidungen sind gegeben. Vergleiche hierzu das Lied „lieber Gott mach
mich fromm“ (S. 231).
Dialekt
Er wird im deutschsprachigen Kabarett in zunehmendem Maße eingesetzt. Mit ihm lassen
sich, oft schärfer als durch die Hochlautung, Zustände und Mißstände charakterisieren. Er
schafft Nähe und täuscht diese auch gelegentlich vor (Polt). Die sprachliche Fallhöhe (Uli
Keuler schwadroniert in schwäbischer Mundart über islamischen Fundamentalismus)
rückt das scheinbar Unvereinbare dicht zusammen: Eine Weltreligion wird aus der
Perspektive der sinistren Regionalität abgeklopft. Nicht die Religion wird desavouiert,
dagegen der Sprecher und seine ideologische Verhaftung. Damit hat auch die
zunehmende Nachahmung von Politikern etwas zu tun. Vor allem über den Dialekt wird
eine hohe Identifikationsmöglichkeit geschaffen. (Vergl. M. Richling, Gerhard Polt, Jürgen
von Manger, Siegfried Zimmerschied und viele andere.)
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Fernseh-Kabarett
Wir haben zu unterscheiden: Kabarett im Fernsehen, das direkt für die Bedingungen des
Mediums konzipiert ist („Nachschlag“, „Jetzt schlägt's Richling“ u.a.), und die abgefilmten
Aufzeichnungen von Kabarettveranstaltungen (z.B. aus dem Unterhaus in Mainz). Dieter
Hildebrandts „Scheibenwischer“ stellt eine Mischform dar, da im Sendesaal auch
Publikum anwesend ist. Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Qualitätsfrage, ob das
Medium das Produkt insgesamt verändert. Der Autor neigt zur Bejahung dieser Frage. Am
„Scheibenwischer“ läßt sich das nachweisen. Witz und Humor als ein „regionales
Ereignis“ finden hier nur noch bedingt statt. Die Pointe ist eine solche, die in Rostock oder
Meersburg ganz ähnliche Reaktionen hervorrufen wird. Das Fernsehen, so scheint es,
macht das Kabarett über weite Strecken egalitär, weil jeder alles verstehen muß. Das ist
eine Chance, aber auch ein nicht zu unterschätzendes Problem. Nur selten kommen im
übrigen fernsehspezifische Techniken zum Einsatz. Die Möglichkeiten von Schnitt,
Beleuchtung und Montage sind bislang kaum ausgeschöpft.
Humor (lateinisch humor / umor: Feuchtigkeit)
„Gabe eines Menschen, die Unzulänglichkeit der Welt und der Menschen, den
Schwierigkeiten und Mißgeschicken des Alltags mit heiterer Gelassenheit zu begegnen“
(Duden, Das Herkunftswörterbuch, 1989).
Nach klassischer und antiker Vorstellung steht dahinter die Lehre von den Körpersäften
und damit auch die Temperamentenlehre: sie unterscheidet den cholerischen,
melancholischen, phlegmatischen und sanguinischen Charakter, die „schlechte“ oder
„gute“ Gestimmtheit des Menschen. Humor- aus lateinisch humores „Feuchtigkeiten“ - hat
erst im 17. und 18. Jahrhundert die allein positive Deutung erfahren. Wichtig ist beim
Humor die philantropische Haltung: Ohne Schärfe wird auf „Ungereimtheiten“ verwiesen.
Anders als die Satire, die mit Bissigkeit auf Veränderung setzt, ist der humorige Ansatz
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„versöhnlich“ gestimmt. Der Humor ist konstituierend für das Kabarett und definiert nur in
Grenzfällen eine Gattung, z.B. die „Humoreske“.
Ironie (griechisch eironeia: Verstellung)
Das Mittel ist ebenfalls konstituierend für das Kabarett. Die Bühnentechnik des Als-Ob
kommt zur Anwendung. Der Kabarettist „verstellt“ sich. Zwischen seinem Wissen und
seiner Aktion und Rede wird eine Diskrepanz sichtbar. „Die Ironie ist eines der wichtigsten
Mittel, die Glaubwürdigkeit einer Person oder Sache in Zweifel zu ziehen.“ (Ueding, 1991,
S. 80.) Der Akteur simuliert vor dem Publikum Nichtwissen und verbirgt seine Kenntnis
über den wahren Sachverhalt. Oft wird Einverständnis mit dem beschriebenen
Sachverhalt nur vorgetäuscht oder „geheuchelt“. Durch Übertreibung läßt sich aus dieser
Perspektive nachdrücklich kritisieren. Ironie, die für den Zuschauer nicht kenntlich wird,
verfehlt ihr Anliegen im übrigen und führt unter Umständen zu eklatanten
Mißverständnissen. In der zwischenmenschlichen Alltagskommunikation ist dies oft zu
beobachten. Im klassischen Griechenland war der „Ironiker“ im übrigen ein zu tadelnder
Zeitgenosse: „Auch wer vor der Steuer sein Eigentum niedriger als richtig angab, tat klein
und galt als Ironiker. Das war im Grunde ebensosehr Lüge und Täuschung wie die
entsprechende Verstellung nach oben hin, das Großtun. Aristoteles muß in seiner Ethik
zugeben, das Großtun und Kleintun eigentlich gleich weit von der goldenen Tugendmitte
der Wahrhaftigkeit entfernt sind.“ (Weinrich, H., 1966, S. 59.)
