http://www.mediaculture-online.de Autor: Hörburger, Christian. Titel: Nihilisten - Pazifisten - Nestbeschmutzer. Gesichtete Zeit im Spiegel des Kabaretts. Quelle: Christian Hörburger: Nihilisten - Pazifisten - Nestbeschmutzer. Gesichtete Zeit im Spiegel des Kabaretts. Tübingen 1993. S. 9-299. Verlag: Institut für Friedenspädagogik Tübingen e.V.. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors. Christian Hörburger Nihilisten - Pazifisten - Nestbeschmutzer Gesichtete Zeit im Spiegel des Kabaretts Inhaltsverzeichnis Vorwort: Wir mahlen Pfeffer in die Bonbonnière .........................................................3 Auftak t ..............................................................................................................................................5 Probleme, Fragen, Widersprüche .........................................................................................5 Das Kabarett - Ein deutscher Totentanz ..........................................................................7 Französisc he Uraufführung ................................................................................................10 Von Kriegern und Lumpen ..................................................................................................13 Unter Diktatu r und Haken kr e u z ..........................................................................................16 Die Nazis komme n - Kassandra und Spötter auf der Flucht.................................16 Gepfeffertes aus München und Zürich ...........................................................................24 Witz als Widerstand - Werner Finck provoziert die Nazis in der Katakombe ..... 31 1 http://www.mediaculture-online.de Frohsinn der rechten Denkungsart oder Die gute Laune ist ein Kriegsartikel, versichert der Minister .........................................................................................................43 Zum Totlachen oder Theresien stadt, Theresien stadt ist das modernste Ghetto, das die Welt heut hat.............................................................................................59 Traue r a r b eit und Restaur ation ............................................................................................89 Erich Kästner gibt Nachhilfe ..............................................................................................8 9 Demokratisch - aber wie! Spötter wider die Reaktion .............................................97 Das Kabarett, das aus der Kälte kam - Die Insulaner im Kampfanzug ...........111 Der Tod ist ein Meister aus Deutschland und die Republik läßt wieder rüsten . 122 Der Ball ist rund und die Republik läßt es sich gutgehen ....................................138 Ver m a u e r t e s und Vernag eltes. Die sech zige r Jahre zwischen Aufbruch und Protest ..........................................................................................................................................147 Eiszeit in den Köpfen ..........................................................................................................147 Der beredte Außens eiter - Wolfgang Neuss ..............................................................158 Mit strahlende m Gesicht ....................................................................................................164 Unziviles - Agitation und APO- Kabartett..................................................................168 Verz w eiflun g, Wut und Schrecken ....................................................................................187 Der überwachte Staat..........................................................................................................187 Nachgerüstet - Wettlauf zwische n Schwertern und Pflugscharen ...................197 Von Wende zu Wende .............................................................................................................207 Neues aus Skandalusien ....................................................................................................2 07 Über die Fremde - Dialektales und Dialektische s ...................................................212 Eine Zensur findet statt ......................................................................................................222 Ausgelacht - Das Kabarett unter Hammer und Sichel ...........................................235 2 http://www.mediaculture-online.de Deutscher Epilog ......................................................................................................................248 Spreng - Sätze ..........................................................................................................................248 Das Kaba r ett in der Bildungsar b eit .................................................................................2 52 1. Interpretation und Neuformulierung .......................................................................253 2. Was darf die Satire?........................................................................................................2 55 3. Schlagzeilen .......................................................................................................................258 Glossar zum Kabarett .........................................................................................................263 Vorwort: Wir mahlen Pfeffer in die Bonbonnière „Jetzt wollen wir was Hübsches singen“ - mit diesem Vers begann in München am 1. Januar 1933 das erste Programm der Pfeffermühle. Erika und Klaus Mann haben zusammen mit Walter Mehring die Texte geschrieben und selber neben Therese Giehse, Magnus Henning oder Sybille Schloß auf den Bretteln gestanden - in der etwas heruntergekommenen Bonbonniere gleich hinter dem Hofbräuhaus. Ich erzähle diese Einzelheiten aber nicht, um mit dem so unglaublich materialreichen Fundus dieses Buches zu wetteifern, sondern weil sie in ihrer beinah niederen, jedenfalls beiläufigen Weise die Quintessenz der so merkwürdigen wie immer noch populären Gattung zum Ausdruck bringen, der sich Christian Hörburger nicht nur auf dem Papier verschrieben hat. Denn natürlich sind die derart angekündigten Lieder alles andere als hübsch im landläufigen Sinne des Worts, zumindest kommen sie vielen garstig vor, und auch diejenigen, die sich darüber amüsieren, werden sie eher witzig, satirisch, komisch oder karikaturistisch finden. Der Kabarettist, das kleine Wort lehrt es bereits, ist ein Meister der zweideutigen Rede, er meint es selten genau so, wie er es sagt, Scherz, Ironie, Satire sind seine wichtigsten Ausdrucksformen - nicht allein, weil er oftmals Verbot, Verfolgung, Zensur befürchten mußte, sondern auch weil alles Komische aus einer Spannung lebt und Anspielung, Verrätselung, Andeutung zu seinen wichtigsten Merkmalen zählen. 3 http://www.mediaculture-online.de Pfeffermühle, wie bei den meisten Kabaretts, bedeutet ein Programm, der Name spricht und macht die Absicht kenntlich. Der Anekdote nach - und auch sie ist aussageträchtig, über den Einzelfall hinaus - hat Thomas Mann diesen Einfall gehabt. Die Familie saß beim Essen, Erika und Klaus waren voller Ideen für das gemeinsame Projekt, allein, das Kind war noch namenlos, und keine der in Erwägung gezogenen Bezeichnungen hielt stand. Da griff Thomas Mann nach der hölzernen Pfeffermühle und hielt sie den beiden mit den Worten hin: „Wie wär's denn damit?“ -Die Geburt eines Kabaretts am bürgerlichen Mittagstisch, das wirkt wie ein Gleichnis für die Entstehung dieses Zwitterwesens aus Theater und Künstlerkneipe, Satire und Gassenhauer, Unterhaltung und Belehrung: das Kabarett ist eine bürgerliche Erfindung, und die Pariser Boheme, aus deren Schoß es Ende des 19. Jahrhunderts wuchs, rekrutierte sich aus den Kindern und Enkeln des Standes, der das Hauptziel aller satirischen Angriffe und Sottisen, Witze und Spottlieder der Kleinkunst-Bühnen war und bis heute ist. Auch daß sich Die Pfeffermühle gleichsam im Rücken des Hofbräuhauses etablierte, hat in diesem Zusammenhang signifikante Bedeutung, die noch stärker auffällt, wenn man bedenkt, daß es sich nicht nur als Kneiport bierseliger Spießer, sondern vor allem als Versammlungsstätte nationalsozialistischer Parteigänger seinen Namen gemacht hat. Im Hinterhof, am Rande und ganz unspektakulär sammelte sich der Widerstand und sandte Pfeil für Pfeil in die andere, die Gegenrichtung. Denn wenn es einen gemeinsamen Nenner aller Kabaretts gibt, so ist es die Opposition, womit man aber nicht eine politische Partei verbinden darf. Der Kabarettist ist kein Politiker, und wenn er auch der politischen Opposition naturgemäß zuneigt, wird man ihn nicht als Parteigänger nehmen dürfen. Ein Kabarett ohne Distanz auch zur eigenen Wunschfraktion wird zum politischen Propaganda-Apparat und verliert seine wichtigste Funktion: wachsam nach allen Seiten zu sein, Unmoral überall anzuprangern und seinen Witz an Verirrungen aller Art und Richtung zu schärfen. Wir haben es auch hier mit einer moralischen Anstalt zu tun, die selbst dort, wo sie politisch wird, unterwegs niemals die Moral verliert. Ja, das Kabarett ist ein später Abkömmling der Aufklärung, und wenn es die Fehler der anderen Seite aufdeckt, heißt das nicht, daß es eben diejenigen der eigenen verschweigt. Insofern ist es auch eine höchst streitbare, ja kämpferische Kunst, (man denke nur noch einmal an Die Pfeffermühle), die zwar den Frieden will, aber Kirchhofsfrieden haßt. 4 http://www.mediaculture-online.de So kommt es auch, daß Kabarett und Kabarettisten von Parteigängern, die nichts anderes sind, immer mit Mißtrauen betrachtet werden, ob sie links oder rechts stehen. Überdies gibt es noch einen weiteren Stein des Anstoßes: wenn der Kabarettist verkündet, er wolle etwas Hübsches singen, ist das ja nicht bloß ironisch gemeint. Unterhaltung gehört schon zum Kabarett dazu, Caféhaus- und Kneipenatmosphäre sind nicht nur sein äußerlicher Rahmen, sondern werden durch das Ideal geselliger Gemeinsamkeit verbunden. Didaktisches Theater, Lehrstücke im kleinen, darf man von den Sketchen und Szenen hier glücklicherweise nicht erwarten, es wird gelacht, der Humor bricht immer wieder die Speerspitzen der Feindseligkeit, und die komische Aufklärung soll das Publikum vergnügen - welch ein Greuel für Funktionärsschädel jeglicher Couleur. Ein Greuel - oder zumindest ein verdächtiger Fremdkörper ist das Kabarett wohl auch aus diesem Grunde für die Wissenschaft geblieben. Sich ernst über den Humor zu äußern, birgt immer die Gefahr, selber komisch zu wirken, und das fürchten die Gelehrten aller Zeiten und Länder seit jeher. Außerdem ist das Kabarett eine Mixtur aus allen möglichen kleinen Formen der literarischen und theatralischen Künste, dem Jahrmarkt verdächtig nahe, begrifflich schwer zu fassen, noch dazu der Tagesaktualität verpflichtet und daher offenbar von zweifelhaftem Kunstanspruch. Christian Hörburger hat in diesem Buche eine Methode bemüht, die seinem Gegenstand selber nicht fremd ist: eine Art „Nummernprogramm“, in dem das Beispiel und die Analyse, Text und Beschreibung einander abwechseln und sich gegenseitig erhellen. Der Zeitraum: die neuere deutsche Geschichte von 1933 bis zur Gegenwart, ist weit gespannt und ausladend genug, um alle Formen und Mittel des Kabaretts zur Darstellung zu bringen, uns aber auch nicht fern, so daß umständliche historische Exkurse, die detaillierte Einbettung ins Zeitgeschehen - Feinde jeder kabarettistischen Wirkung - meist entfallen können. Zum dritten Male also: „Jetzt wollen wir was Hübsches singen“ - diesmal als „Vorhang auf“ fürs Buch, seinen Autor und alle seine Proben aufs Exempel. Gert Ueding 5 http://www.mediaculture-online.de Auftakt Probleme, Fragen, Widersprüche Die Anregungen zu diesem Buch verdankt der Autor vor allem der Tätigkeit in der Erwachsenenbildung an der Universität und im Bereich von Zivildienstschulen. Hier konnte das Medium Kabarett in seinen vielfältigen Erscheinungsformen in Seminaren und Unterrichtseinheiten erprobt und didaktisch umgesetzt werden. Es zeigte sich sehr rasch, daß der Facettenreichtum der Gattung in hervorragender Weise geeignet ist, um die verschiedenen Nahtstellen zwischen Literatur und Politik, Kultur, Subkultur und satirisch gespiegelter Zeitgeschichte exemplarisch herauszuarbeiten. Anders als das Geschichtsbuch, das dem „objektiven Rückblick“ verpflichtet ist, setzt das Kabarett in Lied, Wort und Ton auf die subjektive Ablichtung von Ereignissen. Es geht nicht um den allgemeingültigen Standpunkt, sondern um die Bewertung der Geschichte durch das artistische Individuum, das seine Zeit schrankenlos „persönlich“ betrachtet und beurteilt. Es ist ein Anliegen dieses Überblicks, der Verbindung von Kabarett und Zeitgeschichte in Deutschland besonders nachzuspüren. Die Auseinandersetzung der Künstler mit dem Staatsapparat in Diktatur und Demokratie, der Kampf um eine befriedete und ihrem Wesen nach antimilitaristische Republik soll hier an einzelnen ausgewählten Beispielen herausgearbeitet werden. Der grenzüberschreitende Blick über die engere Gattung hinaus auf Schlager, Protestlied oder auch Untergrundlyrik kann von Fall zu Fall den Blick für kulturelle Verschränkungen vertiefen. Auch im Schlager manifestiert sich unter Umständen der populäre Geist der Zeit. Abstecher in dieses abseits liegende Terrain scheinen ebenso lohnend wie kleine Seitenblicke auf das Filmgeschehen. Die Literatur über das europäische Kabarett ist umfangreich, wenngleich im Einzelfall nur noch schwer zugänglich. Kleine Auflagen, gelegentlich von exotischen Kleinverlagen publiziert, erschweren die Beschäftigung mit der Geschichte des Kabaretts. Das beigefügte Literaturverzeichnis ermöglicht hier einen ersten fundierten Einstieg in das Thema. Viele Publikationen leiden darunter, daß entweder nur auf die Überlieferung der Texte geachtet wurde -Anthologien -, oder daß sie andererseits nur die 6 http://www.mediaculture-online.de kulturgeschichtlichen Zusammenhänge des Kabaretts - mit ganz wenigen Textbeispielen berücksichtigen. Beide Vorgehensweisen sind legitim, haben aber auch erhebliche Schwächen. Die vorliegende Beschreibung bemüht sich um einen Kompromiß, wobei dem originalen Text neben seiner Einordnung das Augenmerk gilt. Nach Möglichkeit sind die Texte zum Kabarett durch historische Archivaufnahmen aus Funk, Schallplattenindustrie und Fernsehen abgesichert. Dabei sind den Möglichkeiten eines freien Autors - das bleibt eingeräumt - freilich Grenzen gesetzt. Die Entwicklung des deutschsprachigen Kabaretts bis 1933 wird in diesem Buch nur gestreift. Auf diesen Aspekt mußte hier verzichtet werden, die einschlägige Literatur ist gleichwohl ausgewiesen. Das Wechselspiel zwischen der Zeitgeschichte und dem Kabarett der Zeit wird besonders hervorgehoben. Das Buch wertet die Texte durchaus persönlich und nicht immer akademisch. Das hat den Vorteil der methodischen Transparenz. Das leidenschaftliche Wort der Kabarettisten für gewaltfreies Handeln und einen deutschen Friedensbeitrag in der Welt - ohne Waffen -, das hat das Arrangement der Thesen, Dokumente und Zitate aus dem Kabarett und über dieses vielfach bestimmt. Ausflüge in gegenteilige Weltbeschreibungen, zumal unter den Bedingungen des Faschismus und des Kalten Krieges, sind notwendig, um das kämpferisch-demokratische Kabarett in seiner Funktion präziser ausleuchten zu können. Hinweise für Pädagogen am Schluß des Buches zur Arbeit mit dem Kabarett verstehen sich als Anregungen, die weiter zu ergänzen sind. Das Kabarett - Ein deutscher Totentanz Das Kabarett ist eine theatralische Kunst, die je nach politischer Gesinnung und Couleur, auf geziemende Provokation angelegt ist. Auf den Zuschauer wirkt es abstoßend oder anziehend, womöglich unterhaltlich. Es kommt jeweils auf die aktuelle Gemütslage des Betrachters an. Ob dieser sich auf das Bühnengeschehen einläßt oder sich ihm verschließt, das hat oft, beileibe nicht immer, mit dem Partei- oder dem Gesangbuch zu tun. 7 http://www.mediaculture-online.de Das Kabarett verfolgt als Gattung keine Doktrin. Es ist gemütvoll, eifernd, ätzend, auch langweilig, wenn die Sprache versagt. Es gibt sich oft parteilich und mit Bedacht weltverbessernd. Dort, wo bestallte oder unbestallte Zensoren mit der Schere Hand anlegen, lohnt es sich allemal zuzuhören. Der Griff nach dem freien Wort, unter den Bedingungen der Diktatur üblich, beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk keineswegs abgeschafft und durch den Begriff „Ausgewogenheit“ entschuldigt, hat unter allen Regierungsformen Tradition. Das obrigkeitsstaatliche Verbot der spöttelnden oder kritischen Nachricht, der Eingriff in den literarischen und künstlerischen Prozeß, in letzter Konsequenz Berufsverbot oder gar Inhaftierung in Gefängnis oder Konzentrationslager, gehören zum extremsten Risiko für die Künstler. Die Nationalsozialisten haben die Kritiker der braunen Herrschaft und die Herolde der Freiheit unversöhnlich verfolgt, geschunden und eingepfercht. Dort, im Angesicht der Todesfabriken, hatten die inhaftierten Kabarettisten, Komiker, Coupletsänger und Varietékünstler ihre Peiniger und Schlächter zu unterhalten. Die Gedemütigten haben es getan, weil der makabre Totentanz zumindest für die Dauer des Vortrags vor den Nachstellungen der Wachmannschaften schützte. Überlebende Kabarettisten aus Theresienstadt oder Auschwitz berichten übereinstimmend von dieser allerletzten Möglichkeit, sich der Identität und eigenen Menschenwürde durch das Spiel auf der Lagerbühne zu versichern. Das Kabarett in Ketten zeigt in einem verheerenden Umkehrschluß den Zusammenstoß von blutgewordener Politik und entlarvender Menschlichkeit. Die Henker besahen sich genüßlich den Spiegel, den die Sänger im grausigen End-Spiel ihnen vorhielten. Die Wirkung gefesselter Diseusen, Kabarettisten und satirischer Gedanken ist im 20. Jahrhundert niemals fataler unter Beweis gestellt worden. Der Zug der Komödianten hat unter den Bedingungen des Schafotts die brutalste Verschränkung von Gewaltpolitik und Literatur durchlitten. Das aufklärende, liberale und freie Wort, das unterhaltliche Lied, das Maskenspiel des Clowns, sie kulminieren hier in einem deutschen Extrem. Jede Auseinandersetzung mit dem Genre hat daran zu erinnern. Die Abrechnung heutiger Kabarettisten mit Mißständen in Politik und Gesellschaft verkümmerte ohne diesen notwendigen Reflex zur folgenlosen Unterhaltungskunst saturierter Spaßvögel im Windschatten des Fernsehens. Die Verschränkung von Krieg und Humanitas, Gewalt und oppositioneller Arbeit für Frieden und Menschenwürde ist in der kurzen Geschichte des 8 http://www.mediaculture-online.de Kabarettes sinnenfällig. Stellvertretend für unbekannt gebliebene Literaten, Alleinunterhalter, Komiker, Zauberkünstler und Kabarettisten, die über Stationen wie Theresienstadt oder Westerbork in die Gaskammern kamen, hier die Namen einiger Opfer: Kurt Gerron (1897-1944). Im Künstler-Kaffee 1919, dem Küka in Berlin, für das Kabarett entdeckt. 1928 spielt er bei der Uraufführung der „Dreigroschenoper“ Tiger Brown, 1930 im Film „Der blaue Engel“ den Direktor der Variégruppe. 1933 Emigration nach den Niederlanden. Inhaftierung und Deportation in die Lager Westerbork und Theresienstadt. Hier gründet er das Lagerkabarett Das Karussell und trägt hinter Stacheldraht und Wachtürmen Songs von Brecht und Weill vor. Im September 1944 muß er die Regie in dem Propagandafilm „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“ übernehmen. Unmittelbar nach Abschluß der Dreharbeiten wird Gerron nach Auschwitz verschleppt und im selben Jahr ermordet. Paul Morgan (1886-1938). Schauspieler, Komiker, Kabarettist und Buchautor. 1886 in Wien geboren. Tritt 1914 im Wiener Simplicissimus auf. Er gründet 1924 mit Kurt Robitschek und Max Hansen das Berliner Kabarett der Komiker. Im März 1938 verhaften ihn die Nazis in Österreich: KZ Dachau, KZ Buchenwald. Im Dezember stirbt Morgan an Entkräftung im Lager. Egon Friedell (1878-1938). Schriftsteller, Kabarettist und Theaterkritiker. Seit 1924 spielt er abwechselnd in Berlin und Wien auf den Reinhardt-Bühnen. Leitet das Cabaret Fledermaus in Wien und schreibt seine „Kulturgeschichte der Neuzeit“. Beim Eintreffen der Gestapo springt er in Wien aus dem Fenster. Erich Mühsam (1878-1934). Schriftsteller, Politiker, Kabarettautor. Die Chansons „Der Revoluzzer“, „Lumpenlied“, „Kriegslied“ und „Die drei Gesellen“ stammen aus seiner Feder. 1919 ist er Mitglied des Zentralrats der Bayerischen Räterepublik. Anschließend sechs Jahre in Haft. Nach dem Reichstagsbrand erneute Inhaftierung. Er stirbt im Konzentrationslager Oranienburg nach Folter. Die Nazis verbreiten die Falschmeldung, Erich Mühsam habe sich erhängt. 9 http://www.mediaculture-online.de Manfred Greiffenhagen (1896-1945). Schriftsteller und Kabarettautor. In Theresienstadt schreibt er für das Lager-Kabarett. Er wird 1944 nach Auschwitz deportiert und stirbt im Konzentrationslager Dachau. Dora Gerson (1899-1943). Die Schauspielerin tritt in Werner Fincks Berliner Katakombe auf. Sie emigriert nach Holland und wird bei einem Fluchtversuch in die Schweiz festgenommen. Sie stirbt in Auschwitz. Willy Rosen (1894-1944). Texter, Kabarettist und Schlagersänger. In den Niederlanden gründet er das Emigranten-Kabarett Theater der Prominenten. 1942 werden die meisten Mitglieder des Ensembles verhaftet und in das „zentrale Flüchtlingslager“ Westerbork eingepfercht. In der alten Garnisonsanlage kommt es zur Gründung der Bühne Lager Westerbork, das Gesangsduo Johnny & Jones singt Lieder, der Lagerkommandant Konrad Gemmeker will sich am Abend amüsieren. Zusammen mit Max Ehrlich leitet Rosen das Kabarett. Beide werden 1944 in Auschwitz ermordet. Jura Soyfer (1912-1939). Dramatiker und Kabarettist. Er gehört zu den originellsten und zugleich bedeutensten Autoren des deutschsprachigen Kabaretts. Er schließt sich 1933 der illegalen kommunistischen Partei Österreichs an. Horst Jarka, der Herausgeber des Gesamtwerkes, kommentiert: „In Soyfers Stücken, ihrem Wesen nach >Hetz und Witz mit tieferer Bedeutung<, wird Brecht - Brecht der dreißiger Jahre - von Raimund und Nestroy überspielt. Andererseits beweisen gerade Soyfers Stücke, in denen sich Anklänge an Nestroy und Raimund neben solchen an Brecht finden, die Verwandtschaft von Alt-Wiener Volkstheater und Brechts Dramatik.“1 Nach dem Einmarsch der Deutschen wird er auf der Flucht verhaftet und ins KZ Dachau eingesperrt. Von ihm stammt das berühmte „DachauLied“. Im Alter von 26 Jahren stirbt Jura Soyfer in Buchenwald an Typhus. 10 http://www.mediaculture-online.de Französische Uraufführung Im November 1881 eröffnet der Maler Rodolphe Salis eine Kneipe für Künstler und Liebhaber. Chat noir heißt das gesellige Etablissement in Paris am Montmartre. Die Absichtserklärung des Gastgebers Salis ist bemerkenswert: „Wir legen ab heute unsere sämtlichen Manuskripte, Noten, Malereien, Gedanken und deren Splitter zusammen und bilden daraus eine Gesellschaft zur Veröffentlichung unserer bekannten Schöpfungen. Auf diesem Klavier werden unsere Vorträge begleitet werden, und diese Stelle, wo ich stehe, bildet das Podium, auf dem wir unsere Gedichte den Zuhörern, falls sich welche einfinden, vortragen werden. Wir werden politische Ereignisse persiflieren, die Menschheit belehren, ihr ihre Dummheit vorhalten, dem Philister die Sonnenseite des Lebens zeigen, dem Hypochonder die heuchlerische Maske abnehmen, und, um Material für diese literarischen Unternehmungen zu finden, werden wir am Tage lauschen und herumschleichen, wie es nachts die Katzen auf den Dächern tun.“2 Als Eintrag ins „Vereinsregister“ -einmal angenommen - für die bunten und schillernden Vögel des Kabaretts gedacht, hätte die Kunstgattung sich demnach der politischen Belehrung von unten verpflichtet. Die Perspektive wäre eine bürgerliche, kaum noch aristokratische. Die Regieanweisungen kämen seit der Uraufführung 1881 nicht aus der gepolsterten Königsloge, sondern aus dem sympathischen Dunstkreis der AbsinthTrinker. Die Boheme inszeniert ihr eigenes Welttheater. Victor Hugo, Emile Zola und Claude Debussy treten sich auf die Rockschöße. Im kleinen Kreis gibt sich die Pariser Intelligenz unangepaßt, spaßig, satirisch und revolutionär. Madame Yvette Guilbert (18671944) erhebt das Chanson zum Kunststück, Toulouse Lautrec hält sie in einem Portrait fest. Berlin läßt sich von ihren Liedern anstecken. Alfred Polgar notiert 1928: „Aus ein paar kargen Liedzeilen schöpft sie die Fülle des Lebens, Zartes, Gefährliches, Humor und Tragik, Gestalten, Schicksal, vollkommenes Spiel ohne den breiten Umstand und Aufwand der Bühne.“3 Das ist nicht Cabaret oder Kabarett, jedenfalls nicht nur. Die Dame bietet infizierende Kunst gegen verkleisterndes Spießertum diesseits und jenseits des Rheins. Der literarische Papst Weimars, Alfred Kerr, lobt den Gast: „Sie stülpt heute nicht mehr schieflings auf den Detz eine Mütze, schnellt nicht um die Gurgel ein Halstuch. Sie gibt zwischendurch Erläuterungen zur Mundart; zum Rotwelsch. Aber während sie nur darlegt, 2 Zitiert in: Kühn, Volker, Das Kabarett der frühen Jahre,1988, S. 10. Zur Entwicklung des frühen europäischen Kabaretts Vgl. Richard, Lionel,Cabaret - Kabarett, 1993. 3 Zitiert in: Budzinski, Klaus, Das Kabarett, 1985, S. 91. 11 http://www.mediaculture-online.de was sie singen wird: schon dann steigt im Handumdrehn ein Drama heraus. In zwei, drei Gebärden der Andeutung.“4 Das war 1930 und bezeichnet eine Künstlerin, eine Chansonette. Der Vortrag hat im Variete Platz, auf kleinen und großen Bühnen und schert sich einen Teufel um kluge Definitionen. Kabarett? Cabaret? Das auch, und am Rande ganz bestimmt. Die Vielzahl der handgestrickten Definitionen und Mutmaßungen über die Gattung lassen Raum für Streitgespräche unter Theaterwissenschaftlern, Rhetorikern und Germanisten. Sie alle wollen es ganz genau wissen und glauben, die kleine Kunst mit der großen Wirkung präzis vermessen zu können. Die Anstrengung ist löblich, aber auch zum Teil vergeblich. Zuhören, was die Artisten zu vermelden haben, ist in der Kabarett-VarieteCabaret-Debatte oft einträglicher als die aufreibende Schlacht um Begriffe. Max Herrmann-Neiße, Kabarettautor und Kabarettkritiker von hohem Rang, beschreibt 1924 in einem Essay zum Thema, wie die Kunst aus seiner Sicht beschaffen ist oder doch sein sollte. Bei der Nachahmung französischer Vorbilder soll es nicht bleiben. Prinzipielles zum Kabarett Kabarett hat mit dem Theater gemeinsam die Bühne, beruht wie das Varieté auf Geschmeidigkeit, Mannigfaltigkeit, komprimiertem Minuteneffekt. Aber die Bühnenvorgänge des Kabaretts müssen etwas vom Augenblicksspiel haben, die Einakter, die man hier gibt, müssen Stücke sein, die ihren Witz wie eine Rakete auffliegen lassen, die im Husch vorbeiwirbeln und keinen langen Atem haben. Und übers Varieté hebt sich das Kabarett durch seine Geistigkeit. Eine Geistigkeit, die so überlegen und beweglich schalten kann, wie kaum sonst irgendwo: unbeschwert durch den Anspruch auf Ewigkeitsgeltung aktuell kämpferisch, rebellisch sein, großzügig karikieren, angreifen, improvisiert glossieren, aufpeitschen. Lautensack schrieb vom „spezifischen Gewicht` des Kabaretts; Kerr stellte dem Brettl die Aufgabe, „tiefe Kleinigkeiten“ zu bieten. Die Formel wäre etwa: scharfe, mit Abwechslung gewürzte Momentkunst, ehrfurchtslos und unsentimental, voll 4 Kerr, Alfred, 1964, S. 484. 12 http://www.mediaculture-online.de Farbigkeit und Überraschung, Geist-Salto mortale, Hirn-Zirkus. Kein veredeltes Varieté und kein rapides Theater, sondern eben eine Sache für sich, eine Welt für sich!5 Von Kriegern und Lumpen Nur selten hört in Deutschland das Kabarett und seine Ableger auf die Mächtigen, auf den chauvinistischen und rasselnden Kriegslärm. Der Coupletsänger Otto Reutter (1870-1931) ist ein scharfer Beobachter der Bourgeoisie („Der Überzieher“, „Der gewissenhafte Maurer“), zugleich aber auch willfähriger Claqueur der Kriegsmaschinerie. Ganz auf der Linie mit der Kriegsbegeisterung intoniert er in der Revue „Berlin im Krieg“ 1917 martialisches Getöse. Der bürgerliche Barde feiert die Vernichtung des Feindes und den Sieg der imperialen Denkungsart: U-Boot heraus! Für der Deutschen Heimat Ehre kämpft die todesmut'ge Schar. Für die Freiheit deutscher Meere hebt die Schwingen Preußens Aar ... Und wenn die Besten finden ein nasses Wellengrab, laßt doch den Mut nicht schwinden. Gebet! Die Mützen ab! Dann aber stoßt das Eisen ins Herz dem Briten-Leun, um würdig euch zu weisen 5 Hermann-Neiße, Max, 1988, S. B. Heinrich Lautensack (1881-1919) war Kabarettautor und spielte bei den Elf Scharfrichtern mit. Alfred Kerr (1867-1948) galt als „Starkritiker“ in der Weimarer Republik und verfolgte die Entwicklung des Kabaretts sehr aufmerksam. 13 http://www.mediaculture-online.de den Helden von U9. Otto Reutter, 19176 Ist die „kleine Kunst Kabarett demnach nicht nur unbescholten und aufrührerisch, wie es das nachsichtige Gedächtnis glauben machen möchte? Die bequeme Anbiederung an die veröffentlichte Meinung der Herrschenden gehört auch, beileibe nicht überwiegend, zum Kennzeichen der meist ketzerischen Zunge. Aber in der Regel sind Kabarett und kleines Lied in den zwanziger Jahren der Beleg der Solidarität mit den ausgegrenzten Randgruppen, mit den ewig Zukurzgekommenen, den Verachteten, den Lumpen, den Vergessenen. Erich Mühsam, der literarische und politische „Revoluzzer“, hat ihnen 1903 das Denkmal gesetzt. Lumpenlied Kein Schlips am Hals, kein Geld im Sack. Wir sind ein schäbiges Lumpenpack, Auf das der Bürger speit. Der Bürger blank von Stiebellack, Mit Ordenszacken auf dem Frack, Der Bürger mit dem Chapeau claque, Fromm und voll Redlichkeit. Der Bürger speit und hat auch recht. Er hat Geschmeide gold und echt Wir haben Schnaps im Bauch. Wer Schnaps im Bauch hat, ist bezecht, Und wer bezecht ist, der erfrecht Zu Dingen sich, die jener schlecht 6 Zitiert in: Kühn, Volker, Das Kabarett der frühen Jahre, 1988, S. 178. 14 http://www.mediaculture-online.de Und niedrig findet auch. Der Bürger kann gesittet sein, Er lernte Bibel und Latein. Wir lernen nur den Neid. Wer Porter trinkt und Schampus-Wein, Lustwandelt fein im Sonnenschein, Der bürstet sich, wenn unserein Ihn anrührt mit dem Kleid. Wo hat der Bürger alles her: Den Geldsack und das Schießgewehr? Er stiehlt es grad wie wir. Bloß macht man uns das Stehlen schwer. Doch er kriegt mehr als sein Begehr. Er schröpft dazu die Taschen leer Von allem Arbeitstier. O, wär ich doch ein reicher Mann, Der ohne Mühe stehlen kann, Gepriesen und geehrt. Träf ich euch auf der Straße dann, Ihr Strohkumpane, Fritz, Johann, Ihr Lumpenvolk, ich spie' euch an. Das seid ihr Hunde wert! Erich Mühsam, 19037 Werner Finck, der es wissen müßte, was das Kabarett zum Cabaret macht oder umgekehrt, er drückt sich stets eloquent und genüßlich um die beiden Begriffe. Die Festlegung scheint ihm, dem Nazi-Verspötter, ohnehin nicht dienlich, und er ist frei genug, 7 Mühsam, Erich, 1984, S. 13f. 15 http://www.mediaculture-online.de noch im siebzigsten Lebensjahr, 1972, „Cabaret“ mit einem dicken C oder auch K zu schreiben, ohne damit das eine höher, oder tiefer, frivoler oder politischer rangieren zu lassen. Der Meister notiert: „Das Cabaret war der amüsanteste Protest, der je gegen die Langeweile konventioneller Geselligkeit erhoben worden ist. Später wurde es leider umgekehrt. Die konventionelle Gesellschaft protestierte gegen die Langeweile in den Kabaretts. Cabaret ist in Deutschland mit Kabarett übersetzt worden. Es gibt bekanntlich noch verschiedene andere Übersetzungen; die verhängnisvollste scheint mir die mit ,Kleinkunst' zu sein. Seitdem erwartet man am Cabaret keine großen Künstler mehr, sondern nur noch kleine. Kleinkünstler, Zauberkünstler, Rechenkünstler, Hungerkünstler (merken Sie was?). (...) Zum Glück sind unsere Cabarets auf dem Wege der Besserung. Laßt uns weiterhin die goldenen Kälber unserer Vergnügungsindustriellen auf dem Altar der heiteren Muse, auf daß wir das Wort Cabaret oder Kabarett eines Tages wieder gebrauchen können, ohne dafür von den Vertretern der Schwesternkünste mitleidig an - oder vielmehr nicht angesehen zu werden. Auf daß wir weder das Cabaret signieren können mit unserem ehrlichen Namen.“ Werner Finck, 19728 Unter Diktatur und Hakenkreuz Die Nazis kommen - Kassandra und Spötter auf der Flucht Das Gift der kommenden Diktatur hat eine überraschend lange Inkubationszeit und wirkt nicht erst zum 30. Januar 1933. Schon vor der braunen Wende ist der Rundfunk und sein kultureller Auftrag zerstört und ausgehöhlt, Zensur und machtgeschützte Parteilichkeit sind die verbrieften Maximen. Völkisch nationale Töne in Musik und Hörspiel bilden die Fanfare zum programmgemäßen Staffettenwechsel an die Partei-Intendanten. Die kulturellen Eruptionen erschüttern die sensible Kabarettlandschaft schon Ende der zwanziger Jahre. Sie ist verletzlicher als der aufgeblähte Staatsrundfunk und antizipiert das Unheil der Diktatur auf vielen Bühnen. Kurt Tucholsky, der linksintellektuelle Publizist und Chansonautor, flieht bereits 1929 in das schwedische Exil. Das TTT, das Tingeltangel Theater in Berlin, verliert mit Friedrich Hollaenders Flucht seinen erfolgreichsten Komponisten („Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt“, „Ich bin die fesche Lola“). 16 http://www.mediaculture-online.de Der Hauskomponist von Max Reinhardt verabschiedet sich 1932 von seinem Publikum mit dem programmatischen Hinweis: „Höchste Eisenbahn!“ Schlägertrupps der SA fühlen sich nicht ohne Grund angesprochen und ziehen pöbelnd und spuckend durchs Theater. Hollaender emigriert über Paris nach Hollywood. Werner Finck, dem bürgerlich-liberalen Spötter, schwant in seiner Katakombe 1932 Unheiliges und ein brauner Herbst. Hardy Worm warnt in dem Kabarett Die Pille vor den braunen Chaoten, die anläßlich der Premiere des Antikriegsfilms „Im Westen nichts Neues“9 im Kinosaal weiße Mäuse tanzen lassen. Hellmuth Krüger nimmt mit seinem Lied vom „Bücherkarren“ 1931 im KorsoKabarett die Bücherverbrennung voraus. Wer den Mund noch aufmacht, hat mit Zensur und anderen Repressalien zu rechnen. Das politisch-satirische Kabarett Die Wespen - es führte in besseren Tagen Nummern von Erich Mühsam, Erich Weinert, Ernst Busch und Erich Kästner auf - fällt einer der üblich gewordenen „Notverordnungen“ zum Opfer. Die Republik torkelt in den Abgrund und verabschiedet ihre kritischen und bissigen Barden mit Fußtritten. Der Bahnsteig ist für viele letzte Hoffnung auf Flucht. Die planmäßige Fahrt der Güterzüge nach Theresienstadt oder Auschwitz vermag sich jetzt noch niemand vorzustellen. Höchste Eisenbahn! Höchste, höchste, allerhöchste Eisenbahn! Für alles, was du nicht getan! Gibt's eine Frau, die du noch nicht geküßt? Gibt's noch ein Land, wo du nicht gewesen bist? Höchste Eisenbahn! Höchste Eisenbahn!! Gibt's einen Ausweg, den du noch nicht ersannst? Gibt's ein Recht, das du dir holen kannst? Höchste Eisenbahn! Höchste Eisenbahn!! Denn keiner weiß, was morgen wird geschehn, 9 Nach dem Roman von Erich Maria Remarque 1930 unter der Regie von Lewis Milestone gedreht. Der Film wurde von den Nazis 1933 verboten, Remarques Bücher öffentlich verbrannt. 17 http://www.mediaculture-online.de Und niemand kann die nächste Stunde sehn. Schon übermorgen kann sich alles drehn! Heute gilt nur: Zu fassen, was zu fassen ist, Zu hassen, was zu hassen ist, Zu ketten, was zu ketten ist, Zu retten, was zu retten ist. Höchste Eisenbahn! Höchste Eisenbahn!! Höchste, allerhöchste Eisenbahn!! Wer heute seine Zeit verpaßt, der ist ein schlimmer Sünder, Für verlorne Chancen gibt es keinen ehrlichen Finder. Höchste Eisenbahn! Ach, es rast der Uhrzeiger wie im Fieberwahn: Höchste, allerhöchste Eisenbahn!!! Gibt es ein Unrecht, das du nicht gesühnt? Gibt es ein Glück, das du dir nicht verdient? Höchste Eisenbahn! Höchste Eisenbahn!! Gibt's ein Schuft, den du noch nicht gefaßt? Gibt's einen Armen, dem du nicht geholfen hast? Höchste Eisenbahn! Höchste Eisenbahn!! Gibt's eine Wahrheit, die dein Mund verschwieg? Gibt es noch immer Militärmusik? Immer noch den verfluchten Traum vom Krieg? Jetzt ist's an dir: Zu wagen, was du wagen mußt! Zu sagen, was du sagen mußt! Verzeihn, was du verzeihen mußt! Zu schreien, was du schreien mußt! Höchste Eisenbahn! Höchste Eisenbahn!! Höchste, allerhöchste Eisenbahn!! Der Zug, den du jetzt verpaßt, du träge Menschenschnecke, 18 http://www.mediaculture-online.de Fährt dir vor der Nase weg, und du bleibst auf der Strecke. Höchste Eisenbahn! Unbarmherzig rückt der Zeiger. Hast du deine Pflicht getan? Höchste, allerhöchste Eisenbahn!! Friedrich Hollaender, 193210 Herbst 1932 Wie es so regnet heut' nacht, hab' ich sofort: Aha! gedacht, der Sommer ist zu Ende. O mein prophetisches Gefühl! Heut' morgen war's schon richtig kühl und herbstlich im Gelände. Die Sonne scheint noch immer froh, doch sieh dich vor: es scheint nur so, das sind noch Restbestände. Nein, nein, der Sommer ist vorbei, und Feld und Fluren werden frei für unsre Wehrverbände. Wie schnell das ging! Ja, die Natur! Glaubt nicht, daß eine Diktatur Mal ähnlich schnell verschwände! Werner Finck, 193211 Die Nationalstrolchisten Anjetreten! Held markieren! 10 Zitiert in: Kühn, Volker, Kleinkunststücke, Bd. 3,1989, S. 26f. 11 Finck, Werner, 1972, S. 59; mit abweichender Orthographie auch in: Kühn,Volker, Kleinkunststücke, Bd. 3,1989, S. 20. 19 http://www.mediaculture-online.de Und Proleten massakrieren! Saal umstellen! Blut muß fließen! Janze Blase niederschießen! Jeist ist Dreck. Mit Dolch und Knüppel, Arjument der Jeisteskrüppel, Haun sie ein uff jeden Mann, Wenn er sich nicht wehren kann. Stilljestanden! Augen rechts! Hakenkreuz uff rotem Jrunde Flattert über der Rotunde – Hosen runter vorm Jefecht! An der Spitze von det Janze: Goebbels im Heldenjlanze! Mimt des Vaterlandes Retter Uff der Schmiere blutje Bretter. Alle sind hurrabejeistert, Wenn er ihr Jehirn verkleistert. Beifall tobt durchs volle Haus, Läßt er weiße Mäuse raus. Stilljestanden! Hand zum Schwur! Hakenkreuz uff roter Fahne, Stramm bezahlt von Thyssens Jelde, Is das Sinnbild der Kultur. Phrasen dreschen, Mord ausbrüten, Wie die wilden Tiere wüten – Das, nur das, kann diese Horde, Stets bereit zum Meuchelmorde. Wenn's bezahlt jibt und die Pässe, Haun sie jeden vor die Fresse. Jeld her! Die Kanone kracht. 20 http://www.mediaculture-online.de Nachher ham se nischt jemacht. Stilljestanden! Denn es naht: Hakenkreuz uff rotem Felde, Ruhmjekrönt wie ein Jermane, Den ihr an der Front nie saht. Hardy Worm, 193212 Der Bücherkarren Ich baue meinen Karren um, weil ich so langsam spüre, Der Felix Dahn kriegt Publikum, nach rechts geht die Lektüre. Den Emil Ludwig stell ich weg, der hat nun ausgejodelt, jetzt kommt die Karre aus dem Dreck: Wir werden umgemodelt! Wie sag ich's meinen Lesern gleich: Wir kriegen jetzt das Dritte Reich! Wenn ich wüßte, was der Adolf mit uns vorhat, Wenn er erst die Macht am Brandenburger Tor hat? Müssen wir dann alle braune Hemden tragen? Darf dann niemand mehr das Wörtchen „nebbich“ sagen? Wird ein Vollbart unsre Heldenbrust bedecken? Werden wir zum Gruß die dürren Arme recken? Rufen wir dem Adolf „Heil“?! Oder auch das Gegenteil? Bald gibt es keine Mollen Bier, nur Met gibt es zu trinken, Und bei Kempinski rollen wir aufs Brot den Bärenschinken. Statt Girls tanzt ein Walkürenchor bei Hermann Haller balde, Das Kadeko macht Kabarett im Teutoburger Walde. Hab ich das richtig vorgeahnt? 12 Zititiert in: Kühn,Volker, Kleinkunststücke, Bd. 3, 1989, S. 23f. Die „weißen Mäuse“ beziehen sich auf die NS-Randale anläßlich der Filmvorführung von „Im Westen nichts Neues“. Worm wurde in der Republik wegen „Antikriegspropaganda“ zu einer sechsmonatigen Haftstrafe verurteilt und emigrierte 1933 nach Paris, später nach London. 21 http://www.mediaculture-online.de Ich weiß ja nicht, was Adolf plant! Wenn ich wüßte, was der Adolf mit uns vorhat, Macht er aus Berlin nur eine Münchner Vorstadt? Wird das Tageblatt Fraktur nur schreiben? Wird der Kreuzberg ohne Haken bleiben? Darf sich Reinhardt nur noch Goldmann nennen? Oder wird man ihn trotzdem verbrennen? Trifft ins Herz uns Adolfs Pfeil? Oder nur ins Gegenteil? Hellmuth Krüger, 193113 Die Lieder aus dunkler Zeit belegen nachhaltig, daß es vor dem Machtwechsel genügend Mahner und Rufer gibt, die laut und unmißverständlich die drohende Schreckensherrschaft als Menetekel skizzieren. Hellmuth Krüger nimmt mit protokollarischer Präzision die kommende Totschlag-Aktion der Bücherverbrennung zwischen April und Mai 1933 vorweg, fiebert von dekretierten „Sprachregelungen“ und „Säuberungsfeldzügen“ gegen jüdische Mitbürger und Intellektuelle, Hardy Worm beschwört die unheilige Allianz von Großindustrie und Braunhemd-Mob, Werner Finck bemüht den „deutschen Herbst 1932“ als „politisches“ Naturschauspiel. Friedrich Hollaender läßt den Zug der Zeit als Tertium comparationis zwischen eigenem Versagen und dem kommenden Schrecken, zwischen Vergangenheit und Zukunft pendeln. Die Redewendung wird beim Wort genommen, das Kabarett zur moralischen Anstalt, in der ein Künftiges - der Albtraum vom Krieg, Mutlosigkeit und Verzagtheit - verhandelt wird. Es gibt keine Unverbindlichkeit in diesen Chansons, kein Zurückweichen in die Berliner Idylle. Fakten werden beschrieben, die Apokalypse des Nationalsozialismus nach der Bedingung der hellwachen Fantasie ausgemalt. 13 Zitiert in: Kühn, Volker, Kleinkunststücke, Bd. 3,1989, S. 29f. Felix Dahn (1834-12) Historiker, Jurist und Schriftsteller, genoß bei den Nazis wegen der völkisch-nationalen Tendenz seiner Bücher („Die Könige der Germanen“, 20 Bände; „Ein Kampf um Rom“, 4 Bände) hohes Ansehen. Emil Ludwig (1881-1948) gehörte zu den „verbrannten Dichtern“ während der Nazi-Diktaturund mußte fliehen. Er verfaßte die Biographien „Wagner oder Die Entzauberten“, „Goethe“, „Roosevelt“. -Das Wort „nebbich“ ist jidischer Herkunft und bedeutet „schade“, „leider“. Hermann Haller (1871 -1943) kreierte in Berlin nach ihm benannte Revuen. Max Reinhardt (1873-1943) schrieb für das Künstlerkabarett Schall und Rauch und zählt zu den profiliertesten Regisseuren der Republik. Sein bürgerlicher Name ist Goldmann. Krüger spielt absichtsvoll auf den jüdischen Namen an. 22 http://www.mediaculture-online.de Gepfeffertes aus München und Zürich Erika Mann, 1934 Neunundzwanzig Tage vor Hitlers Ernennung zum Reichskanzler gründet Erika Mann am 1. Januar 1933 zusammen mit dem Bruder Klaus und der bereits arrivierten Therese Giehse das politisch-literarische Kabarett Die Pfeffermühle in München. Der Vater, Thomas Mann, hat die Idee für den Namen; er spricht von dem Unternehmen als „Schwanengesang der deutschen Republik“. Erika Mann weiß von Anfang an um die Gefährlichkeit der politischen Situation, um das eingegangene Risiko. Der Völkische Beobachter nahm die Schauspielerin und Publizistin bereits 1932 unter massiven Beschuß. Sie referierte bei der „Internationalen Frauenversammlung für Frieden und Abrüstung“. Das Kampfblatt VB drohte ihr und der Familie ganz unverhohlen: „Das Kapitel 'Familie Mann' erweitert sich nachgerade zu einem Münchener Skandal, der auch zu gegebener Zeit seine Liquidierung finden muß.“ Erika Mann läßt sich durch die kruden Drohungen nicht einschüchtern und verfolgt unbeirrt die Pläne für die Etablierung des Kabaretts. Sie riskiert beim Aufmarsch der braunen Kolonnen den politisch-literarischen Gegenangriff und notiert später: 23 http://www.mediaculture-online.de „Es war ein kühnes Unterfangen. Denn von Anfang an war die 'Mühle' militant antinazistisch. Während Hitler brüllte, schwiegen wir nicht. Wir schwiegen auch nicht an jenem Februarabend, da im Hofbräuhaus, Rücken an Rücken mit unserer 'Bonbonniere', der 'Führer' seine Antrittsrede als Reichskanzler hielt. In unserem überfüllten Saal befand sich Herr Frick - eifrig kritzelnd. Er stellte seine schwarze Liste her. Wir spielten, während der Reichstag brannte.“14 Nach dem Reichstagsbrand am 27. Februar 1933 residiert der braune Ritter von Epp als Gauleiter in München. Die erste Verhaftungswelle rollt. Otto Falckenberg, Direktor der Kammerspiele, wird von den Nazis vorübergehend in „Schutzhaft“ genommen.15 In München spielt Die Pfeffermühle nur zweimal. Das Kabarett debütiert mit Texten von Erika und Klaus Mann und Walter Mehring, das Folgeprogramm (Premiere 1.2.1933) bildet bereits das Finale in Deutschland vor der erzwungenen Flucht. Die streitbare Kabarettistin Mann erinnert sich: „Es war undenkbar, die ,Pfeffermühle` weiter zu betreiben. Ich ging zu dem Besitzer vom 'Serinissimus' und sagte: 'Es ist Ihnen klar, daß wir nicht am 1.4. bei Ihnen eröffnen können.' Der, ein Ur-Münchner, sagte: 'Was, warum nicht. Sie haben einen Vertrag, einen Vertrag ham'S!' Ich sagte: 'Ja ja, wir haben einen Vertrag, aber wir sind doch ein AntidingsdaUnternehmen, und die Schwarzen Listen liegen schon vor, und das wäre doch für Sie, auch für Sie ...' Sagt er: 'Für mi! Des war no des Bessre, es geht ums G'schäft.' Ich sagte: 'Ja, es geht ums Geschäft, aber es wird ja sofort geschlossen, und wir werden alle verhaftet. Sie auch!' Sagt er: 'I? Ich bin ein altes Parteimitglied, da schaun's her, und ich stell Ihnen ein SA-Saalschutz, Sie werden beschützt sein ...' Ich hab also gesagt: 'Mit einem SA-Saalschutz machen wir das einsA, die Sache ist geschaukelt, das wäre ja noch besser.', 'Ja', sagt er, 'sonst müßt ich Sie wegen Vertragsbruch glatt belangen.' 'Nein, wir treten auf.' Also dies gesagt habend, setzte ich mich mit den Mitgliedern meiner Truppe in Verbindung und sagte: 'Dies geht nicht, wie Euch klar ist.'“16 Mit englischem Paß ist die Flucht nach Zürich für Erika Mann problemloser als für das übrige Ensemble. Therese Giehse, Sybille Schloß und der Komponist und Pianist Magnus Henning folgen in das Exil. Nach längeren, durchweg schwierigen Vorarbeiten eröffnet das erste Exil-Programm der Pfeffermühle im Züricher Hotel „Hirschen“ am 30. September 1933. „Dieses ungewöhnliche Kabarettprogramm“, schreibt Klaus Mann, „hatte nicht nur sittlichen Ernst und geistige Aktualität, sondern Charme, Rhythmus, Laune: 14 Mann, Erika, 1984, S. 30. Die Bonbonniere war die Kleinkunstbühne in der Neuturmstraße 5 in München. Hiergastierte zunächst Die Pfeffermühle. Wilhelm Frick (1877-1946) war der berüchtigte Reichsinnenminister und Berater Hitlers. 15 OttoFalckenberg (1873-1947) war Mitbegründer des politisch-literarischen Kabaretts Die Elf Scharfrichter in München. Es spielte seit Früjahr 1900 bis Herbst 1904. 16 Zitiert in: Keiser-Hayne, 1990, S. 48. Serinissimus war als das neue Domizil für Die Pfeffermühle vorgesehen. Zur Geschichte des Mann Kabaretts Vgl. Mann, Klaus, 1952, S. 299f, 316f. und S. 380. 24 http://www.mediaculture-online.de Eigenschaften, ohne die keine Gesinnung, sei sie noch so schön, sich bei dem Theaterpublikum durchsetzt.“17 Die Texte können im übrigen jetzt in der Fremde die häßlichen Spuren im Gesicht von Hitler-Deutschland schärfer umreißen, als es beim Münchner Start möglich war. Das erzwungene Exil bietet die Chance, den Gegenstand der Kritik deutlicher zu artikulieren. Die Autoren begnügen sich keineswegs nur mit artigen Andeutungen und unverbindlichen Anspielungen. Der Barbarismus im Reich läßt sich benennen, die Aufkündigung der Menschenwürde wenigstens aus der Distanz ins Visier nehmen. Therese Giehse als Frau X besingt die Furcht vor neuen Kriegen, das Säbelrasseln jenseits der Grenze: Wenn wir daheim sind und am Radio hören, Wie das so funkt und tut aus manchem Reich. Und andre Leute lassen sich nicht stören, Nur Österreich selber ward ein bißchen bleich18 Der militärische Griff nach der Alpenrepublik steht noch aus, doch die Kassandra im Theatersaal vom Hotel „Hirschen“ beschwört vorauseilend kommende Ereignisse. Mit politischer Intuition hat dies zu tun, mit einem sensiblen Gespür für die realen gesellschaftlichen Machtverhältnisse und die damit verbundenen Gefahren. Die neu errungene Freiheit außerhalb Deutschlands hat freilich auch ihre Schranken. Die Fremdenpolizei ist dem Ensemble permanent auf den Versen, die dubiosen diplomatischen Beziehungen zwischen Bern und Berlin erschweren indirekt den ungezügelten Zungenschlag in der Pfeffermühle. Die Kritik in der Neuesten Zürcher Zeitung ist freundlich und wohlwollend, das Baseler Publikum applaudiert nach einem Abstecher nicht minder. 17 Mann, Klaus, 1952, S. 316. 18 Mann, E., Frau X, zitiert in: Keiser-Hayne, 1990, S. 55. 25 http://www.mediaculture-online.de Die Pfeffermühle Es war eine reichlich massivere „Kunst“, die einen bisher aus den ausgehängten Photos und Plakaten im Vorbeigehen am „Gambrinus“ anrief, als die, welche seit gestern dort eingezogen ist. Skeptisch ging man hin: werden die Basler wirklich dem Rufe hierher folgen? Und die erste Überraschung, wie man das Lokal betritt, ist - das Publikum. Der Saal ist bombenvoll, viel Künstlerjugend, und daneben ein wenig tout Bâle! Was in Zürich glänzend gelang, scheint in Basel nicht fehlschlagen zu wollen. Und gerne beglückwünscht man das Halbdutzend junger Künstler, die sich da um Erika Mann, die Dichtertochter und begabte Dichterin, geschart haben, zu ihrem Unternehmen. Denn sie überraschen uns wirklich mit etwas Apartem. Erika Mann bringt ja aus München Kabaretttradition mit. Und doch: wie hat sich seit Wolzogens Ueberbrettl, seit den Elf Scharfrichtern und dem Simplizissimus das literarische Kabarett wieder gewandelt! Wie zeitberührt sind diese jungen Menschen, wie weit entfernt vom Klingklanggloribusch romantischer Vorkriegs Kabarettkunst. Wie ernst ist ihr Spott und doch wie echt dabei ihr Lachen, wie treffsicher ihre Satire, wie übermütig ihre Kunst und doch wie gesinnungsgetragen. Wenn Erika Mann ihren Märchentraum vorträgt, dann wird die tiefere Kraft, die in ihrem Dichten und Singen steckt, ganz offenbar, und für Harlekins Zeitlied möchte man ihr ganz besonders danken. Ihres Bruders Klaus Beiträge zum Programm sind da viel mehr auf äußeren Effekt hin gearbeitetes, wenn auch schlagkräftiges Kabarett. (...) Basler Nationalzeitung, November 193319 Doch es gibt Kritik von ganz links, von sozialdemokratischer und kommunistischer Seite. Dem Kabarett fehle es an klassenkämpferischem Engagement, heißt es. Der parteiliche Vorwurf vergißt freilich die Adressaten im Parkett und das Anliegen der exilierten Harlekine. Sie missionieren nur insofern, als das literarische Anliegen mit der Konvention parteiloser Mitmenschlichkeit übereinstimmen muß. Die Botschaften gegen Bevormundung und Tyrannei bedürfen nicht der plakativen Etikette. Jiri Voskovec, tschechischer Kabarettist und Autor, schreibt einen Brief an Erika Mann und Die Pfeffermühle und charakterisiert die Qualitäten des antifaschistischen Kabaretts. Liebe Erika Mann und liebe Pfeffermühle, ich komme ungefähr einmal im Jahr ins Theater, weil ich jeden Abend spiele: 1935 habe ich das Glück gehabt, der schönsten Aufführung beizuwohnen, die ich je gesehen habe, auf der kleinsten Bühne, die ich je zu sehen bekam. Ich möchte Ihnen sagen, wie sehr ich Ihre Glut, Ihr Herz, Ihren Stil und Ihren Mut bewundere. Es ist eine recht kleine Insel, eine winzige Oase inmitten eines verfaulten Europas, aber wie schön ist diese Insel und welch ein Trost stellt sie dar! 19 Zitiert in: Keiser-Hayne, 1990, S. 61. 26 http://www.mediaculture-online.de Sie werden nie den Erfolg ernten können, den Sie verdienen; seien Sie aber zumindest in der Gewißheit gestärkt, die von Dauer ist: Sie machen das einzige Theater, das ich als das wahre bezeichnen kann, ein Theater, in dem weder Tricks noch Manien zählen, sondern allein das Herz und das Bedürfnis, etwas auszudrücken. Auf Wiedersehen und Dank an alle Prag, den 9.2.1935 Jiri Voskovec20 Das politische Selbstverständnis der Kabarettisten ruft indessen reaktionäre Schweizer Kreise auf den Plan. Mit gezielten Provokationen schüren die „Frontisten“ bei den Aufführungen Krawalle. Das angeheizte Klima erinnert an bekannte und ferngelenkte Störaktionen aus Nazi Deutschland. Der Kanton Zürich beugt sich schließlich dem Druck der rechten Kreise und verabschiedet 1935 die „Lex Pfeffermühle“. Das kantonale Gesetz verbietet ausländischen Kabarettisten, mit „politischen“ Texten aufzutreten. Zuvor schon haben der Völkische Beobachter und die politische Polizei im Reich versucht, über die Grenze hinweg die Auftritte der Pfeffermühle zu unterbinden. Der österreichische Gesandte in Bern läßt sich in die Kampagnen gegen das Kabarett einspannen. In einem diplomatisch gehaltenen Brief versucht Erika Mann zu beschwichtigen. Doch dem Druck der Politik vermögen die Kabarettisten auf Dauer nicht zu widerstehen. Die Exilierten packen die Koffer- schon wieder. Die Tourneen in die Enklaven des noch unbesetzten Europas beschreiben den verengten Spielraum der Truppe. Es ist eine permanente Fluchtbewegung vor staatlichem Terror, der Krieg gegen das freie Wort überschreitet jetzt alle Grenzen. Von 1933 bis 1937 gibt es 1034 Vorstellungen der Pfeffermühle. Nach dem Aufführungsverbot in der Schweiz spielen die Künstler in Holland, Belgien, Luxemburg und der Tschechoslowakei. Die Flucht führt zuletzt bis in die Vereinigten Staaten. Mit einem Fiasko der Peppermill in New York endet die Wanderschaft der verfemten und verfolgten Kabarettisten 1937. Amerika hat seine Schwierigkeiten mit der kleinen und bitteren europäischen Kunstform. Der Kopf des Unternehmens aber, Erika Mann, versucht sich gegen alle Widerstände als Publizistin und engagierte „Lecturer“ durchzusetzen. Das Schicksal der Emigranten hat 1934 bereits Walter Mehring in der Mühle besungen. 20 Zitiert in: Mann, Erika, 1984, S. 65. 27 http://www.mediaculture-online.de Der Emigrantenchoral Werft eure Herzen über alle Grenzen, Und wo ein Blick grüßt, werft die Anker aus! Zählt auf der Wandrung nicht nach Monden, Wintern, LenzenStarb eine Welt - ihr sollt sie nicht bekränzen! Schärft das euch ein und sagt: Wir sind zu Haus! Baut euch ein neues Nest! Vergeßt - vergeßt Was man euch aberkannt und euch gestohlen! Kommt ihr von Isar, Spree und Waterkant: Was gibt's da heut zu holen? Die ganze Heimat und Das bißchen Vaterland Die trägt der Emigrant Von Mensch zu Mensch – von Ort zu Ort An seinen Sohlen, in seinem Sacktuch mit sich fort. Tarnt Euch mit Scheuklappen - mit Mönchskapuzen: Ihr werdt Euch doch die Schädel drunter beuln! Ihr seid gewarnt: das Schicksal läßt sich da nicht uzen Wir wollen uns lieber mit Hyänen duzen Als drüben mit den Volksgenossen heuln! Wo Ihr auch seid: Das gleiche Leid Auf 'ner Wildwestfarm - einem Nest in Polen, Die Stadt, der Strand, von denen Ihr verbannt: Was gibt's da noch zu holen? Die ganze Heimat und Das bißchen Vaterland Die trägt der Emigrant Von Mensch zu Mensch - von Ort zu Ort An seinen Sohlen, in einem Sacktuch mit sich fort. 28 http://www.mediaculture-online.de Werft eure Hoffnung über neue Grenzen Reißt Euch die alte aus wie'n hohlen Zahn! Es ist nicht alles Gold, wo Uniformen glänzen! Solln sie verleumden - sich vor Wut besprenzen Sie spucken Haß in einen Ozean! Laßt sie allein Beim Rachespein Bis sie erbrechen, was sie euch gestohlen, Das Haus, den Acker - Berg und Waterkant. Der Teufel mag sie holen! Die ganze Heimat und Das bißchen Vaterland Die trägt der Emigrant Von Mensch zu Mensch - landauf, landab Und wenn sein Lebensvisum abläuft, mit ins Grab. Walter Mehring, 193421 Hans Sahl, Dichter und Emigrant, erinnert sich: Es gehörte Mut dazu, den Kampf gegen Hitler in einem Lande auszutragen, das sich, jedenfalls nach außen hin, zu politischer Neutralität verpflichtet hatte und wahrscheinlich nur aus Rücksicht auf den Namen Thomas Mann seine Tochter stillschweigend gewähren ließ. Erika Mann hatte in der Pfeffermühle einen Stil entwickelt, der Kunst mit Politik und Literatur geschickt vermischte. Sie schrieb ihre Texte selber und trug sie vorn an der Rampe vor. Sie hatte große, brennende Augen und einen wunderbar geformten, klassischen Kopf, der mit den in die Stirn gekämmten Haarsträhnen ein wenig an Heinrich von Kleist erinnerte. Sie war von einer Unmittelbarkeit, die überzeugte, weil sie so verblüffend kunstlos etwas beim Namen nannte, das in der Luft lag. „Warum ist es so kalt?“ sang sie. Oder das Chanson, mit dem die unvergleichliche Therese Giehse vor das Publikum trat und mit dröhnender Stimme verkündete: „Ich bin die Dummheit, hört mein Lied.“ Erika Mann wirkte vor allem durch ihre Persönlichkeit. Mehr noch als dies: sie hatte eine Mission, sie war die Tochter Thomas Manns, seine Statthalterin auf Erden. Sie war sein politisches Gewissen, die letzte Instanz, an die der ewig Zaudernde und Zögernde sich wandte, wenn er nicht weiter wußte. Sie war es auch gewesen, die Thomas Mann schließlich bewog, sich von Deutschland loszusagen. 21 Zitiert in: Kühn, Volker, Kleinkunststücke, Bd. 3, S. 59f. Mehring trug seinen Text 1934 beim Baseler Gastspiel der Pfeffermühle persönlich vor. Er war für Therese Giehse eingesprungen. 29 http://www.mediaculture-online.de Hans Sahl, Das Exil im Exil, 199022 Witz als Widerstand - Werner Finck provoziert die Nazis in der Katakombe Der Apothekersohn aus Görlitz kommt auf Umwegen 1928 nach Berlin. Als ausgebildeter Schauspieler spricht er Verse und Reime; zunächst im literarisch-politischen Kabarett Die Unmöglichen, im Larifari, dann im Küka, dem Künstler-Kaffee in der Budapester Straße. Einen ersten Zusammenstoß mit der politischen Wirklichkeit erlebt Werner Finck bei der Parodie auf ein jiddisch-russisches Theaterstück. Es kommt zum Skandal. Das vorwiegend jüdische Publikum bei den Unmöglichen erzwingt die Absetzung der Nummer. Jahre später, 1935 im Konzentrationslager Esterwege, drängt die SS-Leitung den Conferencier Finck, die Nummer auch dort hinter Stacheldraht vorzutragen. Der Künstler erinnert sich: „Ich bedauerte, daß ich den Text völlig vergessen hätte und daß er mir wahrscheinlich erst wieder einfallen werde, wenn die Juden nicht mehr verfolgt und vernichtet werden.“23 Werner Finck läßt sich nicht vereinnahmen. Er verstummt nicht im Konzentrationslager und er erkennt vor der sogenannten Machtergreifung die aufziehenden Gefahren. Dabei ist seine Kritik eher verhalten und von sarkastischer Noblesse. Das, was er zu kritisieren hat, nennt er chiffriert beim Namen, ohne daß er dabei sein Gesicht je in Haß verzerrt. Politische Aufklärung ist bei ihm auf allen Bühnen, die er bespielt, ein humanes Geschäft. Seine Worte zerstören nicht, sie desavouieren und demaskieren. Sie beschreiben die törichte Dumpfheit der Herrenmenschen und ihre schamlose Ideologie. Nach dem Krieg beklagt Werner Finck, daß die Mehrheit der Kabarettisten in der Weimarer Republik den aufziehenden Faschismus unterschätzt hätten, sich selbst nimmt er dabei keineswegs aus. Doch der „Fall Werner Finck“ belegt eindrücklich den genutzten Spiel- und Oppositionsraum unter den Bedingungen der Diktatur. Die Sticheleien des 22 Sahl, Hans,1990, S. 40f. 23 Finck, Werner, 1972, S. 43. 30 http://www.mediaculture-online.de Künstlers gegen das Regime, die Provokation der Mächtigen im NS-Staat ist ein naiver und zugleich ausgeklügelter Balanceakt, stets bedroht mit Berufsverbot oder Inhaftierung. Frühzeitig polemisieren nationalsozialistische Kampfblätter gegen den Schauspieler und Komiker. In dem berühmt-berüchtigten Fridericus-Film „Der Choral von Leuthen“ (1932) erhält Finck eine Nebenrolle. Unter der Regie von Carl Froelich mimt er einen Kandidaten der Theologie. Die Stahlhelm-Zeitung spricht von einem „unverzeihlichen Mißgriff“ und poltert: „Dieser 'große Dichter' Werner Finck, der von Krieg und Heldentum keine Ahnung hat, muß ausgerechnet auf den Feldern von Leuthen den Heldentod sterben!“24 Die braune Film-Kritik belegt anläßlich der Uraufführung des Streifens im Februar 1933 den latenten Widerspruch zwischen öffentlichem Agieren des Künstlers in der Katakombe und den Intentionen des propagandistisch operierenden Fridericus-Schinkens. Kabarett unter dem Hakenkreuz, das heißt für das Ensemble der Katakombe, sich in der Kunst der hingespielten Andeutung zu spezialisieren. Jedes Wort zu viel kann dem Schlußstrich für das Unternehmen bedeuten. Kontrolliert und überwacht durch Gestapo und Sicherheitsdienst, nimmt der Kabarettist seine Überwacher höchstpersönlich ins Visier. Finck spricht sie an: „Spreche ich zu schnell? Kommen Sie mit? - Oder - muß ich mitkommen?“ - so lautet eine der vielen Provokationen, die an die Zensoren im Saal gerichtet sind.25 Die ungebrochene Popularität des Künstlers Werner Finck ist es letztlich, die ihn zunächst vor dem Zugriff der politischen Polizei schützt. Den Skandal einer Verhaftung zieht der Propagandaminister Joseph Goebbels sicherlich mit ins politische Kalkül. Immerhin räumt das Regime dem Künstler eine Galgenfrist von zwei Jahren ein, bis der Vorhang in der Katakombe endgültig nicht mehr hochgeht. Bis zuletzt frotzelt Finck ganz halsbrecherisch über die Rassepolitik: In der Ritterzeit taucht in unserer Familie ein Knappe Lewinski auf. Glücklicherweise brannte die Kirche in seinem Sprengel ab, so daß keine nachteiligen Beweise mehr vorhanden sind. Oder er macht sich sehr freie Gedanken über Deutschlands Bäume in Verbindung mit Adolf Hitler: 24 Zitiert ebd., S. 61. 25 Vgl. Kabarett 1946-1969, CD 1, Nr. 2: „Am besten nichts Neues“. 31 http://www.mediaculture-online.de Weil ich mit meinem kleinen Bäumchen so reingefallen war, wollte ich mir beim Fachmann den Sprößling eines großen Baumes besorgen. Den fand ich dann auch in einer Baumschule, der Gärtner bot mir den Steckling einer Eiche an. Preis 150.- Mark. Mir blieb die Spucke weg. „Das ist doch ein Wucherpreis“, rief ich, „wenn das der Führer wußte!“ „Ja“, sagte der Baumverkäufer, „das ist ja auch keine gewöhnliche Eiche, das ist eine Hitler-Eiche, die kann 1000 Jahre alt werden.“ „Na“, meinte ich, „das ist eine Vertrauenssache.“26 Werner Finck muß die Pointe auf Weisung dann streichen. Ergebnis: er verschlimmbessert die Klimax durch eine weitere, höchstriskante Volte. Am nächsten Abend habe ich mich entschuldigt: Es wäre keine Vertrauenssache - im Gegenteil! Ich wäre mit dem gesunden Wachsen der Hitler-Eiche sehr zufrieden. „Vor ein paar Monaten war sie noch ganz klein, gerade bis zu meinen Knöcheln, dann reichte sie mir bis an die Knie, und jetzt steht sie mir schon bis zum Hals“27 Aus historischer Distanz von rund sechzig Jahren muten die Seitenhiebe gegen die Tyrannei den Leser vielleicht harmlos an. Die Texte und Vorträge des Chefs der Katakombe haben gewiß nicht die literarische Dichte eines Kurt Tucholsky, die geballte Kampfkraft eines Walter Mehring oder das aufklärerische Pathos von Erich Mühsam. Doch die oberflächliche Einschätzung verkennt den Kontext und den Spielraum, der dem satirischen Wort nach 1933 noch eingeräumt bleibt. Werner Finck, der Bourgeois mit der Moral eines Humanisten und Republikaners, predigt keine neue politische Utopie, ist gewiß kein Sozialist, und redet doch dem aufgeklärten Menschenverstand und der Menschenwürde das Wort. Unter den Bedingungen des Staatsterrors schöpft er die Nischen des versteckten und sublimen Widerstands im Wort aus. Finck ist ein Exempel des Mutes und der unbeugsamen Zivilcourage. Wo andere schweigen oder sich Scheuklappen anlegen, kitzelt er die braunen Militaristen, gibt dem Publikum ein Beispiel, wie individuelle Integrität unter den neuen Machtverhältnissen zu bewahren sei. Der Kampf des David mit der Tarnkappe gegen den Staats Goliath bleibt ein Intermezzo des intellektuellen Widerstands, ein unnachahmliches Signal. Im „Fragment vom Schneider“, 1935 in der Katakombe zusammen mit Ivo Veit vorgetragen, wird die subversive Kraft des Kabaretts und ihre Stoßrichtung gegen Militarismus und die faschistische Ideologie deutlich. 26 Finck, Werner, 1972, S. 64 . 27 Ebd., S. 65. 32 http://www.mediaculture-online.de Den Sketch nehmen die Nazis zum Anlaß, um das Auftrittsverbot für Finck und seine Kollegen nach langen „Vorarbeiten“ der Gestapo definitiv durchzusetzen. Fragment vom Schneider (Auf der Bühne ein Stuhl. Der Schneider wartet. Ein Kunde kommt herein.) Schneider (Ivo Veit): Womit kann ich dienen? Kunde (Werner Finck, beiseite): Spricht der auch schon vom Dienen! (Laut) Ich möchte einen Anzug haben. (Vielsagende Pause. Dann nachdenklich, mit gedämpfter Stimme:) Weil mir was im Anzug zu sein scheint. Schneider: Schön Kunde: Ob das schön ist - Na, ich weiß nicht ... Schneider: (Etwas ungeduldig) Was soll's denn nun sein? Ich habe neuerdings eine ganze Menge auf Lager. Kunde: Auf's Lager wird ja alles hinauslaufen. Schneider: Soll's was Einheitliches oder Gemustertes sein? Kunde: Einheitliches hat man jetzt schon genug. Aber auf keinen Fall Musterung! Schneider: Vielleicht etwas mit Streifen? Kunde: Die Streifen kommen von alleine, wenn die Musterung vorbei ist. (Dann resigniert:) An den Hosen wird sich ein Streifen nicht vermeiden lassen ... Schneider: Fangen wir mal erst mit der Jacke an. Wie wäre denn eine mit Winkel und Aufschlägen? KKunde: Ach, Sie meinen eine Zwangsjacke? Schneider: Wie man's nimmt ... (fragt weiter:) Einreihig oder zweireihig? Kunde: Das ist mir gleich. Nur nicht diesreihig ... (Von Finck gesprochen wie: „Nur nicht dies Reich.“) 33 http://www.mediaculture-online.de Schneider: Wie wünschen Sie die Revers? Kunde: Recht breit, damit ein bißchen was draufgeht. Vielleicht gehen wir alle mal drauf. Immer fest druff, hat schon der Kronprinz gesagt. (Dann nachdenklich das letzte Wort fortspinnend:) Vielleicht gehen wir alle mal drauf. Schneider: Dann darf ich vielleicht einmal Maß nehmen? Kunde: Doch, doch, das sind wir gewöhnt. (Der Kunde nimmt Haltung an, der Schneider stellt sich mit dem Zentimetermaß neben ihn. Er nimmt Maß, während der Kunde die Hände stramm an die Hosennaht legt:) Schneider: (Auf das Maßband blickend:) 14/18.-Ach, bitte, steh'n Sie doch bitte einmal gerade! Kunde: Für wen? Schneider: Ach so - ja ... Und jetzt bitte den rechten Arm hoch - mit geschlossener Faust 18/19. Und jetzt mit ausgestreckter Hand ... 33 ... Ja, warum nehmen Sie denn den Arm nicht herunter? Was soll denn das heißen? Kunde: Aufgehobene Rechte ...28 Die Doppelbödigkeit der Satire, ihre antimilitaristische Tendenz bei gleichzeitigen Seitenhieben auf den Geneneralfeldmarschall Hermann Göring und seine Ordenssucht, die kaum verhüllte Benennung der Konzentrationslager, alles das muß der geheimen Staatspolizei höchst verdächtig sein. Die relative Narrenfreiheit der Katakombe dauert trotz günstiger Pressestimmen nur bis zur Jahreswende 1934/35. Danach wird das Programm auf Weisung der Herren Goebbels, Reinhard Heydrich und Gestapochef Heinrich Müller massiv überwacht. „Das Fragment vom Schneider“ wird ebenso beanstandet wie eine freche Satire („Fragment vom Zahnarzt“) über die Bespitzelung der Mitbürger im NS-Staat. Unter dem Datum 6. Mai 1935 ist ein Dossier überliefert, in dem es verunsichert und grollend über die Auftritte in der Lutherstraße 22 heißt: „Die Darbietungen stehen durchweg auf einem sehr niedrigen Niveau und sind fast ausschließlich politisch beeinflußt. Sie stellen so ziemlich das Übelste an politischer Brunnenvergiftung dar, wie sie im neuen Staat überhaupt noch möglich sein kann. Bei jedem politischen Angriff, mag er auch noch so versteckt sein, rast das eigenartig zusammengesetzte 28 Zitiert in: Hippen, Reinhard, 1988, S. 96; mit kleinen Varianten auch in: Heiber, Helmut, 1966, o.S.; Finck, Werner, 1972, S. 66. 34 http://www.mediaculture-online.de Publikum Beifall: Es wartet nur auf das politische Stichwort, (sic) das oft nur in einer zynischen Andeutung besteht. Besonders gefährlich erscheint der pazifistische Einschlag in den Darbietungen, in denen alles Militärische verächtlich gemacht wird. Es hat sich bei dieser Art Kabaretts gegen früher nichts geändert. Die Personen, die hauptsächlich peinlich und hetzerisch wirken, sind Werner (sic) Fink, Heinrich Giesen und Ivo Veit.“29 Am 10. Mai schließen Die Katakombe und das Tingeltangel Theater (ITT). Das Referat III A 1/1 meldete am 18. Mai „Gemäß Entscheidung des Herrn Reichsminister Dr. Goebbels sind die nachstehend aufgeführten, in der Angelegenheit 'Tingel-Tangel' und 'Katakombe' in Schutzhaft genommenen Schauspieler für die Dauer von 6 Wochen in ein Lager mit körperlicher Arbeit zu überführen. 1.) Walter Gross, 5. 2. 04 Eberswalde geb., 2.) Walter Liek, 15. 6. 06 Charlottenburg geb., 3.) Heinrich Giesen, 20. 3. 13 Berlin geb., 4.) Walter Trautschold, 20. 2. 02 Berlin geb., 5.) Werner Finck, 2.5. 02 Görlitz geb., 6.) Günther Lüders, 5. 3. 05 Lübeck geb. Ich bitte, die Überführung der vorgenannten Schutzhäftlinge in das Konzentrationslager Esterwege beschleunigt durchzuführen.“30 Bis Anfang Juli 1935 sitzen die Künstler von der Katakombe und vom Tingeltangel in Esterwege bei Papenburg in „Schutzhaft“ und erst im Herbst 1936 gibt es ein Gerichtsverfahren. Doch das juristische Unterfangen erweist sich als hausgemachte Blamage. Das eigens etablierte „Heimtücke-Gesetz“ von 1934 bleibt in seiner Anwendung auf die Kabarettisten ein untaugliches Instrument. Die Anklageschrift nennt u.a. aus Conférencen, politische Witze, Chansons und Sketche, die öffentlich zu verlesen sind. Der prozessuale Vortrag gipfelt in einer brisanten und grotesken Zuspitzung. Die inkriminierten Passagen, auch das „Fragment vom Schneider“, müssen der Öffentlichkeit 29 Zitiert in: Heiber, Helmut, 1966, S. 23. 30 Ebd., S. 55. 35 http://www.mediaculture-online.de ein weiteres Mal zur Kenntnis gebracht werden. Werner Finck erinnert sich an „ungeniertes Gelächter“ unter den Anwesenden und an einen gereizten Vorsitzenden der Kammer, der wütend dazwischenfährt: „Wenn das Gelache nicht aufhört, lasse ich den Saal räumen! Wir sind hier nicht im Kabarett!“31 Mangels Beweisen stellt das Gericht das Verfahren ein, ein Tatbestand, der nur formal für einen Rest an Rechtsstaatlichkeit spricht. Die Verurteilung des populären Kabarettisten und seiner Kollegen zu einer längeren Haftstrafe wäre ohne politischen Gesichtsverlust in der Presse kaum zu vermitteln. Auch bei den vorangegangenen Schauprozessen des Jahres 1935 gegen verdiente Rundfunkintendanten und Hörfunkpioniere aus der Weimarer Republik darunter Hans Flesch, Hans Bredow und Kurt Magnus - vermeiden es die Nationalsozialisten tunlichst, den Bogen zu überspannen. Die intendierte Verhängung von Freiheitsstrafen käme in beiden Fällen einem Pyrrhus-Sieg gleich. Die Richter, die das Verfahren gegen Die Katakombe und das Tingeltangel leiten, werden auf Anordnung des Propagandaministers strafversetzt; der Minister bekundet damit seinen Unmut. Für Werner Finck folgen Monate mit eingeschränkter Berufstätigkeit und nur gelegentlichen Bühnenauftritten. Im Kabarett der Komiker (KadeKo) kann Werner Finck bedingt weiterarbeiten, bis auch dieses Theater den Betrieb auf Weisung einstellt. Auf die Frage des Berliner Tageblatt, ob die Deutschen Humor haben, antwortet der Kabarettist Finck schlagfertig wie gewohnt: „Doch, doch, wir haben. Oder meinen Sie mit wir Ihr geschätztes, auf 90.000 geschätztes Blatt? Denn schon die Fragestellung beweist es. - Oder meinen Sie uns, wenn Sie wir sagen? Auch dann bejahe ich es. Denn unter uns haben wir Humor. Aber das unter uns. Bliebe also noch die Frage, ob wir über uns auch Humor haben.“32 Diese neuerliche Attacke gegen das System, das antidemokratische Klima und den verwalteten NS-Humor führt dann endgültig zum umfassenden Berufsverbot für Werner Finck und zum Ausschluß aus der Reichskulturkammer. Das Berliner Tageblatt stellt sein Erscheinen ein. Aufgeschreckt durch den publizistischen Wirbel um die Kabarettisten, sieht sich Goebbels seinerseits gedrängt, zu erläutern, was deutscher Linien-Humor sei. Im Schlagabtausch mit dem verhaßten Werner Finck meint der Minister am 4. Februar 1939 im Völkischen Beobachter: 31 Finck, Werner, S.72. 32 Ebd., S. 101. 36 http://www.mediaculture-online.de „Man komme uns nicht mit dem Einwand, daß wir humorlos wären. Wir waren nicht immer im Besitz des Staates und der öffentlichen Gewalt. Auch wir standen einmal in der Opposition; und es ist der deutschen Öffentlichkeit wohl noch nicht ganz entfallen, daß wir es waren, die einmal einen gewissen Polizeipräsidenten mit Namen Isidor Weiß durch Witze politisch getötet haben. Wir könnten also auch so mit unseren Kritikern verfahren, wenn wir wollten. Aber wir wollen nicht. Wir haben keine Lust, und vor allem auch keine Zeit, uns mit armseligen Literaten polemisch auseinanderzusetzen. Wir haben augenblicklich Besseres zu tun. Die politische Witzemacherei ist ein liberales Überbleibsel. Im vergangenen System konnte man damit noch etwas erreichen. Wir sind in diesen Dingen zu gescheit und erfahren, als daß wir sie ruhig weitertreiben ließen. Wir wissen, daß jetzt die deutsch-feindlichen Zeitungen in Paris, London und New York für unsere armen Conferenciers eintreten werden. Wir erwarten, daß die demokratischen Gouvernanten in Westeuropa erdenklich Klagen führen werden über den Mangel an Freiheit der Meinung in Deutschland. Uns berührt das innerlich gar nicht mehr.“ Weitere Konfrontationen mit der Goebbels-Diktatur wird der unbotmäßige Schelm nicht durchstehen, genauer: überleben. Deshalb flieht der Kabarettist an die Front. „Flucht ins graue Tuch“ heißt der Tatbestand.33 An der Front, so sieht es der verfolgte Kabarettist, ist das Leben sicherer als im Umfeld der Gestapo in Berlin. Werner Finck hätte nach 1945 allen Grund, kollegiale Mitläufer, Denunzianten oder die halbherzigen inneren Emigranten - es gibt derer im „Dritten Reich“ sehr viele - laut zu tadeln. Aber hier übt er sich in souveräner Zurückhaltung. Mit seinem Publikum stellt er Einverständnis her. Finck gibt den Zuhörern zu verstehen, daß sie damals unter dem „Irren“ genauso entschieden, profiliert und mutig gehandelt hätten wie er, der lächelnde Diktaturverächter. Das ist eine sympathische Vorgabe, eine allzu optimistische Einschätzung des Pädagogen in Sachen deutscher Zivilcourage zugleich. Immerhin dient Werner Finck nach 1945 unverdrossen und unbeschädigt als demokratisches Leitbild, er, der die politisch Labilen und braunen Mitläufer wegen ihres Versagens nicht beckmesserisch tadelt. Anstatt über das Versagen der eigenen Generation zu klagen, schlägt er bis zu seinem Tod 1978 versöhnliche Töne an und lebt ohne Aufhebens als Beispiel zur Nachahmung empfohlen. Am besten nichts Neues Dieses Institut war die Katakombe am Potsdamer Platz in Berlin. Und da wir nun alle unbekannt waren, waren wenig Leute da zu allererst. Es kamen kaum welche. Das waren vielleicht zwei, 33 Ebd., S. 109. 37 http://www.mediaculture-online.de drei. Auf die konnte man sich verlassen. Die waren von der Baupolizei. Die Baupolizei hatte damals Anforderungen an uns gestellt, die waren ungeheuerlich. Beispielsweise verlangten sie zwei Notausgänge. Stellen Sie sich das einmal vor! So ein kleiner Raum und zwei Notausgänge! Und die hatten das Programm vorher noch gar nicht gesehen. (Lachen) Sehen Sie mal, und alle die damals in der Katakombe waren, sind eigentlich später etwas geworden. Wir haben einen Fehler gemacht, wir gingen nicht in die Politik hinein. Wir haben unser Publikum gehabt. Das genügte uns. Und unser Publikum (...) Also: Wir genügten dem Publikum und so. (...) Es war Inzucht. Dann haben wir uns gesagt: Ach Gott, das ist doch ein Irrer, haben wir uns gesagt. Das ist doch ein Irrer, der Hitler. Als ob das was in der Politik zu sagen hat! (Lachen) Und eines Tages landete ich denn im Gefängnis. 1935 war ich drin. Und völlig unvorbereitet! Das ist auch eine Sache, die ich dem bürgerlichen Leben vorwerfe. Ich sehe noch den Moment, wo ein baumlanger Mann auf mich zugeschossen kam, betastete mich von allen Seiten, sämtliche Taschen oben, unten, Mitte und so, aber mit einem Griff, alles artistisch, und rief dazu: „Haben Sie Waffen?!“ Ich sagte: „Nein. Wieso braucht man hier welche?“ So naiv war man da. Und alles wegen ein paar politischen Witzen. Darauf lief's hinaus. Ich weiß noch ganz genau wie ich eingezogen wurde. Ich hatte mich freiwillig gemeldet. Ja, 1939. Ich sollte ja für wehrunwürdig erklärt werden. Unwürdig? Merkwürdig war ich. Da wurde die ganze Persönlichkeit aufgelöst - in nichts. (...) Wie ich hörte, der Zusammenbruch ist da, bin ich erst mal auf die Schreibstube gegangen, habe gefragt, ob noch was wäre (Lachen) und erst als man mir sagte, „vielen Dank“, es hätte sich erledigt, gab ich mich dem Zusammenbruch hin. Werner Finck34 In seiner Untersuchung über das schwäbische Humoristen-Paar Häberle und Pfleiderer, alias Oscar Heiler und Willy Reichert, kommt Ulrich Keuler zu der Einschätzung, daß Werner Finck das Machtgefüge im NS-Staat zwar nicht erschüttern konnte, „aber er brachte die Fassade der Eintracht zum Bröckeln, erinnerte daran, daß das Staatsgebäude auf einem Fundament von Zwang und Einschüchterung ruhte.“35 Im Kontext des industriellen Mordens gehört dieser bald spaßige, bald subversive Kabarettist in der Tat zur kleinen Galerie der Unbeugsamen. Sein Witz und seine „Lust am Widerspruch und am Widerstand zuckten, sobald er das Gefühl hatte, man wolle seine Freiheit beschneiden. Und das wollte man.“36 Zum Widerstandskämpfer läßt sich Finck nach 1945 nicht stilisieren. Er könnte diese gängige Art der persönlichen „Bewältigung“ allemal für sich in Anspruch nehmen. Er tut es nicht. Der Kabarettist Weiß Ferdl (1883-1949), früher Sympathisant der Nationalsozialisten und strammer bajuwarisch-völkischer Komiker, bemüht sich nach dem Krieg zum Beispiel um solche nützliche Legendenbildung. Finck hat derlei Kapriolen nicht nötig. 34 Kabarett 1946-1969, CD 1, Nr. 2. 35 Keuler, Ulrich, 1992, S. 62. 36 Friedrich Luft in: Finck, W., 1972, S. 9. 38 http://www.mediaculture-online.de An meinen Sohn Hans Werner Du brauchst dich deines Vaters nicht zu schämen, Mein Sohn. Und wenn Sie dich einmal beiseite nehmen Und dann auf mancherlei zu sprechen kämen, Sei stolz, mein Sohn. Sie haben deinem Vater reichlich zugesetzt, Mein Sohn. Ihn ein- und ausgesperrt und abgesetzt, Sie haben manchen Hund auf ihn gehetzt Paß auf, mein Sohn: Dein Vater hat gestohlen nicht und nicht betrogen, Er ist nur gern mit Pfeil und Bogen Als Freischütz auf die Phrasenjagd gezogen Und so, mein Sohn, Kannst du den Leuten ruhig in die Augen gucken, Mein Sohn. Brauchst, wenn sie fragen, nicht zusammenzucken. Ich ließ mir ungern in die Suppe spucken, Das war's, mein Sohn. Wie vieles hat der Wind nun schon verweht, Mein Sohn. Der Wind, nach dem ich mich noch nie gedreht Daß dir mein Name einmal nicht im Wege steht, Gib Gott, mein Sohn!37 37 Ebd., S. 171. 39 http://www.mediaculture-online.de Bertolt Brecht, mit Applaus für die „inneren Emigranten“ und Hinterbliebenen während des „Dritten Reichs“ gewiß sparsam, schreibt 1947 anläßlich eines Finck-Gastspiels in Zürich eine Eloge auf den Narren. Der Sozialist verteilt über den unbeugsamen Alleinunterhalter nur die allerbesten menschlichen und zeitgeschichtlichen Noten. Eulenspiegel überlebt den Krieg Werner Finck gewidmet Gleichend einer madigen Leich Lag das dutzendjährige Reich Als, fünfhundert Jahre alt Eulenspiegel in Gestalt Sich den Schweizern präsentierte Und, für eine Mahlzeit, referierte Wie, indem er Witze riß und bebte Er die großen Zeiten überlebte. Denn es war für Späßemacher Die S.S. ein schlechter Lacher: Eulenspieglein an der Wand, Wer ist der Dümmste im ganzen Land? Nun, da galt es mittlerweilen Sich die Späße einzuteilen Sich den Gürtel eng zu schnallen und gelassen Grad nur so viel Witze zu verpassen Als man unbedingt zum Leben brauchte Daß die Bestie höchstens fauchte Doch nicht biß. Und als der große Gütevolle, 40 http://www.mediaculture-online.de würdenlose Späßevogel diese knappe Zeit beschrieb, da war's, als klappe Geisterhaft ihm manche tote Hand noch Beifall. Von dem Aufgebote Derer unter Schutt und Aschehügel. Und es war, als wüchsen Flügel Diesem ungelenken Gaste Der in großer Zeit nicht paßte Und indem er witzig war und bebte Wie das niedre Volk sie überlebte. Bertolt Brecht, 194738 Frohsinn der rechten Denkungsart oder Die gute Laune ist ein Kriegsartikel, versichert der Minister Die Kriegserklärung des Propagandaministers Goebbels gegen aufmüpfige Kabarettisten, die Schließung der Katakombe, des Tingeltangel und das Aus für Die Nachrichter39 führen zu einer empfindlichen Lücke in der Berliner Kabarettlandschaft. Doch ist der Propagandaminister Profi genug, um für den eingetretenen Verlust zumindest im Sinne der Parteidoktrin Abhilfe zu schaffen. In der Filmpolitik hat es der Minister bereits durchexerziert, wie unter der Maske der wohlfeilen Unterhaltung die Volksgenossen bei Laune zu halten sind. Es kommt ihm nicht darauf an, das Amüsement im Korsett von Marschmusik, Fahnen und Uniformen vorzuführen. Goebbels warnt immer wieder vor abgegriffenen Aufmärschen in Bild und Ton. Auch die einschläfernde Wirkung von germanischen „Thing-Hörspielen“, die braun-barocken „Hörkantaten“ zum Ruhme der 38 Brecht, Bertolt, 1967, Bd. 10, S. 9blf. Auch in Brecht,1993, S. 189; mit Varianten auch in Finck,1972, S. 201f. Erich Kästner notierte über die Aufführung: „Hier lachten die Herren Schriftsteller und das Züricher Publikum um die Wette. Bert Brechtbewies am hörbarsten, daß er auch auf dem Gebiet des Lachens zu den 'Spitzenkönnern' zählt.“ (Die Neue Zeitung, München, 21.11.1947.) 39 Am 1.10.1935. 41 http://www.mediaculture-online.de Bewegung, sind ihm als Intellektuellem höchst suspekt. Die politische Infiltration hat vielmehr im Kostüm bekannter und tradierter Muster zu geschehen. In der Maske des Biedermanns spielen die genehmen NS-Claqueure ihrem bürgerlichen Publikum auf. Es ist fast alles so wie früher. Aber doch nur fast. Da kommt das relativ unbekannte Tourneekabarett Die acht Entfesselten , 1935 von Ernst August Brenn und Rudi Godden gegründet, gerade recht. In einer parteilichen Umarmung vereinnahmt die NS-Kulturgemeinde das Ensemble. Unter Protektion der Entfesselten hofft die braune Brigade, den PG-Ulk in ihrem Sinne popularisieren zu können. Die Künstler sind willfährig genug, sich dieser Gunstbezeugung nicht zu entziehen. Ein gewisser Günter Meerstein bejubelt 1937 in seiner (selbst für nationalsozialistische Verhältnisse dürftigen) Dissertation („Das Kabarett im Dienste der Politik“) den neuen Geist, dem sich nun auch die Kleinkunst verpflichtet habe. So seien Die acht Entfesselten die ersten, „die den richtigen Weg zur Erneuerung der Kabarettkunst beschritten haben. Der Erfolg, den alle ihre Darbietungen erzielten, ist ein Beweis dafür, daß diese Kleinkunstbühne für die Gestaltung des Kabaretts im neuen Deutschland richtungsweisend sein kann.“40 Von höchst offizieller Seite, vom Kulturdienst der NSDAP, heißt es am 2. April 1936 zum Auftreten der angepaßten Witzbolde: „Aus dem Alltag des Volkes sind die Themen der Darbietungen genommen. Gegen Unnatürlichkeit in Kunst, Film, Funk, Theater, Operette, Wochenschau, Reklame wird eine vergnügte Attacke geritten. Dabei darf natürlich ein politischer Spott auf die Greuelpropaganda nicht fehlen.“41 Rudi Godden zelebriert mit seiner Truppe unverbindliches Wortgeplänkel, die Kunst der Ablenkung und des Amüsements, wie dies der schlesische Stimmenimitator Ludwig Manfred Lommel mit seinen Alltagssketchen im Radio ebenfalls mit Erfolg demonstriert. Der Intendant der Schlesischen Funkstunde in Breslau, Friedrich Bischoff, hat Lommel übrigens schon 1925 entdeckt und für das Radio verpflichtet. In Breslau kreiert der Spaßmacher seinen „Sender Runxendorf auf Welle 0,5“. Nichts Weltbewegendes will er erzählen. Immerhin präsentiert er seinen kleinen ländlich-akustischen Mikrokosmos ganz allein und mit der eigenen Stimme. Als Meister der menschlichen Stimme kann er drei oder vier Personen 40 Meerstein, Günter, 1937, S. 65. 41 Kühn, Volker, Kleinkunststücke, Bd. 3, 1989, S. 100. 42 http://www.mediaculture-online.de gleichzeitig in einem Sketch zu Worte kommen lassen. Ludwig Manfred Lommels Runxendorf ist „kein schlesisches Himmelreich“, wie Hans -Günter Martens betont, „es war ein Ort, wo die Sorgen des Alltags nicht so ernst genommen wurden, wo es Kalauer regnete, wo mitunter sogar - und das waren Lommels schönste Momente - der blühende Unsinn regierte.“42 Die Verbindlichkeit des Unverbindlichen, der Scherz ohne gesellschaftliche Erdung, lassen den Charme des Schlesiers eben auch für die nationalsozialistischen Ideologen hochwillkommen sein. Mir ist schon alles ganz egal Wir sterben lieber heut als morgen, Ick hab den ganzen Kopp voll Sorgen: Hab keenen Vater und keene Mutter, Aufs Brot nicht mal die nötige Butter. Wenn ich nicht bald'n Graf beerb, Dann ist's mir lieber, wenn ich sterb. Sterben müssen wir alle mal, Mir ist schon alles ganz egal. Selbst Steuern soll ick noch berappen, Die woll'n das letzte mir wegschnappen. Ich zahle nischt, ick kann's beteuern: Ick hab ne Wut auf alle Steuern. Ick soll bezahlen mit Barschecken? Die können mich alle ... nicht entdecken. Ick bin auf Reisen allemal Mir ist schon alles ganz egal. 42 Martens, Hans-Günter, auf Plattencover: Lommel, Ludwig Manfred, Elektrola. 