Kabarett 1894
(Französisch cabaret), Schenke, Wirtshaus; Kaffe-, Teebrett und -geschirr; fächerweise
abgeteilte Schüssel für Kompotts. (Brockhaus Konversations-Lexikon, vierzehnte
vollständig neubearbeitete Auflage in sechzehn Bänden, Berlin und Wien 1894.)
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Karikatur (italienisch caricare: übertreiben, überladen)
Sie besteht in der verzerrenden Übertreibung einer charakteristischen Eigenschaft. Damit
die Karikatur durch den Zuschauer erschlossen werden kann, sollte ihm das
überzeichnete Vorbild bekannt sein. Bei der gezeichneten Karikatur von Politikern wird
das deutlich. Die herausgestellten Augenbrauen des Finanzminister Theo Waigel auf
Zeitungskarikatur machen nur für den Kenner des Ministers Sinn. Dieter Hildebrandt
karikiert in dem Gedicht „Der Mond ist aufgegangen“ (vgl. S. 254f.) die Sprechweise des
Bundeskanzler Kohl. Die Leerformeln werden jedoch als bekannt vorausgesetzt und
entfalten durch diese Beziehung die komische Wirkung.
Komik (griechisch komikos / komos: Festzug, dörfliches Fest)
Sie beruht u.a. auf der Inkongruenz von der jeweiligen Anschauung über eine Sache oder
Menschen und der tatsächlichen Erscheinung im Leben, auf der Bühne, im Film oder
Varieté. Ein volleibiger Minister für Sozialfragen, der im Spiel auf der Bühne für die sozial
Schwachen Interesse zeigt, kann komisch wirken, weil dies nicht mit der vorgefaßten
Vorstellung des Publikums in Einklang zu bringen ist. Die grölende und prustende Witwe
wirkt komisch, weil der Zuschauer Trauer voraussetzt. Man unterscheidet zwischen
„freiwilliger“ und „unfreiwilliger“ Komik. Jene ist gegebenenfalls literarisch oder
künstlerisch kalkuliert, diese Ergebnis des platten Unvermögens, sich auszudrücken. Das
Kabarett jongliert und hantiert mit dem Spektrum der Komik ganz selbstverständlich.
Komik wird unterschiedlich erfahren, da der eigene Standort die Reichweite und Wirkung
der Komik bestimmen. Kabarett ohne Komik ist denkbar. Ihr Entzug - je länger, je mehr weitet sich im Theatersaal und am Bildschirm zur Katastrophe. Kluge Analytiker haben
den Humor qualitativ über die Komik gesetzt, den Witz darunter. Die Massenmedien
verwechseln zunehmend Komik mit Ulk und Blödelei. Und das ist gar nicht komisch.
Musik
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Sie spielt im Kabarett traditionell eine wichtige Rolle. Auf die enge historische Verbindung
von Chanson, Couplet und Kabarett ist zu verweisen. Das Lied erlaubt einen hohen
affektiven Zugang. Mit ihr lassen sich Szenen gliedern und Texte akzentuieren. Auffallend
ist der häufige Einsatz von bekannten Melodien im Kabarett, die als Grundlage für den
neuen Text dienen. Hier wird im allgemeinen auf den Wiedererkennungseffekt gesetzt.
Dieser erlaubt die rasche emotionale Einstimmung. Ein parodistisch eingesetzter Liedtext
kann auf der „bekannten“ Musikschiene wesentlich leichter rezipiert werden. Auf dem
Bekannten fußt die neue Botschaft. Das Musikzitat schafft ein Ambiente der vertrauten
musikalischen Behaglichkeit, auf der sich ganz Ungewohntes oder Überraschendes
sagen und singen läßt.