43 http://www.mediaculture-online.de Früher soff ick wie'n Stier Helles, dunkles Lager-Bier. Ick soff mit Freunden im Verein, Jetzt sitz ick vor mein'm Glas allein. Ick sitze da mit offnem Maul Und bin zum Saufen schon zu faul, Die Nase tropft, das Bier wird schal. Mir ist schon alles ganz egal. Ick liebte manches Mägdelein, Doch mußte's stets ne Hübsche sein. Jetzt bin ick verheirat', welch Malheur, Meine Olle gefällt mir gar nicht mehr. Hat Beene wie'n Droschkengaul, Een halben Zahn bloß noch im Maul Und uff der Neese'n Muttermal. Mir ist schon alles ganz egal. Am Rundfunk sprech ick seit Jahren schon, Ick sang viel Platten für Homophon. Im Theater spiel ick alle Tage, Auch oft im Varieté. Es ist ne Plage. Jetzt soll ick noch zum Tonfilm gehen, Dann könnt ihr mich auf der Leinwand sehen! Die Hauptsache ist, es wird bezahlt – Sonst ist mir alles ganz egal. Ludwig Manfred Lommel, 193443 Die Liebe macht gewöhnlich blind 43 Kühn, Kleinkunststücke, Bd. 3, 1989, S. 104f. 44 http://www.mediaculture-online.de Ich bin im allgemeinen sehr verträglich, Ich bin die Ruhe selbst, das steht mal fest. Ich bin kein Ekel, also auch nicht eklig, Doch jetzt ist Schluß, mein liebes Kind, Jetzt mach ich mal Protest. Sonst denkst du, alles was du tust, ist richtig Und alles, was du sagst, für mich Musik. Sei bitte nicht so eitel und so zuversichtlich. Ich übe jetzt, jetzt übe ich, ich übe jetzt Kritik. Die Liebe macht gewöhnlich blind Doch Gott sei dank nicht so, mein Kind! Neenee, i wo, nicht so! Ich weiß doch, daß du Fehler hast. Ich sag dir auch, was mir nicht paßt, Nicht wahr? Na, klar! Ja, ja. Da war erst neulich, das fiel mir doch gleich auf Und das fällt ganz besonders ins Gewicht, Was war denn das? Na, ich komme jetzt nicht drauf, Na, ganz egal, auf jeden Fall: Man tut so etwas nicht! Die Liebe macht gewöhnlich blind, Doch Gott sei dank nicht so, mein Kind ! Neenee, i wo, nicht so! Doch andrerseits, das kann ich nicht bestreiten: Ich hab dich gern, ach was, ich liebe dich! Du hast auch deine wirklich guten Seiten, Die hast du, Liebling, laß mal, nee! Du weißt es bloß noch nicht! Ich stehe auch für dich mal gern im Regen, Mir kommt es auf'n Schnupfen gar nicht an! Ich warte letztenendes ja nur deinetwegen, 45 http://www.mediaculture-online.de Damit ich dir was Nettes, wirklich Nettes sagen kann. Die Liebe macht gewöhnlich blind. In deinem Fall auch mich, mein Kind, Nicht wahr? Na, klar! Ja, ja. Zwar steh ich hier im Wolkenbruch, 'n Mann wie ich verträgt ja Zug, Nich wahr? Na, klar? Ja, ja. Aber ne ganze Stunde, das ist'n bißchen viel, Ich grüble, ob ich länger warten soll, Denn ohne dich wird's doch'n bißchen kühl. Ich huste auch schon prima, und ich hab die Nase voll! Die Liebe macht gewöhnlich blind, Doch Gott sei dank nicht so, mein Kind, I wo, neenee. Nicht so! Die Liebe macht gewöhnlich blind, Doch Gott sei dank nicht mich, mein Kind! Neenee. Adieu! Ich geh!! Rudi Godden, 193844 Während das kritische und liberale Großstadtkabarett der zwanziger Jahre die realen Konfrontationen der Gesellschaft nicht ausklammert, Finck mit seinen Conférencen die Stimme gegen die Diktatur erhebt, unterhalten vermeintlich unpolitische und komische Köpfe ab 1935 ihr Publikum mit standardisierter Fröhlichkeit. Wie im billigen Massenschlager sind die Texte dieser liebsamen Künstler bieder und dienen damit der erwünschten Stabilisierung nach innen. „Das kabarettistische Moment, das bei allen Völkern zu allen Zeiten vorhanden war und auch noch heute vorhanden ist“, betont der linientreue Kabarett-Theoretiker Meerstein, „wird im nationalsozialistischen Deutschland in der Kleinkunststätte 'Kabarett' als politisches Führungs- und Beeinflussungsmittel des gesamten Volkes herausgestellt, um der Staatsführung ein wirkungsvolles Instrument zur 44 Ebd., S. 120f. Rudi Godden präsentierte das Lied 1938 bei den Acht Entfesselten. 46 http://www.mediaculture-online.de Unterhaltung und zur politischen Führung und Beeinflussung des Volkes in die Hand zu geben.“45 Uniformer Humor, im patriarchalischen Geist der Zeit geschrieben, Ulk-Witz, der nicht weh tut und doch vergessen läßt, kennzeichnet Goddens Liebesgruß für eine Verlassene, „denn Liebe macht gewöhnlich blind“. Sentimentaler Weltschmerz im Dienst der militärischen Logik ebnet 1937 im Münchener Simplicissimus den Siegeszug von Lili Marleen mit Lale Andersen. Hans Leip, Schriftsteller und Grafiker, hat den Text bereits 1915 als Soldat zu Papier gebracht. Die Zeilen bleiben über zwanzig Jahre unbeachtet. Der kommende Weltschlager - 1939 im Kabarett der Komikerin einer zweiten, der jetzt noch bekannten Version, vorgestellt und 1941 vom Besatzungssender in Belgrad als „Lied eines jungen Wachposten“ präsentiert - verschränkt in beispielhafter Weise melancholischen Weltschmerz des liebenden und beinahe straffällig werdenden Landsers mit unbedingter Pflichterfüllung. Über dem Privaten lauert allgegenwärtig das Diktat des soldatischen Gesetzes, das nicht hinterfragt werden darf. Glück und Liebe sind zulässig indem kasernierten Hitler-Reich. Sie unterstehen aber der profanen Logik des Kasernenhofes. Das suggestive musikalische Arrangement - von dem Pianisten Norbert Schultze komponiert - läßt beinahe den Kontext vergessen, in dem das Lied steht. Kornettsignale und Trommelschläge erinnern wie von fern, „wo die Musik spielt“ und wer sie macht. Die stets betonte Internationalität des Liedes - u.a. werden es in den kommenden Jahren Bing Crosby, Jean-Claude Pascal, Freddy Quinn und Greta Garbo singen -, die Verfolgung der Lale Andersen durch die Gestapo, das Verbot des Schlagers nach der Schlacht von Stalingrad, alles das kann nicht über die Verherrlichung der soldatischen „Tugenden“ hinwegtäuschen. Lili Marleen, auf den Brettern des nationalsozialistischen Kabaretts zum zweitenmal geboren, im Äther zwischen den Fronten millionenfach ausgestrahlt, ist die Apotheose der soldatischen Pose schlechthin. Die Liebe unterliegt in dem Weltschlager den Gesetzen der Kaserne. Liebesschmerz gehorcht selbstverständlich und ohne Widerspruch den unausgesprochenen und höheren Einsichten hinter der Militärfeste mit ihrer romantischen Laterne „vor dem großen Tor“. 45 Meerstein, 1937, S. 72. 47 http://www.mediaculture-online.de Anders als der Interpretin, bringt dem Komponisten Norbert Schultze der musikalische Triumph erheblichen materiellen Nutzen. Der Präsident der Reichsmusikkammer, Peter Raabe, setzt Schultze 1939 auf die Liste der „schöpferischen Künstler“. Filmmusiken zu „Feuertaufe“, einem Propagandafilm über den Überfall auf Polen, „Bomben auf England“ und 25 „Lieder der Nation“ kennzeichnen die nationalsozialistische Produktivität des Komponisten. Noch 1967 erklärte er gegenüber der New York Times : „Ich kann es nicht bedauern, daß ich all diese Lieder geschrieben habe. Es war die Zeit, die das verlangte, nicht ich. Andere haben geschossen. Ich habe diese Lieder komponiert.“46 Im Verlauf des Ätherkriegs nutzen die Engländer die Popularität des Liedes für die Gegenpropaganda: Was das Soldatenleben ist, für die Soldatenbraut Lili Marleen in dem Schlager bedeutet, das wird jetzt in Stoßrichtung Deutsches Reich laut und parodistisch zu Gehör gebracht. Die verträumte Melancholie des Originals ist durch die unmissverständliche Aufforderung zum Handeln aufgebrochen. Der pervertierte Schlager mahnt die Hörer zum Kampf gegen Unterdrückung und Hitlerfaschismus. Lucie Mannheim singt die neue Version am 3. April 1943 in einer deutschsprachigen Sendung der BBC, der Krieg hat sich an der russischen Front bereits gewendet. Lili Marleen Ich muß heut an Dich schreiben, Mir ist das Herz so schwer. Ich muß zuhause bleiben Und lieb Dich doch so sehr. Du sagst, Du tust nur deine Pflicht, Doch trösten kann mich das ja nicht, Ich wart an der Laterne Deine Lili Marleen 46 Zitiert in Dokumentation: Das Dritte Reich, Bd.4, S. 103. 48 http://www.mediaculture-online.de Was ich still hier leide, Weiß nur der Mond und ich. Einst schien er auf uns beide, Nun scheint er nur auf mich. Mein Herz tut mir so bitter weh, Wenn ich an der Laterne steh Mit meinem eignen Schatten Deine Lili Marleen Vielleicht fällst du in Rußland, Vielleicht in Afrika. Doch irgendwo da fällst Du, So will's Dein Führer ja. Und wenn wir doch uns wiedersehen, O möge die Laterne stehn In einem andern Deutschland Deine Lili Marleen Der Führer ist ein Schinder, Das sehn wir hier genau. Zu Waisen macht er Kinder, Zur Witwe jede Frau. Und wer an allem schuld ist, den Will ich an der Laterne sehn, Hängt ihn an die Laterne! Deine Lili Marleen BBC-Sendung am 3.4.194347 Zu den engagierten Claqueuren des Nationalsozialismus zählt der Sänger und Kabarettist Weiß Ferdl. Um ihn ranken sich Legenden und anekdotische Begebenheiten, die ihn zum 47 Als Tondokument erhalten in: Dümling, Albrecht, 1988, CD 4. 49 http://www.mediaculture-online.de Gegner des Nationalsozialismus stilisieren. Dabei dürfte es sich freilich um selbstgestrickte oder lancierte „Meldungen aus dem Reich“ handeln. Angeblich soll des Führers komischer Liebling 1938 im Münchner Platzl in einer von der NSDAP gemieteten Vorstellung vor vollem Haus gesagt haben: „Bleibt lieber in Euren mit sauer verdientem Geld ersparten, kleinen bescheidenen Villen am Lago di Bonzo. Ihr habt ja nicht einmal mehr Eisen-Euren 'eisernen Willen' habt ihr schon längst aufgegeben und nun fangt ihr schon an aus Materialnot die Juden einzuschmelzen.“48 Authentische Belege für solche Äußerungen des fröhlichen Rechtsauslegers gibt es indessen nicht. Auch Volker Kühn meldet in seinen Recherchen Zweifel an solchen nicht bezeugten „Heldentaten“ an. Ferdinand Weisheitinger (1883-1949), genannt Weiß Ferdl, der Kabarettist vom Platzl in München, bejubelt 1934 jedenfalls die neuen „Errungenschaften“ im nationalsozialistischen Staat. Darunter fällt in seiner Hymne „Gleichgeschaltet“ auch die Drohung einer deutschen Gattin. Eheliche Untreue wird notfalls mit „Dachau“ bestraft, wer nicht hören will, muß sich im Konzentrationslager fügen. Die Stätte der Folter und Erniedrigung wird bei Weiß Ferdl salonfähig. Der böse Spaß treibt Kumpanei mit den Schlächtern und jagt die Eingesperrten wie in den obszönen „Juden-Witzen“. Die Solidarität mit den Gepeinigten ist aufgekündigt, gelacht wird - ausgesprochen oder nicht mit den Folterknechten. Es gibt kein Tabu, der Komiker treibt mit dem Entsetzen Scherz und setzt auf Einverständnis mit seinem Publikum. Auch in der Conférence „Über die Lage“ (1936) ist mit „Dachau“ ein magisches sprachliches Zeichen gesetzt. Die topographische Einordnung genügt. Nichts muß erklärt, nichts erläutert werden. Der Sprecher kann sich des Kürzels bedienen, der Chiffre des Schreckens. Was gemeint ist – und zugleich nicht ausgesprochen - ,das darf er offensichtlich bei seinem Publikum voraussetzen. Dachau und die gedankliche Verbindung zu einem Luftkurort und einer „Luftveränderung in konzentrierter Form“ verdichten sich zu einer bösen euphemistischen Konstruktion. Die Schlächter werden nicht mehr provoziert und gereizt. Der Kabarettist sucht sich schon im nächsten Abschnitt des Wohlwollens und der Gunst der Mächtigen zu versichern. Gewiß, „große Männer verstehen schon Spaß“ und können die lax dahergesagte Dachau-Metapher gar nicht in den falschen Hals bekommen. Doch Weiß Ferdl ist auf der Hut und leistet schon mal vorsichtshalber Abbitte – auch auf Kosten 48 Zitiert in Hippen, Reinhard, 1988, S. 67. 50 http://www.mediaculture-online.de jener, die gemeint sind: die geschundenen KZ-Häftlinge. Werner Finck lehnt später übrigens jeden Vergleich, vor allem in politischer Hinsicht, mit Weiß Ferdl ab. Der Witz hinter der Hand – Lust und Gefahr Überleben, dazu verhalf auch der Witz. Überleben, möglichst bei bester Gage. Man erzählte sich ihn von Karl Valentin, von Erich Kästner, der ohne publizieren zu dürfen, in den Cafehäusern des oberen Kurfürstendamm wie ein Relikt der schönsten „Systemzeit“ staunend zu betrachten war. Man legte Schauspielern, nur weil sie Komiker waren, politische Witze in den Mund. Dabei waren viele dieser Herren in Wirklichkeit jeder Störung ihrer Karriere durch solche Späße abhold. Auch sie wollten überleben, möglichst bei bester Gage. Es ging das Gerücht um, daß überall, wo der Don Carlos gespielt wurde, bei des Posa dröhnender Forderung nach Gedankenfreiheit das Publikum in Schreie der Zustimmung ausgebrochen sei. Keiner konnte es bestätigen. Ich war bei einer solchen Aufführung. Aber da blieb es an dieser Stelle still. Man hörte dergleichen immerhin so gern. Man konnte bei solchen Gerüchten so schön Mut schöpfen und man tat es. Witze höhlen kein diktatorisches System aus, sie werfen es nicht um. Aber sie können es weniger sicher erscheinen lassen. Die Machthaber merken vielleicht, daß ihr Stuhl wackelt oder doch wenigstens ein ganz bißchen unsicher steht. Wenn verbreitet wurde, der dicke, gern jovial und kumpelhaft hingestellte Hermann Göring habe sich allmorgendlich die neusten Witze erzählen lassen und sich dann lachend auf die monumentalen Schenkel geschlagen, so war diese offenbar doch offiziell verbreitete Onkelanekdote deutlich gezielt: Sie sollte den Witz gegen die Tyrannen unerheblich - und sollte die Tyrannen möglichst humorvoll und diesem Falle freundlich liberal erscheinen lassen. Beides ein Zeichen, wie man den Witz aus dem Volke und im Volke wohl fürchtete, ihn „offiziell“ zu entschärfen versuchte. In den Kabaretts saßen damals meist die Schnüffler und Spitzel der Geheimen Staatspolizei, wie sie auch in den Gottesdiensten der mehr unbotmäßigen Geistlichen auf der harten Kirchenbank hockten und mitschrieben. An beiden Plätzen konnte man sie, wenn man seinen Blick für die Handlangertypen der Diktatur nur etwas geschärft hatte, sofort erkennen. Friedrich Luft49 Gleichgeschaltet Früher gab's so viel Parteien, Deshalb auch viel Reibereien. Bis dann sprach ein Ingenieur: 49 Luft, Friedrich, Überstehen ist alles. Der Witz hinter der Hand - Lust und Gefahr, in: Dokumentation: Das Dritte Reich, Bd. 1, S. 138. 51 http://www.mediaculture-online.de Deutsche, nein, so geht's nicht mehr. Weg mit diesen Wechselströmen, Woll'n wir lieber Gleichstrom nehmen! Er hat aus- und umgestaltet. Gleichgeschaltet, gleichgeschaltet. Hat man Zeitungen gelesen, Früher ist man blöd gewesen. Die schrieb: „Bravo, sehr gut. Heil!“ Die andre „Pfui“, grad's Gegenteil. Jetzt kannst du das Geld dir sparen. Liest du eine, bist im klaren. Gleichlautend sind all'gestaltet: Gleichgeschaltet, gleichgeschaltet. Arbeitsdienst wurd' eingeführet Mancher freudig mitmaschieret: „Endlich schaffen, Gott sei Dank.“ Andre aber macht es bang. Statt beim 5-Uhr-Tee fein schwofen, soll er jetzt im Gleichschritt loofen. Hand, gepflegt, a Schaufel haltet Gleichgeschaltet, gleichgeschaltet. Man hört nicht mehr Saxophone, Tanzt nicht Rumba, Charlestone. Fort mit Jazz und Niggertanz, Sind nicht mehr meschugge ganz. Alte Weisen hört man wieder, Stramme Märsche, deutsche Lieder, Die man gern im Ohr behaltet. Gleichgeschaltet, gleichgeschaltet. 52 http://www.mediaculture-online.de Mit dem Eintopf, dem bekannten, Sind die Frau'n sehr einverstanden. Weg mit Austern, Kaviar, Mit dö Schmankerln is jetzt gar. Am Sonntag kochen s' alte Boana, Sag'n: „Das is a Picklstoana“, Aufg'wärmt, daß bis Samstag haltet, Gleichgeschaltet, gleichgeschaltet. Will der Mann a Freundin halten Und nicht treu bleib'n seiner Alten, Steht in Saft die deutsche Frau, Droht dem Gatten mit Dachau: „Zwanzig Jahr hast unverdrossen Meine, Reize du genossen. Dabei bleibt's, bist auch veraltet, Gleichgeschaltet, gleichgeschaltet.“ Bei den Abrüstungskonf'renzen Die Franzosen immer benzen: Deutschland, ach, bedroht uns sehr! Doch die Welt glaubt's längst nicht mehr. Unser Kanzler sprach es offen: „Friede hat nur der zu hoffen, Der abrüstet, da Wort haltet.“ Gleichgeschaltet, gleichgeschaltet Ganz vereint sind Bayern, Preißen, Nicht mehr auseinand' zu reißen. Statt, daß in die Berg' wir zieh'n, Mach ma Weekend in Berlin, Tun im Lunapark dort rodeln, 53 http://www.mediaculture-online.de Preußen lernen dafür jodeln. Mensch, wie det zusammenhaltet! Gleichgeschaltet, gleichgeschaltet. Wenn wir fest zusammenstehen, Muß's doch wieder aufwärts gehen. Bauer, Arbeitsmann und Knecht, Adel, Bürger - gleiches Recht. Für das Land, das wir gestritten Und viel Jahre Not gelitten, Woll'n wir leben, ungespaltet, Gleichgestaltet, gleichgestaltet. Weiss Ferdl, 193450 Über die Lage Heutzutage ist es nicht leicht, Humorist zu sein. Das Publikum hat es so leicht, die kommen herein, zahlen den kleinen Eintritt, setzen sich hin und sagen: „Los!“ Das ist schnell gesagt, aber das Losgehen ist nicht so einfach. Ich weiß genau, was die Leute am liebsten hören. Schon im grauen Altertum war es so, daß sich die Leute am meisten gefreut haben, wenn man über die Großkopfat'n losgezogen hat und dieser Brauch hat sich bis auf den heutigen Tag erhalten. Nun werden Sie aber auch verstehen, daß dieses momentan eine etwas kitzlige Angelegenheit ist; man hat Hemmungen. Mir persönlich kann ja nichts passieren, ich bin ja schon längere Zeit „Dachauer“ -da käme höchstens eine kleine Luftveränderung in konzentrierter Form in Frage. Aber die Sache ist nicht so gefährlich. Ich weiß auch, daß die wirklich großen Männer schon Spaß verstehen und selber darüber lachen. Die wissen auch ganz genau, daß, wenn ich herin im Platzl einen Witz mache, deshalb ihre Position noch nicht erschüttert ist. Unangenehm sind nur die anderen, - die sich einbilden großkopfert zu sein - und sind's gar nicht.51 1941, da die deutsche Politik irreversibel auf die Vernichtung der Juden hinausläuft, Göring die „Evakuierung“ der Opfer anordnet, erste Vergasungen in Auschwitz anlaufen, der Kabarettist und Schlagertexter Fritz Grünbaum („Ich hab das Fräulein Helen baden 50 Kühn, Volker, Kleinkunststücke, Bd. 3, S. 102 ff. Das Wort „benzen“ oder „penzen“ bedeutet „betteln“, nachdrücklich „bitten“. Die Nummer erschien auch als Schallplatte. Mit Varianten auch in: Hippen, Reinhard, 1988, S. 72. 51 Zitiert in: Hippen, Reinhard, 1988, S. 74. 54 http://www.mediaculture-online.de sehn“) im Konzentrationslager Dachau zu Tode kommt, beschneidet der Propagandaminister nochmals entscheidend das Kabarettgeschehen. 1941 ist auch das Jahr, in welchem Goebbels die weitere Verbreitung von Lili Marleen zu verhindern sucht und sich dann letztlich geschlagen gibt. Sein Hinweis, die Verse seien zu „makaber“, die Musik zu „sentimental“, verfängt nicht, er muß klein beigeben. Es ist das Jahr, in dem die Propaganda nochmals gestrafft wird. Karl Valentin, von den Nationalsozialisten schon 1936 mit Film-Zensur belegt, verabschiedet sich erst einmal von der Wort- und Darstellungskunst und verdingt sich bis Ende des Krieges als Schreiner, Scherenschleifer und fabriziert Nudelwalker für den Haushalt. Im Radio dominieren Marschmusik und das reine Propaganda-Hörspiel. Unterhaltung abseits des cui bono duldet der Minister nicht. Im Film setzt sich mehr und mehr das krude Propagandakonstrukt durch. Veit Harlans Machwerk von 1940 „Jud Süß“ ist hierfür ebenso ein Beleg, wie das „dokumentarische“ Lügenprodukt „Der ewige Jude“ (1940) von Fritz Hippler oder Liebeneiners „Ich klage an“ (1941), ein Film der unverhohlen das Mordprogramm an Behinderten und Kranken rechtfertigt. In diesem Abschnitt der ideologischen Bündelung und verschärfter Indoktrination unterbindet Goebbels schließlich die freie Conférence im Kabarett.52 Das Spiel mit Personen und ihre Erwähnung ist dadurch eingeschränkt. Bezeichnend, daß die Anordnung in der Presse nicht diskutiert werden darf. Es ist davon auszugehen, daß der Befehl kaum flächendeckend zu überprüfen ist, geschweige denn eingehalten wird. Ob im Frontkabarett Der Knobelbecher, das von 1942 bis 1944 die Truppe bei Laune hält53, oder auf der Wehrmachtsbühne Die Platzpatrone in Neapel 1943, die Ausklammerung der Conférence ist in der Tat nicht praktikabel und dient vor allem der vorbeugenden Disziplinierung der verbliebenen Amüsierbetriebe zwischen Dänemark, Rußland, Frankreich und Italien. Die Durchhaltekabaretts unterstehen seit Beginn des Krieges dem Oberkommando der Wehrmacht (OKW) und dem Propagandaministerium. Ursula Herking, Wolfgang Neuss, der in der Heimat verstoßene Werner Finck und auch der spätere Insulaner-Chef Günter Neumann sorgen für stramme Landserunterhaltung. Illusionen über das künstlerische Niveau dieser Truppenbetreuung braucht man sich nicht zu machen, die Frontklamotte als Normalmaß setzt sich durch. 52 Zitiert in: Hippen, Reinhard, 1988, S. 74. 53 Vgl. Murmann, Geerte, 1992. 55 http://www.mediaculture-online.de Anordnung betreffend Verbot des Conférence- und Ansagewesens. Trotz meiner wiederholten Erlasse vom 8. Dezember 1937, 6. Mai 1939 und 11. Dezember 1940, in denen ich eindringlich die Forderung erhob, das Kabarett- und Vortragswesen den Erfordernissen des öffentlichen Geschmacks, besonders aber denen des Krieges anzugleichen, treiben sogenannte Conférenciers, Ansager und Kabarettisten, wie aus der Menge von Beschwerden aus dem Lande, vor allem aber von der Front berichtet wird, weiterhin ihr Unwesen. Sie gefallen sich in einer leichten und billigen Anpöbelung von Zuständen im öffentlichen Leben, die durch die Not des Krieges bedingt sind. In sogenannten politischen Witzen üben sie offene oder versteckte Kritik an der Politik, Wirtschafts- und Kulturführung des Reiches. Sie verhöhnen die bodenständigen Eigenheiten der einzelnen Stämme unseres Volkes und tragen damit dazu bei, die innere Einheit der Nation, die für die siegreiche Beendigung des Krieges die wichtigste Voraussetzung ist, zu gefährden. In Anbetracht dessen, da meine wiederholten, mit allem Ernst eingeschärften Mahnungen offenbar nichts gefruchtet haben und die alten, aus einer demokratisch-liberalistischen Staatsauffassung resultierenden Mängel und Fehler der Gestaltung der öffentlichen Unterhaltung immer aufs Neue wieder auftauchen, sehe ich mich nunmehr auf Befehl des Führers zu einschneidenden Maßnahmen gezwungen. Auf Grund des §25 der Ersten Verordnung zur Durchführung des Reichskulturkammergesetzes vom 1. November 1933 (Reichsgesetzblatt I S. 797) ordne ich hiermit an: 1. Jegliche sogenannte Conférence oder Ansage wird ab sofort für die ganze Öffentlichkeit grundsätzlich verboten. Es ist dabei ganz gleichgültig, ob sie sich mit Dingen der Politik, der Wirtschaft, der Kultur oder sonstigen Angelegenheiten des öffentlichen oder privaten Lebens befassen will. 2. Glossierungen von Persönlichkeiten, Zuständen oder Vorgängen des öffentlichen Lebens, auch angeblich positiv gemeinte, sind in Theatern, Kabaretts, Varietés und sonstigen öffentlichen Unterhaltungsstätten verboten. 3. Die Presse ist schärfstens angewiesen, die Behandlung aller lebensunwichtigen Fragen, die das Volk heute unnötig belasten oder verstimmen könnten, peinlichst zu vermeiden. Dazu gehören vor allem Angelegenheiten, die Eigenheiten, Sitten, Gebräuche oder Dialekte einzelner Volksstämme betreffen. 4. Es ist verboten, einen Volksstamm gegen einen anderen, eine Stadt gegen eine andere oder einen Teil des Reiches oder Volkes gegen den anderen, wenn auch in angeblich gutgemeinter Art, auszuspielen. Alle Kräfte des öffentlichen Lebens müssen auf die Einheit des Volkes ausgerichtet werden. Probleme, an denen sich die Gemüter unnötig erhitzen und die für die siegreiche Durchführung des Krieges von untergeordneter Bedeutung sind, werden aus der öffentlichen Diskussion ausgeschaltet. Dieser Erlaß stellt eine letzte, ernste und eindringliche Mahnung dar. Übertretungen werden auf Befehl des Führers mit schärfsten Strafen geahndet. Berlin, den 30. Januar 1941 gez. 56 http://www.mediaculture-online.de Dr. Goebbels Anlage: Abschrift überreiche ich zur Kenntnisnahme. Eine Veröffentlichung durch die Presse darf nicht erfolgen. Gez. Dr. Goebbels54 Zum Totlachen oder Theresienstadt, Theresienstadt ist das modernste Ghetto, das die Welt heut hat Im Oktober 1941 kommt es zu „Verhandlungen“ zwischen der Jüdischen Kultusgemeinde in Prag und der SS mit dem Ziel, 60 Kilometer von Prag in Terezin (Theresienstadt) an der Eger ein Ghetto einzurichten. Die Interessenlage ist dabei freilich sehr unterschiedlich: Die jüdischen Verhandlungsführer hoffen, durch dieses Vorgehen Zeit zu gewinnen und die drohenden Massendeportationen nach Polen eindämmen zu können. Die Konzentrierung der jüdischen Häftlinge in Zwischenlagern entspricht der von langer Hand geplanten „Endlösung“, der systematischen Ermordung der jüdischen Minderheit. Theresienstadt ist als sogenanntes Altersghetto konzipiert. Tausende alter, invalider und kranker Menschen sollen in der historischen Garnison kaserniert werden. In das KZ Theresienstadt, leichtfertig als Vorzugslager gehandelt und im SS-Jargon als „Reichsaltersheim“ gepriesen, müssen sich die Juden gegen haltlose Versprechungen selbst „einkaufen“. Das heißt im Klartext: Das Vermögen der Häftlinge wird beschlagnahmt, bewegliches und festes Eigentum konfisziert. In den „besseren“ Zeiten besteht die Lebensmittelration aus 225 Gramm Brot, 60 Gramm Kartoffeln und der üblichen Wassersuppe. „Die Zuteilung war nicht größer als etwa 1000, höchstens 1200 Kalorien pro Kopf und Tag. Für Arbeitsunfähige ist die Zahl der Kalorien unter 800 gesunken. Tierisches Eiweiß gab es fast gar nicht und die Verdauungsorgane, besonders von alten Leuten, konnten die Kost nicht verdauen. Deutsche Ärzte ließen sich hier Avitaminosen, Pellagra, Nachtblindheit und Austrocknen der Bindehäute vorführen.“55 54 Zitiert in: Hippen, Reinhard, 1988, S. 125. 55 Adler, H.G., 1960, S, 736. 57 http://www.mediaculture-online.de Am 18. September 1942 leben und hungern in dem Lager rund 59.000 Menschen, darunter 30.000 Alte und Kranke, 4.000 Krüppel und über 1.000 blinde Gefangene. Nur 60 Prozent der Inhaftierten haben einen eigenen Schlafplatz. 20.848 Menschen sterben durch die Entbehrungen und den Terror im Ghetto, über 16.000 Menschen müssen noch einmal die Reise im Viehwaggon antreten und fahren von Theresienstadt in die Todesfabriken von Auschwitz, Riga, Treblinka oder Izbica und werden dort ermordet. Ungeachtet dieser Todes- und Schreckensbilanz verstehen es die Nationalsozialisten, das Zwischenlager mit infamsten Methoden propagandistisch auszuschlachten. Durch eine Lagerinfrastruktur, die zumindest nach außen den Anschein einer bürgerlichen Ordnung bietet, gaukeln die Bewacher sich und der Welt eine umzäunte Normalität vor. Zwar ohne ernstliches Warenangebot in den Regalen und Auslagen, gibt es eine Fleischerei ohne Fleisch, eine Apotheke ohne Medikamente und eine Parfümerie ohne Seife und Flacons, ein Haushaltsgeschäft, dekoriert mit Vasen aus beschlagnahmten Hinterlassenschaften. Im Sinne einer Potemkinschen Suggestion wird Wirklichkeit inszeniert und über die krude Faktizität gestülpt. Leni Riefenstahl beweist mit ihrem Dokumentarfilm „Triumph des Willens“ (1935) zuvor, daß das „Dritte Reich“ latent als inszenatorisches Show-Ereignis zu begreifen ist, als Exhibition der Mythen und Legenden, als theatralisches Spektakel. In Theresienstadt, im Wartesaal für Auschwitz, belegt die Umstülpung der Realität, daß die Henker die gefesselte Gemeinschaft von Theresienstadt choreographisch ausgetüftelt manipulieren. In diesen Kontext gehört das Programm der „Stadtverschönerung“ von 1943, eine Propagandamaßnahme, die für die angekündigten Besuche des Internationalen Roten Kreuzes gedacht ist. „Viele Kommissionen besahen die Fortschritte und befahlen weitere Verbesserungen oder Änderungen. Bisher hatte sich niemand darum gekümmert, wie die Menschen untergebracht waren und wie für ihre primitivsten Bedürfnisse gesorgt war. Nun wurde man von einer durch und durch verlogenen Fürsorge sozusagen überfallen.“56 Man pflanzt Rosenstöcke, baut einen Kinderspielplatz, repariert die Straßen, Häuser erhalten einen frischen Anstrich ... 56 Ebd.,S.164. 58 http://www.mediaculture-online.de Die Restaurierung und „Verschönerung“ im Ort der Qualen dient aber nicht nur dem Selbstschutz vor kritischen Rückfragen. Nochmals zeigt der Vorgang den Bezug zu einer Theater- und Filmwelt. Die Nationalsozialisten möchten auch in der Tat für interne oder externe Propagandafeldzüge einen Film über das „Paradies“ in Theresienstadt herstellen. Gipfel der Schamlosigkeit: Regie, Produktionsleitung und Darsteller sind von den Inhaftierten zu stellen. Der Titel des „Dokumentarfilms“ lautet „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“, ein Fragment (427 Meter) dieses beispiellosen Machwerks ist erhalten. Der Berliner Kabarettist Kurt Gerron - er spielt 1928 bei der Uraufführung der Dreigroschenoper den Tiger Brown, im Film Der blaue Engel übernimmt er die Rolle des Varieté-Direktors - hat zusammen mit dem niederländischen Zeichner Joe Spier und dem Prager Bühnenarchitekten Frantisek Zelenka die Produktion zu leiten. Das propagandistische Loblied auf das Ghetto - jedes Bild ist Pose, jedes Kommentarwort Lüge - entsteht zwischen dem 16. August und dem 11. September 1944. Nach Fertigstellung dieses Machwerks des „organisierten Wahnsinns“57 - man spielt Fußball, plaudert nach Feierabend, bildet sich bei Konzert und Vorträgen - vergasen die Nationalsozialisten so gut wie alle Beteiligten an diesem Film. Zwischen Fertigstellung der „Auftragsarbeit“ und Deportation liegen nach Augenzeugenberichten nur 24 Stunden. Die Künstler, Statisten und das übrige Personal beteiligen sich an dem inszenierten Schwindel, weil die trügerische Hoffnung besteht, man werde zumindest während der Dreharbeiten vor der Deportation nach Polen verschont. Im Vorzeige-Ghetto sorgen die Mörder überaus eilfertig für Kunst, Musik und Unterhaltung, ein Angebot, das immer den Doppelaspekt von ideologischer Fassade für die Bewacher und mentalem Überlebenstraining für die Häftlinge erfüllt. Auf der Schaubühne der Tyrannen spielen Opfer in Theresienstadt Sinfoniekonzerte. Es gibt Matineen mit kammermusikalischen Darbietungen; die Ghetto Swingers intonieren die ansonsten im Reich verpönten Unterhaltungsklänge aus Amerika. Angesichts der Transporte nach Auschwitz ist das Zugeständnis ein doppelbödiges und janusgesichtiges. Der Geiger, der gestern noch Mozart spielte, wird genauso abgeholt wie die Künstler der Lustigen Ghetto-Revue, die 1942 das einjährige „Jubiläum“ begehen. Im KZ spielt die Musik, gibt es Lieder-, Opern und Klavierabende. „Jüdische Komponisten“ wie Offenbach, 57 Ebd., S. 180. 59 http://www.mediaculture-online.de Mendelssohn oder Abraham kommen hier, höchstoffiziell genehmigt, vor der SS und den Gepeinigten zu Gehör. In Theresienstadt, im exterritorialen Bereich der Kunst, da werden gespenstische „Freikarten“ verteilt: Billetts für eine weite, fast frei anmutende Kunstausübung, verbunden mit dem tödlichen Vermerk auf der Transportliste nach Treblinka, Auschwitz oder Riga. Die Bewacher gönnen ihren Opfern gar ein „Kaffeehaus“ für musikalische Darbietungen. Aber auch dieser Ort hat ein doppeltes und zynisches Gesicht: Livrierte Gefangene spielen Kellner und führen die Besucher zu den Plätzen. Es gibt Eintrittskarten, doch keine Bewirtung. Die Musik spielt auf, doch im „Kaffeehaus“ gibt es keinen Kaffee, keinen Kuchen. Alles das gehört mit zu dieser scheinbar bewirtschafteten Hölle. Fiktionen besetzen die Wirklichkeit, musische Aktivitäten, auch Aktionismus, verschleiern die Abfahrt des Güterzugs. Zeittafel 1933 30.1. Hitler wird Reichskanzler. 27.2. Reichstagsbrand, Zerschlagung der KPD. 28.2. Aufhebung der Grundrechte. März Konzentrationslager Osthofen errichtet. 20.3. Konzentrationslager Dachau. 23.3. Konzentrationslager Heuberg. 23.3. Ermächtigungsgesetz. 1.4. Boykottaktion der SA gegen Juden. 2.5. Zerschlagung der Gewerkschaften. 10.5. Bücherverbrennung. 1.11. Konzentrationslager Oberer Kuhberg. 31.12. Konzentrationslager Heuberg aufgelöst. 60 http://www.mediaculture-online.de 1935 15.9. Die sogenannten Nürnberger Gesetze werden verabschiedet: „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“. Sie sind die Grundlage für die Ausschaltung der Juden aus allen öffentlichen Arbeitsverhältnissen. 1937 1.7. Martin Niemöller verhaftet. 16.7. Konzentrationslager Buchenwald errichtet. 1938 17.8. Alle Juden müssen zusätzlich den Namen „Israel“ bzw. „Sarah“ tragen. Konzentrationslager Mauthausen errichtet. 9.-10.11. „Reichskristallnacht“. Zerstörung von Synagogen, Geschäften und Wohnhäusern. Über 26000 Juden werden verhaftet. Jüdische Kinder werden fünf Tage später vom Besuch allgemeinbildender Schulen ausgeschlossen. 1939 30.1. Hitler verkündet vor dem Reichstag die Vernichtung der „jüdischen Rasse“. 1.9. Überfall auf Polen. 23.11. Das Tragendes Judenstern wird zur Pflicht im Generalgouvernement. 1940 30.4. Erstes Judenghetto in Lodz. 20.5. Konzentrationslager Auschwitz errichtet. 16.10. Errichtung des Warschauer Ghetto. 22.10. Judendeportationen aus Baden, Saarland, Pfalz, Elsaß-Lothringen nach Südfrankreich (Gurs). 1941 61 http://www.mediaculture-online.de 25.-26.2. errichtet. Streiks in Holland gegen die Judenverfolgung, Konzentrationslager Natzweiler Juni Massenmorde der SS in der Sowjetunion. 13.9. Erste Vergasungen in Auschwitz. 13.9. Judenstern muß auch im Reich getragen werden. 10.10. Heydrich bestimmt Theresienstadt als Ghetto. 1.12. Deportation württembergischer Juden nach Riga. 1942 20.1. Wannsee-Konferenz über die „Endlösung der Judenfrage“. 18.5. Vernichtungslager Sobibor errichtet. 2.6. 1. Transport deutscher Juden nach Theresienstadt. 21.6. 1. Transport österreichischer Juden nach Theresienstadt. 23.7. Vernichtungslager Treblinka errichtet. 18.9. Gefangenenhöchstzahl in Theresienstadt: 58.491. 26.10. Beginn der systematischen Transporte von Theresienstadt nach Auschwitz insgesamt 25 mit 46.000 Menschen. 1943 19.4.-16.5. Aufstand und Vernichtung des Warschauer Ghettos. 30.4. Bergen Belsen errichtet. 24.5. Deutsche Pressevertreter besichtigen Theresienstadt. 27.6. Deutsches Rotes Kreuz besucht Theresienstadt. 2.8. Aufstand in Treblinka. 1944 Februar „Stadtverschönerung“ wird für Theresienstadt angeordnet. 62 http://www.mediaculture-online.de 23.6. Dänisch-schweizerische Kommission besucht Theresienstadt. 20.7. Maidanek von sowjetischen Truppen befreit. 20.7. Attentat auf Hitler gescheitert. 1945 26.1. Konzentrationslager Auschwitz befreit. 11.4. Buchenwald befreit. 6.4. Eine Kommission des Internationalen Roten Kreuzes besucht 19.4. Dachau befreit. 2.5. IRK übernimmt den Schutz des Lagers Theresienstadt. 8.5. Theresienstadt wird durch die Rote Armee befreit. Bedingungslose Kapitulation. Theresienstadt. Nach den Untersuchungen von Ulrike Migdal gibt es für die Bühnen am Abgrund keinerlei Zensur: „Aus dem Bewußtsein heraus, daß dies alles Todeskandidaten seien, gab man den Gefangenen in der winzigen Frist, die ihnen noch zugestanden wurde, Narrenfreiheit. Ob sie knapp vor ihrem Tode Heine rezitierten oder Goethe, ob sie Mahler spielten oder Beethoven, war dem SS-Personal völlig gleichgültig“.58 Was empfinden die Zuhörer, die Mozarts „Entführung aus dem Serail“ hören, Lessings „Nathan“ sehen? Man gibt Verdis „Requiem“, auch Eichmann gönnt sich die Abschweifung ins Kulturelle in Theresienstadt und ist mitten unter seinen Opfern. 1942 kreiert das tschechoslowakische Svenk -Kabarett in der Sudeten-Kaserne ein Lied, das später die Bezeichnung „Theresienstädter Marsch“ erhält. 58 Migdal, Ulrike, 1986, S. 31. 63 http://www.mediaculture-online.de Alles geht, wer's versteht, Faßt an Händen euch und seht, Böser Zeit zum Trutz Humor im Herzen haben, Jeder Tag, Schlag auf Schlag, Stets die Übersiedlungsplag' Und nicht mehr als 30 Worte für den Brief. Holla, morgen fängt das Leben an, Mit ihm beginnt die Zeit Da werd'n wir uns're Ranzen packen Und nachhause gehn befreit. Alles geht, wer's versteht. Faßt an Händen euch und seht, Und auf Ghettotrümmern lachen wir uns schief.59 Deportation und letzte Fahrt schrumpfen zur „Übersiedlungsplag“. Die Angst befreit sich im Lachen auf Trümmern, die die Kabarettisten beschwören. Das Hofer-Kabarett tritt allein 17 mal mit seinem Programm „Für Jugendliche verboten“ auf, die Ghetto-Swingers begleiten das Unternehmen. Die Komiker Ernst Morgan und Bobby John sind dabei, Berti Deutsch, Annie Frey und Lucie Hofer. Es gibt die Ensembles Lach mit uns, das Popper Kabarett, ein Frauenkabarett und nicht zuletzt Das Karussel unter Leitung von Kurt Gerron. Auf dieser Bühne sind die Songs aus der „Dreigroschenoper“ zu hören. Maceath trägt sein Messer im Namen der Gefangenen und rächt die Gepeinigten für Augenblicke. Der kunstvolle Protest wird nicht verboten. Die Schlächter goutieren die KunstNachrichten der Opfer als prickelnde Sensation, als eine genehmigte Verschwörung, die nach Belieben beendet wird, in Polen oder durch die lapidare Erschießung in der Garnison. Dank dem lieben Cabaret 59 Hippen, Reinhard, 1988, S. 178. 64 http://www.mediaculture-online.de Zur tausendsten Blockveranstaltung gewidmet dem Strauß-Ensemble Hungrig sitz ich auf der Leiter – Da erklingts auf einmal heiter, Wiener Walzer, Prager Weisen Und mein Herz geht gleich auf Reisen. In den Hof hinunter rasch, Daß ich noch ein Lied erhasch Fort ist meines Hungers Weh, Dank dem lieben Cabaret. Müde komm ich und verdrossen Abends von dem Dienst zurück Da, durchs Tor, nur halb geschlossen, Klingt entzückende Musik, Melodie auf Melodie, Dargereicht mit viel Esprit Fort ist bald des Tages Weh, Dank dem lieben Cabaret. Das sind unsre besten Truppen, Unsre braven Künstlergruppen. Durch der harten Zeiten Qual Tönt ihr Lied „Es war einmal“ Und die Herzen fallen ein „Es wird wieder einmal sein“, Fort ist unsrer Sehnsucht Weh, Dank dem lieben Cabaret. Frieda Rosenthal60 60 Migdal, Ulrike, 1986, S. 70f. 65 http://www.mediaculture-online.de Wir jagen die Zeit Wir jagen die Zeit, Drehen das Rad der Geschichte, Sie zieht durch Nebel Ein verwundetes Schiff. Hundert irreführende Lichter Erschweren uns den Weg. Hunderte Schwache Verlangsamen den Lauf, Das Schiff der Welt fährt Voll von Sterbenden. Das Ruder wollen wir, Wir kämpfen darum. Die morsche Welt Sträubt sich, Die Barrieren zu überwinden, Das Schiff schwankt, Die Maschine setzt aus, Die Angst vor Meuterei Baut einen Galgen am Bug, Allen den Mund stopfen Will der blutige Henker. Nur kurze Zeit habt ihr uns nicht gehört, Deshalb ist die Stimme nicht erschlafft. Das Schiff der Welt rettet Niemand vor dem Untergang Als wir und Die von uns erkämpfte Ordnung. Auf seinem Mast Hissen wir unsere Flagge. Sie können uns aufhalten, 66 http://www.mediaculture-online.de Doch nicht bezwingen. Der Kampf hört nicht auf, Das Deck kracht unter dem Balken, Unter dem Rad der Geschichte Hat nur der Schotter geknirscht. Wir gehen von neuem, Fester und stärker, Unser Werk noch besser zu verrichten. Karel Svenk, 1942 aufgeführt im KZ Theresienstadt61 Spuk in der Kaserne In einer Stadt, von allem abgeschlossen, In einem Land, das vielen heut noch fremd, In einer Welt, in der viel Tränen flossen, In einer Zeit, die alles in uns hemmt, Erscheinen wir in festlich hellem Rahmen, Vor Ihnen, meine werten Herrn und Damen. Den jungen Menschenkindern, die sich fanden Sie zu erfreuen, sei deshalb gedankt, Sie haben selbst schon viel zu gut verstanden, Was diese Zeit und was ihr Geist verlangt. Doch mit dem Rechte ihrer jungen Jahre Erblicken sie im Frohsinn nur das Wahre. Wer wollte ihnen auch das Recht bestreiten, Zu singen und im Tanze sich zu drehn, Der vielbeliebte Hinweis auf die Zeiten 61 Hippen, Reinhard, 1988, S. 181. 67 http://www.mediaculture-online.de War stets bei denen nur, die abseits stehn: Es läßt sich leicht von fern mit billgen Mitteln Verständnislos an einer Leistung kritteln. Sie haben sich nach ihren Arbeitsstunden Die Lieder und die Tänze einstudiert, Und echte Freude haben sie empfunden, Als man mit ihnen dieses Spiel probiert. Was so entstand - wer wollt es kritisch trennen -, Ist das Produkt von Wollen und von Können. Sie wollen Ihnen heute gar nichts zeigen, Sie spielen für sich selbst das kleine Spiel, Sie tanzen unbeschwert den muntern Reigen, Das Publikum bekümmert sie nicht viel, Wobei Sie keineswegs vergessen wollen, Den Beifall, den so gern man hört, zu zollen. Nun wird es Nacht, es leuchten schon die Sterne, Es schläft die Stadt, fast jede Arbeit ruht, Und nur ein Scherz, ein Spuk in der Kaserne, Dringt in die Stille, voller Übermut. Es geht ein Posten pflichtgemäß die Runde, Das Spiel beginnt, es schlägt die Geisterstunde. Manfred Greiffenhagen 1944 im KZ Theresienstadt vorgetragen62 Transport 62 Kühn, Volker, Kleinkunststücke, Bd. 3, S. 270. 68 http://www.mediaculture-online.de Nach hartem Kampfe mit den Elementen War Menschengeist der stolze Sieg geglückt, Mit der Verbindung zwischen Kontinenten Hat man nicht nur Entfernung überbrückt. Man maß im scharfem Wettbewerb die Kräfte, Man exportiert und reist von Land zu Land, Und dabei blühten nicht nur die Geschäfte, Man kam sich nah und reichte sich die Hand. Transport, Transport Von Ort zu Ort, Eilen die Wagen, sausen und jagen, Ohne zu rosten, von West bis Osten, Von Süd bis Nord Transport. Es brennt die Welt, es lodern die Flammen, Darin die Erde schaurig sich erhellt, Und krachend stürzt in Rauch und Glut zusammen, Was sich der Mensch erbaut als seine Welt. Was segensreich dem Frieden konnte dienen, Gibt seine Kraft nun der Zerstörung her, Im Tempokampf der Menschen und Maschinen Erzeugt der Krieg gesteigerten Verkehr. Transport, Transport In einem fort Rollen die Wagen, donnern und tragen Millionenheere von Meer zu Meere, Leistungsrekord! Transport. Wie häufig führte man das Wort im Munde. Wie ahnungslos sprach man es vor sich hin, 69 http://www.mediaculture-online.de Bis für alle kam die schwere Stunde, Da wir erfaßten seinen wahren Sinn. Man rollt die Decken, ein paar Abschiedsküsse, Ein rascher Händedruck, ein letzter Blick, Es dampft ein Zug hinaus ins Ungewisse, Und leere Schienen bleiben uns zurück. Transport, Transport, Kennst du das Wort, Kennst du die Wagen, hörst du die Klagen? Eh du begriffen, ist abgepfiffen, Und sie sind fort. Transport. Doch eines bleibt, es bleibt uns bis zum Tode, Das ist der Glaube, ihm gehört der Sieg, Einmal wird alles für uns Episode, Und einmal, einmal endet auch der Krieg. Wir fragen nicht nach Sieg und Niederlage, Wir fragen nur, wann kommt Ihr uns zurück? Wir Juden wolln den Frieden unsrer Tage Und irgendwo ein ganz bescheidenes Glück. Transport, Transport tönt's dann sofort! Wir sehen sie wieder, Schwestern und Brüder, Lachend und weinend sich wieder vereinend Am Schlußakkord Transport!! Manfred Greiffenhagen 1944 im KZ Theresienstadt vorgetragen63 63 Ebd., S. 294f. 70 http://www.mediaculture-online.de Manfred Greiffenhagen, der im Oktober 1944 nach Ausschwitz deportiert wird und schließlich im KZ Dachau ums Leben kommt, beschreibt die Intention der letzten Lieder vor dem Transport in den Tod. In Transport verweist der Autor auf eine Kunst, die nicht mehr auf das Publikum setzt. Die Gesänge im Schatten der SS und der Hinrichtungsmaschinerie sind in besonderem Maße Therapie im Dienste einer letzten Überlebensstrategie. Die Klage gegen die letzte Fahrt im Zug dient nicht mehr der Befriedigung eines satirisch disponierten Unterhaltungsbedürfnisses. Die kasernierten Opfer von Theresienstadt, Buchenwald oder Westerbork betreiben in der extremen Situation ein „psychodramatisches“ Schutztraining, das dem organisierten Wahnsinn der Bewacher mit Ernst und Würde begegnet. Wenn die unterernährten Gefangenen ein Potpourri aus dem Weißen Rössel intonieren, Villon-Balladen rezitieren oder Mozart spielen, dann sind die Artisten zugleich der Adressat. Die uniformierten Schlächter amüsieren sich an dem Spiel der Narren. Sie goutieren als wissende Bewacher die Endspiele vor Abfahrt der Viehwaggons nach Auschwitz. Ob Carmen, La Boheme, Die Fledermaus, ein Sketch oder Molieres George Dandin auf dem Programm steht, über die Gefangenen sagt dies nur wenig aus. Auch das scheinbar unverbindliche Unterhaltungslied aus Varieté und Operette rangiert in Theresienstadt in einem völlig neuen Kontext und evoziert dadurch Qualitätssprünge. Aus der belanglosen Unterhaltungskunst im bürgerlichen Rahmen entwickeln die Insassen die Kunst des Überlebens schlechthin. Hinter der blutrünstigen Haupt- und Staatsaktion von Rudolf Kalmar unter dem Titel „Die Blutnacht auf dem Schreckenstein oder Ritter Adolars Brautfahrt und ihr grausiges Ende oder Die wahre Liebe ist das nicht“64 verbirgt sich die historisch drapierte Abrechnung mit Adolf Hitler. Das „komisch-schaurige Ritterstück in drei Aufzügen mit Musik“ wird 1943 an sechs Wochenenden vor rund eintausend Häftlingen und „Ehrengästen“ der SS in Dachau gespielt. Den Peinigern fällt die intendierte Parodie auf den amtierenden Reichstyrannen freilich nicht auf. Die Ungeheuerlichkeit dürfen sich die Angesprochenen nicht eingestehen. Sie lachen „manchmal verlegen mit, wenn die Gefangenen lachten“, notiert der Autor in seinen Erinnerungen.65 Erwin Geschonneck - er überlebt das 64 Vgl. ebd., S. 310. 65 Zitiert ebd., S. 365. 71 http://www.mediaculture-online.de Konzentrationslager - spielt 1943 in Dachau den mythischen Blutritter Adolar. Rudolf Kalmar bemerkt zu dem Auftritt Geschonnecks vor der Wachmannschaft: „Er hielt sich in der pompösen Aufmachung seiner Raubritterrolle Wort für Wort an den genehmigten Text und vermied - wie alle übrigen Mitglieder - jedes anzügliche Extempore. Aber er betonte in seinen Tiraden die Zeitwörter gegen den inneren Sinn der jeweiligen Phrase und ritardierte komplizierte Perioden, um sie plötzlich gegen den Schluß mit dem aufgeregten Fortissimo eines wütenden Hundes herauszubellen. Anstatt Soldaten sagte er beharrlich Soldatten und unterstrich bei passendem Anlaß auch noch durch hämmernde Gesten mit geballter Faust, was ihm aus der Sprachparodie allein nicht deutlich genug zu sein schien. Der Adolar des Erwin Geschonneck war die Hitler-Persiflage einer Pfeffermühle im Konzentrationslager und wurde von den Gefangenen auch als solche erkannt.“66 Die Zauberflöte, Aida oder das berühmte Lied der Moorsoldaten - im August 1933 ist die Uraufführung im Konzentrationslager Börgermoor im Rahmen der Kabarettveranstaltung „Zirkus Konzentrazani“, 1000 Häftlinge hören zu - markieren an diesen Stätten keinen Gegensatz zwischen erhabener Kunst und Liedgut der Unterdrückten. Im dialektischen Brückenschlag ist das Wertekorsett zwischen ernster und unterhaltlich „leichter“ Kunst im Lager aufgehoben. Die Kategorien oben und unten, bildend und erhebend, haben unter den Bedingungen der Todeslager ihre normierende Wirkung eingebüßt. Es zählt vor Abfahrt des Zuges nach Auschwitz allein die Hoffnung auf Veränderbarkeit. Die Lieder der Verzweifelten sind Klänge, die auf den neuen Morgen setzen. Resignation gibt es, aber sie hat nicht das letzte Wort. Witz und selbstkritischer Humor transzendieren das Elend, schaffen mit an einer konkreten Friedensutopie. Eines der frühesten Lieder gegen den Nazi-Terror ist aus dem Lager Heuberg in Württemberg überliefert. Das Lied entsteht 1933. Auf dem Heuberg sind vor allem Sozialdemokraten und Kommunisten festgehalten. Neben den Moorsoldaten erlangt das Dachau-Lied von Jura Soyfer große Popularität. Das Lied ist im August 1938 erstmals zu hören, geschrieben an einem schweren Arbeitstag, als der Literat und Kabarettist zusammen mit dem Komponisten Herbert Zipper in der Kiesgrube Dienst leistet. Im März 1940 steht das Lied im Londoner Exil-Kabarett Laterndl auf dem Programm. Jura Soyfer stirbt im Februar 1939 im KZ Buchenwald - „Typhus“ lautete die offizielle Diagnose. 66 Ebd. 72 http://www.mediaculture-online.de Dachau-Lied Stacheldraht, mit Tod geladen, Ist um unsre Welt gespannt. Drauf ein Himmel ohne Gnaden Sendet Frost und Sonnenbrand. Fern von uns sind alle Freuden, Fern die Heimat und die Fraun, Wenn wir stumm zur Arbeit schreiten, Tausende im Morgengraun. Doch wir haben die Losung von Dachau gelernt, Und wir wurden stahlhart dabei. Bleib ein Mensch, Kamerad, Sei ein Mann, Kamerad, Mach ganze Arbeit, pack an, Kamerad: Denn Arbeit, denn Arbeit macht frei, Denn Arbeit, denn Arbeit macht frei! Vor der Mündung der Gewehre Leben wir bei Tag und Nacht. Leben wird uns hier zur Lehre, Schwerer, als wir's je gedacht. Keiner mehr zählt Tag' und Wochen, Mancher schon die Jahre nicht. Und so viele sind zerbrochen Und verloren ihr Gesicht. Doch wir haben die Losung von Dachau gelernt, Und wir wurden stahlhart dabei. Bleib ein Mensch, Kamerad, Sei ein Mann, Kamerad, Mach ganze Arbeit, pack an, Kamerad: Denn Arbeit, denn Arbeit macht frei, 73 http://www.mediaculture-online.de Denn Arbeit, denn Arbeit macht frei! Heb den Stein und zieh den Wagen, Keine Last sei dir zu schwer. Der du warst in fernen Tagen, Bist du heut schon längst nicht mehr. Stich den Spaten in die Erde, Grab dein Mitleid tief hinein, Und im eignen Schweiße werde Selber du zu Stahl und Stein. Doch wir haben die Losung von Dachau gelernt, Und wir wurden stahlhart dabei. Bleib ein Mensch, Kamerad, Sei ein Mann, Kamerad, Mach ganze Arbeit, pack an, Kamerad: Denn Arbeit, denn Arbeit macht frei, Denn Arbeit, denn Arbeit macht frei! Einst wird die Sirene künden: Auf zum letzten Zählappel! Draußen dann, wo wir uns finden, Bist du, Kamerad, zur Stell. Hell wird uns die Freiheit lachen, Schaffen heißt's mit großem Mut. Und die Arbeit, die wir machen, Diese Arbeit, sie wird gut. Denn wir haben die Losung von Dachau gelernt, Und wir wurden stahlhart dabei. Bleib ein Mensch, Kamerad, Sei ein Mann, Kamerad, Mach ganze Arbeit, pack an, Kamerad: Denn Arbeit, denn Arbeit macht frei, 74 http://www.mediaculture-online.de Denn Arbeit, denn Arbeit macht frei! Text Jura Soyfer, Melodie Herbert Zipper Konzentrationslager Dachau 193867 Bertolt Brecht erinnert in seinem Gedicht „An die Nachgeborenen“ 1938 in der Svedenborger Emigration, daß der Kampf gegen die Ungerechtigkeit in der Welt die Züge der Menschen verzerre. „Auch der Haß gegen die Niedrigkeit / Verzerrt die Züge. / Auch der Zorn über das Unrecht / Macht die Stimme heiser“, heißt es dort. Jura Soyfer greift etwa zur selben Zeit wie Brecht - das Motiv auf: Die Diktatur des Konzentrationslagers gefährdet im Kampf um das Überleben auch die Integrität und Würde der Inhaftierten. Ein von der SS installiertes Subsystem der internen Bespitzelung und Überwachung der Gefangenen untereinander - verbunden mit kurzfristigen Privilegien und vermeintlichen Vorteilen für die Blockältesten, Kolonnenführer usw. - sät Mißtrauen und Haß unter den Inhaftierten. Es gibt zahlreiche Berichte, die dieses perfide System des sozialdarwinistischen Überlebenskampfes im Konzentrationslager beschreiben. Im Vernichtungskampf der Bewacher gegen jüdische Mitbürger und andere Opfer gehört die interne Bedrohung der Gefangenen zum Kalkül der bestallten Mörder. Sich auf dieses zerstörerische Spiel nicht einzulassen, das ist die entscheidende und Mut machende Botschaft im Dachau-Lied. Wer das mörderische Spiel durchschaut, dem kann die beispiellose Provokation am Lager-Tor - „Arbeit macht frei“ - nicht mehr viel anhaben. Der bösen Einladung der Nazis zu Verstümmelung und Tod durch Arbeit wird im sarkastischen Zitat die Spitze gebrochen. Der Hohn der Schlächter wird produktiv umgemünzt, der Satz seiner Intention entkleidet und mit neuem Mut zum Leben, zum Überleben gewendet. Für ein aufatmendes Lachen lassen die Verse keinen Spielraum. Es sind kleine literarische Bojen, begründete Versprechungen für eine freilich noch uneingelöste angstfreie Zukunft ohne Gaskammern. Dort, wo satirische Brechungen durchschimmern - eher verhalten denn lautstark polternd -, gilt auch das Wort von Alfred Polgar. Er schreibt 1938: „Der rechte Satiriker zieht, was er ins Lächerliche zieht, mit dem gleichen Griff auch ins 67 Soyfer, Jura, 1980, S. 246. Die Losung „Arbeit macht frei“ stand in großen Lettern über dem Eingangs tor zum Konzent r a ti on slager. 75 http://www.mediaculture-online.de Ernstere.“68 Jura Soyfer zeigt zusammen mit Herbert Zipper solch ein Zusammenspiel von Spott und Nachdenklichkeit. Leo Strauß, der Sohn des Operetten-Komponisten Oscar Strauß, persifliert in Theresienstadt vor seinem Abtransport im Oktober 1944 nach Auschwitz das gespenstische Leben der Potemkinschen KZ-Garnison. Der Schrecken meldet sich verschlüsselt zu Wort, das Vertraute ist Maske, ein Spiel von Figuren und Marionetten rollt in der Garnison ab. Die unschwer zu vollziehende Dechiffrierung entlarvt ein Gemeintes als Fassaden-Wirklichkeit. Das Cafe ist eine installierte Fata Morgana, die Menschen dieser Geisterstadt bewegen sich im Irrealis, sie täuschen sich Vergangenheit und Zukunft in ungesicherten Projektionen vor. Gefährdungen, die Jura Soyfer beschrieben hat, Verlust der Mitmenschlichkeit, sie tauchen auch in diesem Chanson auf. Die Stadt ist „als ob“, die Menschen sind Opfer lancierter Gerüchte. Die Realität liegt außerhalb der Umzäunung, die Welt spult sich wie bei der Ufa in Babelsberg als Film ab. Irgendwo draußen, fern ab von der Geisterstadt Als-Ob, gibt es die geahnte Schreckensbühne. Dort gibt es Gleise, Bahnhöfe, den Prellbock, Schornsteine. Das Kabarett-Lied erlangt in Theresienstadt große Popularität und ist ein anrührendes Kabinettstück der artistischen Camouflage, der enthüllenden Aussparung. Als ob Ich kenn ein kleines Städtchen, Ein Städtchen ganz tipptopp, Ich nenn es nicht beim Namen, Ich nenns die Stadt Als-ob. Nicht alle Leute dürfen In diese Stadt hinein, Es müssen Auserwählte 68 Zitiert in: Budzinski, Klaus, 1985, S. 219. 76 http://www.mediaculture-online.de Der Als-ob-Rasse sein. Die leben dort ihr Leben, Als obs ein Leben wär, Und freun sich mit Gerüchten, Als obs die Wahrheit wär. Die Menschen auf den Straßen, Die laufen im Galopp Wenn man nichts zu tun hat, Tut man doch so als ob. Es gibt auch ein Kaffeehaus Gleich dem Cafe de l'Europe, Und bei Musikbegleitung Fühlt man sich dort als ob. Und mancher ist mit manchem Auch manchmal ziemlich grob Daheim war er kein Großer, Hier macht er so als ob. Des Morgens und des Abends Trinkt man Als-ob-Kaffee Am Samstag, ja am Samstag, Da gibts Als-ob-Haché. Man stellt sich an um Suppe, Als ob da etwas drin, Und man genießt die Dorsche Als Als-ob-Vitamin. Man legt sich auf den Boden, 77 http://www.mediaculture-online.de Als ob das wär ein Bett, Und denkt an seine Lieben, Als ob man Nachricht hätt. Man trägt das schwere Schicksal, Als ob es nicht so schwer, Und spricht von schöner Zukunft, Als obs schon morgen wär. Leo Strauß Konzentrationslager Theresienstadt, 194369 Karussell In den lang entschwundenen Jahren, Da wir kleine Kinder waren, Hatten wir ein Ideal. Wollt man Ruhe in der Wohnung Oder gab es als Belohnung Ein Geschenk nach unserer Wahl, Riefen alle Kinder schnell: Karussell, ach bitte, bitte, Karussell... Wir reiten auf hölzernen Pferden Und werden im Kreise gedreht. Wir sehnen uns, schwindlig zu werden, Bevor noch das Ringelspiel steht. Das ist eine seltsame Reise, Das ist eine Fahrt ohne Ziel Wir kommen nicht fort aus dem Kreise Und dennoch erleben wir viel. 69 Kühn, Kleinkuns t s t üc ke, Bd. 3, S. 273f. 78 http://www.mediaculture-online.de Und die Musik vom Leierkasten Vergessen wir im Leben nie, Wenn lang die Bilder schon verblaßten. Tönt noch im Ohr die Melodie: Wir reiten auf hölzernen Pferden Und werden im Kreise gedreht. Wenn schwindlig wir haltmachen werden, 9.9.1944 Sehr geehrter Herr Eppstein! Darf ich Sie daran erinnern, morgen bei der Dienststelle folgende Fragen zu klären: 1. Wann können wir in C III, 105 die „Karussell“-Dekoration aufbauen. 2. Wird der neue Prolog gestattet? 3. Werden weiterhin gestattet: Das Kasernenlied, die 2 französischen Refrains und das neue Finale: „Ein Glück, wenn man keins hat“, dessen letzte Strophe noch nicht genehmigt ist. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn wir morgen mittag eine Antwort bekommen könnten. Ergebenst: (gez.) Kurt Gerron70 Dann wird man erst sehn, wo man steht. Leer ist meistensteils das Leben Und erst Leidenschaften geben Seinem Ablauf Sinn und Wert. Ehrgeiz, Börse, Lotterbetten, 70 Zitiert in: Hippen, Reinhard, 1988, 5.184; auch in Adler, H.G. Nachgewiesen. Gerrons Brief ist an den Judenältesten gerichtet. 79 http://www.mediaculture-online.de Kino, Fußball, Zigaretten Jeder hat sein Steckenpferd. Laßt uns unsre Sensation: Illusion, ach bitte, bitte, Illusion ... Wir reiten auf hölzernen Pferden Und werden im Kreise gedreht. Wir sehnen uns, schwindlig zu werden, Bevor noch das Ringelspiel steht. Das ist eine seltsame Reise, Das ist eine Fahrt ohne Ziel Wir kommen nicht fort aus dem Kreise Und dennoch erleben wir viel. Und die Musik vom Leierkasten Vergessen wir im Leben nie, Wenn lang die Bilder schon verblaßten, Tönt noch im Ohr die Melodie: Wir reiten auf hölzernen Pferden Und werden im Kreise gedreht. Wenn schwindlig wir halt machen werden, Dann wird man erst sehn, wo man steht. Menschen haben Ambitionen Selbst, wenn sie im Elend wohnen, Wollen sie was Beßres sein. Hat auch keiner was zu reden, Ist's doch ein Genuß für jeden, Mit noch Ärmeren zu schrein: Hört ihr das Gespensterlied: Unterschied, ach bitte, bitte, Unterschied... 80 http://www.mediaculture-online.de Wir reiten auf hölzernen Pferden Und werden im Kreise gedreht. Wir sehnen uns, schwindlig zu werden, Bevor noch das Ringelspiel steht. Das ist eine seltsame Reise, Das ist eine Fahrt ohne Ziel Wir kommen nicht fort aus dem Kreise Und dennoch erleben wir viel. Und die Musik vom Leierkasten Vergessen wir im Leben nie, Wenn lang die Bilder schon verblaßten, Tönt noch im Ohr die Melodie: Wir reiten auf hölzernen Pferden Und werden im Kreise gedreht. Wenn schwindlig wir haltmachen werden, Dann wird man erst sehn, wo man steht. Leo Strauß, 1944 im KZ Theresienstadt vorgetragen71 Karussell, das anspruchvollste Kabarett in der KZ-Garnison, schart auf seinen Brettern die hellsten Köpfe, Kritiker und Künstler. Stalingrad ist längst gefallen, die Gegenoffensiven aus Ost und West rollen. Die Gefangenen in der Theresienstädter Scheinwelt ahnen von der Wende der politischen Lage nur Unbestimmtes. Leo Strauß läßt in seinem KarussellLied zum schaurigen und ungewissen Finale aufspielen. Hölzerne Pferde jagen die Opfer als Spielball und Marionette im Kreis. Auf dem Jahrmarkt regieren Ohnmacht und Illusion. Die Triebkräfte des Bösen, die solch mörderisches Spiel veranlassen, bleiben im dunkeln. Zum danse macabre trifft man sich im Kabarett und auf dem Rummelplatz des Leo Strauß. Er kann keine Hoffnungen machen, er weiß nicht, wie lang das Uhrwerk funktioniert. Sein Lied und Couplet über die 71 Kühn, Kleinkunststücke, Bd. 3, S. 287f.; Hippen, R., 1988, S. 183f. 81 http://www.mediaculture-online.de Gespensterstadt dient kaum der Unterhaltung. Es sind Strophen, gesungen am offenen Grab - für die Künstler, die gebetenen und ungebetenen Gäste im Saal. Im Zug nach Auschwitz hocken sie dann nebeneinander, die Sänger und Besungenen. Der letzte Transport nach Auschwitz mit 2038 Gefangenen verläßt am 28. Oktober 1944 das „Vorzeige-Ghetto“. Kurt Gerron, Leo Strauß und seine Frau Myra sind darunter, viele andere Künstler und Namenlose mit dem Stern müssen mit auf die letzte Reise nach Polen. Die Doppelgesichtigkeit in dem Wartesaal zum Tod hat Leo Strauß in dem Sketch zweier Damen - zwischen einer vermeintlich Wissenden und einer im Ghetto gerade Ankommenden - unter die Lupe genommen. Der Refrain spiegelt gestanzte NSPropaganda und enttarnt die Sprache der Bewacher. ERSTE DAME kommt im Reisekleid mit Plaid und Vogelkäfig Ich komm grad herein vom Land, Bin hier gänzlich unbekannt, Sagen Sie mir, wo ich hier Mich am besten informier ZWEITE DAME im Putzkolonnen-Overall kehrt nachlässig die Straße Wollen Sie über mich verfügen, Steh zu Diensten mit Vergnügen, Als alter Wien-Transport Kenn ich ganz genau den Ort Theresienstadt, Theresienstadt, Ist das modernste Ghetto, das die Welt heut hat. Sagen Sie, wie kommt das bloß, Gestern noch ganz stemelos, Bin ich heute schon inmitten Lauter polnischer Semiten? Mancher, der die Nase rümpft, Will sich tarnen, wenn er schimpft, Drum frag ich ganz unverhohlen, Gehörn Sie zu den Tarnopolen? Theresienstadt, Theresienstadt, Ist das antisemitischste Ghetto, das die Welt heut hat. Ist das Klima hier gesund? Oder geht man hier zugrund? Ist das Mittagessen reichlich? Ist hier Krankheit unausweichlich? Kost ist knapp für starke Esser, Für die Kranken sorgt man besser, Will man stets gesund hier bleiben, Muß man dauernd krank sich schreiben. 82 http://www.mediaculture-online.de ERSTE DAME ZWEITE DAME Theresienstadt, Theresienstadt, Ist das humanste Ghetto, das die Welt heut hat. Also nicht genug zum Essen. hat man uns denn ganz vergessen? Ist das meines Lebens Schluß, Daß ich hier verhungern muß? Bitte, schweigen Sie sofort! Hunger ist ein garstig Wort. Hier benennt man diese Chose Vornehm Avitaminose. Theresienstadt, Theresienstadt, Ist das vornehmste Ghetto, das die Welt heut hat. Wer besorgt mir mein Logis, Ganz bescheiden, wissen Sie, Zimmer, Küche, Kabinett, Aber ruhig, sauber, nett? Mit ein wenig Phantasie, Meine Gnädge, träumen Sie Von Zimmer, Küche, Kabinett Auf dem obern Cavalett. Theresienstadt, Theresienstadt, Ist das verträumteste Ghetto, das die Welt heut hat. Richtig, eh ich dran vergeß, Wie stehts hier mit Evening-Dress? Muß ein Mann, so möcht ich fragen, Abends einen Frack hier tragen? Meistens geht man hier salopp, Und nur manche tun als ob. Schmücken sich je nach Geschmack, Mein Mann geht hier nur als Wrack. Theresienstadt, Theresienstadt, Ist das mondänste Ghetto, das die Welt heut hat. Ich bin zwar recht abgespannt Von der Reise in dies Land, Dennoch möchte ich mich bequemen, Heute noch ein Bad zu nehmen. Gehn Sie nur direkt nach Haus, Schlafen Sie sich richtig aus, Denn die ersten Badekarten Können Sie im Mai erwarten. Theresienstadt, Theresienstadt, Ist das hygienischste Ghetto, das die Welt heut hat. Ach, noch etwas, mein Gepäck Ist zum größten Teile weg, Sagen Sie mir bitte an, Wie ichs holen lassen kann. Lassen Sie das Zeug nicht holen, Denken Sie sich, Gott befohlen, Jeder Schritt ist für die Katz, Und Sie haben doch eh kein Platz. 83 http://www.mediaculture-online.de ERSTE DAME ZWEITE DAME Theresienstadt, Theresienstadt, Ist das kulanteste Ghetto, das die Welt heut hat. Apropos, ich möchte morgen Vogelfutter hier besorgen, Ach, mein Vogel braucht Diät, Frißt nur prima Qualität. Dafür gibts hier kein Import, Gebens rasch den Vogel fort, Wer hier einen Vogel hat, Ist Cvokárna-Kandidat. Theresienstadt, Theresienstadt, Ist das verzwockteste Ghetto, das die Welt heut hat. Sagen Sie mir noch zum Schluß, Was ich dringend wissen muß, Denn ich will nach Hause schreiben. Wie lang werden wir hier bleiben? Ja, da kann man sich nur richten Nach den neuesten Berichten. Heute hört ich beispielsweise Musik übertönt ihre Worte Theresienstadt, Theresienstadt, Ist das informierteste Ghetto, das die Welt heut hat! Leo Strauß72 In Buchenwald, Westerbork, Dachau oder Theresienstadt singen Gefangene gegen ihre Mörder, hier dichten, tanzen und steppen sie. Es ist der historisch singuläre Versuch, unter der Herrschaft der SS sich Menschenwürde zu bewahren. Während im zerfallenden Imperium nur noch Frontkabarettisten mit ihrem fragwürdigen Durchhalte-Humor geduldet sind, intonieren die Theresienstädter Narren ihr Lied als ein vielschichtiges Couplet der Entrechteten. Komik pervertiert in Bitterkeit, Zorn über die Wächter sucht sich die Sklavensprache der Allusionen und Andeutungen. Es bedarf des gezielten Winks, des kabarettistischen Kassibers, um sich in den Kasematten von Theresienstadt zu verständigen. Erst als die verheerenden Bombennächte über Deutschland anbrechen, Hamburg, Dresden und Stuttgart in Trümmern liegen, wagen sich nach und nach aus der Asche der Städte anonyme Spötter ans Licht. Die satirischen Partisanen riskieren viel, leben aber immerhin in Freiheit. Flugblätter aus unbekannter Hand verhöhnen den „Erlaß des Führers über die Bildung des deutschen Volkssturms“ vom 25. September 1944. 72 Ebd., S. 272f. 84 http://www.mediaculture-online.de Leg weg das Strickzeug, liebe Olga, und hör auch du her, Klaus, mein Sohn; wir kämpfen nicht mehr an der Wolga, wir fechten an der Neiße schon. Vom Nil zum Rhein, vom Don zur Planke mit Sack und Pack und Flak und Pferd, welch niederschmetternder Gedanke: der Krieg ist heim ins Reich gekehrt. Wie anders kam es, als ich dachte, Schatz, reich mir deine weiße Hand, wir fahren in den Abgrund sachte und nicht mehr gegen Engeland. Nach Rache und Vergeltung lechz' ich, drum auf zum Volkssturm, lieber Klaus! Du bist erst zwölf, ich sechsundsechzig, doch sehn wir fast wie Männer aus. Und du, mein Weib - als Ehrengabe sei dir der Spaten anvertraut. O Olga, schippe, schanze, grabe, ganz Deutschland ist auf Sand gebaut. Gebiete, Teure, deinen Tränen, wenn du auf deinen Garten schaust. Ich knirsch' mit meinen letzten Zähnen und ball' vor Wut die Panzerfaust. Laßt uns die Gartentür verriegeln, 85 http://www.mediaculture-online.de dann werfe ich mich in den Schmutz. Ich bin bereit, mich einzuigeln, Gemeinnutz geht vor Eigennutz. So wollen wir den Feind erwarten, des Führers letztes Aufgebot, durch Panzerschreck im Schrebergarten zum Reichsfamilienheldentod. Wir hissen die zerfetzten Segel und wandern froh an Hitlers Stab Mit Mann und Maus und Kind und Kegel ins Massengrab, ins Massengrab. Anonym, 194473 Trauerarbeit und Restauration Erich Kästner gibt Nachhilfe Die Metropolen sind zertrümmert, Aufräumarbeiten in der verfilmten Propagandafeste Kolberg. Köln, Dresden, München verwüstet, apokalyptische Endzeit ohne Aussicht auf gestaltbare Zukunft. Hiroshima und Nagasaki, das sind die anderen Katastrophen und liegen weit entrückt vom deutschen Trümmerfeld. Die Sorge um das Brennholz und die Lebensmittelmarke wiegt schwer. Die Überlebenden im amputierten Reich sind mit sich selbst beschäftigt. Die Sieger schnüren das Korsett für die Besiegten. Kultur und das befreite Radio unterstehen den Kontrolloffizieren der Alliierten. Die Freiheit bemißt sich ganz selbstverständlich nach dem Freiheitsbegriff der militärischen Zensoren. Im September 1945 besteht in Hamburg das Ausgehverbot noch immer. Um 22 Uhr 30 ist Schluß der Vorstellung. In Turnhallen, die noch Fenster haben, gibt es 73 Zitiert in: Dokumentation: Das Dritte Reich, Bd. 4, 1984, S. 468. 86 http://www.mediaculture-online.de Theateraufführungen. Kirchen und Gemeindehäuser helfen im Dienste der neuen Trümmerkultur aus. Reeducation ist im Namen der ungewohnten Demokratie und der Alliierten angesetzt. Im Kino gehören Chaplins „Der große Diktator“, „Der Dritte Mann“ und Staudtes Defa-Produktion „Die Mörder sind unter uns“ zum Nachhilfeprogramm. Fragebögen über die nationalsozialistische Vergangenheit werden unters Volk gebracht. Radio und Wochenschau dokumentieren in Ton und Bild die Nürnberger Prozesse. Das Rote Kreuz fahndet nach den Verschollenen von Stalingrad. Die Opfer der Konzentrationslager, die gezeichneten Überlebenden, bleiben stumm. Sie haben keine Lobby und keine Stimme. Ein Unerschrockener, Eugen Kogon, bringt die Fratze des SS-Staats zu Papier, störend für alle Mitläufer, die von nichts gewußt haben wollen, entlarvend, aber nahezu folgenlos, für Täter, die sich bald wieder in deutsche Amtsstuben einnisten oder unter der Sonne Südamerikas ihr Heil suchen. „Mit vielen und mit Freunden zusammen hoffte ich, es werde, obschon einmalig in der Geschichte, aus kollektiver Moral Politik entstehen können. Ungeheuerlich war doch das Erlebte gewesen“74, darauf setzt in der Stunde Null der Gefangene von Buchenwald und spätere Herausgeber der legendären „Frankfurter Hefte“. Viele Menschen suchen den ethischen und moralischen Aufbruch, formulieren die Utopie eines sozial verantworteten Christentums aus neuer Perspektive. Die evangelische Kirche bekennt sich im Oktober 1945 beispielhaft zur geschichtlichen Schuld und Mitverantwortung im „Dritten Reich“. Aus dem Untergrund tauchen die unter dem Nationalsozialismus verfemten Dichter auf. Die Verbotenen und Illegalen von einst melden sich zu Wort. Günter Weisenbom, Carl Zuckmayer, Thomas Mann und Friedrich Wolf setzen auf die Zäsur. Der Appell an den neuen Menschen hat kein gesichertes und stabiles Forum. Das meiste bleibt im Vorläufigen. Der Applaus, wenn er denn kommt, ist eher bescheiden, und niemand schreit hurra. Die Prospekte für die Zukunft sind rar. Angst und Entsetzen sitzen noch im Nacken. Die Analyse des vergangenen Terrors ist einsamen Rufern überlassen, die das persönliche Versagen in der Vergangenheit nicht verschweigen und mit in das Kalkül des Wiederaufbaus integrieren. Die Mehrheit der Geschlagenen, die Millionen, sie schweigen indessen. 74 Kogon, Eugen, 1974. 87 http://www.mediaculture-online.de Ablenkung und Unterhaltung werden großgeschrieben, weiterhin. Erich Kästner, der „verbrannte Literat“, der sich mit Pseudonym und Glück bei der nationalsozialistischen Propagandamaschinerie der Ufa mit dem Drehbuch für Münchhausen (1942) durchmogelte, er ist jetzt im zerbombten München ein gefragter Texter für die kleinen und größeren Kabaretts. Dort kann sich literarischer Zeitgeist nach der Liszt-Fanfare im „Volksempfänger“ wieder melden. Zunächst verstohlen und zaghaft. Theateroffiziere kontrollieren den Nachkriegsspaß. Es herrscht ganz selbstverständlich und unwidersprochen Zensur im Namen der Demokratie und der Reeducation. Für drei Jahre, bis zur Währungsreform, bestimmt die Münchner Schaubude das kabarettistische Geschehen der Stadt. Im Theatersaal des Katholischen Gesellenvereins-Hauses ist am 21. April 1946 Premiere. Ursula Herking, Hellmuth Krüger, Karl John und Siegfried Lowitz treten hier auf. Um den Prominenten Erich Kästner versammeln sich Axel von Ambesser und Herbert Witt. Und hier singt die vierunddreißigjährige Herking Kästners „Marschlied 1945“. Zeitzeugen berichten von der „Betroffenheit“, die das Chanson unter dem Publikum auslöst. Der Dichter, der Komponist Edmund Nick und die Interpretin bewirken in der Stunde Null die Konvergenz zwischen Publikum und Bühne. Als zerlumpte Flüchtlingsfrau, mit Rucksack und Koffer bepackt, intoniert die Kabarettistin das Lied von Niederlage und Neubeginn. Jahre später heißt es in den Memoiren: „Schon nach den ersten drei Minuten war der Kontakt da. Als ich den letzten Ton des Marschliedes gesungen hatte, sprangen die Menschen von den Sitzen, umarmten sich, schrien, manche weinten, eine kaum glaubliche ‘Erlösung’ hatte da stattgefunden. Das lag nur zum kleinen Teil an mir, es war einfach das richtige Lied, richtig formuliert, richtig gebracht, im richtigen Moment! Das kommt selten vor, ist kaum zu wiederholen.“75 Die Musik, eher schlicht in seiner liedhaften bis „geschlagerten“ Melodie, untermalt mit eingängigen Klangmustern den Trauermarsch der gebeutelten Flüchtlingsfrau. Marschlied 1945 Prospekt: Landstraße. Zerschossener Tank im Feld. Davor junge Frau in Männerhosen und altem Mantel, mit Rucksack und zerbeultem Koffer. 75 Herking, Ursula, 1973, 5.121. 88 http://www.mediaculture-online.de 1. In den letzten dreißig Wochen zog ich sehr durch Wald und Feld. Und mein Hemd ist so durchbrochen, daß man's kaum für möglich hält. Ich trag Schuhe ohne Sohlen, und der Rucksack ist mein Schrank. Meine Möbel hab'n die Polen und mein Geld die Dresdner Bank. Ohne Heimat und Verwandte, und die Stiefel ohne Glanz, ja, das wär nun der bekannte Untergang des Abendlands! Links, zwei, drei, vier, links, zwei, drei – Hin ist hin! Was ich habe, ist allenfalls: links, zwei, drei, vier, links, zwei, drei – ich habe den Kopf, ich hab ja den Kopf noch fest auf dem Hals. 2. Eine Großstadtpflanze bin ich. Keinen roten Heller wert. Weder stolz, noch hehr, noch innig, sondern höchstens umgekehrt. Freilich, als die Städte starben ... als der Himmel sie erschlug ... zwischen Stahl- und Phosphorgarben damals war'n wir gut genug. 89 http://www.mediaculture-online.de Wenn die andern leben müßten, wie es uns sechs Jahr geschah – doch wir wollen uns nicht brüsten. Dazu ist die Brust nicht da. Links, zwei, drei, vier, links, zwei, drei – Ich hab keinen Hut. Ich hab nichts als: links, zwei, drei, vier, links, zwei, drei – ich habe den Kopf, ich hab ja den Kopf noch fest auf dem Hals! 3. Ich trage Schuhe ohne Sohlen. Durch die Hose pfeift der Wind. Doch mich soll der Teufel holen, wenn ich nicht nach Hause find. In den Fenstern, die im Finstern lagen, zwinkert wieder Licht. Freilich nicht in allen Häusern. Nein, in allen wirklich nicht... Tausend Jahre sind vergangen samt der Schnurrbart-Majestät. Und nun heißt's: Von vorn anfangen! Vorwärts marsch! Sonst wird's zu spät! Links, zwei, drei, vier, links, zwei, drei – Vorwärts marsch, von der Memel bis zur Pfalz! 90 http://www.mediaculture-online.de Spuckt in die Hand und nimmt den Koffer hoch. Links, zwei, drei, vier, links, zwei, drei – Denn wir hab'n ja den Kopf, denn wir hab'n ja den Kopf noch fest auf dem Hals! Marschiert ab. Erich Kästner, Musik von Edmund Nick vorgetragen am 21.4.1946 in der „Schaubude“76 „Marschlied 1945“ - das ist ein eruptiver Aufschrei der Herking, der auch in dem historischen Mitschnitt deutliche Spuren der Situaton von 1946 vermittelt. Der Schulterschluß der Ausgebombten und Flüchtlinge ist hier in der Reitmorstraße möglich, weil der Texter keine unbequemen Fragen nach Schuld und Mitverantwortung stellt. Krieg und Feuerhagel sind in der Sprache von 1945/46 auch bei dem kritischen Feuilletonisten des Münchner Blattes Die Neue Zeitung ein blindes Naturereignis. Kästner beschreibt in melancholischen Chiffren die Krise der demoralisierten Nation. Einer „SchnurrbartMajestät“ - in handlicher und faßbarer Form des Diminutivum - ist das angesprochene Publikum gefolgt. Die sprachlichen Figuren reflektieren das Entsetzen in verdaulichen Häppchen. Noch ist nicht die Zeit der Aufarbeitung, geschweige der „Bewältigung“ der Vergangenheit gekommen, auch nicht für den Kritiker Kästner. Die Trauer über den Verlust der Menschen und den Krieg ist allgemein. Der Mut für die Zukunft kommt aus der Vergangenheit, aus den Marschrhythmen, die ins Verderben geführt haben. Diese Sicht unterstellt dem Autor keinen militaristischen Gestus. Das Lied offenbart aber aus dem Abstand von nahezu fünfzig Jahren die Widersprüche und die Sprachlosigkeit gegenüber dem Elend der gerade überwundenen Diktatur. Die Flüchtlingsfrau Ursula Herking besingt mit trotziger Stimme die Leidensfähigkeit der Deutschen - ihres Publikums. Mehr noch: Die geschundenen Verlierer sind unvergleichlich, auch im Erdulden. „Wenn die andern leben müßten, wie es uns sechs Jahr geschah“, das sind Verse, die auf die besondere Leidensfähigkeit der Deutschen hinweisen. Der Verlust von Menschen, Haus und Hof hat 76 Kästner, Erich, 1959, S. 49f.; Budzinski, Klaus, 1989, S. 8f.; Kühn, Kleinkunststücke, Bd. 4, S. 29f.; Kabarett 1946-1969, CD 1, Nr. 1. 91 http://www.mediaculture-online.de auch bei Kästner (ganz konkret und wörtlich) fatale Ursachen, die außerhalb einer geschichtlichen Verantwortung liegen. Die Ursachenforschung begnügt sich hier in dem gefeierten Lied mit dem Anreißen von „deutschen“ Symptomen, beschreibt Schicksalsschläge der verhängten Art. Die Popularität des Chansons ist in diesem Sinne völlig einleuchtend, ja zwingend. Die Konvergenz von Tätern und Opfern, von Ausgebombten und Eroberern schafft nach dem Zusammenbruch dem bürgerlichen Kopf erst einmal Luft. Dabei liegt es Erich Kästner gewiß fern, die Nazis direkt oder indirekt zu exkulpieren. Das Chanson spiegelt aber gleichwohl die deutsche „Unfähigkeit zu trauern“, die von Alexander und Margarete Mitscherlich zwanzig Jahre später aufgedeckt wird. Kästners Abrechnung mit der Vergangenheit zählt fast alle Merkmale der kollektiven Entschuldung. Dazu heißt es später bei Mitscherlich: „Zu den Mitteln der Schuldleugnung gehört die seither häufig vertretene Auffassung, das Hereinbrechen einer Diktatur sei ein Naturereignis, das sich getrennt von Einzelschicksalen vorbereite und gleichsam über sie hinweggehe.“77 Ansprechend und melodisch gestaltet, vermittelt das „Marschlied 1945“ bei aller kritischen Intention des Autors vor allem Mitleidsaffekte für verschuldetes Elend. „Links, zwei, drei, vier“ ist ein böser und ein satirischer Refrain. Er reflektiert den Weg von der Pfalz bis zur Memel und zurück. Die Parole vom Wiederaufbau („nun heißt's von vorn anfangen!“) macht dem Publikum Mut, Mut für eine ganz und gar unbestimmte Zukunft. Daß es in der Realität - bei der Wiederbewaffnung, beim Ost-West-Konflikt - unverbesserliche geschichtliche Wiederholungen geben würde, dies steht 1946 noch nicht zu vermuten. Die Ohnmacht der melancholischen - mit hinreißendem Glissando gesungen -Argumente zeigt die vage Verbindlichkeit des kritischen Kopfes. Der kabarettistische Rückspiegel ist, wenn man so will, beschlagen. Mit den unbestimmten Konturen läßt sich ein angekränkeltes Nachkriegs-Gemüt vorerst beruhigen. In dieser Verschränkung von vermeintlicher Aufklärung und objektiven Blindflecken ist die Zeitgenossenschaft des Liedes aus der Reitmorstraße begründet. Zur Stunde Null ist es das Chanson par excellence. Der „Untergang des Abendlandes“ läßt 77 Mitscherlich, A. und M., 1990, S. 30. 92 http://www.mediaculture-online.de sich damit zeittypisch verkraften, ohne bindende Versprechen für einen qualitativen Neuanfang. Doch Kästner hat gelegentlich auch einen schneidenden, ja zynischen Zungenschlag. Freilich, der kabarettistisch getrimmte Zorn unterschlägt Ursache und Wirkung, vermischt das Symptom mit dem Bedingenden. Es entsteht dadurch für den Hörer und Zuschauer ein Irrgarten der verschiedensten Befindlichkeiten. Die Wut ist ehrlich, das allgemeine Schnauben über die Missetaten - die unbenannten - ebenfalls. Die Fragen nach dem Wieso und Weshalb bleiben unbeantwortet. Die Stimmung ist schlecht und ein bißchen traurig und misanthropisch. Und weil Taten und Untaten vielleicht doch einem zirkulärem Gesetz unterliegen, deswegen gibt es aus der Sicht des berufenen Pessimisten keine Perspektive für Besserung. Die nächste Völkerschlacht ist angesagt: Wir richten Deutschland jedesmal zugrund – Und dann kommt ihr und dürft es retten. Dann schaun wir zu und schimpfen euch Verräter und spotten all der Fehler, die ihr macht. Habt ihr das Land dann wieder hochgebracht, Entsenden wir die ersten Attentäter Und werben für die nächste Völkerschlacht! Soviel für heute, alles andre später.78 Mit diesem lustvollen „moralischen Pessimismus“ bespielt die Schaubude das Münchner Publikum. Kästner setzt auf die Kritik des Eulenspiegels, auf die unbestimmte Selbstheilung durch das satirische Wort, ohne daß die Bilder und Metaphern sich analytisch und notwendig zuspitzen. Die Klage bleibt drohend und doch allgemein. Was treibt also die spitze Feder des Satirikers im Jahre 1946? Kästner: „Satiriker können nicht schweigen, weil sie Schulmeister sind. Und Schulmeister müssen schulmeistern. Ja, und im verstecktesten Winkel ihres Herzens blüht schüchtern und trotz allem Unfug der Welt die törichte, unsinnige Hoffnung, daß die Menschen vielleicht doch ein wenig, ein ganz 78 Kästner, Erich, 1959, S. 104. 93 http://www.mediaculture-online.de klein wenig besser werden könnten, wenn man sie oft genug beschimpft, bittet, beleidigt und auslacht. Satiriker sind Idealisten.”79 Demokratisch - aber wie! Spötter wider die Reaktion 1947: Es ist die Geburtsstunde einiger Studentenkabaretts, des nonkonformistischen Spotts zwischen Mensa-Tischen und der Alma mater. Die Amnestierten heißt ein solcher Zusammenschluß an der Kieler Universität. Zunächst als „Reisekabarett“ mit literarischen und politischen Ambitionen gestartet, schicken sich Joachim Hackethal, Klaus Peter Schreiner, Walter Niebuhr und Ernst König an, hinter den Müll der braunen Vergangenheit und Gegenwart zu leuchten. Die Männer haben etwas zu sagen, es gibt auch reichlich zu beklagen. Den Namen legen sich die akademischen Kabarettisten in direkter Anspielung auf einem Erlaß der Alliierten zu: Diese verfügen im Sinne der bürokratischen Vereinfachung bei der „Entnazifizierung“ erst einmal, jeder habe als unbescholten und unbelastet zu gelten, der nach 1919 geboren ist. Auch das erfüllt den Tatbestand der „Gnade der späten Geburt“, ein Vorzug, von dem Jahrzehnte später der erste pfälzische Bundeskanzler mit Nachdruck sprechen wird. Das Eingangslied der Amnestierten - sie singen es in Cambridge und London, in Basel und in Skandinavien - kündet davon. 700.000 Reisekilometer legen die Kabarettisten bis zum Aus im Juni 1965 in Berlin zurück. Song der Amnestierten Unbelastet, Doch betroffen Von den letzten tausend Jahren, Hat man uns amnestiert, Doch die Deutschen 79 Ebd., S. 489. 94 http://www.mediaculture-online.de Nur die Deutschen? Sind von Nöten und Gefahren Immer noch nicht ganz kuriert. Wir können heute leicht begreifen, Was damals nicht ganz richtig war. Doch warum in die Ferne schweifen? Seht, das Übel liegt so nah! Man könnte alles auch ganz anders seh'n Was nützen Ideale, wenn andre drauf spazierengehen? Mit Witz allein ist es noch nicht getan! Noch ist es Zeit zur Therapie, Aber höchste Eisenbahn Joachim Hackethal, 194780 Immer wieder greift die Obrigkeit in das Kabarettgeschehen ein. Im April 1948 verbietet ein britischer Theateroffizier wegen einer pointierten Hitler-Szene das Programm. Günter Neumann, Chef der Insulaner in Berlin, übt in seinem Programm heftige Kritik an den sozialistisch angehauchten Nestbeschmutzern, und der VDS, der Verband Deutscher Studentenschaften, schließt Die Amnestierten 1950 aus dem Dachverband aus. Man untersagt den Profis von studentischer Seite das werbewirksame Attribut „Studentenkabarett“. Doch die eher kleinkarierten Nadelstiche lähmen die Arbeit der Truppe nicht, sie sind Teil eines realsatirischen Aspekts und künden von der Permanenz des zensorischen Kulturbetriebs, von einem verwalteten Kabarett, das sich der verschiedensten Zugriffe erwehrt. Ein Schuster, namens Krause, vergegenwärtigt bei den Amnestierten, im Wechsel mit einem „Zeit-Chor“, das Elend der Kriege. Der Krieg ist zum beklagenswerten Weltenschicksal verkommen, er kann wiederkehren. Der makabre Vergleich zwischen den Gliedern Krieg und Leben/ Prothese und Bein verrät die kritische Distanz zur Zeitgeschichte. Wie bei Erich Kästner bleibt es jedoch bei der allgemeinen Klage, die 80 Kühn, Volker, Kleinkunststücke, Bd. 4, S. 95; Kabarett 1946-1969, CD 1, Nr. 8. 95 http://www.mediaculture-online.de Ursachenforschung findet nicht statt. Der Text besagt, daß Krieg eine allemal „scheußliche Geschichte“ ist, mit der der Zuhörer dem Grunde nach nichts zu tun hat. „Die da oben“ haben das Elend ausgelöst, die andern haben es über sich ergehen lassen. Hier sind bereits viele Muster des Verdrängens und Vergessens angelegt. Es fehlt an einem analytischen Zugriff, an einer differenzierten Sprache und klarer Bildlichkeit. Immerhin, der Tod ist als numerische Größe aufgelistet. Im Namen der Militärs hat man bombardiert, präsentiert und liquidiert. Doch die Kritik nimmt sich aus heutiger Sicht eigentümlich kraftlos und unverbindlich aus. Die Szene bleibt - und das ist allemal zeittypisch für das Kabarett in Trümmern - im geschichtslosen Raum haften, auch wenn die Zahl der Toten von Weltkrieg zu Weltkrieg beträchtlich angewachsen ist. Krieg, das ist bei den Amnestierten zunächst ein unvermeidliches Desaster, aber nicht jede Kugel hat getroffen. Was gestern war, kann morgen wieder kommen, so lautet die triste Botschaft. Es ist ein Song der linken Melancholie, wie Walter Benjamin es für den Fall Erich Kästner beschrieben hat. Die Betrachtung des Reisekabaretts schafft immerhin ein wenig Luft fürs Überleben und das Arrangement mit dem Status quo. Kriege wird es immer geben Kriege werden immer sein. Denn der Krieg gehört zum Leben, wie die Prothese zu dem Bein! Stimmen: Präsentieren, schwadronieren bombardieren, liquidieren, triumphieren, salutieren, internieren und erfrieren, Kampf für kommende Generationen, Volkssturm, Kapitulationen, Massenaufgebote! Krause: 96 http://www.mediaculture-online.de Für 1914-1918: Zwei Millionen Tote! Für 1939-1945: Zehn Millionen Tote! So spielt man mit uns Heldenspiel, mal unten und mal oben. Die Regel ist nur zu bekannt, Gewinne stellt das Vaterland, man wird von selbst geschoben. Chor: Ein Volk von Spielern steht bereit. Entscheidend ist Geschicklichkeit. Der Einsatz ist gegeben: Er kostet nur das Leben! Krause: Na, eben! Die Amnestierten81 Im Kabarett der Stunde Null ist der Blick auf die Mittäterschaft im „Dritten Reich“ ein vermittelter. Das Klaglied über die Vermißten und Toten mündet oft in psychoanalytisch begründeter Entschuldung des eigenen Mittuns. Das Böse und die Verbrechen, das betrifft die „anderen“, verschmilzt zu einem Parameter, der als Selbstschutz außerhalb der persönlichen Einflußsphäre steht. Wo das Kabarett sich verantwortlich artikuliert, das plätschernde Gleichmaß der Unterhaltung meidet, da ist auch die beherzte Abrechnung mit den neofaschistischen Tendenzen, mit dem Tschingderrassabumm der Ewiggestrigen und den restaurativen Strömungen in der neuen Republik zu entdecken. Die Hinterbliebenen, das vagabundierende Reisekabarett aus Bad Reichenhall, erinnert in einem entsprechenden 81 Zitiert in: Budzinski, Klaus, Die öffentlichen Spaßmacher, 1966, S. 33f. 97 http://www.mediaculture-online.de Lied an den Fall Veit Harlan, den Regisseur der perfiden Propandafilme vor 1945, an die Riege der Film- und Theaterprominenz, die Stehaufmännchen, die mit der Nachsicht einer einäugigen Nachkriegsjustiz rechnen können. Ernst Leopold Stahl begeistert sich in der Zeitschrift Die Quelle über den Biß der Kabarettisten und bemerkt: „Man muß sich vorstellen, was es heißt: man führt uns zwei Stunden lang in der künstlerischen Übertreibung von Parodie und Satire Vorgänge und Tatbestände vor, von denen jeder ohne Ausnahme zum Heulen ist. Man bagatellisiert sie nicht, beschönigt nichts und schont niemanden und vermag doch mit einem tollen Galgenhumor eine Wirkung zu erzielen, die zugleich nach außen höchst heiter und nach innen tief ernst, will sagen nachdenklich stimmt. Das ist, mit zwei Worten, Aristophanisches Theater.(...) Auf einer über die Parteipolitik erhobenen Ebene geschieht eine demokratische Aufklärung und Erziehung des Volkes, die bisher in Deutschland von keiner Stelle aus wirkungsvoller, gescheiter, phantasiebegabter und unterhaltender durchgeführt worden ist.“82 Mit schwarzen Zylindern und violetten Mänteln ausstaffiert, verspotten die Künstler - sie verstehen sich als kabarettistisches Gesinnungskollektiv - den politischen und kulturellen Morast, den Sieger und Besiegte in großer Einmütigkeit pflegen. Die pädagogischen Moralisten erinnern und ziehen auf ihrer Bühne zur Verantwortung. Die braunen VIPs aus der Vergangenheit, die prominenten Mitläufer, die unter der Diktatur Kasse gemacht und von den Segnungen des Hakenkreuzes bestens gelebt haben, sie geben reichlich Stoff zum Lachen und Nachdenken. Schüttelgereimte Conférence Es geht ja schon vorwärts, im vierten Gang: Spruchkammern gehn auf Privilegiertenfang. Und die Bühnenwelt fühlt sich genesen: Was? Schauspieler Nazis? Nie gewesen! Man bat, daß die Kammer sich laß erweichen Und Frau Söderbaum spielt wieder Reichswasserleichen, 82 Stahl, Ernst Leopold, 1948, S. 118. 