Parodie (griechisch: Gegengesang)
Sie setzt ein wissendes Publikum voraus, das den Original-Text kennt. Dieser wird ganz
oder in Teilen verspottet oder lächerlich gemacht, indem die äußere Form beibehalten
wird und ein anderer dem Original „unangemessener“ Inhalt präsentiert wird. Das
Verfahren hat große Verwandtschaft zur Travestie, wobei die Abgrenzung nicht immer
sinnvoll gemacht werden kann. Erwin Rotermund führt aus: „Eine Parodie ist ein
literarisches Werk, das aus einem anderen Werk beliebiger Gattung formal-stilistische
Elemente, vielfach auch den Gegenstand übernimmt, das Entlehnte aber teilweise so
verändert, daß eine deutliche, oft komisch wirkende Diskrepanz zwischen den einzelnen
Strukturschichten entsteht. Die Veränderung des Originals, das auch ein nur fiktives sein
kann, erfolgt durch totale oder partiale Karikatur, Substitution (Unterschiebung), Adjektion
(Hinzufügung) oder Detraktion (Auslassung) und dient einer bestimmten Tendenz des
Parodisten, zumeist der bloßen Erheiterung oder der satirischen Kritik.“ (Rotermund,
1963, S. 9.)
Pointe
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Auf Ihr basiert die entscheidende Wirkung im Kabarett. Das Moment der überraschenden
Wendung spielt dabei eine Rolle. Der „eigentliche, unerwartete Sinn“ (Wilpert) rückt in die
Szene. Sprachlich kommt es dabei oft zu einer „Enttarnung“ von Meinungen oder
Vorurteilen, ein Gesagtes erscheint im neuen Licht, auf alle Fälle ereignet sich ein
dramaturgischer Umschlag. Die Pointe betont nicht nur einen Schlußakzent - wie beim
Witz -, sie tritt auch innerhalb der Szene in Erscheinung.
Satire
Die Herkunft des Wortes scheint nicht gesichert. Ein Zusamenhang mit griechisch satyros
ist nicht gegeben. Das lateinische Wort satura (Opferschale) kommt in Betracht, auch die
etruskische Wendung satir „reden“. Unter Satire versteht man im literarischen Sinn eine
Spottdichtung mit erzieherischer Tendenz. Heute bezeichnet die Satire im allgemeinen die
Verspottung und kritische Auseinandersetzung mit Mißständen oder Personen. Anders als
wie bei der „humorigen“ Betrachtung, setzt die Satire auf die Veränderung des
beschriebenen Defizits. Die Satire agiert „politischer“ als die Humoreske; die Satire
prangert an und stellt auch bloß, sie kann auch verletzen oder den Gegner demütigen. Die
Mittel der Satire sind u.a. Humor, Ironie und Witz. Das satirische Element ist im Kabarett
fast immer vertreten.
Travestie ( italienisch travestire: verkleiden)
Der Inhalt wird beibehalten, doch die Form gezielt verändert und manipuliert. Auch hier
wird die Kenntnis vom „Original“ vorausgesetzt. Bei Hildebrandts Kohl-Vortrag der
Claudius-Vorlage („Der Mond ist aufgegangen“, S. 254f.) sind Mittel der Travestie
eingesetzt, freilich auch die der Parodie. An Friedrich Theodor Vischers (1807-1887)
FaustParodie oder -Travestie sei erinnert.
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Witz
Das Wort bedeutete in der Klassik „Verstand“, „Klugheit“ und „Geist“. Heute hat es die
Verschiebung zu „Schlauheit“ und „Pfiffigkeit“ erfahren. Die prägnante, meist kurze und
„pointierte“ sprachliche Ausformung eines Sachverhalts mit einer überraschenden
Wendung gehört zur Charakteristik des Witzes. Zu seiner Dramaturgie zählt das Moment
der Überraschung, das Zussammenspiel von enttäuschter Erwartung und tatsächlichem
Vortrag.
Zensur (lateinisch censura: strenge Prüfung)
Staatliche, halbstaatliche oder kirchliche Überwachung des Literatur-, Musik-, Film-,
Radio- oder Fernsehbetriebs mit dem Ziel der inhaltlichen Überwachung und Steuerung.
Der öffentlich-rechtliche Rundfunk kennt im Sinne des Grundgesetzes (Artikel 5) keine
Zensur, gleichwohl gibt es immer wieder faktische Zensureingriffe. „Zensur ist die mit
Machtmitteln versehene Kontrolle menschlicher Äußerungen. Sie führt bei Bedarf zu
rechtsförmigen und außerrechtlichen Sanktionen. Beispielsweise zur Behinderung,
Verfälschung oder Unterdrückung von Äußerungen vor oder nach ihrer Publizierung.
Durch die Bedrohung der beruflichen/ bürgerlichen Existenzen zielt Zensur auf die
Internalisierung von Herrschaftsansprüchen. Selbstzensur ist das Resultat erfolgreicher
Zensur.“ (Kienzle/Mende, Zensur in der BRD, 1980, S. 231.) Die Geschichte des
Kabaretts ist immer auch die Geschichte der behinderten Kunst- und Meinungsäußerung,
mithin der Zensur, gewesen.
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung
außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des
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Rechteinhabers unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen,
Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in
elektronischen Systemen.
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