98 http://www.mediaculture-online.de Weil ihr Hermann einmal den Eh'ring gab, Lehnt doch keiner die Emmy Göring ab, Herr Krauss wird in Braus und Saus gegrüßt, Weil die bittersten Zeit uns Herr Krauss „gesüßt“. Es schöß wohl nur, wer ein Quängler war, Gegen Furtsbusch und Knappertswängler quer; Und wenn Zeugen sich wegen Herrn Wiemanns regen Auch Heinz Rühmanns und Johannes Riemanns wegen, Und wenn wieder Theater haben die Gründgens, Dann beweist das: hier liegen's begraben, die Hündgens! Doch da schon der alte Lärm anhebt, Auch wenn nicht mehr der wackere Hermann lebt, Da, um uns vor östlicher Macht zu beschützen, Schon der Ami beginnt, unsern Schacht zu benützen, Da es Männer schon gibt mit Verstümmlerhirnen Hinter den markigen Himmlerstirnen, Und da schon Demokraten wie Hitler schalten, Kann getrost seinen Mund jetzt der Schüttler halten!! Hermann Mostar83 Die kabarettistischen Attacken der Hinterbliebenen bleiben bis zu ihrem Abschied 1949 leidenschaftlich und scharf. Sie haben beileibe nichts von der Betulichkeit, die der Kabarett-Direktor in Wolfgang Borcherts Hörspiel und Theaterstück „Draußen vor der Tür“ (1947) anmahnt. Die Radio- und Bühnenfigur verlangt die wohlfeile Unterhaltung für das Publikum. Begriffe wie Kultur, Wahrheit und Schönheit dienen im Diskurs über die Qualität der kleinen Bretterkunst meist als Totschlag-Argumente der Obrigkeit und sind gegen das freie Wort gerichtet. Der CSU-Kultusminister Alois Hundhammer attackiert im Münchner 83 Zitiert in: Greul, Heinz, 1967, S. 385. Kristina Söderbaum war die Frau von NS-Regisseur Veit Harlan und spielte in zahlreichen Propagandafilmen mit, aufgrund melodramatischer Rollen auch „Reichswasserleiche“ genannt. Werner Krauss spielte in „Jud Süß“ die Hauptrolle. „Furtsbusch“ und „Knappertswängler“ zielt auf die Dirigenten Furtwängler und Knappertsbusch. Sie hofierten das NSSystem mehr oder minder offen. Auch Rühmanns Verhältnis zum NS-Staat ist zwiespältig. Er trennte sich von seiner jüdischen Frau und ließ sich für die Propaganda im Film einspannen. Hjalmar Schacht war enger Wirtschaftsberater Hitlers, im Nürnberger Prozeß 1946 dann freigesprochen. 99 http://www.mediaculture-online.de Mittag (25.7.47) Die Amnestierten als „Kulturschande“. Die Kieler Narren prangern die selektive Flüchtlingspolitik des Ministers respektlos an und verlieren das Wohlwollen des Politikers. Flüchtlinge können jetzt das bayerische Bürgerrecht erwerben. Auf zwei Arten, durch Auswandern oder durch Sterben.84 Der Krieg ist vorbei, Frieden eine ungesicherte Vision, und das militärische Denken ist keineswegs ausgerottet. Günter Neumann, der gelehrige Schüler des Werner Finck, verlacht in einer Kabarett-Revue mit dem Titel „Schwarzer Jahrmarkt“ den Militarismus, angereichert mit den „schmissigen“ Klängen der „Alten Kameraden“, Neumann, den später die Kritik „Frontkämpfer des Kalten Krieges“ tituliert, er findet im Umfeld des Kabaret Ulenspiegel zu einer kritischen Diktion und rundet die jüngste deutsche Zeitgeschichte zu einen packenden Panorama. Straßennamen stehen für Fakten zwischen Monarchie, Republik und Diktatur, und die Marschmusik, das klingende Spiel, schafft jene einfühlende Emotionalität, mit der sich die Kriegssehnsucht eines Offiziers desavouieren läßt. Der verknöcherte Militarist, er träumt gar vom Weltkrieg Nummer drei, er ist dem Spott preisgegeben und darf auf ein beifälliges Publikum rechnen. Im bloßstellenden Lachen wird seine unverbesserliche Sehnsucht nach Krieg symbolisch „vernichtet“, während der ängstliche Budenbesitzer in unschlüssiger Kumpanei auch die objektive Unsicherheit vieler aus dem Saal reflektiert. 15. Dezember 1947, Nürnbergerstraße 50 in West-Berlin, „Schwarzer Jahrmarkt“ im Ulenspiegel: Alte Kameraden Offizier (in Zivil mit Ledermantel und Schlapphut): 84 Zitiert in: Greul, H., 1967, S. 384. 100 http://www.mediaculture-online.de Saren Se ma - jibt's denn hier keene Schießbude? Man kommt ja ganz aus der Übung! Budenbesitzer: Schießbude is hier, mein Herr. Aber Schießen is nich mehr. Offizier: Nanu? Muß doch aber irjend'n Ersatz dafür jeben? Budenbesitzer: Sie können was einschmeißen. Sie kriegen 'ne Stoffkugel und töppern leere Konservenbüchsen runter. Macht auch ganz schön Krach. Offizier: Na ja - aber der richtije Jenuß isses nich! Budenbesitzer (mit leuchtenden Augen): Nee, Herr Oberstleutnant! Offizier (peinlich berührt): Sie kenn' mich? Budenbesitzer: Jawoll, Herr Oberstleutnant! Offizier: Rühren! Wo jedient? Budenbesitzer: In Ihrem Rrrrrrrement, Herr Oberstleutnant! Offzier: Rühren! Tja, soweit sind wir also jekommen. Nich mal jeschossen darf mehr werden. Und so was nennt sich nu Volksbelustigung! (Singt nach den Melodien des Marsches „Alte Kameraden“:) Ein Jewehr ham wir leider heut nich' mehr, und wir schmeißen doch die Flinte nich' ins Korn! Budenbesitzer: 101 http://www.mediaculture-online.de Jawoll, Herr Oberstleutnant Offizier: Zwei, drei Zeil'n, und wir wer'n zur Fahne eil'n, janz ejal zu welcher, und bejinn'von vorn! Budenbesitzer: Jawoll, Herr Oberstleutnant! Offzier: Wort wie LKW und PKW, Dienstbefehl und Einsatz sind noch nich' entfernt! Budenbesitzer: Jawoll, Herr Oberstleutnant! Offizier: Noch sind wir schwach nich' jeworden, noch sind die Tage der Orden, wir stehn ohne Jewähr bei Fuß, jelernt is jelemt! (Er flaniert nach alter Operettenart grüßend über die Bühne:) Noch jibt's den Kaiserplatz, Wilhelmplatz, Lützowplatz, Herrmannplatz Kronprinzenallee! Kaiserdamm, Preußenpark, Friedrichstadt, Bismarckplatz und den Schlachtensee, noch jibt's die Kanonierstraße, die Jrenadierstraße, 102 http://www.mediaculture-online.de den Hohenzollemplatz! Da komm'se wieder an mit Stresemann, alles für die Katz! Augen gradeaus! (Er legt Hut und Mantel ab. Darunter kommen Pickelhaube und ordenschwere Litewka zum Vorschein. Er klimpert mit den Orden und beginnt wie ein Irrsinniger im Stechschritt auf der Stelle zu marschieren.) Unsre Zeit is' nich' vorbei! Budenbesitzer (besorgt): Sei'n Se doch bloß vorsichtig! Offizier: Wir sind noch da wie einst im Mai! Budenbesitzer: Sei'n Se doch bloß vorsichtig! Offizier: Erst kam Weltkrieg eins und zwei Budenbesitzer: Sei'n Se doch bloß vorsichtig! Offizier: Doch aller juten Dinge sind drei! Budenbesitzer: Sei'n Se doch bloß vorsichtig! Offizier: Demokratie - janz jut und schön, Budenbesitzer: Sei'n Se doch - ach was! (Er marschiert begeistert mit.) 103 http://www.mediaculture-online.de Offizier: Bloß 'n Führer müßte oben stehn! Was fängt man an als deutscher Mann, solang' man keinem treu jehorchen kann! Günter Neumann, 194785 Am 30. September 1946 enden die Nürnberger Prozesse, der „größte“ Strafprozeß der Geschichte, wie die Alliierten betonen. Doch die zwölf Todesurteile bemänteln letztlich die gescheiterte „Denazification“- so der englische Begriff-, das große juristische Aufräumen mit der Vergangenheit. Bis Ende 1949 finden 2,5 Millionen Überprüfungen durch die zuständigen Spruchkammern in den drei Westzonen statt. 1,4% der Überprüften rangieren als „Hauptschuldige“ oder „Belastete“, 9,4% als „Minderbelastete. 54 % der untersuchten Fälle erhalten den Stempel „Mitläufer“ und nicht einmal 0,6 Prozent gelten als zweifelsfrei „entlastet“, als Gegner des Naziregimes. Trotz des gewaltigen publizistischen Aufwands, mit dem die Prozesse aufgerollt werden, ist das Trommelfeuer der Presse und Justiz bei der „Aufarbeitung“ von zweifelhaftem Erfolg gekrönt. Die Richter des „Dritten Reiches“ bleiben gänzlich ungeschoren und haben schon nach wenigen Jahren ihre Schäfchen wieder im Trockenen. Die Herren Globke, Kiesinger, Filbinger oder auch Gerstenmaier, sie alle demonstrieren mit Geschick und Raffinement, wie sich Karrieren trotz brauner Vergangenheit mühelos wieder planen und einrichten lassen.86 Und wenn, Jahrzehnte später die „Großkopfeten“ dann doch ein später politischer Sturz ereilt, dann haben die Täter und ehemaligen Blutrichter in aller Regel, wie einst die Nomenklatura im Nürnberger Gerichtssaal oder, später, die Stasi-Schergen und Mauerschützen, ein schlechtes Gedächtnis. Der Kabarett-Autor Horst Lommer beschreibt die Nürnberger Vergeßlichkeit, die retrograde Amnesie der Nazi-Größen vor den Schranken des Gerichts, und Hellmuth 85 Kabarett 1946-1969, CD1, Nr.5; Text in:Kühn, Volker, Kleinkunststücke, Bd. 4, l0lf. 86 Vgl. Hafner, Georg M., Jacoby, Edmund, 1992. 104 http://www.mediaculture-online.de Krüger vom Ulenspiegel sinniert über die Schuldfrage, über die Strategien der Exkulpierung der eigenen Mittäterschaft. Nürnberger Betrachtungen Ich wandle wie im Traum einher, Der Paralyse streb' ich zu, Ich habe kein Gedächtnis mehr, Das wirkt wie ein Theatercoup. Ich sitze auf dem Sünderstuhl Als Primadonna der Idee, Ich weiß nicht, bin ich somnambul? Bin ich Prophet? Bin ich Premier? Wußt' ich als Hitlers rechte Hand Nicht recht, was seine linke tat? War ich Trabant, war ich Garant, War ich Infant im Führerstaat? Nach allem, was ich letztlich las, Ist mir die Politik ein Graus. Nur eine Politik macht Spaß, Die Politik des Vogel Strauß. Ach, litte doch die ganze Welt An Rudolf-Heß-Gedächtnisschwund, Dann wär es wohl um mich bestellt, Zur Klage hätte keiner Grund. Und keiner käm' mir auf die Spur, Ich schwebte durch das Weltgericht 105 http://www.mediaculture-online.de Und blühte auf der deutschen Flur Als herziges Vergißmeinnicht. Horst Lommer 194687 Die Schuld Einer muß die Schuld daran doch tragen, Daß uns heute so die Schuld bedrückt, Und wir wollen darum nicht verzagen, Bis es ihn zu fnden uns geglückt. War es Bismarck, der uns falsch geleitet? Hat der Alte Fritz uns so versaut? War es Nietzsche, der uns also zubereitet? Hat uns Hegel das Gehirn verhaut? Sind es die Gebrüder Grimm gewesen, Deren Märchen Grausamkeit durchzieht? Oder haben wir zu lang gelesen In dem bösen Nibelungenlied? Sicher werden wir den Kerl noch finden, Also wappnen wir uns mit Geduld! Sind es nicht die alten Adams Sünden, Sind zum Schlusse doch die Radfahrer dran schuld. Heldmuth Krüger, 194788 In einem dadaistischen Kabinettstück analysiert Fritz Winterling die Kunst des Verdrängens und Abschiebens. Der Tod ist ein Meister aus Deutschland, und die Mörder 87 Hoche, Karl, 1984, S 47f. 88 Ebd., S. 46f. 106 http://www.mediaculture-online.de sind mitten unter uns. Bei den kleinen Schiebern ist das geradeso wie bei den großen aus der Politik. Du mir.Ich dir.Schwer! Her! Nein!! mein!Schuft! Luft!!!--tot? tot! Mord! fort!!! Fritz Winterding 194789 Das Kabarett, das aus der Kälte kam - Die Insulaner im Kampfanzug Die Geburtsstunde der lnsulaner, des West-Berliner Rundfunkkabaretts, fällt unmittelbar in den Zeitraum der Berlinkrise und der Blockade der Stadt durch die sowjetischen Besatzungsmächte. Am 24. Juni 1948 kommt der gesamte Interzonenverkehr zum Stillstand. Als Antwort auf die Bedrohung des westlichen Sektors der Frontstadt richten die Westalliierten die legendäre Luftbrücke mit den „Rosinenbombern“ ein. General Lucius 89 Zitiert in: Hoche, Karl, 1984, S. 22. 107 http://www.mediaculture-online.de Clay, Militärgouverneur im amerikanischen Sektor der gespaltenen Metropole, macht ein Bekenntnis: „Wir haben die Tschechoslowakei verloren. Norwegen ist bedroht, in Italien bereiten sich entscheidende Wahlen vor. Geben wir Berlin auf, dann ist Westdeutschland verloren. Wenn wir Europa gegen den Kommunismus verteidigen wollen, müssen wir durchhalten.“90 Dieser politischen Einschätzung ist auch Günter Neumann, der Gründer der RadioInsulaner, weitgehend verpflichtet. Zunächst erscheint nur das gedruckte InsulanerMagazin, eine Satirezeitschrift, die sich bis zur Währungsreform beim Publikum behauptet. Herbert Sandberg fungiert als Chefredakteur, setzt sich dann aber in den Osten der Stadt ab. Günter Neumann kann dank gefestigter Verbindungen zum alliierten Radiosender RIAS91 ein erstes Konzept für ein Radio-Kabarett anbieten. Geplant ist in aller Bescheidenheit nur eine Sendung zum Weihnachtsfest am 25. Dezember 1948. Doch es kommt in der Folge ganz anders. Der durchschlagende Erfolg der Kabarettisten ermöglicht von 1948 bis 1968 über 150 Radio-Inszenierungen. Erst das aufkommende Fernsehen Ende der fünfziger Jahre, aber auch die veränderte politische Landschaft in den sechziger Jahren in Berlin, die außerparlamentarische Opposition, Antiamerikanismus und Vietnam-Trauma bei der jungen Generation, verändern die Rezeptionsbedingungen für Neumanns Truppe entscheidend - und zu seinen Ungunsten. Mit den Protagonisten Tatjana Sais, Edith Schollwer, Rita Paul, Agnes Windeck, Joe Furtner, Bruno Fritz, Walter Gross und Ewald Wenck tingeln die Sänger im Namen der westlichen Freiheitsvorstellung in die Schweiz und nach Luxemburg. Der kalte Wind der Konfrontation zwischen Ost und West, das Säbelgerassel der Herren Stalin, Wilhem Pieck, Harry S. Truman, des Kanzlers am fernen Rhein, dienen als fruchtbarer Grund, auf dem der durchschlagende Erfolg der trutzigen Adenauer-Barden wurzelt. Ihre Erkennungsmelodie, das Lied der Insulaner, ist nicht nur eine patriotische Liebeserklärung an den Westen, in Sonderheit an die Schutzmacht Amerika. Die Komposition ist eine Reverenz an die swingende Liedtradition der Freunde aus den Staaten, an den süßlichverkitschten Sound der Andrew Sisters. Der angeschlagene Ton referiert ganz unverstellt das unter der jungen Generation beliebte AFN-Programm, Klänge, die nach 90 Clay, Lucius, zitiert in: Zentner, Christian, 1984, S. 63 91 d.i.: Radio im amerikanischen Sektor (RIAS). 108 http://www.mediaculture-online.de dem Überdruß des Badenweiler-Marsches ein neues Kulturverständnis - auch den Protest gegen die braune Tradition versprechen. Amerikanisches ist in, mindestens im belagerten Berlin. Die erhaltenen Aufnahmen der Erkennungsmelodie von Günter Neumann und seinen Insulanern sind kostbare „Zeitmarken“. Der Insulaner Es liegt eine Insel im roten Meer, und die Insel heißt Berlin. Der Osten ist nah, und der Westen ist fern, und manch Flugzeug dröhnt durch die Nacht, und wacht man dann auf, ham verärgerte Herrn sich was Neues ausgedacht. Wir woll'n unter fremdes Joch nicht, trotz Drohungen und trotz Atom. Wir bleiben auf dem Teppich, und noch nich kriegen se uns auf den Boom! Der Insulaner verliert die Ruhe nich, der Insulaner liebt keen Jetue nich! Und brumm' des Nachts auch laut die viermotor’ jen Schwärme, det is Musik für unser Ohr, wer red't vom Lärme? Der Insulaner träumt lächelnd wunderschön, daß wieder Licht ist, und alle Züge geh'n! Der Insulaner hofft unbeirrt, daß seine Insel wieder'n schönes Festland wird – Ach, wär das schön! Günter Neumann, 194892 92 Kabarett 1946-1969, CD 1, Nr. 7; vgl. Sweringen, van Bryan T., 1989, S. 137. 109 http://www.mediaculture-online.de Günter Neumanns Kabarettist eindeutig und unmißverständlich parteilich und etabliert (unterhaltlich) den ideologischen Konsens im Kampf gegen alles, was nur den Anschein von Sozialismus und Kommunismus im Panier mit sich führt. Das verzerrte Bild über den Feind im Osten, das Klaglied über die gemutmaßte Gewaltbereitschaft aller Kommunisten dieser Welt, perpetuiert die alten Urteile und Vorurteile, die während der faschistischen Diktatur das Propagandaministerium und seine Unterabteilungen verbreiten. West-Berlin ist in der Tat bedroht und abgeschnürt. Das Überleben in der Frontstadt können demnach nur die Alliierten sichern. Im Gegensatz zu den kabarettistischen Entwicklungen in der Bundesrepublik und der oft kritischen und oppositionellen Grundhaltung gegenüber der Regierung zeigt sich Günter Neumann dem neuen amerikanischen Denken und damit der Westpolitik, letztlich auch der Kommunisten-Hysterie des Senators Joe McCarthy, verpflichtet. Der „Bolschewismus“ dient als das neue und alte Feindbild. Reflexion auf die geschichtliche Mitverantwortung im Kalten-Kriegs-Geschehen ist in dieser geschichtlichen Phase, vor allem in Berlin, nicht opportun. Dem Feind im Gewand der SED oder ihrer roten Schutzmacht gilt aller Spott, ein Zugriff, der auch in den Rundfunkanstalten der Bundesrepublik auf große Zustimmung rechnen kann. Die im Felde „mißglückte“ Vernichtung des Gegners kann so - im symbolischen Akt - quasi rituell zu dem gewünschten Ende gedacht werden. In der Neumann-Nummer „Der Funzionär“ - Walter Gross spricht zumeist diese vielbeklatschte Repertoirefigur- zeigt sich sklerotisierter Witz im Kalten Krieg. Der SEDVertreter ist dumm, dreist und von dumpfer Naivität. Ihm gilt der Hohn im RIAS-Radio. Die „volkseigene Reportage“ ist eine direkte Antwort auf die Interviewserien in der sowjetischen Besatzungszone mit Werktätigen. Günter Neumann mixt Berliner mit sächsischem Dialekt, läßt vom Chinesischen ins Russische stolpern und umgekehrt. „Professor Quatschnie“ und der Chinese „Wat-Nu“ bilden ein freches Polit-Pärchen. Die freundliche These von Hans Rosenthal, Neumann habe „nie mit dem Hammer gearbeitet“ 93 ist kaum haltbar. Die intellektuelle Exekution des Ost-Feindes dient nicht allein der selbstlosen Unterhaltung. Neumann bläst mit vernehmlichem Hurra zur Demontage des Ostens, was dann oft auf Kosten der „Brüder“ und „Schwestern“ geht, die mit ihren realen Nöten bei den Insulanern kaum zu Wort kommen. Der Spaß trägt fast immer Züge der 93 Rosenthal im Gespräch mit Sweringen, zitiert in Sweringen, van Bryant., 1989, S. 137. 110 http://www.mediaculture-online.de politischen Aufrüstung, ist die beredte Kampfansage an alle Duckmäuser, die sich etwa mit denen „drüben“ und ihrer Politik arrangieren wollen. Mit dieser ideologischen Stoßrichtung ist das Programm von höchstem Unterhaltungswert. Der deftige bis aggressive Grundton, das Kalkül der Auf- und Abrechnung mit der sozialistischen Ideologie, verschafft dem Programm jenen dramaturgischen Kitzel, der die Zuhörer und Zuschauer fesselt. Das Gefühl einer kollektiven Unschuldsvermutung - bezogen auf den Westen und seine Werteskala - kann sich via Radio breitmachen. Die Debilität der OstFiguren in der Insulaner-Schlacht bestärkt im vierwöchigem Rhythmus den selbstherrlichen Traum vor der eigenen politischen Unbescholtenheit. Stets lauert der Feind außerhalb des Sendesaales und wohnt ganz selbstverständlich jenseits der Sektorengrenzen. Westlich polierte Hybris, flockig und suggestiv serviert. bekämpft im RIAS-Kreuzzug östliche Borniertheit, ohne dabei die eigene Position je zu hinterfragen.94 Der Funzionär und die Planwirtschaft Der Funzionär ... und damit, liebe Jenossen und Jenossinn', komme ick nunmehr zu unsern heutijen Themata: Vorüberjehende Mangelerscheinung in unse Planwirtschaft! Jenossen! Wat de DDR in de letzten Jahre jeleistet hat, das jeht auf keene Kuhhaut! In eine Kette von beispiellose Erfolge kann natürlich nich alles auf eenmal klappen, es jibt immer mal wieder Kinderkrankheiten, aber der Zahn der Zeit wird se schon abschleifen. Ihr müßt euch ja immer wieder verwegenjewärtigen: Wat is bei uns losjewesen? Eier von die jrößten Tirannen, den de Weltgeschichte je jesehn hat, 94 Der Verfasser bekennt gerne, die Sendungen zusammen mit seiner Insulaner-süchtigen Großmutter in atemloser Spannung ein um das andere Mal im Süddeutschen Rundfunk gehört zu haben. 111 http://www.mediaculture-online.de hat de Oojen zujekniffen Alle: Psst! Vorsichtig! Der Funzionär: Sehta! Wir ham uns alle jesagt, na, d e n Verbrecher sind wa los, hahaha! Alle: Pscht! Der Funzionär: Was habt ihr denn zu pischten? Also mit eenen Wort: Hitler war dot! Alle: Ach so! Der Funzionär: Also nu bringt ma hier nich durcheinander! Nach diesen schaotischen Zusammenbruch herrschten bei uns die dollsten Zustände, und so kam es, daß unsa verehrter Jenosse Präzedent eines Tages das Ruder in seine kummerjewohnten Hände nahm, um - ick will ma bei das poetische' Bild bleiben - um als wettererprobter Steuermann die DDR in eine bessere Zukunft rüberzuschiffen! Natürlich jehts bei sowas nich ohne Havarjen ab ! Det is nu mal im Leben so! Ick möchte mal die Jenossen von de Landwirtschaft fragen: Wat passiert, wenn ihr'n neuen Traktor kriegt? Einer: Dann jeht er erstmal kaputt! Der Funzionär: Na sehta. Jenau so isses mit de DDR. Det sagt nich, daß wa uns mit jede Panne abfinden sollen, aber wir sollen ooch nicht unjeduldig werden. Die Zoffjetunion besteht nu schon über 35 Jahren, und wenn ihr vielleicht denkt, bei die is alles in Ordnung, denn seid ihr aber schief jewickelt! Jut Ding will Weile haben! Ihr wert euch vielleicht fragen, weshalb ick dieses Problem heute aufs Trapez bringe, aber das hat seinen juten Jrund! Bei de HO in Dresden hat sich nämlich ein unliebsamer Vorfall zujetragen. Und zwar haben sich die Jenossen aufjeregt, weil draußen dranstand: „Regenmäntel einjetroffen!“ Nu kamen se zu Hunderten mit ihre Punktkarte anjetrabt, es waren aber nur fünf Mäntel da! Tablau! Wat hätten die Jenossen von de Verkoofbrigade. machen sollen? Man kann doch keen Paletoto veranstalten! Also ham se die Mäntel an die Verdienstesten abjeben wollen, und dabei hats natürlich böses Blut jejeben. Eenen Tag drauf aber hat de Brigade Zwirn schon eenen rinjewürjt bekommen, und fürs nächstes Jahr ham se schon eine hundertprozentige Steigerung der Lieferung garantiert, so daß also 1954 schon zehn Rejenmäntel zur Verfügung stehen. Und soville regnet's ja jarnich in Dresden. Ihr seht, mit jutem Willen jeht alles! 112 http://www.mediaculture-online.de Die Insulaner, 195395 Der RIAS weiß, was er seinen Insulanern schuldig ist und hofiert die Künstler aus gutem Grund. Die Medien allgemein, das Radio zumal, feiern die Kabarettisten als die beliebtesten und bekanntesten Botschafter der geteilten Stadt. Das, was mit der diffusen Begrifflichkeit „Zeitgeist“ zu umreißen ist, die Focussierung objektiver gesellschaftlicher Bedingungen, verdichtet sich im Funk-Kabarett aus Berlin in aller Schärfe. Hans Rosenthal erinnert sich an den „Funzionär“ und an Herrn „Kummer“ Diese Rolle wurde bald Walter Gross’ Standardauftritt im Insulaner: Er wurde zum „Funzionär“, der in einem aussichtslosen Kampf die Parteilinie gegen Wahrheit und Wirklichkeit, gegen Widersprüche und Widerstand, gegen Vernunft und Logik zu verteidigen sucht. Würde Lächerlichkeit töten, dann hätte Walter Gross mit diesen Auftritten ganzen Heerscharen von SED-Funktionären die Existenzgrundlage entzogen. Und da war auch Bruno Fritz als „Herr Kummer“. Er führte Telefongespräche mit einem eingebildeten Partner, in denen er die politischen Zusammenhänge- immer neuen, unentwirrbaren Mißverständnissen zum Opfer fallend - zu erhellen sich bemühte. Diese Figur lehnte sich an Tucholskys berühmten „Wendriner“ an und hatte ein lebhaftes Publikumsecho. Die meisten Sender in der Bundesrepublik übernahmen schließlich die „Insulaner“, deren Aufnahmeleiter und späterer Regisseur ich war. Die Zeitschrift Günter Neumanns ging leider trotz unserer Rundfunkhilfe ein. Blockade, Papierknappheit, ein Alltag des Mangels - vielleicht auch unsere Radiokonkurrenz - hatten ihr das Leben zu schwer werden lassen. Fortan lebte „Der Insulaner“ also im Äthermeer. Manchmal - vor allem, wenn wir mit der Sendung auf Tournee in Westdeutschland waren und sie öffentlich produzierten - kam ich ganz schön ins Schwitzen: Günter komponierte immer die Musik zuerst. Die Texte ließen auf sich warten. Das Manuskript für den „Funzionär“ Walter Gross brachte er manchmal erst in der Pause an. Dann reichte die Zeit nicht einmal für eine einzige Probe, sondern nur noch zu flüchtigem Durchlesen. Aber gerade dieser Zeitdruck, der häufig zu Improvisationen zwang, hat der Sendung viel von ihrem Esprit gegeben.96 Das Kolorit der Ost-Westkonfrontation, der Jargon der Ära Adenauer, mithin das FreundFeind-Denken, inkarniert sich in den satirisch-polemischen Sentenzen des Günter Neumann: 95 Neumann, Günther, 1954, S. 23ff. Kühn, Volker, Kleinkunststücke, Bd.4, S. 115 ff. “Jrösten Tirannen” ist eine Anspielung auf den Tod Stalins 1953. 96 Rosenthal, Hans, 1982, S. 162f. 113 http://www.mediaculture-online.de Die östlichen Herrn, die so prunkhaft reich, sind äußerlich kapitalistengleich, und dennoch gibt es da einen Unterschied, den man auf den ersten Blick nicht gleich sieht: der Kapitalist zahlt sein eigenes Geld, er braucht nicht sein Volk auszumisten, und in dem wunden Punkt unterscheid'n sich die Herrn von den richtigen Kapitalisten!97 Das kaltkriegerische Weltbild ist populistisch. Nicht selten, so scheint es, sind die kabarettistischen Attacken im blinden Eifer niedergeschrieben. Die kleine „Kapitalismusanalyse“, die die Konvergenzen bei Ausbeutung und Korruption hüben und drüben platt unterschlägt, macht die politische Einäugigkeit deutlich. Günter Neumann, der lachende Star in der Ruinenstadt, hat für sich ein Programm entwickelt. Es lautet: „Wir sollten unsere Zuschauer nicht aus dem Kabarett schicken mit der fragwürdigen Quintessenz: ‘Von den Alliierten ist einer nicht besser als der andere’, und der mißmutige Kabarettist, der mit Gott und der westlichen Welt nicht zufrieden ist, sollte entweder nach Osten türmen oder sich und seinem Publikum klarmachen, daß er immerhin noch das kleinere Übel erwischt hat.“98 Die Empfehlung, bei kritischer Distanz zum Westen die Fronten zu wechseln, hat Tradition und beleuchtet das rauhe Klima im west-östlichen Kräftespiel. Die Normabweichung wird getadelt, auch im Kabarett, das im Namen der Freiheit und der Demokratie angetreten ist. Die Hororatioren aus Kultur und Politik, zumal der Regierende Bürgermister der Stadt, Willy Brandt, bedankt sich freundlich und mit großem Respekt für die 100. InsulanerSendung. Das Oberhaupt der Stadt schreibt am 19. Oktober 1957 in einem Brief an den Insulaner-Chef: 97 Neumann, Günter, 1954, S. 46. 98 Neumann, Günter, in: Der Tag, 23.3.1952. 114 http://www.mediaculture-online.de „Günter Neumann und seine Insulaner sind ein Bestandteil Berlins. Sie sind unseren Weg durch Dunkelheit, Kälte und Not mit uns gegangen bis zum heutigen Tage und haben mit Humor und Scherz, mit Musik und Reim unserem Fühlen, Denken, Wollen und Sehnen so unübertroffen Ausdruck gegeben. Der wahre Humor lacht und weint zu gleicher Zeit. Und das haben die Insulaner trefflich verstanden, und deshalb gehören die Insulaner zu uns, wie wir zu ihnen gehören. Dafür Ihnen meinen Dank zu sagen, ist mir Herzenssache an dem Tage, da Sie Ihre 100. Sendung machen. 100 Sendungen, die den Berlinern und unseren Mitbürgern und Landsleuten jenseits des Brandenburger Tores Hoffnung und Mut und noch mehr Lachen und Schmunzeln gegeben haben.“99 Die Insulaner vermögen wie kaum ein anderes Kabarett ihrer Zeit, Identität widerzuspiegeln und diese gleichzeitig hervorzurufen. Ein überzeugendes Beispiel hierfür liefert eine Liedcollage aus dem Jahre 1952. Ernst Reuters Verdienste für die Stadt und ihre Menschen feiern die Kabarettisten geradezu enthusiastisch. Der „OB“ fungiert über alle Parteigrenzen hinweg als der Held der geteilten Stadt, er ist ein Botschafter des guten Willens, der anläßlich seines Amerikabesuchs die „Kasse“ für Berlin wieder auffrischt. In der historischen Aufnahme überschlägt sich das Publikum geradezu in Ovationen für Die Insulaner. Die Zuhörer bejubeln die Spitzen gegen Bonn, vor allem aber das „Schuldbekenntnis“ der Amerikaner, denen der Texter die Zeilen in den Mund legt: „Hätten wir lieber dat Jeld verjraben, das wir im Krieg an die Sowjets gaben.“ Musik und Text treffen den Nerv des Publikums. Die kabarettistische Volte exkulpiert deutsches Tun, zumal den Terror zur Zeit der Nazi-Dikatur. Das Rundfunk-Kabarett dient in diesem Sinne als ein köstliches Ruhepolster, als die wohlschmeckende Medizin, die vor inquisitorischen Geschichtsbetrachtungen schützt. Just in diesem Kontext sind Die Insulaner ein Paradigma für den staatsnahen Spaß in der Ära Adenauer. Gründlicher als manches Geschichtsbuch reflektieren die sechs Minuten im RIAS die Spuren der ideologischen Befindlichkeit zur Zeit des Kalten Krieges. Das Medley dokumentiert -versteckt wie auch immer - Wut der Besiegten über die verzweifelte Lage und ihre Liebe zum bürgernahen Idol Ernst Reuter. Er verspricht personal faßbare Sicherheit nach verlorener Schlacht. Ernst Reuter in Amerika Keine Mark in der Kasse mehr, auch der Stadtsäckel schlaff und leer, 99 Abdruck in: Sweringen, van Bryan T., S. 245f. 115 http://www.mediaculture-online.de täglich neue Probleme. Reuter dachte, als er das sah: „Hilft nischt, ick muß nach USA, auf die Spendierhosen kloppen sonst sitzen wer hier uffem Trocknen. (Applaus) Muß i denn, muß i denn, ja ick muß mal übern Teich, muß mal übern Teich, und ihr bleibt an der Spree! Wenn ich drüben unser Leid erzähl, dann is gleich alles o.k. Wenn ich komm, wenn ich komm, wenn ich wieder, wieder komm, wieder, wieder komm, komm ich mit nem Portemonnaie.“ (Lachen. Applaus) Drüben fuhr er an der Spitze eines Geleits durch die Leut. Seine kleine Baskenmütze wurd mit Konfetti bestreut. In janz New York war een Hallo und Reuter dachte froh: „Das gibts nur einmal, ick komm bald wieder (Großer Applaus) Das is ja mehr als jut jejang! Es fällt Konfetti auf mich hernieder, in Bonn wurd ich nie so empfangen! (Tosender Applaus, lange und anhaltend) Die netten Leute, ick weiß schon heute, daß ick hier Unterstützung krieg. Mir scheint New York liegt von uns aus näher als mancher Ort der Bundesrepublik!“ (Großer Applaus) 116 http://www.mediaculture-online.de Alle Amis standen da, die mal in Berlin warn: Herr McCloy und noch mehr von der Spree. Clay, der in Erinnerung schwamm, rief: „I have Heimweh nach se Kufürstendamm!“ (Beifall, tosend) Und dann fuhrn se mit Gesang immerzu den Broadway lang, von det eene Restorang in det andre Restorang. Und dann gaben se an ihn einen Scheck für West-Berlin, und die Amis habn dazu im Chor jeschrien: „Hätten wir lieber dat Jeld verjraben, das wir im Krieg an die Sowjets gaben, (Unterbrechung durch tosenden Beifall, Füßegetrampel, zustimmendes Gejohle etc.) könnten wir euch noch viel mehr jeben als wirn Berlinern bisher jeben.“ Aber da kam schon der zweite Scheck, Reuter erfuhr dann mit freudigem Schreck, Dass er auch Aufträge bringt. Zum Schluß hamse alle gewinkt: „Auf Wijderseen, auf Wijderseen! Bleib nicht zu lange fort! Wenns wieder brennt: Wir sind solvent You know ein Män ein Word. 117 http://www.mediaculture-online.de Auf Wijderseen, auf Wijderseen! Du sollst zum Dank fürs Geld bald in Neukölln neu Gruß bestellln: Daß auch ne neue Welt!“ (Applaus) Und wenn jetzt Reuter wiederkommt jehn wir in langen Schlangn nach Tempelhof zum Flugplatz hin, den OB zu empfangen. Wenn's Flugzeug kommt, dann stehn wir da, wie Kinder feingemacht: „Du Onkel aus Amerika, was haste mitjebracht!“ (Großer Schlußapplaus) Die Insulaner, 1952100 Auf Günter Neumann trifft der Begriff „Nestbeschmutzer“ nicht zu. Sein Protest - anders als kurz nach dem Krieg - sucht sehr bald den politischen Konsens mit der atlantischen Westpolitik. Er tritt für die Wiederbewaffnung ein und feiert am 7. Dezember 1968 in seiner letzten „Sonderausgabe des Insulaners“ kaum zufällig die Geschichte des Axel Springer Verlags mit einer musikalischen Revue. Gleichwohl dankt sein Kabarett ab. Es hat den kabarettistischen Kampf gegen Wolfgang Neuss, gegen revoltierende Studenten, gegen Die Stachelschweine oder auch gegen Dieter Hildebrandt endgültig verloren. Günter Neumann ignoriert nach Eintritt des latenten Tauwetters im Ost-West-Konflikt, des „Wandels durch Annäherung“, die Veränderungen im gesellschaftlichen Umfeld. Sein Kabarett gründet auf den Koordinaten des Kalten Krieges und der Insulaner-Chef verweigert sich einem Denken, das die politische Konfrontation und den militanten Antikommunismus auch nur für Augenblicke auf der Bühne oder im Radio vernachlässigt. 100Kabarett 1946-1969, CD 1, Nr. 13. 118 http://www.mediaculture-online.de Dieser Rigorismus macht den satirischen Fanatismus der Insulaner aus, ist aber zugleich das Brandzeichen der Unversöhnlichkeit. In der Ära Adenauers geschrieben und gespielt, tragen die meisten Nummern eine retrospektive Handschrift, eine Signatur, die ihre Aggressivität dem nationalen Pathos der Zeit vor 1945 entlehnt zu haben scheint. Der Tod ist ein Meister aus Deutschland und die Republik läßt wieder rüsten Die Mahnungen von Paul Celan oder Wolfgang Borchert und vieler anderer Künstler und Intellektueller, nach innen und außen einen neuen Weg zu beschreiten, sich nicht erneut dem militärischen Denken zu verschreiben, verhallen ungehört. Konrad Adenauer zielt von Anfang an auf die Remilitarisierung der Bundesrepublik, eine Politik, die in ihrer Konsequenz zwar latente Stabilität garantiert, gleichzeitig aber auch zur Verschärfung des Kalten Krieges beiträgt. Die Politik der DDR operiert in den fünfziger Jahren mit den gleichen Vorgaben, die Regierung ist Vasall und Vollzugsorgan der östlichen Welt- und Großmacht und hat deren Interessen im Kalten Krieg mehr oder weniger bedingungslos zu erfüllen. Adenauer fordert im November 1950 im Bundestag die Schaffung einer neuen Armee und erklärt, daß die Bundesrepublik Deutschland, wenn sie von den westlichen Mächten dazu aufgefordert wird, bereit sein müsse, einen „angemessenen“ Beitrag zu dem Aufbau einer Abwehrfront zu leisten, und das in der Absicht, „die Freiheit ihrer Bewohner und die Weitergeltung der westlichen Kulturideale zu sichern.“101 Die forsche Gangart der Regierung in dieser Frage korreliert im übrigen allem Anschein nach nicht mit den tatsächlichen Wünschen der Bevölkerung. Diese verhält sich eher ablehnend, ja zurückhaltend. Eine Umfrage, die der Süddeutsche Rundfunk im Dezember 1949 zu dieser Frage aufzeichnet, bestätigt in deutlichen Worten die ablehnende Haltung fast aller Bevölkerungsschichten in dieser Frage. 101 Am 8.11.1950; Vgl. Tonaufzeichnung bei Weber, Jürgen, 1987, Kasette IV,1, Nr. 7. 119 http://www.mediaculture-online.de Soll es wieder deutsche Soldaten geben? Eine Pfarrerswitwe spricht: Wenn man wie ich seinen Mann und seinen einzigen Bruder im Krieg verloren hat und nun mit seinen drei Kindern mehr oder weniger allein in der Welt steht, will man von Wiederaufrüstung oder dergleichen nichts mehr hören. Man kann es nicht mehr. Bei dem bloßen Gedanken, daß meine beiden heranwachsenden Söhne auch wieder den grauen Rock tragen und alles, was damit zusammenhängt, erdulden müßten, möchte ich aufschreien und rufen: Nein und noch einmal nein! Ich weiß, daß Wiederaufrüstung noch kein Krieg ist, aber der Weg dazu ist nicht weit. Helfen Sie alle mit, daß wir endlich im Frieden leben können und unsere Kinder für ein Leben in Frieden erziehen dürfen. Es spricht ein Fischhändler, 32 Jahre alt, Kriegsteilnehmer, in Gefangenschaft gewesen: Ich bin ein grundsätzlicher Gegner für die Remilitarisierung Deutschlands, nachdem ich selber zwölf Jahre Soldat war und in amerikanische Gefangenschaft geraten bin. Ich lehne es grundsätzlich ab, nachdem man mir diese Uniform, die ich zuletzt getragen habe, vom Leib gerissen hat und nun heute wieder auch in eine Uniform für dieselben Westalliierten eintreten soll, um ein Bollwerk gegen den Osten zu sein. Ein junger Journalist, 26 Jahre alt, Kriegsteilnehmer und Flüchtling: Ich würde eine Remilitarisierung Deutschlands geradezu für eine Katastrophe halten und zwar aus zwei Gründen: aus innenpolitischen und aus außenpolitischen. Meiner Ansicht nach würde eine Wiederbewaffnung Deutschlands einen Krieg, den sie angeblich vermeiden soll, beschleunigt herbeiführen. Es ist in der Geschichte immer so gewesen, daß steigende Rüstungen nie bewirkt haben, daß damit ein Konflikt hinausgeschoben wird, sondern ihn immer noch schneller herbeigeführt haben. Rußland würde sich durch eine Wiederbewaffnung Deutschlands bedroht fühlen, würde seinerseits Maßnahmen ergreifen. Die Westmächte würden das gleiche tun. Und so würden wir uns eines Tages in der größten Katastrophe befinden. Ein junger Student, 23 Jahre, Kriegsteilnehmer und Fliegergeschädigter: Als Student habe ich zu einer Remilitarisierung folgendes zu sagen: Die meisten Studenten haben ihre Ausbildung schon einmal unterbrechen müssen, um angeblich ein Vaterland zu verteidigen und andere totzuschießen, denen man dasselbe gesagt hat. Die Aufstellung eines sogenannten Verteidigungsheeres ist schon an sich eine der Bedrohungen des Weltfriedens. Ich habe keine Lust mehr mitzubedrohen. Aus einer Sendung im Süddeutschen Rundfunk am 7. Dezember 1949102 102Ebd, Kasette IV, 1, Nr. 1. 120 http://www.mediaculture-online.de Bekanntlich bestimmen die privaten und antimilitaristischen Äußerungen den Lauf der deutschen Innenpolitik nicht. Die Aufnahme der Bundesrepublik in die Nato erfolgt 1955, ein Jahr darauf marschieren die ersten 1000 Freiwilligen in die Kasernen der Bundeswehr. In Konsequenz dieser Politik wird auch die sogenannte Stalin-Note von 1952 nie ernsthaft als politische Möglichkeit für eine neue Deutschlandpolitik in Erwägung gezogen. Dem Westen ist die damit verbundene Neutralisierung Deutschlands ein zu hoher Preis. Die Note paßt ganz und gar nicht „in die politische Landschaft“, in der der Graue Rock wieder in Mode kommen soll. Adenauer lehnt entschieden ab, Kriegsdienstgegner haben wieder einen schweren Stand. Die Friedenstaube, die am 3. März 1952 bei einer Ansprache des Kanzlers eingefangen wird, spricht für sich. Die Spötter der Nation, sie protestieren auf breiter Front gegen das alte und neue Lied, gegen die Wiederbewaffnung der Republik. Erich Kästner präsentiert sich im Kabarett Die Kleine Freiheit in München als entschiedener Gegner des militärischen Kurses und bemerkt rückblickend: „Während es in unserer Republik noch bei Strafe verboten war, auch nur eine Jagdflinte zu besitzen, wurden Hitler-Generäle nach Bonn beordert, um hinter verschlossenen Türen der Regierung wertvolle Ratschläge zu erteilen. -An Stelle der im laufenden Geschäftsjahr geplanten Kasernen könnten vierhunderttausend Wohnungen gebaut werden.“103 In dem „Solo mit unsichtbarem Chor“ beklagt der prominente Dichter 1952 die Vogel-Strauß-Politik und die Blindheit der Militärs. Wir kommen, sehn und siegen in ziemlich allen Kriegen, ganz wurscht, unter welcher Regierung. Das ist eine Frage der Führung. Na also und hurra: Drum sind wir wieder da. Unter Hitler hieß es „Wehrmacht“. 103Kästner, Gesammelte Schriften, Bd. 5, 1959, S. 209. 121 http://www.mediaculture-online.de Unter Doktor Lehr heißt's „Lehrmacht“. Doch ob Wehr - oder Lehr, ist ja völlig sekundär. Hauptsache, daß wir wieder Ordnung kriegen. Und das deutsche Rückgrat wieder gradebiegen. Und daß wir wieder gegen Engeland fliegen.104 Die Berliner Stachelschweine verspotten 1954 den neuen militaristischen Geist in ihrem Garnisons-Lied. Die große Bonner Politik und ihre Intentionen werden darin aus der Perspektive der Kleinstadt gesehen. Geld stinkt nicht und leitet auch den örtlichen Gemeinderat. (Solo:) Nach langem Sitzen. (Chor repetierend:) Nach langem Sitzen. (Solo:) Und heftigem Schwitzen. (Chor:) Und heftigem Schwitzen. (Solo:) Stell ich, Gemeinderat von Poppenlohn, folgendes Themata zur Diskussion. (Chor:) Folgendes Themata zur Diskussion: (Solo:) Da wir aus der Stadt keinen Kurort können machen (Chor:) Zum Lachen! Zum Lachen! (Solo:) Ham wir doch kein Wald und Quellen heiß und sauer (Chor:) O Trauer, o Trauer! (Solo:) Auch kein großer Mann in Poppenlohn geboren ist. Und wenn wir Festspiele bereiten: (Chor:) Nur Pleiten! Nur Pleiten! (Solo:) Wenn wir Festspiele bereiten: (Chor:) Nur Pleiten! Nur Pleiten! 104Ebd., S. 212; Robert Lehr war im ersten Kabinett in der Nachfolge Gustav Heinemanns Innenminister. 122 http://www.mediaculture-online.de (Solo:) Sage ich, Gemeinderat von Poppenlohn, um zu retten diese Situation: Gibt's nur eins, selbst für die Opposition: Unsere Stadt wird Garnison (Chor:) Garnison, Garnison! Ovation, Diskussion Garnison, Garnison, Ovation, Diskussion! (Solo:) Möchte, daß die Stadt sich drum darum bewerbe, zu bekommen Deutschlands Tradition und Erbe. Und der Stolze ruft dann brausend durch die Nation: Poppen-lohn, Poppen-lohn: Deutschlands schönste Garnison (Chor:) Poppen-lohn, Poppenlohn: Deutschlands schönste Garnison!105 In den weiteren Strophen besingen Die Stachelschweine die offensichtlich zahlreichen Vorzüge, die eine Garnisonsstadt im Bewußtsein des Spießers hat. Der Jubel ist allenthalben, das erträumte Glück ein rosiges und vermeintlich ungetrübtes. Die Feier der künftigen Militärniederlassung wird zur deutlichen Kritik an den bestehenden politischen Verhältnissen. Die Mittel, die die Sänger einsetzen, sind parodistische Überhöhung und satirische Verzerrung der kleinbürgerlichen Welt, die Musik ist sentimental und süßlich verkitscht. Hinter dem Spießer, der das Militär herbeisehnt, steht dann freilich auch eine Obrigkeit, die solches erst ermöglicht. Die Stachelschweine operieren hier ganz in der Tradition des klassischen Kabaretts: Über den musikalischen Gestus werden die Affekte angesprochen, die kitschigen Klänge dienen der Destruktion eines Unausgesprochenen in diesem Fall des Militärs. Die „Garnison“ fungiert als pars pro toto, wird zum Schlüsselbegriff für die kritisierte Bonner Militärpolitik. Im Spott wird Einvernehmen mit 105Weber, Jürgen, 1987, Kassette IV/3, Nr. 22, Aufnahme vom 14.1.1954. 123 http://www.mediaculture-online.de dem Publikum provoziert. Die Intention ist bei aller Unterhaltung, die der Wechselgesang anbietet, die auf Veränderung setzende Kritik. Als einsamer Gegner aller pazifistischen Tendenzen im deutschen Kabarett beklagt Günter Neumann mit den Insulanern jede militärische „Leisetreterei“. Er hat sich, wie bereits weiter oben besprochen, ohne Einschränkung der Bonner Linie verpflichtet. Neumanns Klagelied ist schrill, die Töne entstammen dem intellektuellen Sperrfeuer der Militärs. Auge um Auge heißt die Devise aus Berlin. Die Bundeswehr will man vom Osten hintertreiben, die sind bewaffnet, darum soll'n wir schutzlos bleiben, Herr Ebert schrie: Bonn soll das Militär entfernen, allein der Osten hat das Anrecht auf Kasernen, wo man sich nicht, wie wir, vor Uniformen scheute – seid wachsam Leute.106 Die panische Angst vor dem Osten, die Furcht vor einer soldatenlosen Gegenwart in Berlin, sie spiegelt nicht die gängige Auffassung der Kabarettisten wider. Landauf, landab - zumal in den Westsektoren bekämpft das Ensemble der Kritiker auf den Kleinbühnen die Remilitarisierung. Der Konsens, der hier herrscht, ist nahezu einhellig und unterscheidet sich höchstens graduell, nicht jedoch prinzipiell. Das Kabarett, und das ist bei seinem Hang zur Übertreibung und Überspitzung dann doch erstaunlich, befindet sich insgesamt Mitte der fünfziger Jahre mit seinen antimilitaristischen Nummern in einem größeren Konsens zu der Bevölkerung als die Mehrheit der Bonner Volksvertreter bei diesem Thema. Eine repräsentative Untersuchung vom Allensbacher Institut für Demoskopie signalisiert 1957 jedenfalls immer noch erhebliche Distanz der Befragten zu der Einrichtung der Bundeswehr. 106Zitiert in: Sweringen, van Bryan T., 1989, S. 165. 124 http://www.mediaculture-online.de Das Untersuchungsergebnis kann für das regierungsnahe Institut am Bodensee und seine Auftraggeber nicht befriedigend sein, zeigt es doch - trotz suggestiver Fragestellung - das brüchige Verhältnis der Bevölkerung zu Heer und Waffen. Frage: „Hier sind verschiedene Ansichten über die Aufstellung von deutschen Truppen. Welche davon trifft am besten das, was Sie selbst darüber denken?“ Junge Männer in % Ich bin nicht so sehr für Militär, aber solange die anderen Staaten Soldaten haben, brauchen wir auch welche: 23 Ich bin in jedem Fall gegen die Aufstellung von Truppen. Wir brauchen in Deutschland kein Militär: 20 Ich bin nicht gegen Soldaten, aber zur Zeit wäre es für Deutschland besser, keine Truppen aufzustellen: 18 Ich bin in jedem Fall für die Aufstellung von Truppen. Wir brauchen in Deutschland ein starkes Militär: 14 Ich bin eigentlich gegen Militär, aber in der jetzigen Lage braucht Deutschland eine Armee: 13 Mir ist es ganz egal, ob in Deutschland Truppen aufgestellt werden oder nicht: 11 125 http://www.mediaculture-online.de Keine Angabe: 1 Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1957107 Ob Die Schmiere - „das schlechteste Theater der Welt“ nennt es sich - in Frankfurt a. M. auftritt, Das Bügelbrett in Heidelberg oder West-Berlin sich Gehör verschafft, Die Stachelschweine zur Jagd auf Ungereimtes in der Republik blasen, der Stachel gegen das Militär wird jeweils tief in das Fleisch der alten Haudegen getrieben. Auf dem Höhepunkt der Krisen am Suezkanal und in Ungarn schreibt Rolf Ulrich 1956 ein „Freiheitslied“ ganz eigenen Zuschnitts. Im Programm „Die Wucht am Rhein“ beklagen die Kabarettisten den Widerspruch von Freiheitsideologie und militärischer Aufrüstung, sie kritisieren die postulierte Unabwendbarkeit von Kriegen, von „guten“, „gerechten“ und „heiligen“ Metzeleien. Freiheit, Freiheit über alles, höchstes Ziel auf dieser Welt! Unser Leben, unser Sterben dieses Wort zusammenhält. Segen ruht auf allen Waffen, ewig zieh'n mit Himmelsmacht alle Völker, alle Rassen für die Freiheit in die Schlacht. Und keiner dachte an den dritten Weltkrieg und schrie: Halt! - Keiner! Nicht in der Downingstreet - 107Noelle, Elisabeth/Neumann, Erich Peter, 1957, S. 152. 126 http://www.mediaculture-online.de Nicht am Arc de Triomphe – Nicht in Manhattan – Nicht auf dem Rudolph-Wilde Platz. Nein, sie sangen: Vorwärts, vorwärts für die Freiheit! Was heißt schon Vernunft, Moral? Nein: Millionen sterben ewig für das Freiheitsideal. Wann zerplatzt dies Wort einmal, diese gold'ne Seifenblase? Wann wird einmal klar gesagt: Freiheit - du bist eine Phrase!? Die Stachelschweine, 1956108 Die Wucht am Rhein O wie schön, daß wir den Osten haben, Die Gefahr aus Pankow, Moskau und den Don; Denn der Osten ja der gab uns schließlich Erst die Teilung Deutschlands und zum Glück dann Bonn. Und durch Bonn da zogen Geld und Banken An den Rhein und zogen Handel, Wirtschaft nach, Millionäre - Fremde und Devisen Und das Ganze krönt jetzt schließlich Andernach. O es wär nicht auszudenken, 108Zitiert in: Budzinski, Klaus, Die öffentlichen Spaßmacher, 1966, S. 45f. 127 http://www.mediaculture-online.de Wenn jetzt plötzlich eine Einheit käm Und statt unserm goldnen Rheine Dann die Spree wär Deutschlands Diadem. Und was mühsam haben wir erworben Unter dem Geheimwort Provisorium, Schnappte weg uns die Berliner Schnauze, Und uns bliebn die Greise im Panoptikum. Drum bewahret uns den lieben Osten, Haltet Wacht und laßt auf kein Gespräch euch ein, Kämpft um unsre Nibelungenschätze, Sonst ist es vorbei mit unserer Wucht am Rhein! Rolf Ulrich, 1956109 Die oberen Zehntausend in der Republik, die Herren aus Industrie und Wirtschaft, sie haben schon wieder gelernt, mit Krisen zu leben und dabei auch kräftig abzusahnen. In der Kleinen Freiheit in München leiht Martin Morlock ihnen das Wort. Makler und Industrielle kommen auf den Brettern ins Grübeln und schwärmen trist und melancholisch. Der Tod ist ein Meister aus Deutschland, aber es gibt auch Schwierigkeiten in dem eisernen Gewerbe: Erster Industrieller: Daß die Lage so gespannt ist, Will uns zwar betrüblich scheinen, Doch ein Mensch, der bei Verstand ist Und im Industrieverband ist, Kann deshalb nicht dauernd weinen! 109Kühn, Volker, Kleinkunststücke, Bd. 4, S. 168. In Andemach wurde die erste Bundeswehreinheit aufgestellt. 128 http://www.mediaculture-online.de Erster Makler: Was den Laien so erschreckt, ist Doch im Grunde das alte Spiel: Wenn die Sahne abgeleckt ist, Der Zivilbedarf gedeckt ist, Braucht die Wirtschaft ein Ventil. Zweiter Industrieller: Wär' die Welt ein wenig weiser Und die Propaganda beider Hemisphären etwas leiser, Bauten wir euch Fertighäuser. So sind's eben Panzer. Alle (zucken unschuldig die Achseln): Leider Zweiter Makler: Denn das ist nun einmal der triste Tatbestand auf diesem Stern: Wenn der eine sicher wüßte, Daß der andre, wenn er rüste, Wüßte, daß er rüsten müßte, Rüstete er halb so gern. Erster Makler: Weil jedoch in jedem Falle Jeder glaubt, er habe mehr Macht Als die andersgläub'ge Wehrmacht, Rüsten alle ... Martin Morlock, 1952110 110Zitiert in: Hoche, Karl, 1984, S. 84f. 129 http://www.mediaculture-online.de In dem Schwabinger Kabarett Die kleinen Fische nimmt das Ensemble unter Therese Angeloff die geplante Wiederbewaffnung aufs Korn. Eine Damenriege, der „Louisenbund“, träumt sich in die alten Tage der Kriegsmarine zurück. Ingrid van Bergen, Lia Pahl und Anita Bucher gehören zu den trutzigen Amazonen, die bei der Verherrlichung der stählernen Maschinerie alle Register ziehen. Dabei ist zu bedenken, daß zu diesem Zeitpunkt die Diskussion um die Remilitarisierung noch nicht abgeschlossen ist, Franz Josef Strauß, damals ein junger CSU-Abgeordneter, die parlamentarisch notwendigen Seilschaften für ein neues Heer erst um sich schart: „Wer als Deutscher dem deutschen Volke die innere Befähigung abspricht, Waffen zur Selbstverteidigung zu erhalten, ohne gleichzeitig dem Militarismus zu verfallen, der hat innerlich vor dem Militarismus kapituliert. Schließlich muß der Unfug einmal aufhören, daß man den ehrlichen und anständigen Soldaten immer zum Militaristen stempelt. Der Ungeist des Militarismus muß überwunden bleiben und wo er auftreten sollte rücksichtslos unterdrückt werden. Die Verteidigungsbereitschaft des friedlichen deutschen Bürgers darf nicht durch die Verunglimpfung des Ansehens des deutschen Soldaten geschwächt oder erstickt werden.“ Franz Josef Strauß, 10. Juli 1952111 So gesehen ist der kleine Damen-Kranz unter Abzug der ironischen Brechungen ganz auf Kurs des Bayern und künftigen Atom- und Verteidigunsministers, wenn er jubiliert: Wir sitzen auf dem Kanapee und träumen Ach und Weh Wir wollen wieder Kriegsschiffe taufen! Mit deutschem Sekt am deutschen Heck! Und wieder Margueriten verkaufen zum wohltätigen Zweck! Drum gründen wir ein Komitee, 111Spiegel, Der, Reden aus Deutschland, CD 1, Nr. 3. 130 http://www.mediaculture-online.de ein Wohltätigkeitskomitee, Wir sind die Damen mit gutem Namen, die Damen vom Louisenbund! Wir sind die kommenden Größen von morgen, die für Sitte und Ordnung dann sorgen! Unsre Fahne flattert fröhlich uns voraus! Wir sterben niemals aus! Die kleinen Fische, 1954112 Nach dem Beitritt der Bundesrepublik zur NATO, dem Unterzeichnen der Pariser Verträge, geht die Bundesregierung in die zweite Runde und eröffnet die Debatte über die Ausrüstung der Bundeswehr mit atomaren Gefechtsköpfen. Adenauer tritt höchstpersönlich vor die Presse. „Unterscheiden Sie doch“, so erklärt der Kanzler am 5. April 1957, „die taktischen und die großen atomaren Waffen. Die taktischen Waffen sind nichts weiter als die Weiterentwicklung der Artillerie. Selbstverständlich können wir nicht darauf verzichten, daß unsere Truppen auch in der normalen Bewaffnung die neueste Entwicklung mitmachen.“113 Trotz einer großen Oppositionsbewegung kann die CDU-Mehrheit am 28. März 1958 den Beschluß über die Atombewaffnung der Bundeswehr durchsetzen. Weder die Göttinger Erklärung der 18 Atomwissenschaftler noch kirchliche oder gewerkschaftliche Proteste ändern hieran etwas im grundsätzlichen. Die SPD hat ihr Nein zur atomaren Bewaffnung ohnehin - im Zeichen der verlorenen Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen und im Zeichen des kompromißbereiten und „moderaten“ Godesberger Programms - revidiert. Wehner, Erler und Brandt bringen die Genossen auf Kurs. Der Sieg der CDU in der Frage der Atombewaffnung erweist sich im nachhinein als innerparteilicher Pyrrhus-Sieg, da die Verfügungsgewalt über die Atomwaffen bei den Alliierten liegt. Die öffentlichen Bedenken, dies könne unter einer veränderten außenpolitischen Lage einmal anders werden, bleibt jedoch bestehen. 112Zitiert in: Hösch, Rudolf, 1972, S.103. 113Vgl. Jäger, Uli, Schmid-Vöhringer, Michael, 1982. 131 http://www.mediaculture-online.de Der Aufruf der „Göttinger“ hat in der Bundesrepublik ein großes publizistisches Echo, wird zum Anstoß für weitere Protestresolutionen und mahnende Appelle. Der Theologe Karl Barth schaltet sich ein, Stefan Andres, Erich Kästner, Eugen Kogon, Walter Dirks und viele weitere Intellektuelle richten eine Resolution an den Bundestag, sich der „lebensbedrohenden Rüstungspolitik“ zu widersetzen. „Wir werden nicht Ruhe geben, solange der Atomtod unser Volk bedroht“, geben die Wissenschaftler und Künstler zu bedenken.114 Gerd Semmer, einer der wichtigsten Chansonautoren im Kontext der Lieder gegen Militarismus und Atomrüstung, reagiert auf die Göttinger Erklärung ganz unmittelbar und verfaßt ein Solidaritätslied, das Dieter Süverkrüp vertont. Das Lied nimmt Bezug auf die Beschwichtigungsversuche aus der Bundeshauptstadt, die honorigen Wissenschaftler mögen doch bitte ihre Finger aus der Tagespolitik lassen. Göttinger Erklärung Die Pläne einer atomaren Bewaffnung der Bundeswehr erfüllen die unterzeichneten Atomforscher mit tiefer Sorge. Einige von ihnen haben den zuständigen Bundesministerien ihre Bedenken schon vor mehreren Monaten mitgeteilt. Heute ist die Debatte über diese Frage allgemein geworden. Die Unterzeichneten fühlen sich daher verpflichtet, ihrerseits auf einige Tatsachen hinzuweisen, die alle Fachleute wissen, die aber der Öffentlichkeit noch nicht hinreichend bekannt zu sein scheinen. Erstens: Taktische Atomwaffen haben die zerstörende Wirkung normaler Atombomben. Als ‘taktisch’ bezeichnet man sie, um auszudrücken, daß sie nicht nur gegen menschliche Siedlungen, sondern auch gegen Truppen im Erdkampf eingesetzt werden sollen. Jede einzelne taktische Atombombe oder -granate hat eine ähnliche Wirkung wie die erste Atombombe, die Hiroshima zerstört hat. Da die taktischen Atomwaffen heute in großer Zahl vorhanden sind, würde ihre zerstörende Wirkung im ganzen sehr viel größer sein. Als ‘klein’ bezeichnet man diese Bombe nur im Vergleich zur Wirkung der inzwischen entwickelten ‘strategischen’ Bomben, vor allem den Wasserstoffbomben. Zweitens: Für die Entwicklungsmöglichkeiten der lebensausrottenden Wirkung der strategischen Atomwaffen ist keine natürliche Grenze bekannt. Heute kann eine taktische Atombombe eine kleinere Stadt zerstören, eine Wasserstoffbombe aber einen Landstrich von der Größe des Ruhrgebietes zeitweilig unbewohnbar machen. Durch Verbreitung von Radioaktivität könnte man mit Wasserstoffbomben die Bevölkerung der Bundesrepublik heute schon ausrotten. Wir kennen keine technischen Möglichkeit, große Bevölkerungsmengen vor dieser Gefahr sicher zu schützen. (...) Wir fühlen keine Kompetenz, konkrete Vorschläge für die Politik der Großmächte zu machen. Für ein kleines Land wie die Bundesrepublik glauben wir, daß es sich heute noch am besten schützt und den Weltfrieden noch am ehesten fördert, wenn es ausdrücklich und freiwillig auf den Besitz von Atomwaffen jeder Art verzichtet. Jedenfalls wäre keiner der Unterzeichneten bereit, sich an der Herstellung, der Erprobung oder dem Einsatz von Atomwaffen in irgendeiner 114Ebd., S. 19f. 132 http://www.mediaculture-online.de Weise zu beteiligen. Gleichzeitig betonen wir, daß es äußerst wichtig ist, die friedliche Verwendung der Atomenergie mit allen Mitteln zu fördern, und wir wollen an dieser Aufgabe wie bisher mitwirken. 12. April 1957115 Atomgedicht 57 Achtzehn Professoren durchbrachen Das tobende Schweigen der Schallmauer, Aufgebaut von bezahlter Journaille Um den Massenmordplan. Aber, meine Herren, was geht denn Sie das an? Sie glauben, daß man einfach hereinreden kann? Das ist doch Politik, wovon Sie nichts verstehen! Mund halten, weiterforschen! Sie sind gar nicht gefragt! Keine Diskussion! Weitergehn! Seit Generationen wuschen sie Die Hände in reiner Wissenschaft. Die Folgen haben sie nie gewollt. Endlich machten achtzehn den Mund auf, Männer zeigten Herz. Aber meine Herren, was gehn Sie die Folgen an? Sie glauben, daß man einfach hereinreden kann? Machen Sie Ihre Arbeit, wovon Sie etwas verstehn! Haben Sie denn kein Berufsethos? Sie sind außerdem nicht gefragt! Keine Diskussion! Weitergehn! 115Ebd., S. 18f. Zu den Unterzeichnern gehörten die Professoren Fritz Bopp, Max Born, Rudolf Fleischmann, Walther Gerlach, Otto Hahn, Otto Haxel, Werner Heisenberg, Hans Kopfermann, Max von Laue, Heinz Maie Leibnitz, Josef Mattauch, Friedrich-Adolf Paneth, Wolfgang Paul, Wolfgang Riezler, Fritz Straßmann, Wilhelm Walcher, Carl Friedrich von Weizsäcker. 133 http://www.mediaculture-online.de „Ihre Kinder an sich drückend Stehen die Mütter und durchforschen Angstvoll den Himmel nach den Erfindungen der Gelehrten.“ Aber meine Herren, was gehn Sie Kinder an? Sie glauben, daß man einfach hereinreden kann? Das ist unsere Politik, wovon Sie nichts verstehn! Überlassen Sie das den Fachleuten! Keine Diskussion! Auseinandergehn! Gerd Semmer, 1957116 Der Ball ist rund und die Republik läßt es sich gutgehen Es gibt neben der politisierten Republik freilich auch jene des stetig wachsenden Luxus, der Nierentische und des genußvollen UKW-Empfangs am Kofferradio. Wer die Augen nur halboffen hat, der kann es sich bequem einrichten. Die Werkstoffe Schaumgummi, Trevira und PVC sind neben dem „Starmix“-Küchengerät und dem Nyltest-Hemd die Versprechungen der Zeit. Die Republik im Westen hat mit den fünfziger Jahren äußerlich wieder Tritt gefaßt. Freddy Quinn trällert seinen „Heimat“-Song, Cornelia Froboess - noch ganz Kinderstar - darf ihre Badehose fürs „kleine Schwesterlein“ einpacken und Rudi Schuricke schmelzt für die ersten wohlhabenden Italienurlauber sein Capri-Lied in den Äther: Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt, Und vom Himmel die bleiche Sichel des Mondes blinkt Zieh'n die Fischer mit ihren Booten aufs Meer hinaus, Und sie legen in weitem Bogen die Netze aus. Nur die Sterne, sie zeigen ihnen am Firmament, Ihren Weg mit den Bildern, die jeder Fischer kennt, 116Zitiert in: Kühn, Volker, Kleinkunststücke, Bd 4, S. 227. 134 http://www.mediaculture-online.de Und von Boot zu Boot das alte Lied erklingt, Hör' von fern, wie es singt: Bella, bella, bella Mari, Bleib mir treu, ich komm zurück morgen früh! Bella, bella, bella Mari, vergiß mich nie!117 Die Schlager der Zeit mimen auf unerschütterlichen Optimismus. Lieschen Müller hat wieder etwas zu knabbern und muß gar höllisch aufpassen, daß sie von der Fresswelle nicht ganz verschlungen wird. Peter Frankenfeld und Liselotte Götz warnen am 12. Dezember 1950 die Radiohörer des Süddeutschen Rundfunks vor den fatalen Folgen. Das Essen ist Frau Müllers Lust, das Essen ist Frau Müllers Lust, das E-e-s-s-e-n. Sie ißt und frißt von früh bis spät, kein Wunder, daß sie in die Breite geht, daß die schlanke Linie pleite geht, kein W-u-u-n-d-e-r.118 Seit dem 1. März des Jahres sind die Lebensmittelkarten endgültig abgeschafft. Es scheint alles in Butter. Die Regenbogenpresse bejubelt 1951 die persische „Märchenhochzeit“ von Soraya und Schah Reza Pahlevi auf dem Pfauenthron. In Westminster läuten zwei Jahre später die Glocken für Königin Elisabeth II. von Großbritannien. Das Fernsehen inszeniert die erste weltweite Übertragung, die „Fernseh“-Queen ist geboren. Wer es sich leisten kann, fährt Mitte des Jahrzehnts einen Hansa Borgward, bei knapperem Budget darf es eine Isetta oder der Vespa-Roller aus Italien sein. Persil ist immer noch Persil, und Bauknecht glaubt zu wissen, was sich Frauen wünschen. Auf dem Aktienmarkt spiegelt sich bald die Goldgräbermentalität derer, 117Zitiert in: Politik und Unterricht, 1991, H. 4, S. 19. 118Weber, Jürgen, 1987, Kassette IV/2, Nr. 1. 135 http://www.mediaculture-online.de die es geschafft haben. Die Spuren des Krieges sind noch nicht getilgt, aber die Stimmung ist dank des „Wirtschaftswunders“ prächtig. Moskau läßt auf Initiative von Konrad Adenauer die letzten 10.000 Kriegsgefangenen wieder frei, eine humanitäre Aktion, die auch 12 Jahre später in repräsentativen Umfragen als die herausragende Leistung des Kanzlers benannt wird. Am 4. Juli 1954 wird das auf dem Schlachtfeld des Krieges geschlagene Deutschland Fußballweltmeister. Die Nation torkelt im Fußballglück, die britische Presse mutmaßt in ihren Schlagzeilen eine heimliche „Rache für Stalingrad“. Die sich formierende Freizeit-Nation sublimiert auf dem Rasen den verlorenen Krieg und zeigt ihre Zähne. Die Sprache der Fußballmatadore ist verräterisch wie eh und je. Was der Krieg verwehrt hat, erlaubt das runde Leder: dem Rest der Welt zu zeigen, daß die Nation (mindestens) in einer Disziplin unbesiegbar ist. Die Schlachtenbummler verstehen es so, der martialisch sprechende Reporter des Tages, Herbert Zimmermann, ohnehin, und die hypnotisierten Fußballer auf dem Platz ebenfalls. Fritz Walter erinnert sich: Auf engstem Raum spielen wir einander zu. Vergeblich warten die Ungarn auf Steilpässe oder weite Flanken. Nur wenn wir angegriffen werden, geben wir den Ball zu einem freistehenden Mann, nach vorn, zur Seite oder auch zurück. Eine sportlich durchaus korrekte Form, gut über die Zeit zu kommen. Niemand wird uns das verdenken. Natürlich erkämpfen sich auch die Ungarn den Ball wieder und stürmen dann mit letzter Kraft noch einmal gegen das Tor. Zwei Minuten noch. Eine Minute noch. Da bekommt Czibor bei einem überraschenden Flankenwechsel halbrechts in Strafraumhöhe den Ball. Er wird ihm direkt auf den Fuß serviert. Mir steht vor Schreck fast das Herz still. Jetzt, jetzt ist es passiert! denke ich, als Czibor aus sieben, acht Metern einen Mordsschuß losläßt. Er zielt in die kurze Ecke, auf die sich Toni zum Glück konzentriert. Blitzschnell geht unser Düsseldorfer zu Boden und befördert in fliegender Parade den Ball mit beiden Fäusten in Richtung Eckfahne. Ebenso schnell setzt Werner Kohlmeyer hinterher und will das Leder zum Linksaußen schlagen. In der Drehung rutscht es ihm ab ins Aus. In diesen Sekunden stand unser Sieg auf des Messers Schneide. Einwurf der Ungarn. Ich fange den Ball ab, versuchte ihn nach vorn zu schlagen. Aber das nasse Leder rutscht wieder ins Aus. Ist denn noch nicht Schluß? Schiedsrichter Ling müßte jetzt abpfeiffen. Ob er wegen Tonis Verletzung nachspielen läßt? Die Ungarn führen den Einwurf aus. In diesem Augenblick höre ich - Mister Ling steht nur ein paar Meter von mir entfernt - den ersehnten Schlußpfiff. Das Spiel ist aus! Das Unglaubliche ist wahr, das Unerwartete Wirklichkeit! Der Fußball-Weltmeister 1954 heißt Deutschland.119 119Zitiert in:Siepmann, Eckhard (Hrsg.), 1988, S. 441. 136 http://www.mediaculture-online.de Freilich, das kritische Gewissen der Nation, das Kabarett auf der Bühne und im Film, es betreibt Spurensuche in Nischen und Winkeln und begnügt sich nicht mit dem Gebrüll in dem Stadion von Bern. Nach einem Roman von Hugo Hartung erzählen Heinz Pauck und Günter Neumann zum Beispiel in dem Kurt Hoffmann-Film Wir Wunderkinder (1958) ein ganz deutsches Märchen: Aufstieg und später Fall einer lokalen Nazigröße, die mit der Durchschnittsbiografie eines sympathischen Journalisten (Hansjörg Felmy) kontrastiert ist. Der Nazi-Terror wird nicht ohne Geschick mit satirischem Zugriff in seiner Menschenverachtung und Gewalt geschildert. Neumanns Texte zeichnen sich hier durch Witz und Biß aus, auch die neue Anpassung in der Ära Adenauer rückt in meisterlichen Couplets- und Kabarettnummern ins treffliche Schwarz-Weiß-Bild. Von der Kritik hat dieser im Genre ganz „besondere“ Film teilweise eine unverständliche Unterbewertung erfahren. Man spricht von „positivistischer Grundhaltung“120, obwohl dieser filmische Gehversuch vor allem im furiosen Finale die Restauration gekonnt ins Bild rückt. Der kabarettistische Deutschlandfilm lebt übrigens nicht zuletzt von den köstlichen Gesangseinlagen, den Moritatensängern Wolfgang Müller und Wolfgang Neuss.121 Der Spaß stimmt nachdenklich und gibt über die Generation der „Großväter“ mittels der pointierten Vergrößerung Auskunft. Das deutsche Lesebuch vom Kaiserreich bis Adenauer ist nicht zwangsläufig ein politischer Aufklärungsfilm. Gleichwohl ist die Satire mit deutlichem Strich gezeichnet. Das „Lied vom Wirtschaftswunder“ wird in diesen Jahren zu einem vergnüglichen Hit. Es beschreibt mustergültig Faules und Oberfaules im neuen demokratischen Staat und benennt die gärenden neonazistischen Umtriebe. Im „Gnadenfieber“ des Jahres 1954 kehrt die Justiz mit der Billigung des Bundestages sehr viel unter den Teppich. Das Straffreiheitsgesetz regelt den „Erlaß von Strafen und Geldbußen und die Niederschlagung von Strafverfahren und Bußgeldverfahren“ für Straftaten, die zwischen dem 1.10.1944 und dem 31.7.1945 verübt wurden.122 Auch für NS-Verbrecher, die unter falschem Namen gelebt haben, gilt der befristete „Persilschein“. Wolfgang Neuss und Wolfgang Müller nehmen solche von höchster Stelle dekretierte Moral aufs Korn. 120Lexikon des Internationalen Films, S. 4336. 121Der Autor hat den Film in der politischen Bildungsarbeit mehrfach und mit gutem Erfolg eingesetzt. 122Vgl. Weber, Jürgen, 1987, S. 316 137 http://www.mediaculture-online.de Das Lied vom Wirtschaftswunder Die Straßen haben Einsamkeitsgefühle, Aus Pappe und aus Holz sind die Gardinen, Und Bretter liefert nicht mehr die Fabrik! Den Zaun verdeckt ein Zettelmosaik. Nur ab und zu mal klappert eine Mühle, Wer rauchen will, der muß sich selbst bedienen, Ist ja kein Wunder, ist ja kein Wunder, Ist ja kein Wunder nach dem verlorenen Krieg! Einst waren wir frei, nun sind wir besetzt! Das Land ist entzweit, was machen wir jetzt? Jetzt kommt das Wirtschaftswunder, Jetzt kommt das Wirtschaftswunder! Jetzt gibt's im Laden Karbonaden schon und Räucherflunder! Jetzt kommt das Wirtschaftswunder, Jetzt kommt das Wirtschaftswunder! Der deutsche Bauch erholt sich auch Und ist schon sehr viel runder! Jetzt schmeckt das Eisbein wieder in Aspik! Ist ja kein Wunder, ist ja kein Wunder. Ist ja kein Wunder nach dem verlorenen Krieg! Die Läden offenbaren uns wieder Luxuswaren, Wer Sorgen hat, hat auch Likör und gleich in hellen Scharen! Man muß beim Autofahren nicht mehr mit Brennstoff sparen! Die ersten Nazis schreiben fleißig ihre Memoiren, Denn den Verlegern fehlt es an Kritik! Ist ja kein Wunder, ist ja kein Wunder, 138 http://www.mediaculture-online.de Ist ja kein Wunder nach dem verlorenen Krieg. Wenn wir auch ein armes Land sind, Zeig'n wir, daß wir imposant sind! Und so ziemlich abgebrannt sind! Weil wir etwas überspannt sind! Wieder hau'n wir auf die Pauke! Wir leben Hoch! Hoch! Hoch! Hoch! Hoch! Hoch! Hoch! Hoch! Das ist das Wirtschaftswunder, das ist das Wirtschaftswunder! Zwar gibt es Leut', die leben heut noch zwischen Dreck und Plunder. Doch für die Naziknaben, Die das verschuldet haben, Hat unser Staat viel Geld parat und Spendet Monatsgaben! Wir sind 'ne ungelernte Republik! Ist ja kein Wunder, ist ja kein Wunder, Ist ja kein Wunder nach dem verlorenen Krieg. Aus dem Film“ Wir Wunderkinder“ 1958. Text: Günter Neumann, Musik: Franz Grothe123 Der Reflex auf die neuen Machtverhältnisse in der Republik, die Kritik an einer Wirtschaftspolitik, die den ohnehin Habenden zu weiterem Wohlstand verhilft und die sozial Schwachen wie gehabt im Schatten stehen läßt, kann mit vielen Kabarettnummern belegt werden. Die zweite Bundestagswahl endet mit einem überwältigenden Sieg der CDU/CSU (45,2%). Konrad Adenauer beruft im Oktober 1953 sein Kabinett, der Wiederaufbau floriert, drei Jahre später speckt der Kanzler das Kabinett auf 16 Minister ab, Generalmajor Reinhard Gehlen baut mit Billigung der Alliierten wieder einen Nachrichtendienst auf.124 Alles läuft nach Plan, alles steuert peu à peu auf die 123Kabarett 1946-1969, CD 1,Nr.12; Text u.a. in: Hippen, Reinhard, Das Kabarett-Chanson, 1986, S. 152f. Kühn, Volker, Kleinkunststücke, Bd. 4, S. 126f. 124Vgl. Friedrich, Jörg, in: Hafner, Georg M., Jacoby, Edmund, 1992, S. 26. 139 http://www.mediaculture-online.de Wiederbewaffnung zu, die am 2. Januar 1956 mit der Einberufung von 1.000 Freiwilligen praktisch besiegelt ist. Joachim Hackethal schreibt auf diesem zeitgeschichtlichen Hintergrund das raffinierte Lied von der „Bundesmodenschau“, einer komplexen Metapher auf das neue Bonner Klima. Ursula Noack singt die kleine kabarettistische Kostbarkeit. Die Anspielungen aus der Zeit sind souverän drapiert, die Decodierung der Bezüge können die Zuschauer der Zeit bei den Amnestierten unschwer lösen. Die Bundesmodenschau Ich begrüße Sie herzlich, meine Damen, und auch die Herren, die mit Ihnen kamen zur großen Bundesmodenschau – oh, hier ist noch ein Platz frei, gnädige Frau! Ich bitte um Ruhe und Aufmerksamkeit! Laufsteg frei für das erste Kleid! Sehr viele Bonner Damen wählen das Modell Geheim aus dem Hause Gehlen; vorne zu und hinten geschlossen, der Stoff undurchsichtig und etwas verschossen, er stammt nämlich noch aus dem letzten Krieg, obwohl das Modell jüngst im Preise stieg. Wiewohl sehr prunkvoll in der Gestaltung, verleiht es doch abwehrende Haltung. Die Taschen in V -Form, unsichtbar verbunden, ein Kleid so richtig für Dämmerstunden. Ein Tusch! Und erneute Aufmerksamkeit, Laufsteg frei für das nächste Kleid! Das Modell Konjunktur wird an heißen Tagen 140 http://www.mediaculture-online.de von den Bonner Damen bevorzugt getragen, weil es in keiner Weise beengt. Es läßt sehr viel Spielraum nach unten und hängt an hauchdünnen Trägern aus schwarzem Kredit, die man beliebig verkürzt, wenn es zieht. Der Unterbesatz aus buntem Diskont. Er kann heraufgesetzt werden, wenn es sich lohnt. Die Qualität des Modells ist es nicht, was wirkt. Wichtig ist, daß es vieles verbirgt. Einen Tusch! Und erneute Aufmerksamkeit, Laufsteg frei für das nächste Kleid! Das Modell Juliusturm aus dem Hause Schäffer bezeichnet man gewöhnlich als den besten Treffer. Denn je nachdem, an welchen Tagen, kann man es doppelseitig tragen: Die eine Seite schäbig und ärmlich, ein wenig zerschlissen und ziemlich erbärmlich, trägt man gewöhnlich bei Rentendebatten und im deutschen Wirtschaftswunderschatten. Die schäbige Form ist auch noch zu preisen bei Gewerkschaftsempfängen und Auslandsreisen. Die andere Seite - reich, goldverziert und sechzigmilliardenfach demarkiert trägt man gewöhnlich bei Haushaltsdebatten und beim Besuch exotischer Potentaten. Als Steuersäckel getarnt sind die Taschen, außen verdeckt durch weite Maschen. Und ist der Inhalt auch noch so schwer, man hat stets das Gefühl, der Säckel sei leer. 141 http://www.mediaculture-online.de Ein Tusch! Und erneute Aufmerksamkeit, Laufsteg frei für das nächste Kleid! Das Modell Verfassung wurde gerade geändert und ein wenig auf zackig gerändert. An den Hals kam ein engangliegender Wickel, auch benötigt das Kleid wieder etliche Zwickel. Man versucht es zwar schon mit Gummizügen, doch das wollte dem Zuge der Zeit nicht genügen. Es war zu eng für die Bonner Figuren, trotz mancherlei Kuren. Ein Tusch! Und erneute Aufmerksamkeit, Laufsteg frei für das nächste Kleid! Das Modell Kabinett aus schwarzem Ressort herrscht neuerdings im Straßenbild vor. Es war kürzer und wird seit einigen Tagen nur noch mit 16 Knöpfen getragen. Doch sind auch von diesen Knöpfen fast alle entbehrlich, weil letztlich die Konradin-Schnalle das ganze Modell zusammenhält, und alles stürzt, wenn die Schnalle fällt. Ein Tusch! Und erneute Aufmerksamkeit, Laufsteg frei für das nächste Kleid! Meine Damen und Herren, Sie sehen jetzt unseren Dernier cri, ein Import-Modell aus den USA, das Luxus-Kleid Demokratie. Das, meine Damen und Herren, war wirklich noch nicht da. Ich bitte Sie, diesem Modell Ihr Auge zu leihen. Ehm, was ist denn das? Oh, meine Damen und Herren, bitte, Sie müssen verzeihen, 142 http://www.mediaculture-online.de aber der Mannequin weigert sich, nackt zu kommen, der Importeur hat das Kleid wieder mitgenommen. Text von Joachim Hackethal, gesungen von Ursula Noack 1957 bei den „Amnestierten“125 Vermauertes und Vernageltes. Die sechziger Jahre zwischen Aufbruch und Protest Eiszeit in den Köpfen Westdeutschland rüstet sich zum vierten Bundestagswahlkampf, als in den Nachmittagsstunden des 13. August 1961 unter dem Schutz gepanzerter Einheiten die Nationale Volksarmee Sperren gegen die Westsektoren Berlins errichtet. Vier Divisionen der bewaffneten DDR-Einheiten sind nach Berlin beordert, Staatssicherheitschef Mielke hat bei Androhung der standrechtlichen Erschießung äußerste Diskretion erzwungen und auch die westlichen Geheimdienste hinreichend getäuscht oder im unklaren gelassen. Die anschwellende Flüchtlingslawine von Ost nach West - im April verlassen allein 30 000 Menschen die DDR droht zur ökonomischen Katastrophe für das Ulbricht-Regime zu werden, 50 Prozent der Flüchtlinge sind Jugendliche unter 25 Jahre, die dem sozialistischen „Arbeiter- und Bauernstaat“ den Rücken kehren. Die überrumpelten Westalliierten greifen nicht ein, während Betriebskampfgruppen und Soldaten die Sektorengrenze systematisch abriegeln und den Steinwall errichten. Von nun an gilt der Schießbefehl, die Bernauerstraße erlangt triste Berühmtheit durch ihre Toten, die verzweifelten Zeugnisse eines letzten Fluchtversuchs. Wie die Mauer zu beseitigen sei, das ist die bestimmende Frage in den Debattierklubs am Stammtisch, aber auch im Bundestag. Protestierende Bürger im Westen bauen jeweils am Jahrestag symbolische Gedenkmauern quer durch belebte Geschäftsstraßen.126 Die Betroffenheit ist zum Teil echt, aber auch mit ganz handfesten merkantilen Interessen 125Kabarett 1946-1969, CD 1, Nr. 9. 143 http://www.mediaculture-online.de gepaart, wie bei der Bildzeitung. Sie zählt von nun an im Titelblatt das Bestehen der „Schandmauer“ Tag für Tag mit. Erst nach Jahren wird das Spiel des bigotten Protestes aufgegeben. Auch dem greisen Kanzler am Rhein, Konrad Adenauer, kommt die Entwicklung der Mauerkrise nicht einmal ungelegen, zementiert das Bollwerk doch für jedermann sichtbar die Teilung der Welt. Über die Wiedervereinigung läßt sich von der Regierungsbank zwar weiterhin vollmundig sprechen, doch Handlungen in diese Richtung sind überflüssiger denn je. Die Mauer schützt über drei Jahrzehnte vor der Überprüfung eigener politischer Positionen, sie zementiert eine Spaltung, die vielen Politikern und Intellektuellen nicht unwillkommen ist. Das Gabenpaket in die „Zone“ mit steuerlicher Absetzbarkeit ist allemal die bequemere Variante im Vergleich mit den denkbaren Problemen, die ein wiedervereinigtes Deutschland mit sich bringen würde. Trauer über die Gegenwart und die Teilung ist im Parlament angesagt, doch wer was wirklich denkt, ist von den Politikern so ohne weiteres nicht zu erfahren. Umfragen vor der Wahl im November 1961 zeigen den Vertrauensverlust des Kanzlers. 47 Prozent der Befragten meinen immerhin, er habe sich in der Krisenzeit „nicht richtig“ verhalten, nur 31 Prozent stützen ihn noch. Aus Berliner Sicht, aus der Sicht der Bedrohten, aus der Perspektive der RIAS-Insulaner ist die Einschätzung verhältnismäßig einfach. „Die Mauer muß weg“, so lautet die Devise. Am Brennpunkt des Kalten Krieges ist keine Zeit für Psychologisieren, an Ursachenforschung - zumal dann, wenn am Haus gezündelt wird - ist niemand interessiert, auch Günter Neumann nicht. Er läßt in schweren Berliner Tagen das Insulaner-Lied durch den Durchhalte-Song Woll'n wir wetten? ersetzen. Neumann gibt wie in früheren Tagen Unterricht im Überlebenskampf gegen den Osten. Die Rechnung ist die nämliche wie vor dem Mauerbau, und überhaupt: Der Westen wird siegen. Woll'n wir wetten? 1. 126Das gilt auch für die kleineren Städte, z.B. Schauplatz Esslingen am Neckar, Innere Brücke. Hier wurde die Einkaufsstraße am Jahrestag symbolisch „zuge ma u e r t“. 144 http://www.mediaculture-online.de Berlin is eine schöne Stadt, die Mumm und Lebensfreude hat, drum zuppelnse ooch immer an uns rum. Da muß man gute Nerven haben, und daß wir die Nerven haben, das nimmt uns der kleene Ulbricht krumm. Auch daß hier gute Freunde sitzen, und daß uns die Freunde schützen, davor is dem Spitzbart mehr als mies. Obendrein kommt vom Westen oft 'ne Schar von Gästen, nehm'n Se nur die vielen Kennedys. Woll'n wir wetten, woll'n wir wetten, woll'n wir wetten woll'n wir wetten, wer sich von uns länger hält: Herr Ulbricht oder Berlin? Woll'n wir wetten, was Bestand hat auf der Welt? Herr Ulbricht oder Berlin? Denn wenn Ulbricht längst kassiert is oder gar am Kinn rasiert is, bleibt Berlin - immer noch Berlin! Denn wenn Ulbricht längst jeschaßt is oder wenn er gar im Knast is, bleibt Berlin - immer noch Berlin! 2. Was sahn wir in den wilden Tagen hier für 'n Haufen Möbelwagen, weil so mancher nach dem Westen fuhr. 145 http://www.mediaculture-online.de Dann hörten draußen die Jewitzten, daß se ohne Anlaß flitzten, und nu kam'n se reumütig retour. Ein oller Urberliner Knacker von Beruf her Möbelpacker schleppte 'ne Kommode mit Elang. Und zum Kunden sprach er bieder: Türmen Sie schon wieder? Nehm' Se doch een Abonnemang! Woll'n wir wetten, woll'n wir wetten, woll'n wir wetten woll'n wir wetten, wer sich von uns länger hält: Herr Ulbricht oder Berlin? Woll'n wir wetten, wer aus de Pantinen fällt: Herr Ulbricht oder Berlin? Denn kiekt Ulbricht in der Fremde ziemlich dußlich aus dem Hemde, bleibt Berlin - immer noch Berlin! Und sind alle für uns schwier jen Volksbeglücker in Sibirien, bleibt Berlin - immer noch Berlin! (...) Die Insulaner, März 1962127 Auch die anderen Kabarett-Ensembles melden sich sehr bald mit dem Thema „Mauer“ zu Wort. Die Mauer fungiert fortan als Metapher für politische Unvernunft schlechthin, für die Konfrontation zwischen Blöcken, Menschen und Systemen. Das in Beton gegossene Bauwerk eignet sich in besonderer Weise für assoziative Sprünge und Pointen. Es dient 127Zitiert in: Sweringen, van Bryan T., 1989, S. 169ff. 146 http://www.mediaculture-online.de zur Codierung der verschiedensten politischen Widersprüche, es taugt zur Kombination von zunächst Unvereinbarem. Mit Mauer und Demarkationslinien lassen sich - trefflich für die Bretter- und Fernsehkunst - ideologische Verkrustungen anreißen. Die Mehrzahl der Künstler sehen hinter dem Symbol der Teilung eben mehr als eine faktische, auch todbringende, Grenzziehung. Wo das deutschsprachige Kabarett auf dem Höhepunkt der Zeit und mit ihr agieren kann, weitet sich das Bild zur kritischen Zwischenbilanz einer bis dato objektiv gescheiterten Deutschlandpolitik. Damit verbunden ist die Erkenntnis, daß bislang nichts zu bewegen ist, auch nicht durch die beiderseitigen Konfrontationsstrategien im Kalten Krieg. Dieter Hildebrandt beschreibt die gängigsten Muster der deutsch-deutschen Empörung, sie sind gleichzeitig eine Schule des privaten und öffentlichen Euphemismus, des Schönredens aus sehr durchsichtigem Anlaß. Die Mauer (Vor der Mauer versammelt sich eine Schulklasse aus „dem Westen „. Der Lehrer baut sich zu einer Belehrung auf.) Lehrer: Jungs und Mädels! Wir stehen vor der deutschen Schicksalsmauer, und was denken wir dabei? Schülerin: Daß wir nächste Woche darüber einen Schulaufsatz schreiben müssen. Lehrer: Nein. Sondern? Schüler: Daß es eine Schande ist. Lehrer: Richtig. Und was denken wir noch? Schülerin: Daß sie wieder weg muß! Lehrer: Gut. Und wie? Schüler: Indem wir ... indem wir ... indem die ... Weiß nicht, also wie? Lehrer: Das weiß ich auch nicht, wir haben sie ja schließlich nicht hingemacht! Schülerin: Nein, das waren die da drüben, weil sie Angst vor uns haben. Lehrer: Und ist das berechtigt? Schülerin: Na klar! Immer wenn wir Onkel Max in Neuruppin besuchen, sagt der: Jetzt kommen die Angeber wieder mit ihren Scheiß-Appelsinen! 147 http://www.mediaculture-online.de (Schulklasse ab. Eine Referentin tritt auf, ihr nachfolgend der Minister.) Referentin: Fahren Sie den Wagen des Herrn Ministers vor, wir sind in Eile! Das ist sie, die Mauer, Herr Minister. Wie sind Ihre Eindrücke? Minister: Ich bin erschüttert. Referentin: Dort ist Ihr Wagen, Herr Minister. (Beide gehen schnell ab. Zwei Herren betreten das Aussichtspodium.) Produzent: Das ist sie, Schleierkorn! Habe ich Ihnen zuviel versprochen? Schleierkorn: Fabelhaft beklemmend! Produzent: Eben. Da muß Ihnen doch was einfallen. Hier Deutschland - da Deutschland - in der Mitte die Mauer! Ist das ein Film? Was? Schleierkorn: Toller Stoff. Den Film mache ich. Produzent: Aber hart! Schleierkorn: Na ja, wenn ich mir das so überlege ... Produzent: ... wie tief das gehen kann! Produzent: Mit Berlin? Schleierkorn: Nein mit dem Stoff. Produzent: Schleierkorn! Der Stoff schreibt sich von selbst! Schleierkorn: Haha. Der Billy Wilder hat einen Ost-West-Stoff gemacht, der war heiter, da kam die Mauer dazwischen - aus. Stellen Sie sich vor, wir machen einen harten Stoff ganz ernst und ... Produzent: Und? Schleierkorn: Und die Mauer ist weg! Produzent: Malen Sie den Teufel nicht an die Wand. Die Berliner Stachelschweine, 28. August 1961128 128Hildebrandt, Dieter, Was bleibt mir übrig, 1989, S. 133ff. 148 http://www.mediaculture-online.de Die Vermarktung der Mauer in Film und Pädagogik ist hier trefflich eingefangen und berührt den ambivalenten Mauer-Protest zu Beginn der sechziger Jahre: Das Bauwerk ist das materielle Korrelat zum sklerotisierten politischen Bewußtsein. Der Ruf nach Mauerabriß trägt a priori Spuren der Halbherzigkeit und des rhetorisch geschulten Euphemismus in sich. Das Gesagte wird nicht mit Ernsthaftigkeit verfolgt, die Herolde des Westens bedienen sich ein um das andere Mal der „uneigentlichen“ Redeweise. Das Alsob beherrscht den Zungenschlag über den Berliner Status. Hannelore Kaub leuchtet in das neue ideologische Schattenreich tief hinein und bringt 1963 die doppelte Moral der Politiker scharfzüngig aufs Tapet. Diese Offenherzigkeit und Direktheit bekommt der Leiterin des Bügelbretts indessen nicht. Für die Fernsehaufzeichnung im Juli 1964 wird das Chanson auf Weisung wieder flugs aus dem Programm genommen, ein Fall von Zensur. Die hehren deutsch-deutschen Gefühle will sich das Fernsehen nach den BerlinBekenntnissen des John F. Kennedy jedenfalls nicht entweihen und beschmutzen lassen. Und jeden Tag ein Stück Am 13. August 1961 begann der Bau der Mauer durch die Regierung der DDR. Kein Mensch im Westen hat sie gewollt, und jeder von uns verurteilt sie. Und denoch wird sie täglich höher, denn wir ... Wir bauen an der Mauer, und jeden Tag ein Stück. Wir bauen an der Mauer mit tränenfeuchtem Blick. Wir bauen mit Verbissenheit, wir bauen für die Ewigkeit, und merken's nicht einmal. Wir bauen an der Mauer gedankenlos und satt, wir bauen an der Mauer, 149 http://www.mediaculture-online.de weil man die riesengroße Angst im Nacken hat. Ein bißchen Lüge und nicht dran denken, doch jeden Festtag gesamt-gerührt. Ein paar Briketts per Päckchen schenken – wir mögen nicht, wenn unser Bruder friert. Pauschales Mißtrau'n, pauschale Liebe für den Bruder, den man nur aus Briefen kennt. Pauschales Mitleid, pauschale Lüge, doch im Grunde ist uns unser Bruder fremd. Wir haben ihn zu lange warten lassen, wir rieten ihm nur immer: hab Geduld! Eines Tages wird uns unser Bruder hassen, er wird sagen: Ihr im Westen, ihr seid schuld! Was haben uns in diesen vielen Jahren eure Worte und Versprechen denn genützt? Wir haben auf euch gehofft und nur erfahren, daß ein Weihnachtsstollen nicht vor Hunger schützt. Wir bauen an der Mauer aktiv und resolut. Wir bauen an der Mauer und meinen's doch nur gut. Wir bauen an der Mauer, und jeden Tag ein Stück. Wir bauen an der Mauer mit tränenfeuchtem Blick. Wir haben stets auf Gott vertraut und still-ergeben zugeschaut, ob sich das Wunder tut. Wir bauen an der Mauer mit Phrasen und Geschick. 150 http://www.mediaculture-online.de Wir bauen an der Mauer mit dieser fünfzehn Jahre falschen Politik. Und einmal jährlich ein Tag der Einheit, mit Richard Wagner - ein Volk hat frei. Man spricht von Einheit in Frieden und Freiheit, als ob das nicht ganz selbstverständlich sei. Wann wird man aufhören mit dem Bekennen und der Wunschvorstellung: Was wir tun, ist gut! Wann wird man die Dinge beim Namen nennen? Warum fehlt uns denn für Tatsachen der Mut? Warum können wir die Wahrheit nicht vertragen, daß man Chancen, die wir hatten, glatt vertat? Warum darf man es nicht laut und offen sagen, daß da drüben ist ein zweiter deutscher Staat? Man kann nicht nur von der deutschen Einheit träumen, es ist nötig, daß man mit den andern spricht. Doch das heißt, Kompromisse einzuräumen. Na, wir wollen doch die Einheit. Oder nicht? Wir bauen an der Mauer verbissen wie noch nie. Wir bauen an der Mauer und einer Utopie. Wir bauen an der Mauer und jeden Tag ein Stück. Wir bauen an der Mauer mit tränenfeuchtem Blick. Wir hören, wie's dort drüben ist, fast jeder ist ein Kommunist, nur unser Bruder nicht. Wir bauen an der Mauer, 151 http://www.mediaculture-online.de verdummt und schizophren. Wir bauen an der Mauer, und das Ende ist vorerst nicht abzuseh'n. Selbständig handeln, politisch denken hat unser Staat uns nicht gelehrt. Es wurde immer schon bewußt nicht aufgeklärt. Und dann die Angst und das Erkennen: die da drüben sind geschult und instruiert – man wird uns geistig überrennen – wir sind in Kürze kommunistisch infiltriert. Das fürchtet man und ist darum dagegen. Diese Haltung ist gefährlich doch bequem. Dabei sind wir doch dem Osten überlegen mit unsrem westlich demokratischen System. Wir woll'n das ganze Deutschland neu vereinen ohne Opfer und reale Konzeption. Doch solange wir den zweiten Staat verneinen, bleibt die deutsche Einheit eine Illusion. Wir bauen an der Mauer, und jeden Tag ein Stück. Wir bauen an der Mauer mit tränenfeuchtem Blick. Und wenn die Wiedervereinigung kommt - die Mauer, die der Osten errichtet hat, ist an einem Tag niedergerissen, doch die geistige Mauer, an der wir beide arbeiten, wird in zehn Jahren noch nicht abgetragen sein. Hannelore Kaub, 1963129 129Kabarett 1946-1969, CD 3, Nr. 5; Kühn, Volker, Kleinkunststücke, Bd. 4, S. 243f. 152 http://www.mediaculture-online.de Was vor dreißig Jahren der Fernsehzensur zum Opfer fällt, weil das Medium Fernsehen sich wieder einmal als verlängerter Arm der Regierungsgewalt versteht, das klingt heute wie eine weitsichtige Offenbarung, die die Schwierigkeiten der Deutschlandpolitik der neunziger Jahre beschreibt. Das Lied der Hannelore Kaub darf rückblickend als die scharfsinnigste „Mauer-Analyse“ im deutschsprachigen Kabarett der Zeit bezeichnet werden. Der Blickwinkel ist analytisch und beschreibt die vorgefundene Wirklichkeit in ihrer doppelten Facette. Nicht nur die Mauer hat geteilt, auch der Westen gibt sich Janusgesichtig. Deutsches Tremolo bestimmt die Lieder an der Mauer der Klage und verdeckt das politische Kalkül der Regierungen Adenauer und Erhard. Beider Blick ist bis Mitte der sechziger Jahre - ungeachtet aller Beteuerungen stramm nach Washington und Paris gerichtet. 153 http://www.mediaculture-online.de Der beredte Außenseiter - Wolfgang Neuss Vereinnahmen läßt sich das kabarettistische Urgestein Wolfgang Neuss, der Kabarettist mit der veritablen Metzgerlehre, nicht. Er gehört zu Berlin, die Stadt zu ihm: Der Exzentriker ohne Beispiel mischt sich nicht nur nebenbei ein, seine Nachrichten über das geteilte Deutschland lassen die Medien erzittern. Er ist ein Verfolger und Verfolgter, ein messianischer Eulenspiegel und ein salbadernder Guru. Er hat bis zu seinem Tod im Mai 1989 nie die Bühne verlassen, auch nicht als zahnloser Aussteiger, als Kiffer und Fixer, der sich am Schluß seines Lebens dem Kulturbetrieb in gezielter masochistischer Provokation verweigert und von Sozialhilfe lebt und dies auch will. Er sympathisiert mit einer linken SPD, die es nicht gibt, wirbt 1965 für Willy Brandt im Wahlkampf und empfiehlt zugleich die DFU mit der Zweitstimme zu bedenken. Neuss liebt das Anarchische und überprüft sich und das System in allen Ecken und Nischen auf Glaubwürdigkeit. Im Berliner Abend verrät der Clown 1962 in einer privaten Anzeige, wer der „Halstuch“-Mörder in der Fernsehserie ist. Das Fernsehpublikum von West-Berlin tobt, die Presse ebenfalls. Es gibt Drohungen an die Adresse des deutschen Nonkonformisten, den unnachahmlichen Schnelldenker und Schnellsprecher, den Akrobaten der verwegenen und kruden Assoziation. Neuss - und dieses Dokument hat verpflichtenden Charakter – demontiert 1983 in einer Talk-Show des SFB den Regierenden Bürgermeister von Berlin und zukünftigen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker. Außerlich gezeichnet vom Abstieg in die soziale Randzone, vollführt Wolfgang Neuss hier in knapp bemessenen Sendeminuten - wild, exzentrisch, naiv und zudringlich-die verbale Ausbeinung des Politikers. Gemeinplätze des politischen Jargons desavouiert der Zahnlose, rhetorische Staffagen des Bürgermeisters zertrümmert der furiose Künstler und Kabarettist in einer wilden Kür. Nummerntheater und gelebtes Bekenntnis vermischen sich beispiellos. Der ins Fernsehen gerufene Clown holt aus, trifft sie alle noch mal, die Schönredner und Möchtegerns. Der Bogen, den Neuss gespannt hat, ist mit Pfeilen bestückt, die die Heuchler und Bigotten treffen. Im Jüngsten Gerücht, einer Solo-Nummer über Gott und die Welt, vor allem aber über Bonner und deutsch-deutsches Getümle, demonstriert Wolfgang Neuss ab Dezember 154 http://www.mediaculture-online.de 1963 im Domizil am Lützowplatz monomanische Kabarettkunst. Das Feuerwerk unverbindlicher Verbindlichkeiten, die Kaskaden des politischen Witzes machen ihn endgültig berühmt. Die Schallplattenindustrie kümmert sich jetzt auch um das Talent, und die Lobby beehrt die Gerüchtsverhandlung mit dem „Preis der deutschen Schallplattenkritik“. Das Jüngste Gerücht (Schlagzeugwirbel, von Neuss unterlegt) Faites votre jeu et venez au milieu! Guten Abend! Rauchend und trällernd begrüßt Sie hier ein Bebrillter. Ich rauche sehr gern. Sie doch auch, na klar?! Wer hat Angst vor Virginia Filter? Guten Abend! Guten Abend, auch Du politischer Banause! Wir können hier richtig deutsch diskutieren, richtig deutsch. Wir haben Verbandszeug im Hause. (Schlagzeug weiter.) Schön vorsichtig sein, hier im Keller. Der Rotwein ist getauft. Schon gehört? Der Neuss ist von der SPD gekauft. Schon gehört? Pfui Deibel! Das Schwein läßt sich mit Rompilgern ein. (Singt und johlt, Schlagzeug weiter.) Prinzessin Irene von Holland ist nach Spanien konvertiert, nicht zu fassen. Nun können wir ja wieder niederländische Eier nach Bayern lassen. Ein protestantischer Christ war in Madrid und stellt fest: Franco ist kein Faschist, sondern Antikommunist. Man beachte, daß da ein Unterschied ist. Guten Abend! Ich seh' Sie hier alle nicht ohne Rührung. Sie sehen so schön einig aus! Einig in der Passierscheinfrage, einig mit der Bundesregierung. (Schlagzeug weiter.) Nur keine Risikotaten ! Am 8. April nächste „Halstuch“-Folge. Ich glaube, ich muß bald mal wieder einen Mörder verraten! (Lachen des Publikums, Schlagzeug weiter.) Übrigens: Asylrecht kann ich hier nicht gewähren, am Schluß muß man raus aus dem Keller! Nur dadurch kann man wiederkehren. Wir alle müssen von der „Morgenpost“ genesen, wir müssen viel mehr Bücher lesen. Nächste Woche tagen im Reichstag die Bundestagsfraktionen - auch die CDU/CSU. Nanu, im Reichstag? Hat man was erkannt? Im Reichstag? Fürchtet man wieder Brand(t), Brand(t) im Reichstag? Bundesmickymaus Felix von Eckardt streut Gerüchte aus (Schlagzeug). Adenauer liest chinesische Gedichte. Chinesisch entspricht seinem Wesen. Das soll uns erst einer nachmachen: Mit 88 noch senkrecht lesen! Das jüngste Gerücht, hat mir Felix erzählt: Adenauer will Marlene Dietrich heiraten. Ich sage, na und? Muß er? - So meine Damen und Herren, spätestens an dieser Stelle beginnt die Pflicht, bis hierher war Kür. Ach, die Höcherl-Membrane hab ich noch nicht ausprobiert. Ich klage im Moment gegen Höcherl. Ich bin einer der wenigen Berliner Telefonbesitzer, die nicht abgehört werden. Ich meine, so unwichtig bin ich ja nun auch nicht, nicht? Ich sehe mir jede Woche einen polnischen Film an. Da muß man doch langsam abhörreif sein. Ich will mal ein richtiges Gerücht machen: Vor dem Bundesverfassungsgericht 1966 steht der ehemalige Außenminister Gerhard Schröder, Scheitel-Gerhard, my fair Schrödi, und sagt aus, daß er für seine englandfreundliche Politik im vergangenen Jahr von Augstein bezahlt wurde. Hui, ich merke schon, akustisch haut das alles hier noch gar nicht richtig hin. (Singt:) Sag mir, wo die Falken sind, wo sind sie gebl... (bricht ab). Die wollen doch nach Oslo, wollen die jetzt, ja. Und Senator Neubauer, der ist übrigens noch im Amt (lautes Lachen). Der hat eine völlig, der hat eine völlig neue Gerüchtslinie rausgegeben: Mit städtischem Reisegeld darf im 155 http://www.mediaculture-online.de Ausland nicht mehr gelogen, sondern muß die Wahrheit verschwiegen werden. Also, wenn man das einhält, dann dürfen die Falken hin, wo sie wollen. (...)130 Zur Zeit der Studentendemonstrationen agiert und agitiert „der Große Kleine Mann, der vollkommene Kabarettist“131 selbstverständlich gegen die Schlachten im fernen Vietnam. Er erklärt dem Krieg den Krieg, nimmt an den Zirkeln des SDS teil. Doch kopflastiges Debattieren ohne Konkretion liegt ihm nicht. In dem autobiografischen Roman „Der Mann mit der Pauke“ nimmt sich das Zusammtreffen des Kabarettisten mit den Spontis, Dogmatikern und Kommunarden und Demonstranten recht amüsant aus: „Wir saßen am Ofen. Viele andere standen, Sie sollten die Demonstration besprechen, aber was man hörte, waren theoretische Erinnerungen an den Ursprung des Vietnamkrieges. Ich wollte sofort abhauen. Aber die Leute, die an der Tür standen und sie versperrten, sahen so düster aus, daß ich ängstlich sitzen blieb und ein intelligentes Gesicht machte, als ob ich den ganzen Quatsch tatsächlich verstehen würde. Die SDS-ler erinnerten sich weiter. Sie erinnerten sich derart intensiv an den Vietnamkrieg, daß sie daraus eine Wissenschaft machten. Man wußte nicht, wogegen sie eigentlich waren und wofür, und inzwischen wurde der Krieg immer schlimmer. Ich hatte mir vorgenommen, den Mund nicht aufzumachen. Außerdem hatte ich Angst, eine unheimliche Angst, mich zu blamieren.“132 Der Protest gegen die amerikanische Kriegspolitik ist besonders in Berlin laut und vernehmlich. Die großen Zeitungskonzerne werden von der linken Szene als Ideologieträger dieser Politik entlarvt. „Haut dem Springer auf die Finger“ lautet das Motto, während die Demonstranten am Verlagsgebäude des Bechtle-Drucks in Esslingen a.N., schwäbisch verkleinernd, „Bechtle, Bechtle - Springers Knechtle“ skandieren. Wolfgang Neuss rechnet mit der BILD-Zeitung auf seine Weise ab. Hannelore Kaub hat schon 1963 ein ganzes Kabarettprogramm im Bügelbrett dem Massenblatt gewidmet, der Titel: „Millionen BILD-Leser fordern“. Wenn Neuss über das Massenblatt spricht, dann ist dies immer zugleich auch die ganz persönliche Abrechnung mit der Berliner Journaille, die den Kabarettisten im vermeintlichen Interesse ihrer bürgerlichen Leser über Jahre mit Verunglimpfungen traktiert. Neuss über sein verhaßtes Blatt: Neuss spricht BILD Das jüngste Gewerbe der Welt Zweistimmiges Anhearing. Zum Abtreiben der Manipulation. Nicht von Schering. 130Kabarett 1946-1969, CD 3, Nr. 8; Felix von Eckhardt lebte von 1903-1979 und war 1956-1962 Leiter des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 1962 - 1965 Bundesbevollmäc h tigte r für Berlin. 131Vgl. Salvatore, Gaston, 1981. 132Ebd., S. 311. 156 http://www.mediaculture-online.de BILD ist eine deutsche Geschlechtskrankheit. Mit Leichtigkeit, ohne Beschwerden kann sie in eine heilsame Zwerchfellentzündung umgemünzt werden Denn BILD ist magnetisch. Durch Neuss wird sie phonetisch. Eine Köstlichkeit: offen undemokratisch-freimütig reaktionär liberal bis zur täglichen Mord-Anstiftung für den gelungenen Ernstfall. Ich werde mich der einflußreichen Spalte annehmen. Ich benutze die Plattform, um Stellung zu nehmen mit Haltung. Ich huste den Annoncenteil. Die Anzeigen. Wir zeigen BILD an. BILD ist guuut. Machen Sie sich ein BILD, und Sie wissen wie man System mit System austreibt. In dieser Gesellschaft heißt Springer enteignen Springer beklaun. BILD verlor seinen Starreporter Roy Clark und damit erstmals Malz und Hopfen. Axel enteignen heißt Schulterklopfen (...) BILD fordert: Radikalinskis in den Osten und Wiedervereinigung! BILD, wir fragen DICH, warum erscheinst du täglich? Arbeite lieber! Wolfgang Neuss, Asyl im Domizil133 Das Kabarett von Wolfgang Neuss, seine Texte und Glossen nehmen in diesen zehn Jahren zwischen Adenauers Alleinherrschaft, der Großen Koalition und der SPDRegierung den politischen Gegner ins Fadenkreuz. Es gibt keine vornehmen oder zurückhaltenden Ausweichmanöver, keine Flucht in die Unverbindlichkeit. Die Mächtigen in Staat und Gesellschaft sind dem Scharfzüngigen allemal suspekt. Neuss verwaist schonungslos auf die braunen Wurzeln des neuen Staates, auf die Seilschaften aus der 133Neuss, Wolfgang, Asyl im Domizil, 1968, S. 101f. 157 http://www.mediaculture-online.de nationalsozialistischen Ära. Der Sänger klopft die Wohlstandsfassade des dicken Ludwigs, des gepriesenen Architekten des Wirtschaftswunders ab. Was er dort findet mieft nach Morast. Und darauf will er hinaus, der Barde, auf die Kenntlichmachung usurpierter Macht. Strauß als Sinnbild des Herrschaftsmenschen, gezeichnet durch die Spiegelaffäre von 1962 und schon wieder auf dem Weg nach oben. Er ist das Schreckgepenst der kritischen Intelligenz in West-Berlin und in der Bundesrepublik. Der ehemalige Minister für Atomfragen, der Verteidigungsminster von 1956-1962, ist immer wieder Gegenstand der heftigsten Attacken. Neuss mißtraut dem Aufrüster und parlamentarischen Schwindler, malt das Menetekel eines Auferstandenen an die Wand. O Sonnenkanzler Ludwig lange braucht der Narr sich zu besinnen. Nie wird der Staat in dem du lebst sagst du 'neu Krieg beginnen. Du willst es ganz bestimmt von mir nicht hörn: Ich würd dir so gern einmal den Krieg erklärn. Gebt doch dem Bulln aus Rott am Inn Zurück´s Ministeramt. Ihr habt ihn doch nicht für die Ewigkeit verdammt. Ihr wißt sein Appetit auf Macht ward ihm zum Grab die liberalen Neider knöpften ihm sein Pöstchen ab. Schaut auf den Kerl ein weibverschlingender Koloß er ist für das System (in dem ihr gerne lebt) der ideale Boß. Ein Mann der halbe Kälber zehrt ein Krematorium voll Fleisch und Bier sein Leib bringt ihn nicht um. Der Franz aus dem Moränenland hat mehr Verstand als selber du! 158 http://www.mediaculture-online.de Nur er schafft aus der CD eine originale NSCDU Faschist ist er? Ei freilich doch ich sage mir ein kalter Ofen ist der Grund warum ich frier. Was uns erwartet das verrät uns Strauß aus erster Hand. Rehabilitiert den Mann er liebt sein Vaterland. Verzeiht ihm doch daß er zu früh euch weckt zur Schlacht ums Abendland die euch - ich weiß - nicht schmeckt. j' Ach wenn die westzonale Sau sich bunt benimmt so seid ihr wenn sie sich eins grunzt - noch lange nicht froh. Jedoch wenn es euch juckt so ist das nicht ihr Floh. Ihr seht es kommt darauf an daß man den Vorteil nimmt den uns die Fabrikanten vor die Füße tun in Krokolederschuhn. Aus dem Programm „Neuss Testament“, 1965134 134Zitiert in: Budzinski, Klaus, Vorsicht, die Mandoline ist geladen, 1970, S. 194f. 159 http://www.mediaculture-online.de Mit strahlendem Gesicht In der großen Politik herrscht saturierte Selbstzufriedenheit, die nur durch die atomare Bedrohung gefährdet werden könnte. Der Optimismus ist grenzenlos und wird durch ein neues Zivilschutz-Konzept untermauert. Der Bevölkerung wird in breitangelegten Kampagnen die rosigen Aussichten nach einem Atomkrieg vor Augen geführt. Überleben läßt sich immer, lautet die obszöne Verteidigungsdevise 1965. In der strahlenden Zukunft kann die Aktentasche, ein Stuhl, ein Tisch - so trommelt es in Faltblättern - Lebensrettung bringen. Doch in den Ostermärschen wird das Mißtrauen gegenüber jedweder Atom- und Rüstungspolitik Jahr um Jahr von der außerparlamentarischen Opposition bekräftigt und in Erinnerung gebracht. Dieter Hildebrandt kritisiert seit 1962 in der Münchner Lach- und Schießgesellschaft den Beschwichtigungsschwindel der Bonner Politik, die ihren Bürgern die Harmlosigkeit einer atomaren Katastrophe durchaus und sehr plump schmackhaft machen will. Der Bürger soll nach den Vorgaben der Innenpolitik lernen, mit der Bombe zu leben. Wer auf die Straße geht, dagegen aufmuckt oder gegen die Verharmloser protestiert, hat ausgespielt oder ist womöglich bezahlter „Agent“ aus dem Osten. Bei Hildebrandt wird jetzt angesungen, frech, laut und auch notwendig. Es sind Lieder gegen die Gewöhnung an das Undenkbare, gegen den Gleichschritt bürgerlicher Mitläufer. Überleben Sie mal Überkleben Sie Plakate, Transparente, wo geschrieben steht, es ist nun alles aus. Überlassen Sie das bitte dem Talente, der Voraussicht unsrer Herrn im Bundeshaus. Übergeben Sie suspekte Elemente, die das sagen, der Verfassungspolizei. Auch der Untergang der Welt war eine Ente. Pazifismus ist nur leere Rederei. 160 http://www.mediaculture-online.de Weil alles halb so wild ist, wenn man nur recht im Bild ist. Weil man nur angeschmiert ist, wenn man nicht informiert ist. Weil alles halb so schwer ist, weil alles kein Malheur ist, weil jeder Amateur ist, der sich dabei empört. Überheben Sie sich sämtlicher Bedenken, Eine Bombe kostet nicht gleich jeden Kopp, Und die Kirche sagt, der Herr wird sie schon lenken, Und der lenkt sie in den Osten. Na und ob... sie aber über Oberammergau oder aber über Unterammergau, oder aber überhaupt nicht fällt, ist nicht gewiß. Bürgerin: Der Mensch von heute soll nicht höher als höchstens im Hochparterre wohnen. 1.Bürger: Warum denn das? Bürgerin: Je höher der Stand der Technik, um so tiefer muß der Mensch wohnen. 1.Bürger: Weswegen? Bürgerin: Damit er's nicht so weit in den Keller hat. 2. Bürger: (Zieht ein Buch heraus) „Eine moderne Fernrakete hat eine Geschwindigkeit von 28 000 Stundenkilometern. Die Flugzeit von Bratislawa bis München würde also fünf Sekunden betragen.“ 3. Bürger: Sagen Sie! 2. Bürger: Nein, sagt der Fachmann. 1. Bürger: Sie vergessen unser hochentwickeltes Warnsystem; es kann uns nichts passieren. 3. Bürger: Unser was? 1. Bürger: Warnsystem. (Zieht eine Broschüre heraus und liest:) „Bei einem drohenden Angriff wird die Bevölkerung durch den Rundfunk über die allgemeine Lage laufend unterrichtet.“ 161 http://www.mediaculture-online.de 3. Bürger: Sagen Sie? 1. Bürger: Nein, sagt diese amtliche Broschüre. 3. Bürger: Moment, das möchte ich wissen. Ich gehe jetzt hinaus und bin die Rakete. Einer von Ihnen spielt den Bayerischen Rundfunk, und einer zählt von 21-25, und dann schlage ich ein... Dieter Hildebrandt, 1962135 In den Ostermärschen der fünfziger und sechziger Jahre wird das Mißtrauen gegenüber der „Verteidigungs“-, Atom- und Rüstungspolitik Jahr um Jahr von der außerparlamentarischen Opposition bekräftigt und in Erinnerung gebracht. In der „Kampagne für Abrüstung“ - die Vorläuferin der Ostermarsch-Bewegung - organisieren sich bürgerliche und sozialistische Intellektuelle, Kriegsdienstverweigerer, Mitglieder von SPD und DGB und auch die Naturfreundejugend. Der nur locker formierte oppositionelle Zusammenschluß versteht sich Mitte der sechziger Jahre zugleich als Forum für die Gegner einer Notstandsgesetzgebung und reklamiert die Anerkennung der DDR. Trotz einer noch weitgehend stabilen Wirtschaft bis 1967, ist die Stimmung eher kritisch als optimistisch. Die Hatz auf verdächtige Sozialisten und Kommunisten verstärkt sich wieder einmal. Was Senator McCarthy mit der Verfolgung Andersdenkender vorexerzierte, findet in Westdeutschland durchaus Nachahmer. Aber nicht nur politisch stehen die Zeichen auf Sturm - die CDU-Mehrheiten bröckeln -, mit dem Gespenst von der feindlichen und atomaren Bedrohung versucht das christlich-liberale und später christlich-soziale Regierungsbündnis nach bewährtem Freund-Feind-Schema von eigenen Schwierigkeiten abzulenken. Die Bevölkerung, die der atombestückte Bundeswehr „entbehrt“, wird weiterhin auf die Apokalypse eingeschworen. Günstige öffentliche Kredite für die Zwischenfinanzierung privater Atombunker im heimischen Garten sollen den Eindruck erwecken, als sei das atomare Inferno prinzipiell und mit optimalen Chancen zu überleben. Das Schüren tiefsitzender Ängste gehört zur Strategie im Feldzug gegen den östlichen Feind. Die Arbeitsämter werden für den Fall der Fälle wieder mit Lebensmittelmarken ausgestattet, die in der Stunde X, merkwürdig genug, zur Verteilung kommen sollen. Dieter Hallervorden macht sich als Kopf der Wühlmäuse in diesem 135Hildebrandt, Dieter, Was bleibt mir übrig, 1989, S. 144ff. 162 http://www.mediaculture-online.de verteidigungstechnischen Sinne mit einer Assistentin seine Gedanken. Man schreibt das Jahr 1965. Maske in Gas (Hallervorden: ) Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sie wundern sich vielleicht, warum ich - von Ihnen aus gesehen von links außen - operiere. Aber es handelt sich um eine sehr delikate Angelegenheit, die von hinten rum an das Volk gebracht werden muß. Kurzum, hier erhalten Sie Ihre Überlebenschance im Falle des Atomkrieges, wie sie die BILD-Zeitung vom 10. Juli 65 verspricht, eine Überlebenschance für 4250 Pfennige. Meine MTA, meine Medizinisch-technische -Assistentin (Sie): N´abend (Hallervorden:)...wird jetzt einige Möglichkeiten Ihren Pupillen preisgeben. Denken Sie zunächst mal an so verschieden kleine Dingelchen, die Sie sich laut Gesetz ab 1.1.68 sowieso anschaffen müssen. Hier zunächst dieses zauberhaft süße kleine Gasmaske Modell... (Sie): Atomtod Hallervorden (korrigiert): Atemnot, mit der Sicherungsklappe „Schluckauf“. Also die ziehen Sie sich über den Kopf. Die ist elektronisch geprüft für höhere Ansprüche, von äußerster Sensibilität, für ganze 15 Mark. Also mal ehrlich, 15 Mark, dafür kriegen Sie sonst keine Kleidungsstücke für, nicht mal neu Hut oder so. Und manch einer hat sowieso nicht so ein schönes Gesicht, dem kommt das dann zugute. Und dann hätten wir hier noch diesen (? C. H.) mit der Notverpflegung für 20 Mark, sozusagen die Henkersmahlzeit, nicht? Da ist also drin: Kohlrüben, Brom, Kohlrüben, Schlaftabletten, Kohlrüben, Kaugummi, Kohlrüben, Kohlrüben, Kohlrüben, Kohlrüben, Kohlrüben. Oh? Kohlrüben! Also eine sehr phantasievolle Zusammenstellung für den Feinschmecker. Und dazu bekommen Sie noch für 5 Mark einen Verbandskasten und der Rest geht drauf - ich meine, für ein paar Kleinigkeiten geht der Rest drauf. Gratis dazu bekommen Sie ein nettes kleines Büchelchen, versiegelt, erst nach Eintreten des Ernstfalls zu lesen, mit dem wunderschönen Titel: „Zu spät“. Und außerdem ist dann noch vorgesehen, daß Sie sich in 10 Übungsstunden auf den Ernstfall vorbereiten. Nun werden Sie fragen, warum gerade 10 Stunden? Mal ehrlich: So lange dauert es doch schon, bis Sie das Vaterunser wieder können, nicht? Sollten Sie sich jetzt immer noch nicht entschließen können, den Dingen geistig näherzutreten, dann werde ich die Dinge jetzt mal bei ihrem richtigen Namen nennen. Da sag ich nämlich: Luftschutz, Löschsand, Volksgasmaske, Phosphorregen, statt: (Sie:) Selbstschutzbau, Vorsorge, Inspektion (Hallervorden:) Heissa, das ist ein kleiner Unterschied, oder? Na, was ist denn, der Herr? Wollen Sie nicht freudestrahlend zustimmen? Bitte? Sie sind schon 66? Da haben Sie unverschämtes Schwein gehabt, denn selbstschutzverpflichtet ist man nur bis 65. Für alles, was über 65 ist, möchte ich jetzt sozusagen außer meiner sonstigen Tätigkeit bei den deutschen Wochenschauen, mal nen ganz lieben Rat geben: Nehmen Sie ein großes weisses Tischtuch übern Arm, in die andere Hand nehmen Sie einen schönen großen Blumenstrauß, und dann gehen Sie schon mal g-an-n-zz l-ang-sa-m -mm in Richtung Friedhof. Dieter Hallervorden, vorgetragen bei den „Wühlmäusen“136 136Kabarett 1946-1969, CD 5, Nr. 5; Kühn, Volker, Kleinkunststücke, Bd. 4, S. 228. 163 http://www.mediaculture-online.de Unziviles - Agitation und APO-Kabartett Ein Blick in eine Anthologie ausgewählter „Primanerlyrik-Primanerprosa“ aus dem Jahre 1965 zeigt den politisierten Konaflikt zwischen der Väter- und Söhnegeneration. Eine gemeinsame Sprache gibt es nicht mehr. Die Jüngeren protestieren vernehmlich gegen die Gleichgültigkeit der Eltern, die das „Dritte Reich“ zugelassen oder mitgetragen haben und jetzt im Wohlstandsrausch weiteres Unrecht dulden: Vietnam. Viele Jugendliche und Kinder fühlen sich betrogen und wollen auf der vorgezeichneten Einbahnstraße nicht mitziehen. Sie fordern Rechenschaft von den Vätern. Vorwurf Uns stellt ihr euch als Helden dar. Jeder von euch will in den Krisenjahren ein Widerständlergewesen sein. Im stillen Kämmerlein so viele Jahre durch. So frag ich mich, wer war es, der gejubelt, der ja gesagt und zugestimmt? Ihr! 164 http://www.mediaculture-online.de Ihr alle, angefangen bei euch, die ihr doppelt mir an Alter heut' überlegen. Alle seid ihr schuldig, nicht nur wenige; nicht bloß einige. Alle! Primanerlyrik 1965137 Aber nicht nur in der „Schubladenlyrik“ der jungen Generation artikuliert sich Spannung zu den Vätern. Auch im populären Schlager der Zeit wird die Krise sinnenfällig - wenigstens hin und wieder. Obwohl der Schlager meist der ideologischen Kaschierung und Vernebelung verpflichtet ist, gibt es Belege, die, konträr, seine Aktualität und Zeitgenossenschaft dokumentieren. Wie auf der Bühne des Kabaretts vermag die ansprechende und raffinierte Komposition im Zusammenspiel mit lebendigen oder zeitnahen Texten eine treffende Zustandsbeschreibung abzulichten. Dem Hazy Osterwald-Sextett („Kriminaltango“) glückt 1966 mit Der Fahrstuhl die emotionale Nähe zum Gegenwartsgeschehen, zur politischen Realität in der Republik und zeigt Bruchstellen auf. Der Schlager ist in die erste Rezession der Republik plaziert, das Vertrauen in den ungebrochenen wirtschaftlichen Boom erstmals erschüttert. Die Große Koalition fungiert als Krisenmanagerin. Kurt Feltz, der Texter, hat Risse im System mit Osterwald zum Klingen gebracht. Der Fahrstuhl Der Fahrstuhl nach oben ist besetzt Sie müssen warten Sie können zum Weg nach oben jetzt 137Zitiert in: Schmid, Armin (Hrsg.), 1965, S. 72. 165 http://www.mediaculture-online.de erst später starten Der richtige Fahrstuhl für Sie fährt unter Umständen nie Der Fahrstuhl nach oben ist besetzt Sie müssen warten Sie sind kein kleiner Mann, Sie sind kein großer Mann Sie sind die Mitte Doch ab und zu stehn Sie dem Schicksal vis-ä-vis mit einer Bitte Sie denken, so dumm kann ja ich nun auch nicht sein ich steig mal in den Karriereaufzug ein Der Fahrstuhl nach oben ist besetzt Sie müssen warten die lassen zum Weg nach oben jetzt die andern starten Sie haben da keine Schuld drum haben Sie nur Geduld Der Fahrstuhl nach oben ist besetzt Sie müssen warten Sie möchten auch einmal laut rufen: hörn Sie mal und Leute jagen Sie möchten Schritte tun, wenn's sein muß Tritte tun und nicht erst fragen Sie möchten fühlen, daß Respekt Sie rings umgibt Sie möchten können, was der andre heut noch übt Der Fahrstuhl nach oben ist besetzt Sie müssen warten die Herren von der Wirtschaft geben Schecks 166 http://www.mediaculture-online.de als Eintrittskarten Minister mußt du schon sein sonst gibt dir keiner 'nen Schein Der Fahrstuhl nach oben ist besetzt Sie müssen warten Text: Kurt Feltz, Musik: Peter Laine, 1966138 Als das iranische Kaiserpaar im Frühsommer 1967 die Bundesrepublik und West-Berlin besucht, kommt es zu gewalttätigen Ausschreitungen. Angeheuerte „Jubel-Perser“ auf der einen Seite und eine brutal zuschlagende Polizei auf der anderen heizen die Stimmung in Berlin an. Eine Vermittlung zwischen Demonstranten und Ordnungskröten ist aufgrund der militanten Stimmung nicht möglich. Am Abend des 2. Juni wird der Germanistik-Student Benno Ohnesorg von einer Polizeikugel hingestreckt. Polizeiobermeister Karl-Heinz Kurras gibt um 20 Uhr 30 die beiden tödlichen Schüsse ab. Der Journalist Jürgen Henschel erinnert sich: „Wir Journalisten machten unsere Arbeit, angesteckt von der allgemeinen Stimmung. Ich pendelte hinter, vor und zwischen den Polizeilinien. So kam ich auch in den Garagenhof, wo ein kopfverletzter Jugendlicher gerade von einer jungen Frau, die offenbar nicht zu den Demonstranten gehörte, versorgt wurde. Ich wechselte mit der Frau einige Worte, machte eine Aufnahme, auch noch, als der Jugendliche auf einer Trage ins Sanitätsauto gebracht wurde. Spät in der Nacht erst endeten die Auseinandersetzungen. Am nächsten Morgen teilte der Rundfunk mit, daß ein Jugendlicher bei dem Polizeieinsatz `zum Schutz der öffentlichen Ordnung´ ums Leben gekommen war.“139 Kaum ein Jahr später wird der intellektuelle Kopf der Studentenbewegung, Rudi Dutschke, am Gründonnerstag 1968 von Josef Bachmann durch Kopfschuß schwer verletzt. Tage zuvor hat die Deutsche Nationalzeitung (22.3.68) zur bedenkenlosen Hatz auf den Studentenführer aufgerufen. „Stoppt Dutschke jetzt! Sonst gibt es Bürgerkrieg“ - so lautet die Schlagzeile im braunen Kampfblatt. Bachmann liest den Aufruf und setzt das Gelesene naiv und bedenkenlos in die Tat um. Die Saat der Presse geht auf, und ein kleiner Teil der Studenten wird sich in der Folgezeit weiter radikalisieren, bis hin zur folgenschweren Abirrung des RAF-Terrors. 138Zitiert in: Buhmann, Heide, Liederbuch der Rock- und Songpoesie, Bd. 2, 1993, S. 198. 139Henschel, Jürgen, in: Siepmann, Eckhard (Hrsg.), Heiss und kalt, 1988, S. 569. 167 http://www.mediaculture-online.de Wolf Biermann findet in diesen Schreckenswochen als erster zu Wort und (künstlerischer) Stimme. In Ost-Berlin komponiert und textet er ein Lied, das Protest und Revolte zugleich ist. Das Attentat versteht er wie die Linke nicht als bedauerlichen Einzelfall. Es ist ihm Indiz für eine aus dem Ruder gelaufene Politik, die in Bonn zum Beispiel durch den AltNazi Kurt Georg Kiesinger bestimmt wird, in Berlin durch den Regierenden Klaus Schütz. Dessen verächtliche Sentenz über demonstrierende Studenten („Ihr müßt diesen Typen nur ins Gesicht sehen“) erlangt unrühmliche Popularität. Drei Kugeln auf Rudi Dutschke 1 Drei Kugeln auf Rudi Dutschke Ein blutiges Attentat Wir haben genau gesehen Wer da geschossen hat Ach Deutschland, deine Mörder! Es ist das alte Lied Schon wieder Blut und Tränen Was gehst Du denn mit denen Du weißt doch, was Dir blüht! 2 Die Kugel Nummer Eins kam Aus Springers Zeitungswald Ihr habt dem Mann die Groschen Auch noch dafür bezahlt Ach Deutschland, deine Mörder! 3 Des zweiten Schusses Schütze Im Schöneberger Haus 168 http://www.mediaculture-online.de Sein Mund war ja die Mündung da kam die Kugel raus Ach Deutschland, deine Mörder! 4 Der Edel-Nazi Kanzler Schoß Kugel Nummer Drei Er legte gleich der Witwe Den Beileidsbrief mit bei Ach Deutschland, deine Mörder! 5 Drei Kugeln auf Rudi Dutschke Ihm galten sie nicht allein Wenn wir uns jetzt nicht wehren Wirst Du der Nächste sein Ach Deutschland, deine Mörder! 6 Es haben die paar Herren so viel schon umgebracht Statt daß sie Euch zerbrechen Zerbrecht jetzt ihre Macht! Ach Deutschland, deine Mörder! Es ist das alte Lied Schon wieder Blut und Tränen Was gehst Du denn mit denen Du weißt doch, was dir blüht! Wolf Biermann, 1968140 140Biermann, Wolf, in: Budzinski, Klaus, Vorsicht, die Mandoline ist geladen,1970, S. 213f. 169 http://www.mediaculture-online.de Frankfurt, 15.5.1968 Du hast nicht nur drei Kugel verdient, du hast vier Kugel verdient. Leider, eine hat gefehlt. Aber du sollst nicht verrecken sondern dein ganzes Leben Krüppel bleiben und leiden, leiden...Als kommunistisches Schwein und Verräter hast du es verdient. Aber dann verschwinde aus Deutschland, Verräter. Hau ab nach Moskau, du kommunistisches Schwein! P.B Bielefeld, den 16.4.68 Lieber Rudi! HAU AB AUS DEUTSCHLAND! IHR ROTEN AHNT NOCH NICHTS VON EUREM GLÜCK: BACHMANN HATTE EINE SCHLECHTE WAFFE. MEINE MÄNNER HABEN BESSERE GUTE BESSERUNG Heinrich M GENANNT:“GESTAPO MÜLLER“ Drohbriefe nach dem Attentat auf Rudi Dutschke Die allenthalben zu konstatierende Konfrontation zwischen Staatsmacht und studentischer Revolte provoziert die Kabarettisten in Deutschland. In der politisierten Auseinandersetzung müssen sie Stellung beziehen. Sie werden befragt nach ihrer Einstellung zu den Ereignissen, nach den Grundsätzen ihrer Parteilichkeit. Unentschiedenheit ist nicht möglich, „bürgerliches“ Lavieren unpopulär. Ansonsten eher literarisch orientierte Kabarettisten wie Hanns Dieter Hüsch bekennen sich jetzt zur Veränderbarkeit der Gesellschaft. Die Botschaft ist verbindlich. Die Hoffnung liegt in einer demokratisierten Gesellschaft, sozialistischen Zuschnitts ganz gewiß, vielleicht auch 170 http://www.mediaculture-online.de kommunistisch. Verismus siegt über obsolete Innerlichkeit. Es werden Utopien formuliert, Entwürfe gegen die Verkrustung entstehen. Der Kabarettist und Pädagoge Jürgen Henningsen formuliert 1967: „Das Kabarett ist ein Instrument der Aufklärung im klassischen Sinn: „Durch Mündigkeit soll Freiheit realisiert werden, wobei geistige und politische Freiheit als Einheit verstanden werden. Dieses gerade in Deutschland immer wieder suspendierte Programm scheint heute trotz aller reaktionären Tendenzen eine echte Chance zu haben, zumindest bei einer aktiven Minorität.“141 Heißer Herbst Komm heißer Herbst und mache Die Bäume alle rot Komm heißer Herbst und lache Die Herrschenden lausetot Verändre unsre Reime Denn Kunst tut nicht mehr not Grad wie die großen Bäume Mach unsere Träume rot Komm heißer Herbst und zeige Das Fallen der Blätter im Wind Daß sich kein Mensch verneige Vor denen die oben sind Verändre unsre Lieder Die Herrschenden zittern schon Komm heißer Herbst komm wieder und mache Revolution 141Henningsen, Jürgen, 1967, S. 77. 171 http://www.mediaculture-online.de Oktober soll es werden Oktober soll es sein Des Menschen Not auf Erden Sie soll zum Himmel schrein Komm heißer Herbst und bringe Weil ja sonst nichts geschieht Den Sturm zu uns und singe Mit uns ein neues Lied Ein Lied das alle hören Im Elend und in Gefahr Und sich mit uns verschwören Im Herbst und immerdar Komm heißer Herbst komm wieder Die Herrschenden zittern schon Verändre unsre Lieder Und mache Revolution. Hanns Dieter Hüsch, 1968142 Das utopische Moment ist nicht zufällig zentrales Anliegen in dem Bekenntnis-Lied. Die Hoffnung gründet sich in der Annahme, der historische Augenblick zur Revolutionierung der Gesellschaft sei jetzt, Ende der sechziger Jahre, gekommen. Selbstbestimmung, antiautoritäre Erziehung, Ablösung der Ordinarien-Universität durch basisdemokratische Strukturen, das sind die Träume in der linken Szene. Patriarchalische Strukturen kommen zwar nicht (immer noch nicht) zum Einsturz, doch das im Modell vorangetriebene Denken und Handeln hat Folgen für die kommenden beiden Jahrzehnte zwischen 1970 und 1990. 142Zitiert in: Kühn, Volker, Kleinkunststücke, Bd. 4, S. 327f. 172 http://www.mediaculture-online.de Rückblick 1993: Von Zweifeln geplagt, der Bauch gerundet Die 68er-Generation feiert silbernes Jubiläum 25 Jahre nach den 68er Studentenunruhen: Was ist davon übriggeblieben? Unter diesem Tenor diskutierten im Frankfurter Römer die alten Kontrahenten von damals die heutige Situation. Und viele kamen- zum Teil auch im Edel-Gammellook und mit Fettpölsterchen, die sich im Laufe der Jahre angesammelt hatten. Eine Nostalgie-Veranstaltung von Protestlern, die sich feiern wollten? Mitnichten. Werner Schneider etwa, damals in der APO, stellt den Gegenwartsbezug her: „Es ist eine Art Kulturkampf um 68 ausgebrochen, eine Generalabrechnung.“ Was er meint, sind politische Angriffe Konservativer, wie etwa der Vorwurf, die 68er hätten mit der antiautoritären Erziehung durch das Nicht-Anerkennen von Autorität zum Aufkommen Rechtsradikaler beigetragen. Die Frage, was ein ehemaliger 68er heute als Position dagegenhalten könnte, beschäftigte die Diskutanten und über 1000 Besucher bis in die Nacht. Es war eine Suche nach der Antwort auf die Frage: Was ist links? Ist es links, wenn Joschka Fischer selbstkritisch meint, daß das Streben nach Utopien „uns in eine tiefe Krise gestürzt“ habe? Alexander Gauland (CDU), Ex-Chef der Wiesbadener Staatskanzlei unter Walter Wallmann, hat so gut wie keine Probleme mit vielen Positionen Fischers. Aber „ich frage mich, was daran noch links sein soll“. Ein Beispiel: Würde man die damalige Technologiegläubigkeit der Linken als Maßstab anlegen, wäre „der Bundesverband der deutschen Industrie links“ - und Fischer konservativ. Es gab viel Selbstkritisches zu hören, etwa zur zeitweiligen „Schizophrenie“ im politischen Denken. Ein Beispiel nannte Alt-Sponti Daniel Cohn-Bendit: Um seinerzeit überzeugend gegen die Militärmacht USA zu demonstrieren, hätte man nicht mit dem Stalinismus in Vietnam zu sympathisieren brauchen - Blindheit auf dem linken Auge. Es blieb Cohn-Bendit vorbehalten, mit seinem moralischen Rigorismus in der JugoslawienDebatte fast die Veranstaltung zu sprengen: Während er vehement für ein militärisches Eingreifen auch Deutschlands eintrat, hatte Fischer aus historischen Gründen damit seine Probleme. Klaus Jürgen Schröder, Südwestpresse Ulm, 24. 3. 1993 Ohne die Radikalität des Protestes von 1968 lassen sich die Teilerfolge der Friedensbewegung im kritischen Jahr 1983 kaum denken, ohne den damaligen Aufbruch 173 http://www.mediaculture-online.de hätte die Protestkultur bei der Abrüstungsdebatte sicherlich ein anderes Gesicht bekommen. Der Irrweg der letztlich „unpolitischen“ RAF-Genossen ist dabei mitzudenken. Von deutlich aggressivem Zuschnitt im Kontext der Wohlstands- und Kapitalismuskritik ist Mitte der sechziger Jahre der Floh de Cologne, das satirisch-politische Chaoten-KabarettEnsemble aus Köln. Die Truppe um Dieter Klemm versteht sich ohne Ausflüchte und Hintertürchen dezidiert als ein systemkritisches APO-Kabarett, das gegen saturierte Bequemlichkeit und auch die externe Gewalt im Vietnam-Krieg laut und vernehmlich opponiert. Die Presse reagiert auf die gewagten Auftritte immer wieder mit Kopfschütteln. Den Kritiker des Reutlinger Generalanzeiger packt 1969 anläßlich des 7. Programms das schiere Entsetzen und er ruft nach dem Staatsanwalt. So hat der bestallte Kritiker nicht gewettet. Er sorgt sich um die „guten“ Sitten und den „guten“ Geschmack. Der Floh ist angetreten, die Große Koalition (1966) von CDU/CSU und SPD zu „entlarven“ und muß sich nach und nach die begrenzte Einflußmöglichkeit durch die kabarettistische Agitation eingestehen. In einem Selbstbekenntnis der Truppe aus dem Jahr 1969 heißt es lapidar: „Mit dem bürgerlichen Kabarett kann man bei dem bürgerlichen Publikum als Sozialist nichts erreichen. Man kann die Kassen füllen, man kann den Schreiberlingen der Feuilletonspalten zu erhöhtem Zeilenhonorar verhelfen, man kann sich auf den Kopf stellen und „Sozialismus“ brüllen, das Publikum wird klatschen, weil es in dieser Art noch keiner gesagt hat. Man will eine scharfe Kritik genießen, sich anbrüllen lassen und das Ganze eine Spur zu einseitig finden. Diese Leute lassen sich sogar anpissen, wenn es formal gut gelöst wird.“143 Die neue, auch verzweifelte Rache des Flohs lautet zum Beispiel im Programm für die Reutlinger Tonne: „Antiautoritär vom Scheitel bis zum Pimmel.“ Die Provokation hat sich als Ultima ratio und anstelle des sanften oder aufklärerischen Diskurses in die Theatergewölbe eingeschlichen. Die Agitation der Hoffnungslosen gipfelt in juristischen „Grenzüberschreitungen“, im Affront gegen das bürgerliche Wertesystem und -korsett: „Zieht in leerstehende Häuser und Wohnungen ein! Treibt vorehelichen Geschlechtsverkehr oder Ehebruch! Stehlt die Grundnahrungsmittel, die ihr braucht!“ Im 143Floh de Cologne, 1971, S. 61. 174 http://www.mediaculture-online.de biederen Schwaben, im stillen Mekka von Deutschlands Millionären, in der Friedrich ListMetropole Reutlingen klingt das so: wenn den Blinden das Astloch im Zaun stört wenn Frau Schulze dem Minirock-Mädchen mal ordentlich den Hintern versohlen will wenn Herr Schulze dem Langhaarigen mal gehörig den Marsch blasen will wenn Frau Mayer den Studenten in ein Arbeitslager schicken will wenn Frau Müller den Lustmörder lynchen will wenn Herr Schmidt dem Rocker mal ordentlich eins in die Fresse hauen will wenn Müllers Aggressionen Ruhe stiften wenn Mayers Sadismus Ordnung schafft wenn Schulzes Verdrängungen für Sitte und Anstand sorgen wenn die eigenen verbotenen Träume durch Menschenopfer beschwört werden sollen wenn die Moral ihre Lustmorde braucht, um sich zu rechtfertigen wenn die lüsterne Beschreibung des Lustmords zugleich die Todesstrafe fordert wenn die Sühne am Lustmord zur Lust am Mord wird wenn sich also jemand für sein schlechtes Gewissen an anderen rächt, so geschieht Recht wenn das Recht zum Recht auf Sadismus wird dann ist Himmelfahrt dann besuchen wir Kardinal Spellmann sitzend zur Rechten Gottes umringt von den amerikanischen Heerscharen dann besuchen wir die Päpste 175 http://www.mediaculture-online.de wenn sich die Hirten erheben sitzend zur Linken Gottes stapfen sie durch Milliarden abgetriebener und verhungerter Kinder Frau Müller, Sie haben die Erlaubnis, den Lustmörder zu lynchen. Wo fangen Sie an? Frau Müller, wo fangen Sie an? Frau Müller, wo fangen Sie an? Würden Sie ihn zuerst nackt ausziehen? Würden Sie ihn nackt ausziehen? Frau Müller, an welcher Stelle fangen Sie an? An welcher Stelle fangen Sie an? Frau Müller, wo fangen Sie an Herr Müller, es geht um die Freiheit. Sie haben den Befehl, diesen Vietcong zu foltern. Wo fangen Sie an? Herr Müller, wo fangen Sie an? Herr Müller, wo fangen Sie an? Würden Sie ihn zuerst nackt ausziehen? Würden Sie ihn nackt ausziehen? Herr Müller, an welcher Stelle fangen Sie an? An welcher Stelle fangen Sie an? Herr Müller, wo fangen Sie an? 176 http://www.mediaculture-online.de Floh de Cologne, 1969144 Die Revolte-Lieder sind in ihrer Mehrzahl von literarisch gewiß nur mittlerer Qualität. Der Protest gegen die Gewalt des bestehenden Systems ist oft ein ungelenker anarchischer Aufschrei. Dennoch argumentiert der Floh verhältnismäßig stringent. Es geht nicht (nicht nur) um Zerschlagung der verfestigten Strukturen. Die neue Gesellschaft und die Utopie werden gleichzeitig angemahnt. Die Kabarett-Analytiker in den Zeitungen übersehen das gelegentlich und lassen sich von der analen Vulgarität (wie gewünscht) einschüchtern oder blenden. Anders als Dieter Süverkrüp, der mit dem Floh 1968 eine LP herausbringt145, verkriecht sich die provinzielle Journaille hinter den Postulaten der Ruhe, Ordnung und Sauberkeit. Floh de Cologne im Gespräch Aber ihr wart doch schon ein relativ etabliertes Kabarett? Kabarett schon, aber ohne daß wir es wirklich sein wollten. Wir haben mit Studenten-Kabarett angefangen im Rahmen der Kölner APO, SDS-Linie. So Stichworte: Wir sind alle mal nach Berlin gefahren, haben ordentlich Rabatz gemacht auf dem Kudamm. Haben Marx bis Marcuse gelesen und das so verarbeitet. Haben sozusagen das Ding „für die APO“ gemacht. Trotzdem hattet ihr gute Resonanz bei den Schlipsen? Ja, ging los wie die Tiere. Die waren alle gewöhnt an „Lach- und Schießgesellschaft“ und die Berliner „Stachelschweine“ im Fernsehen. Und die war'n also brav und wir war'n also frech ... Und so saßen wir da, wir hatten auch 'n festen Spielort in Köln. Da paßten so hundert Leute rein, die zweimal in der Woche kamen. Da kamen die ersten Bürger nach Feierabend hin, 'ne Pulle Sekt, und dann ließen sie sich von uns alles erzählen, lachten, freuten sich, „nette Jungs“. Und ihr habt denen „schön radikal“ einen vorgekaspert? Ja. So hübsch hat das noch keiner gesagt. Leider ist das falsch. Das ist die Reaktion gewesen bei den Bürgern und ihrem Kabarett. Ihr habt Schock-Therapie betrieben, das hat funktioniert, und die Leute sind euch weggelaufen 67/68. 144Ebd., S. 64f. 145 Ihr Titel: „Vietna m“. 177 http://www.mediaculture-online.de Das Ding hieß „7. Programm“ und war 'n absolutes Anarcho-Programm! Haben da auf der Bühne rumgewichst und uns ausgezogen, und da steht auch 'ne schöne Kritik irgendwo in Reutlingen, wo der Bürgermeister unter Protest den Saal verlassen hat und alle anderen mit. Das war so die Linie: das Bürgertum aus dem Saal zu prügeln, und wenn der Saal dann leer ist, könnten wir uns überlegen, wen wir uns reinholen. So war auch die ganze Systemkritik damals angelegt: erst mal alles kaputtmachen und dann gucken, was wir danach machen. Das war gut zu erklären aus der Zeit. Ja, und heute haben wir uns überlegt, für wen wir spielen wollen. Wir haben gedacht, junge Leute, Lehrlinge, Arbeiterjugend, die ändern sich noch im Kopf. Die sind noch nicht so kaputt und konsumorientiert wie die älteren Kollegen. Also erst mal am besten den Spiel-Ort aufgeben, die kommen nicht dahin, wo du bist, sondern die mußt du dir suchen.146 Schmutz aus Köln Peinliches Gastspiel in der Reutlinger Tonne Unter dem Vorwand, ein kabarettistisches Programm zu bringen, haben fünf Männer aus Köln am Wochenende in der Reutlinger „Tonne“ kübelweise Schmutz und Dreck über das Publikum gegossen. Ihre Ausdrücke, Wortbilder und Vergleiche muten einen wie eine Blütenlese aus Kaschemmen an, in denen der menschliche Abschaum verkehrt. Das Programm dieses fragwürdigen Quintetts, das sich „Floh de Cologne“ nennt, war zudem so bar jeden Geistes, Witzes und künstlerischer Qualität und so voller Plattitüden und Ungereimtheiten, wenn es „politisch“ wurde, daß jeder Vergleich auch mit der denkbar niedrigsten künstlerischen Produktion hinken müßte. Was da geboten wurde, war ganz schlicht und einfach Schmutz und Dreck aus Köln, für den Alf André, Leiter der „Tonne“, hier die Bühne freigab. Diese Abschaum-Pornographie wurde zudem noch als Textbuch an Jugendliche verkauft! Hut ab vor denen, die nach den ersten Schweinereien und Unflätigkeiten dieser „Flöhe“ (ein treffender Name, denn Flöhe sind Ungeziefer) die Tonne verließen, weil ihnen dieser Schmutz vermutlich einen Brechreiz verursachte. Der Protest des Publikums wurde am Premierenabend auch sonst deutlich: Keine einzige Hand erhob sich, als die letzte Jauche verspritzt war. Kein Beifall. Weil es jugendgefährdend wäre, gegen Sitte und Anstand verstoßen und unsere Leser anekeln würde; können hier keine Textproben gebracht werden. Die Feststellung muß genügen, daß in der „Tonne“ verletzt, beleidigt und beschmutzt wurde, was nur denkbar ist: Der gute Geschmack, jede Moral, die Frauen, die Kirche, der Staat und last not least Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger. Zu einer anderen Darstellung als etwa eines Koitus oder des Onanierens auf offener Bühne zeigten sich diese Leute unfähig. Ihre einzige Fähigkeit bestand darin, ohrenbetäubend laut zu sein. Hier hat der Kritiker zu schweigen. Hier haben Staatsanwalt, Richter und Jugendschutzbehörden tätig zu werden, und zwar schnell. Am kommenden Wochenende soll dieser „Floh“-Schmutz nämlich über Tübingen ausgegossen werden. Auch von einer subventionierten, mit Steuergeldern finanzierten Bühne herab! E.G. Schäfer, Reutlinger Generalanzeiger, 24. März 1969 146Abdruck in: Peinemann, Steve B., 1980, S. 22f. 178 http://www.mediaculture-online.de Mit dem Wechsel von der Großen Koalition zur sozialliberalen Regierungsmannschaft im September 1969 hat sich auch das Selbstverständnis vieler Kabarettisten geändert. Einige Künstler setzen auf die neuen politischen Akzente, doch ist ihnen damit gleichzeitig der Boden zur Kritik an den Bonner Verhältnissen entzogen. Willy Brandt formuliert mit Egon Bahr die neue Deutschland-Politik und mahnt zur Versöhnung, die Akteure der Ära Adenauer hat es auf die Oppositionsbänke verschlagen. Das ist für das Strauß- und CDUfixierte Kabarett in Deutschland nicht eben lustvoll, weil der Stein des Anstoßes zunächst im Abseits liegt. Zu kabarettistischem Mißmut ist freilich kein ernstlicher Anlaß: im sozialdemokratischen Frühling wachsen die Skandale heran, der Sauerteig fürs gute Kabarett. Mit den Berufsverboten, die sich die Regierung Brandt leichtfertig aufschwatzen läßt, mit der Einengung der Grundrechte im RAF-Fieber wuchert unversehens wieder neuer Stoff heran. Willy Brandt taugt nicht als Figur fürs Kabarett, allenfalls für die zahlreichen Stimmenimitatoren, die sich schon lange an Herbert Wehner und dem Bayern-König Strauß üben. Der Konsens über das, was Kabarett soll und was es kann, schwindet. Die Kabarettisten sprechen selbstkritisch von Krise, die Revolution ist erst einmal vertagt. Hannelore Kaub vom Bügelbrett beschreibt die Krise in der Krise. Das Kabarett ist tot, es lebe das Cabaret! Wir können noch so bös-satirisch bis zum Tag St. Nimmerlein gegen Notstandsrecht und Springer und den Krieg in Vietnam sein. Gegen atomare Rüstung, gegen Staat und Parlament, das perfekte Koalieren, gegen das Establishment. Gegen Waffenlieferungen an das Pattakos-Regime Kabaretts, die dürfen so was. Links zu sein ist legitim! 179 http://www.mediaculture-online.de Wir genießen Narrenfreiheit. Unsereins, der ist für die mit dem ungeheuren Phlegma das bequeme Alibi. Ihr Do-it-yourself-Ersatz, d.h. alles, was wir brachten, was wir tun und was wir machten, war umsonst und für die Katz. Unsretwegen ist kein Kanzler durch die Hintertür entwichen. Unsretwegen wurde noch kein Polizeichef suspendiert. Unsretwegen hat Justitia sich nie auf so jämmerliche Art und Weise bloßgestellt und bis auf die Haut blamiert. Wir hab'n weder Bürgermeister noch Senat zu Fall gebracht. Höchstens mal zum „Drüber-lachen“, doch nie lächerlich gemacht. Wir hab'n engagiert und witzig kritisiert und resigniert, uns're Ohnmacht rührend, tapfer so wie Märtyrer goutiert. Und sie hab'n gelacht. And're hab'n für uns gehandelt: revoltiert statt diskutiert, den Protest der Minderheiten zu Opposition formiert. Und aus Ohnmacht wurde Macht. And're haben es gewagt. Wir dagegen hab'n versagt. 180 http://www.mediaculture-online.de Die Peitsche liegt in andern Händen. Traurig, traurig so zu enden. Das Kabarett, das Kabarett, das Kabarett ist tot! Es lebe das Cabaret! Fritz Teufel bei der Haftentlassung mit Adventskranz aufem Kopp. So ein Gag sagt dreimal mehr aus als zwei Stunden Agitprop. Selbst die kleine Anti-SpringerKampfplakette am Jackett regt den Durchschnittsbürger mehr auf als zwei Stunden Kabarett. Jeder Piepser der Kommune, jede Kunzelmann-Aktion hat beim Publikum mehr Chancen auf gereizte Reaktion. Der Gefängnishof von Tegel als Protestfeld für Vietnam Teufel sagt uns, was Satire heute noch erreichen kann. Schon alleine die Idee, einfach Strafanstaltsinsassen gegen Krieg marschieren lassen. Wir gehör'n ins Cabaret. Mit Vietnam hab'n wir noch keinen aus dem Sessel hochgerissen. Bei Vietnam, da wurde nur noch leise, höflich applaudiert. 181 http://www.mediaculture-online.de Seit dem Tage, als die andern Eier und Tomaten schmissen, wird das Thema doch zumindest oft und offen diskutiert. Hochschulkrise, Bildungsnotstand, das hat keinen aufgeweckt. Erst ein Wurfgeschoß aus Pudding hat die Leute aufgeschreckt. (...) Hannelore Kaub, 1967147 Zwanzig Jahre später bemerkt die Kabarettistin sichtlich resigniert: „Die gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeiten haben sich so verändert, daß die menschliche Fantasie eigentlich nicht ausreicht, um sich die nächste Steigerung zum Bösen überhaupt vorzustellen (siehe: Südafrika, islamischer Fundamentalismus, Umwelt, Menschenverachtung beim Thema Asyl, Schamlosigkeit der Politiker etc. etc.). Und da das Kabarett auf Realität reagiert, werden auch wir immer böser, schärfer, verzweifelter.“148 Verzweiflung, Wut und Schrecken Der überwachte Staat Die blutigen Anschläge der RAF-Terroristen Anfang der siebziger Jahre und die Reaktionen darauf haben in kurzer Zeit die Hoffnungen auf den liberalen und sozialdemokratisch orientierten Rechtsstaat zerschlagen. Mit der Befreiungsaktion von 147Kaub, Hannelore, zitiert in: Meyer, Ellen, S. 260ff. 148Ebd., S. 264. 182 http://www.mediaculture-online.de Andreas Baader aus dem Berliner Gefängnis eskaliert im Mai 1970 der Straßenterror der RAF. Mord und Totschlag gehören zum einkalkulierten Risiko der stalinistischen Desperados, die eine fremde Sprache sprechen und sehr bald auch in der linken Szene keine Unterstützung mehr finden. Im US-Hauptquartier explodiert 1972 eine Bombe und tötet drei Soldaten. Peter Lorenz, Landesvorsitzender der CDU in Berlin, wird entführt, Generalbundesanwalt Siegfried Buback im April 1974 ermordet. Im Göttinger Untergrund stiftet ein unbekannter „Mescalero“ mit seinem Rechtfertigungs-Nachruf Verwirrung: „Ich konnte und wollte (und will) eine klammheimliche Freude nicht verhehlen“.149 Das kleine Wort „klammheimlich“ ist von da an für Jahre unbrauchbar. Es ist ein „Un-Wort“, besetzt mit fahrlässiger Verachtung für das Leben und den politischen Diskurs. „Klammheimlich“ wird aber auch zur Schlag-tot-Keule gegen Intellektuelle, die nicht müde werden wollen zu differenzieren, um zu verstehen. Wer den sogenannten Buback-Nachruf abdruckt, muß sich nun seinerseits der Verherrlichung von Gewalt bezichtigen lassen. Den PsychologieProfessor Peter Brückner erwartet in diesem Sinne ein mehrmonatiges Verfahren. In Stuttgart-Stammheim werden Baader, Ensslin und Raspe zu lebenslänglich verurteilt, im Oktober begehen sie in ihren Zellen Selbstmord. Der Terror der RAF hebt die Republik nicht aus den Angeln. Der Amoklauf hat gleichwohl schwere Folgen für die Demokratie und den Rechtsstaat. Der „Radikalenerlaß“, der Beschluß der Ministerpräsidenten der Länder vom Januar 1972, ist ein solcher gravierender Einschnitt. Wer im öffentlichen Dienst arbeitet, hat mit hochnotpeinlichen Überprüfungen zu rechnen. Verfassungstreue und eine „untadelige“ politische Weste sind gefragt. Das gilt nicht nur für den Lehrer und den Gerichtsreferendar, auch der Briefträger und der Schaffner bei der Bundesbahn müssen den Lebenslauf unter Beweis stellen. Die Angst vor der beruflichen Zukunft schlägt bis in die Seminare der Universitäten durch: Es werden jetzt unverfängliche Diplom- und Magisterarbeiten geschrieben, politischen Fragestellungen weichen verunsicherte Studenten tunlichst aus - sicher ist sicher. Der politischen Realität, die Mitte der siebziger Jahre in der Republik vorzufinden ist, läßt sich nicht mehr mit sanften Späßen begegnen. Wo es den Literaten nicht die Sprache verschlagen hat, da üben sie sich bei Gelegenheit in der decouvrierenden Satire, dem Aufschrei gegen die gewachsene Deformation in der Gesellschaft. Peter O. Chotjewitz 149Abdruck in: Flemming, Thomas, Chronik 1977, Dortmund 1991, S. 61 183 http://www.mediaculture-online.de bekennt sich zu seinen politischen Schwächen und hofft, vor diesem seinem Staat Gnade zu finden. Beichte des Staatsbürgers Herr, im Lichte Deiner Wahrheit erkenne ich, daß ich gesündigt habe in Gedanken, Worten und Werken. Ich soll Dich meinen Staat und Herrn über alles lieben, aber ich habe mich selbst mehr geliebt als Dich. Du hast mich zu Deinem Diener gemacht, aber ich habe die Zeit vertan, die Du mir anvertraut hast. Du hast mir Gesetze gegeben, sie zu lieben wie mich selbst, aber ich erkenne, wie ich versagt habe in Hochmut und Eigenmächtigkeit meines Geistes. Darum komme ich zu Dir und bekenne meine Schuld. Richte mich, mein Staat, aber verwirf mich nicht. Ich weiß keine andere Zuflucht, als Dein unergründliches Erbarmen. Verfolge mich wegen Unterstützung einer kriminellen Vereinigung, Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener, Verherrlichung und Verharmlosung von Gewalt, durchsuch mein Haus mit Maschinenpistolen bei Gefahr im Verzug, nimm mich vorläufig fest und verhäng über mich die Präventivstrafe der Kontaktsperre auf daß ich dreißig Jahre lang kein Lebenszeichen von mir gebe, verurteile mich in einem Schnellverfahren mit gefälschten Beweisen und ohne Anwälte meines Vertrauens, bestrafe diejenigen, die sich für meine Haftbedingungen und meinen Prozeß interessieren, insbesondere aber jene, die die Öffentlichkeit aufzuklären versuchen, wie mich selbst, unterrichte alle Zeitungen und Rundfunk- und Fernsehanstalten, damit die Welt erfahren möge, daß ich gesündigt habe wider Deinen Geist, aber ich bitte Dich: Vergib mir alle meine Sünden. Ich glaube an den Staat, den allmächtigen Schöpfer Himmels und der Erden und an die freiheitlich demokratische Grundordnung, unser unerklärliches Gesetz, empfangen vom internationalen Finanzkapital, geboren vom parlamentarischen Rat, gelitten unter Max Reichmann und der außerparlamentarischen Opposition, gekreuzigt, gestorben und begraben vom deutschen Bundestag, niedergefahren in die Massenmedien von dannen sie kommen wird, zu richten die Lebenden und die Toten. Ich glaube an das Kapital, die freie Marktwirtschaft, den deutschen Bundestag, die Gemeinsamkeit der Demokraten, die Bundesanwaltschaft, das Bundeskriminalamt, den Bundesverfassungsschutz, den Bundesnachrichtendienst, den Bundesgrenzschutz, Auferstehung des Fleisches und ein ewiges Leben, Amen. Schmidt erbarme Dich unser, Kohl erbarme Dich unser, Strauß erbarme Dich unser. Ehre sei dem Staat in Bonn und Friede auf Erden und egal wie es den Menschen geht, Halleluja, halleluja, halleluja! Peter O. Chotjewitz, 1977150 Im Bundestag geht im Herbst 1977 alles drunter und drüber. Im Parlament dabattieren am 29. September die Abgeordneten ein Gesetz über die zeitlich begrenzte „Kontaktsperre“ für inhaftierte Terroristen. Bereits am folgenden Tag stimmt das Hohe Haus der Vorlage zu. Der Disput zwischen den Befürwortern und Gegnern der Vorlage spiegelt die explosive Stimmung wider, es herrscht ein Klima der Unterstellung und wechselseitigen Verunglimpfung. Abwägen der Argumente ist nicht gefragt. Aus der Distanz von rund zwanzig Jahren hat der Schlagabtausch etwas Gespenstisches, ist selbst Teil eines Cabaret macabre. 150Chotjewitz, Peter O., in: Boehnecke, Heiner u.a., Nicht heimlich und nicht kühl, 1977, S. 38. 184 http://www.mediaculture-online.de Bundesminister Dr. Vogel Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren, namens der Bundesregierung danke ich allen, die in dieser Woche unter Anspannung ihrer Kräfte am Zustandekommen dieses Gesetzes mitgewirkt haben. Die Bundesrepublik hat damit ihre Handlungsfähigkeit unter Beweis gestellt und das Erforderliche ebenso besonnen wie entschlossen getan. Die Verfassungsorgane dieser Republik werden ihre Pflicht unter diesen Gesichtspunkten und Maximen auch künftig tun. (Beifall bei der SPD und der FDP und bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsident Stücklen: Das Wort hat der Herr Abgeordnete Coppik. Coppik (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute ein Gesetz, das erst gestern in diesem Bundestag eingebracht wurde und dessen endgültiger Wortlaut den Abgeordneten sogar erst heute früh, also vor wenigen Stunden, vorgelegt wurde. Bei einem wichtigen Gesetz ist das ein ungewöhnlicher, ja, ein einmaliger Vorgang. (Dr. Stark (Nürtingen) (CDU/CSU): Sie waren doch bei der Beratung gar nicht dabei!) Da bei diesem Gesetz Grundfragen des Verhältnisses von rechtsstaatlichen Verfahrensgarantien und den Notwendigkeiten der Terrorismusbekämpfung angesprochen werden. macht die Geschwindigkeit der Verabschiedung es um so notwendiger, alle hier zu berücksichtigenden Gesichtspunkte mit aller Sorgfalt abzuwägen. Die Sorgfalt und die Nüchternheit dieser Abwägung werden dadurch zusätzlich erschwert, daß wir dieses Gesetz in einer außerordentlichen Situation beraten. Die Morde von Köln und in den Niederlanden und die ungeklärte Situation im Entführungsfall Schleyer haben eine breite Welle berechtigter Empörung in der Bevölkerung hervorgerufen. In einer solchen Situation ist es außerordentlich schwer, Gehör gilt Argumente zu finden, die für Besonnenheit werben. Vizepräsident Stücklen: Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Stark (Nürtingen)? Coppik (SPD): Nein, ich bedaure. Ich möchte keine Zwischenfragen gestatten. (Dr. Ritz (CDU/CSU): Die wären Ihnen sehr peinlich! - Weitere Zurufe von der CDU/ CSU). Es ist außerordentlich schwer, Gehör für Argumente zu finden, die für Besonnenheit werben. (Dr. Klein (Göttingen) (CDU/CSU): Warum waren Sie denn nicht im Rechtsausschuß? Dr. Stark (Nürtingen) (CDU/CSU): So eine Unverschämtheit! Unerhört!) Da ist es viel einfacher, mit einer Handbewegung über solche Argumente hinwegzugehen und, dem Gefühl folgend, mehr Härte zu verlangen, auch dann, wenn man bei sorgfältiger Prüfung feststellen würde, daß diese Härte zwar nichts verhindert, aber die Erscheinungsformen dieses Staates schrittweise so umgestalten kann, daß seine rechtsstaatlichen Grundstrukturen in Gefahr geraten. (Leicht (CDU/CSU): Pfui!) 185 http://www.mediaculture-online.de Damit keine Mißverständnisse aufkommen, möchte ich an dieser Stelle eine Bemerkung machen, die mir infolge der bisherigen öffentlichen Diskussion erforderlich zu sein scheint, bei der seitens einiger Oppositionspolitiker der verantwortungslose Versuch unternommen würde, alle, die sich mit dem Problem des Terrorismus differenziert auseinandersetzen. (Dr. Jenninger [CDU/CSU): Sie waren ja gar nicht im Ausschuß, Herr Kollege!) alle, die nicht nach Popularität, sondern nach der Vernunft ihre Meinung bilden, (Dr. Jenninger [CDU/CSU): Sie sollten in die Ausschußsitzungen gehen!- Weitere Zurufe von der CDU/CSU) als Sympathisanten, geistiges Umfeld und ähnliches zu diffamieren. (Dr. Jenninger (CDU/CSU]: Warum gehen Sie nicht in du Rechtsausschuß, Herr Kollege? Ich wäre an Ihrer Stelle bei den Ausschußberatungen gewesen - Dr. Stark (Nürtingen) (CDU/CSU]: So eine Unverschämtheit - Dr. Ritz [CDU/CSU]: Unerhört! Weitere erregte Zurufe von der CDU/CSU) - Man merkt, wie schwer es für Sie offensichtlich ist, Argumente anzuhören. (Dr. Jenninger (CDU/CSU): Im Rechtsausschuß haben wir Argumente beraten! - Unruhe bei der CDU/CSU) Damit Sie s nicht zu einfach haben, (Dr. Klein (Göttingen) (CDU/CSU): Warum haben Sie Ihre Argumente nicht im Ausschuß vorgebracht?) sage ich hier ganz deutlich: Ab demokratischer Sozialist lehne ich Mord, Terror und überhaupt Gewalt in einer parlamentarischen Demokratie ab, und zwar ohne jedes Wenn und Aber. (Beifall bei der SPD - Dr. Jenninger (CDU/ CSU): Das haben wir gern) - Dr. Klein (Göttingen) CDU/CSU): Das ist ja ungehäuerl! - Dr. Stark (Nürtingen) (CDU/CSU): Das ist ja wohl das wenigste! - Dr. Jenninger (CDU/CSU): Arbeiten sollte man wenigstens Weitere Zurufe von der CDU/CSU) Das Ziel einer humanen, einer sozialistischen Gesellschaft ist mit den Mitteln des Mordes und des Verbrechens weder vereinbar noch erreichbar. (Beifall bei der SPD - Erhard (Bad Schwalbach) (CDU/CSU): Wer sich entschuldigt, klagt sich an! - Weitere Zurufe von der CDU/CSU) Coppik Terror nutzt objektiv nur den Kräften der Reaktion. (Zurufe von der CDU/CSU: Unglaublich! Unerhört! Pfui!) Mit ihren Schüssen schafft die RAF die Stimmung, die die Reaktionäre in unserem Land brauchen, um das kaputtzumachen, was in vielen Jahren mühsam an demokratischen Errungenschaften und rechstsstaatlichen Garantien erkämpft wurde. Auch deshalb bin ich gegen Gewalt und Terror. Aber auch deshalb, 186 http://www.mediaculture-online.de (Reddemann (CDU/CSU): Auch deshalb! Und der kommt aus einer Regierungspartei!) damit diese Rechnung der Terroristen nicht aufgeht, bin ich gegen jeden Abbau der Freiheitsrechte in unserem Land, und deshalb bin ich auch gegen dieses Gesetz. (Weitere Zurufe von der CDU/CSU) Nach dem vorliegenden Gesetzentwurf sollen bei terroristischen Anschlägen die Gefangenen, die der Zugehörigkeit zu einer terroristischen Vereinigung verdächtigt werden, von jeder Verbindung untereinander und mit der Außenwelt isoliert werden. Das hört sich zunächst unproblematisch an. Die Probleme werden aber besonders deutlich, wenn man bedenkt, daß diese Regelung auch für die nach einem solchen Anschlag neu Verhafteten gilt. Und wer da auch noch sagt:"Was geht das mich an? Ich habe nichts mit Terroristen zu tun", dem muß deutlich gesagt werden, daß nach dem neuen Gesetz niemand, und sei er noch so unschuldig, davor sicher sein kam, etwa auf Grund einer Denunziation verhaftet zu werden und für Wochen und Monate ohne jeden Kontakt zu einem Rechtsenwalt (Pfui-Rufe bei der CDU/CSU) oder auch nur zu seinen Familienangehörigen in einem Gefängnis zu verschwinden. (Zurufe von der CDU/CSU) Ich halte das unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten für unerträglich. (Zurufe von der CDU/CSU) Inzwischen liegt uns ein Änderungsantrag vor, der sich mit dieser Kernproblematik befaßt. Es ist nicht möglich, jetzt etwas zu diesem Antrag zu sagen, zumal da er uns erst seit ganz kurzer Zeit vorliegt und die Aussichten seiner Annahme von mir jetzt nicht zu beurteilen sind, wobei immer noch die Frage ist, welche Zielsetzung diesem Gesetz dann verbleibt. Ich muß von dem ausgehen, was uns hier als Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses vorliegt. (Dr. Stark (Nürtingen) (CDU/CSU): Haben Sie es wenigstens gelesen?) Es ist nun einmal so, daß die Möglichkeit, sie im Falle der Verhaftung mit einem Rechtsanwalt eigener Wahl in Verbindung zu setzen, zu den grundlegenden Bedingungen eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens gehört. Ich bezweifle, ob der Ausschluß dieser Möglichkeit überhaupt mit den Bestimmungen der Menschenrechtskonvention vereinbar ist. Meine Damen und Herren, daß auch ein Unschuldiger verhaftet werden kann, ist doch nicht nur eine theoretische Möglichkeit; das wissen wir doch alle. Dieser Unschuldige kann dann über einen längeren Zeitraum ohne Kontakt im Gefängnis sitzen, denn das Gesetz kennt ja keine feste zeitliche Begrenzung. Die Feststellung, daß die Isolation notwendig sei, kann ja mehrfach wiederholt werden. (Frau Pack [CDU/CSU]: "Isolation!" – Dr. Klein [Göttingen] [CDU/CSU]: Das ist nicht zu glauben! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU) Ich bin davon überzeugt, daß in solchen Fällen die neue Regelung dazu führen würde, daß das Vertrauen in den demokratischen Rechtsstaat auf das tiefste erschüttert und damit letztlich jenen Kräften in die Hände gearbeitet würde, die diesen Staat ohnehin für verdammenswert halten und zur Gewaltanwendung aufrufen. 187 http://www.mediaculture-online.de Nun wird dagegen argumentiert, man sehe die Gefahren dieser Regelung, aber schließlich müsse man abwägen zwischen den Kontaktbedürfnissen der Gegangenen auf der einen Seite und der Lebensbedrohung auf der anderen Seite. Da könne man sich nur für die Lebensrettung entscheiden. Ich glaube nicht, daß diese Argumentation den Kern der Sache trifft, und zwar nicht nur deshalb, weil man sehr daran zweifeln kann, ob die Isolation von Gefangenen wirklich hilft, das Leben einer Geisel zu retten, die schließlich nicht in der Gewalt von Gefangenen, sondern von in Freiheit befindlichen Terroristen ist. Aber unabhängig davon halte ich insgesamt die Abwägung "hier Leben eines Menschen, dort rechtsstaatliche Grundprinzipien" für nicht möglich. Die Aufgabe rechtsstaatlicher Grundprinzipien rettet nämlich kein Menschenleben, schafft aber Lebensverhältnisse, in denen die friedliche demokratische Entwicklung in einem Rechtsstaat gefährdet wird und damit weitere Menschenleben in Gefahr geraten. (Dr. Stark [Nürtingen] [CDU/CSU]: Unwahrscheinlich!) Meine Damen und Herren, der Kampf gegen den Terrorismus wird nicht durch Sondergesetze gewonnen, sondern durch eine entschlossene Anwendung des geltenden Rechts, verbunden mit einem glaubwürdigen und überzeugenden Entfalten der rechtsstaatlichen Prinzipien und einem unermüdlichen Kampf für mehr soziale Gerechtigkeit im Inland und in den internationalen Beziehungen. (Dr. Jenninger [CDU/CSU]: Vor allem arbeiten im Rechtsausschuß! – Dr. Klein [Göttingen] [CDU/CSU]: Finden Sie es sozial gerecht, wenn Kollegen im Rechtsausschuß bis in die Nacht arbeiten und Sie inzwischen feiern?) Nur wenn junge sozial engagierte Menschen darauf vertrauen können, daß es im parlamentarischen Bereich Kräfte gibt, die diesen Weg ohne Rücksicht auf opportunistische Überlegungen kompromißlos gehen, werden sie gegen Gewaltpredigten falscher Propheten immun sein. Deutscher Bundestag, 29.9.1977 Die berufenen Kabarettisten verstummen nicht. Doch sie sind merklich verunsichert. Die politische Realität provoziert Fragen nach dem kabarettistischen Selbstverständnis. Der Floh de Cologne zeigt 1976 erste Auflösungserscheinungen, 1983 verabschiedet sich das Ensemble unwiederbringlich mit dem Hinweis auf die veränderten Zeiten. „Wenn wir jetzt so mithalten wollten, daß ein besseres Leben herausschaut - Fettaugen sind wir sowieso nie gewesen, es hat immer gerade so gereicht -, dann müßten wir richtig kommerziell hinlangen. Das aber wäre unter dem Namen Floh de Cologne unmöglich, das wäre der Ruin dieses guten Namens.“151 Die Fanfarenstöße in Rock und Pop gibt es nicht mehr. Von der miesen und verkorksten Stimmung draußen lassen sich Die 3 Tornados nicht unterkriegen. Holger Klotzbach, Günter Thews und Arnulf Rating trommeln zwar mächtig auf Sozialismus und Weltkommunismus, aber auf der anarchischen Arche Noah aus Berlin darf kräftig gelacht werden. 151Zitiert in: Budzinski, Klaus, Das Kabarett, 1985, S.78. 188 http://www.mediaculture-online.de Im Lied von der „Terror-Rosita“ lugt der Schalk des selbstironischen Kommentars zwischen den Zeilen hervor. „Ob Stromboykott und Rucksackreisen, Frauenbewegung und Männergruppen, Piratensender und Schreinerkollektive, Wohngemeinschaftsfrühstücke und Beziehungskisten, unser alternativer Alltag war Kabarett“. Das schreibt Kuno Kruse anläßlich des Tods von Günter Thews. Und weiter: „Wir tanzten auf TuNix und im Tempodrom, wir lagen vor Brokdorf, Grohnde und Wackersdorf, und dort waren auch die Tornados: Zwischen Schlamm, Tränengasschwaden und Haßkappen spazierten sie - in weissem Smoking, Strohhüten und Ringelsöckchen.“152 Terror-Rosita Nachdem von den 50 gesuchten Terroristen bereits 100 erschossen wurden und inzwischen wieder 30 auf der Fahndungsliste stehen, meist Frauen, widmen wir das folgende Lied der Terror-Rosita und ihrem Anwalt so wie sie in der bürgerlichen Presse dargestellt werden werden. Zwei Tellerminen im Haar Und an der Hüfte Granaten, Ja, das ist die Welt, Die Rosita gefällt. Sicher noch übers Jahr, Das kann man heute schon sagen, Zieht der Terror ins Feld Gegen jeden mit Geld. Und alle Leute in der Stadt sagen: „O la-la-la! Solch eine Terroristin War noch nie da.“ Aus Präsidenten Werden überall Leichen, 152Kruse, Kuno, Irgendwie sauwahr, in: Die Zeit, 12.2.1993. 189 http://www.mediaculture-online.de Der Terror setzt Zeichen. Rosita ist da! Und zwei Kassiber im Arsch Und in der Akte Raketen, Ja, das ist die Welt, Die dem Anwalt gefällt. Sicher noch übers Jahr Baut der Terror sein Plan, Zieht er selber ins Land Ein MG in der Hand. Und der Anwaltverein, Der sagt: „O la-la-la! So eine starke Verteidigung War noch nie da!“ Und der Rechtsanwalt beschreibt mit den Leichen Sein Aktenzeichen Der Terror ist da! Die 3 Tornados153 Die alternative und grüne Bewegung ist Ende der siebziger Jahre, im Gegenzug zur Agonie im politischen Alltag in Bonn, im Aufbruch. Robert Jungk, der Verbündete des neuen konstruktiv-oppositionellen Denkens, warnt vor dem Fortschritt in die Unmenschlichkeit und schreibt das aufklärerische Kultbuch „Der Atomstaat“. Es beinhaltet das Vermächtnis gegen blinden Fortschrittsglauben und ist ein Aufruf gegen die industrielle Beherrschung des Menschen.154 Die Katastrophe von Harrisburg im April 1979 hat die Anti-Atomkraftbewegung neu formiert. Im niedersächsischen Gorleben soll die Wiederaufbereitungsanlage installiert werden. Es kommt zu Auseinandersetzungen 153Tornados, Die 3, Rundschlag am Mittag, Kassette. 154Vgl. Jungk, Robert, Der Atomstaat, 1977; ders., Menschenbeben, 1983 190 http://www.mediaculture-online.de zwischen der Polizei und Demonstranten in Brokdorf und Grohnde. Klaus Pokatzky ist 1979 fünfundzwanzig Jahre alt und resümiert als junger Journalist den Wandel in der Republik, den Weg von der APO-Dialektik zur neuen Kultur und Subkultur. Die alternative Generation hat Veränderung im Kleinen und im sozialen Mikrokosmos auf ihre Fahnen geschrieben. Die Kinder der Republik Die demonstrierenden Studenten vor zehn Jahren kannten Furcht, die sehr konkrete Furcht vor Polizeiknüppeln und Wasserwerfern - die von heute hingegen sind von einer abstrakten Angst befallen, die dieser Staat des Radikalenerlasses und der Kernkraft ausströmt. Vielleicht ist dies einer der Gründe, wenn der Abschied, den der Jugendprotest von der Bundesrepublik genommen hat, wenn das Entstehen der alternativen Subkultur radikaler und konsequenter ist, als es der studentische Protest vor zehn Jahren war. Denn die da in Berlin, Hamburg oder Frankfurt zu ihrer eigenen geschlossenen Gesellschaft zusammengefunden haben, scheinen eine weitaus widerstandsfähigere Subkultur zu errichten, als dies die so rasch wieder auseinanderfallende Studentenbewegung vermochte. Sie bilden das Fundament einer neuen politischen Kraft, die womöglich als erste in der Existenz der Bundesrepublik die Chance zu dauerhaftem Bestand hat. Das Engagement gegen die Atomkraft hat dabei eher die Funktion eines Katalysators. Im Kampf gegen Atom und Wachstumsfetischismus versammelt sich mittlerweile alles, was aus dieser Gesellschaft weg will, dafür aber nicht bereit ist, die Hoffnung auf eine bessere aufzugeben - eine bessere, die freilich nicht errichtet wird von den Politikern und sonstigen Repräsentanten des Bestehenden. Journalisten, die nur die herkömmliche und nicht sonderlich phantasievolle Berichterstattung über die etablierten Parteien gewohnt sind, stehen ratlos vor den Werten, die bei den „chaotischen“ Alternativlern obenan rangieren. Klaus Pokatzky, 1979155 Nachgerüstet - Wettlauf zwischen Schwertern und Pflugscharen Am 12. Dezember 1979 faßt die NATO in Brüssel den Beschluß zur sogenannten Nachrüstung. Er bedeutet für Europa eine massive Um- und Aufrüstung, auch die Erhöhung des Kriegsrisikos, da die Reaktion der Sowjetunion nicht genau einzuschätzen ist. Die veralteten Mittelstreckenrakten vomTyp Pershing Ia sollen durch die „moderneren“ Pershing-II-Raketen ersetzt werden. 464 bodengestützte Cruise-Missiles, die 155Pokatzky, Klaus, 1979, S. 47. 191 http://www.mediaculture-online.de „Marschflugkörper“,kommen hinzu. Zugleich sollen Verhandlungen eingeleitet werden mit dem Ziel, „durch Rüstungskontrolle ein stabileres, umfassendes Gleichgewicht bei geringeren Beständen an Nuklearwaffen auf beiden Seiten zu erreichen.“156 Damit ist der NATO-Doppelbeschluß auf der Tagesordnung, der in Europa, vor allem aber in der Bundesrepublik, zu einer breiten Protestbewegung führt. Die Friedensbewegung veranstaltet im November 1980 in 350 Orten der Republik „Friedenswochen“. Vier Millionen Menschen werden bis Februar 1983 den „Krefelder Apell“ unterzeichnen. - In ihm wird die Bundesregierung aufgefordert, ihre Zustimmung zur Stationierung der neuen Waffensysteme nicht zu geben. Gert Bastian, Generalmajor der Bundeswehr und späterer Bundestagsabgeordneter der Grünen, bittet um Versetzung in den Ruhestand und begründet seine Ablehnung des Beschlusses in einem ausführlichen Schreiben an den Verteidigungsminister Hans Apel: „Bei einem Versagen der Abschreckung würden zunächst einmal die Deutschen vom ersten Schuß an den Krieg im eigenen Land erleiden. Selbst ohne den Einsatz von Nuklearwaffen müßten die Auswirkungen verheerend sein. Auch ein nicht auszuschließender Einsatz nuklearer Gefechtsfeldwaffen würde in erster Linie Mitteleuropa verwüsten. Und erst wenn dieser Krieg auf einer höheren Stufe der Eskalation auf das Territorium der Supermächte übergriffe, müßten dort vergleichbare Schäden befürchtet werden. Schon bei der gegenwärtigen Verteilung der Kriegsmittel würde Mitteleuropa dehalb nicht von weiteren nuklearen Schlägen verschont bleiben. Bei einer Neuverteilung der nuklearen Kapazitäten, wie sie am 12.12.1979 in Brüssel beschlossen worden ist, wären die Überlebenschancen der Mitteleuropäer bei einem Versagen der Abschreckung allerdings noch geringer, nämlich gleich Null.“157 Auch die Kabarettisten der Republik formieren sich unter dem Eindruck der drohenden Nachrüstung zum satirischen und intellektuellen Widerstand. Das Fernsehen wird verstärkt zur Artikulation des Protestes genutzt. Es ist wichtig, daß jetzt von exklusiver Stelle vor allem prominente Kabarett-Köpfe auftreten. Am 18. Januar 1981 gibt es eine ZDF-Matinee, in der das achtzigjährige Wiegenfest der deutschen Kleinkunst gefeiert wird. Helmut Ruge und Reinhard Hippen schreiben ein Drehbuch wider die Krieger und Säbelrassler. Kabarettisten als „Antikriegsverbrecher“ in Geschichte und Gegenwart werden auf den Bildschirm gebracht. Ob an Borchert oder Mühsam dabei erinnert wird, die Kritik der Satiriker gilt der Gegenwart, ist ein Beitrag gegen die Aufstellung neuer Raketen. Die Ausstrahlung der Sendung ist nicht selbstverständlich, aber sie findet statt. 156Zitiert in: Gehlhoff, Beatrix, 1992, S. 21. 157Ebd. 192 http://www.mediaculture-online.de Selbstschutz-Übung In der letzten Stunde unserer Aufklärungsreihe: „Überleben leicht gemacht“ haben wir, meine Damen und Herren, gelernt, daß die modernen Kriegswaffen in technischer Hinsicht einen enormen Höchststand erreicht haben, die Mittel aber, die einem Zivilisten zur Verfügung stehen, um dieses zu überleben, im wesentlichen gleich geblieben sind. Worin besteht nun unsere Chance? Nun, meine Damen und Herren, eine Bombe kann nur auf einen ganz bestimmten Punkt fallen. Wem es gelingt, zum Zeitpunkt des Abwurfs nicht an diesem Punkte zu verweilen, hat schon die erste Voraussetzung zu einem gütlichen Ausgang geschaffen. Die im Umkreis von ca. 100 Kilometern einsetzende Strahlung behandeln wir später. Nun aber kommen wir zun einem weitaus interessanteren Thema, zu der strategischen Lenkflugwaffe, der Rakete. Ich darf Sie darauf aufmerksam machen, daß wir ab nächster Woche im 3. Programm um 10 Uhr morgens einen Raketenerkennungsdienst ausstrahlen werden, der Sie darüber informieren wird, was Ihnen gegebenenfalls ins Haus steht. Wir haben es im wesentlichen mit zehn bis zwölf verschiedenen Raketentypen zu tun. Es handelt sich dabei selbstverständlich um eine Dunkelziffer. Alle Zahlen, die sich im militärischen Bereich bewegen, sind Dunkelziffern. Dieses aber wissen wir: Es handelt sich dabei um unbemannte Verteidigungswaffen, die auch als Angriffswaffen verwendet werden können. Das ist eine Frage der Auslegung. Wir notieren also: Long-Distance-Raketen, die inzwischen mit bewundernswerter Zielsicherheit jedes zu treffende Ziel zu treffen in der Lage sind. Das, meine Damen und Herren, erfüllt uns nun wieder mit zusätzlicher Überlebenshoffnung, da es sich ja nicht, wie in früheren Kriegen um Sprengkörper zu handeln scheint, die in flächendeckender Weise wahllos Zerstörung beabsichtigen, sondern um gezielt eingesetzte Flugkörper, die ganz bestimmte - dem Feind bekannte! - Personen oder Sachen aufsuchen, ja - sogar solange um das Haus kreisen, bis der Gemeinte in es hineingegangen ist. Auch wissen wir, daß diese fliegenden Atomköpfe so programmiert zu sein scheinen, daß eine zusätzliche Sachbeschädigung tunlichst vermieden wird. Das heißt? Na? (Holt vom Tisch der Verteidigung Sandeimer und Feuerpatsche.) Diese programmierte Rakete wird erst in das Haus hineinfliegen, wenn ihr durch Zufall jemand die Tür öffnet! Daraus ist zu folgern: Haben Sie aufgrund Ihres abgeleisteten Raketenerkennungsdienstes eine dieser Raketen ausgemacht, schließen Sie unverzüglich die Haustür. Daran sehen wir, daß der Zivilist mehr als eine Möglichkeit hat, auch einen hochtechnisierten Konflikt zu überstehen. Dieter Hildebrandt, 1981158 Lied vom sogenannten Frieden Frieden hienieden Soll immer von oben kommen Kommt aber nicht von oben 158Hildebrandt, Dieter, 1981, S. 59f. 193 http://www.mediaculture-online.de Soviel wir auch den MEISTER loben Frieden hienieden Soll stets um unsre Seelen kreisen Kreist aber nicht um unsre Seelen Sooft es uns die Herren auch empfehlen Und zwar daß wir Vor unsrer eignen Tür Den berühmten Besen schwingen Dann wird schon der Friede in uns dringen So zu uns leis Wie jeder weiß Wird dann der bekannte Engel durch die Stube fliegen Und in uns den innren Schweinehund besiegen Ja Frieden hienieden Soll tief in unsrem Innern wohnen Wohnt aber nicht in unsrem Innern Sooft uns die Apostel auch erinnern Und zwar daß wir Weil der Mensch kein Tier Erstmal in der kleinsten Zelle Beispielsweise der Familienhölle Uns die Hände reichen Dann wird schon der Satan aus dem Schornstein schleichen Und zu uns leis Wie jeder weiß Wird dann eine unsichtbare Orgel spielen Und jeder wird den Frieden deutlich in der Magengrube fühlen. 194 http://www.mediaculture-online.de Ja Frieden hienieden Soll ganz von alleine kommen Kommt aber niemals von alleine Denn er hat zu kurze Beine Also müssen wir uns Beine machen Und den Herren die sich ins Fäustchen lachen In den orthodoxen Hintern treten Wenn Sie grade für den Frieden beten Denn sie haben da so ein System Das ist ihnen äußerst angenehm Daß man ab und zu die Menschheit dezimiert Damit man von dem Rest dann wieder profitiert Und dann darf wieder Frieden hienieden Unser Herz zu Freudentränen rühren Und das Volk kann seine Krüppel pflegen Bis die Herrn sich's wieder anders überlegen Darum hütet euch vor diesem Frieden Hütet euch vor diesen Hunden Die sich Mörder mieten Daß die Dutschkes Kings und Kennedys verbluten Die den Frieden nur für sich und ihresgleichen Daß die Armen ärmer und die Reichen reicher werden Nur für sich erfunden Doch Frieden hienieden Soll endlich unser Frieden werden Soll endlich mal von unten kommen Mag das auch den hohen Herrn nicht frommen 195 http://www.mediaculture-online.de Denn wir sind aus Fleisch und Blut und nicht aus Lehm Ja aus Fleisch und Blut und nicht aus Lehm Aus Fleisch und Blut und nicht aus Lehm Drum verändert das System Drum verändert das System Drum verändert das System Drum verändert das System Hanns Dieter Hüsch, 1981159 Kriegsvoyeure Gegen 19 Uhr warten wir immer auf den Krieg. Meistens kommt er an zweiter Stelle von „Heute“ Und an dritter Stelle von der „Tagesschau“. Der Krieg: Iran / Irak geht für meinen Geschmack Schon etwas zu lange. Eine Serie hat dreizehn Folgen. Und dann sollte man wechseln. Sonst glaubt man, der Mann am MG sei immer der Gleiche. Oder mal eine schöne Wiederholung bringen. Mir tun ja die Leute leid, Die hinter der Glasscheibe sterben, Bloß damit wir Fernsehen können. Je größer der Bildschirm, Umso größer unser Mitleid. Wir haben schon viele Kriege beim Abendbrot gesehen. Wir sehen einfach zu. 159Hüsch, Hanns Dieter, Lied vom sogenannten Frieden, in: Kürbiskem, 1981, H. 2, S. 61f. 196 http://www.mediaculture-online.de Wenn wir wissen, daß regelmäßig ein Krieg kommt, Dann essen wir schon leichter, damit uns der Krieg besser bekommt. Wenn es manchmal zu laut ist Stellen wir den Krieg einfach leiser. Das ist das Schöne am Fernsehen. Man kann ihn auch heller und dunkler stellen Oder ihn einfach abschalten. Aber wer macht das schon gerne. Neulich war ich in der Küche Und habe eine Tonstörung gehört. Als ich ins Zimmer kam, war es ein Todesschrei. Das menschliche Leid ist eine Frage Der Bild- und Tonschärfe geworden. Gestern stand der Krieg unentschieden. Mal sehen, wer gewinnt. Mir sind beide recht. Ich habe da keine Ressentiments. Wenn ein Krieg gezeigt wird, Meint man manchmal, das Bild ist zu rot. Und ruft die Störungsstelle an. Das Bild ist nicht zu rot. Eine Stadt brennt. Manchmal bin ich ganz froh, Daß vor den Schüssen eine Trennscheibe ist. Die Toten stinken nicht im Zimmer Und man muß kein Blut vom Teppich waschen. 197 http://www.mediaculture-online.de Das wäre nämlich eine Riesensauerei, Wenn das alles auf den Teppich tropfen würde, Was man auf dem Bildschirm sieht. Dann würde ich mir keine Kriege mehr anschauen. Kleinere, begrenztere Kriege sind für das Fernsehen besser. Denn bei'm großen Knall sehen wir bestimmt nichts mehr. Und bei der Neutronenbombe Läuft höchstens noch der Apparat. Helmut Ruge, 1981160 Am 10. Juni 1982 demonstrieren im Bonner Hofgarten rund 450.000 Menschen gegen die Nachrüstungspolitik, im Herbst 1983 formiert sich eine 108 Kilometer lange Menschenkette zwischen Stuttgart und Ulm. Die Massendemonstrationen haben den von Bundeskanzler Helmut Schmidt gebilligten NATO-Doppelbeschluß nicht verhindert. Die Mobilisierung Hunderttausender Rüstungsgegner stärkt jedoch das heterogene Selbstbewußtsein im alternativen politischen Spektrum. Über Wochen herrscht zumindest in den Universitätszirkeln, in Theater und Kneipen, Aufbruchsstimmung. Der große organisatorische Erfolg täuscht zunächst über die tatsächlichen Machtverhältnisse hinweg. Die neue Regierungsmannschaft mit Helmut Kohl läßt sich in ihrer eingeschlagenen atlantischen Bündnispolitik nicht erschüttern und erfüllt die alten Vorgaben aus SPD-Zeiten. Die Belagerer von amerikanischen Kasernen und Depots werden wie eh und je vor die Gerichte gezerrt und als Straftäter behandelt und verurteilt. Die Verfahren werden sich über Jahre hinziehen. Nur wenige Prominente, wie zum Beispiel Walter Jens, erlangen durch die Auseinandersetzung zwischen Individuum und staatlichem Machtmonopol zusätzliche Popularität und geben Beispiele provozierender und radikaldemokratischer Gesinnung. Herbst 1983, das bringt nach dem Wechsel im Regierungsgeschäft in Bonn ein ambivalentes Resultat für die pazifistische Bewegung in Deutschland und Europa. Doch die eindrückliche Solidarität bildet eine markante Zwischenstation, die entscheidende 160Helmut Ruge, Kriegsvoyeure, ebd, S. 67f. 198 http://www.mediaculture-online.de Folgen in der politischen Kultur der alternativen Szene hat. Die Reaktion der bürgerlichen Öffentlichkeit in den neunziger Jahren auf Rassismus und Ausländerfeindlichkeit reflektiert diese kollektive Erfahrung zumindest in Teilen und reagiert damit spät - fast zu spät - auf die rechtsextremen Provokationen in der Republik. Wenn die Beobachtungen nicht trügen, so haben sich fast alle maßgeblichen Gaukler des Worts und des Mienenspiels mit in die Phalanx der Atomwaffen-Kritiker gestellt. Es gibt hier keine Ausnahmen, wenn man einmal von bunten Abenden bei CDU-Wahlveranstaltungen oder Parteitagen absieht. Der engagierte und stets politisch argumentierende Liedermacher Franz Josef Degenhardt meldet sich im Jahr der Nachrüstung mit „Lullaby zwischen den Kriegen“ nochmals zu Wort. Das Lied, im öffentlichrechtlichen Rundfunk von 1983 kaum gespielt, erzählt vom Ohnmachtsgefühl und der stillen Wut, die vorherrschen. Die verschlüsselte „Heilsbotschaft“ am Schluß - „die roten Reiter sind schon über den Fluß“ - mag ein billiges Zugeständnis an parteiliches Denken sein. Der kunstvollen Verarbeitung der Angst in einer fernsehregierten Gesellschaft tut dies aber in dem Schlaflied keinen Abbruch. Lullaby zwischen den Kriegen Nimm meine Faust und wünsch dir was. Ja, unsere Fenster sind schußsicheres Glas. Und der galaktische General mit den Tressen aus Milchzähnen, den Fingern aus Stahl, zieht sich Pantoffeln an, spielt mit E.T. Wie lang eine Nacht langt, das weiß man nie. Natürlich, das Mädchen ohne Beine und Hand unter den Trümmern im Morgenland, im Arm noch die Puppe, die Schleife im Haar, hat nichts mehr gespürt, als es soweit war. Ja, ich guck nochmal unter dein Bett, ob Krümelmonster sich da nicht versteckt. 199 http://www.mediaculture-online.de Das Fieber steigt, das Fieber sinkt, schlafen mußt du, mein Kind, träumen mußt du allein, mein Kind. Nein, das Rauschen ist nicht im Fernsehgerät, das ist ein Flieger, der fliegt noch so spät. Aber nein, der stürzt ganz gewiß nicht ab, nämlich das ist der strategische Stab, der macht einen Ausflug nach Engeland. Nein, Stuttgart ist noch nicht abgebrannt. Ja, Mr. Spock von der Enterprise, der ist dabei, weil er alles weiß. Der beamt uns vielleicht auf den grünen Planet, wo deine Mutter am Info-Stand steht. Die Unterschriftliste ist sicher schon voll, dann treibt es Herr Reagan nicht mehr so toll. Das Fieber steigt, das Fieber sinkt, schlafen muß du, mein Kind, träumen mußt du allein, mein Kind. Horch, Kind, horch, wie der Sturmwind weht. Nein, das Lied sing ich nicht, weil das Lied nicht mehr geht. Wir hören uns dafür, was der schwarze Mann in der Silberhose so lustig singt, an: Daß morgen ganz sicher der Morgen beginnt und Bobby Ewing doch noch gewinnt. Ja, Max und Moritz, die beiden sind tot, 200 http://www.mediaculture-online.de die sind zermahlen zu braunem Schrot. Ja, Donald Duck, der hat das gefressen. Ja, auch den bösen Wolf, den kannst du vergessen, Mickey Mouse hat uns davon befreit. Die Mainzelmännchen, die wissen Bescheid. Das Fieber steigt, das Fieber sinkt, schlafen mußt du, mein Kind, träumen mußt du allein, mein Kind. Ja, träumen mußt du allein, mein Kind, weil träumen hilft nur allein, mein Kind. Komm auf die Brücke aus Knüppeln und Bast und halte dich fest an dem stürzenden Ast. Na, siehst du, das ging doch bis jetzt ganz gut. Dein Dröhnen im Kopf ist dein Leben im Blut. Hab auch keine Angst vor der engen Schlucht, da kommen wir durch auf unserer Flucht. Die blauen Soldaten, die reiten nicht mehr, die haben keine Kugeln mehr für ihr Gewehr. Ja, heute, das war der letzte Schuß, und die roten Jäger sind schon über den Fluß. Das Fieber steigt, das Fieber sinkt, schlafen mußt du, mein Kind, träumen mußt du allein, mein Kind. Franz Josef Degenhardt, Juni 1983161 161Degenhardt, Franz Josef, Polydor 815 227-1. 201 http://www.mediaculture-online.de Von Wende zu Wende Neues aus Skandalusien Mit hehren moralischen Versprechungen auf den Lippen übernimmt das christlich-liberale Not- und Überläuferbündnis am 4. Oktober 1982 die Bonner Regierungsgeschäfte. Die Resignation unter dem gestürzten Hanseaten Helmut Schmidt und seiner Mannschaft ist beträchtlich. Das konstruktive Mißtrauensvotum im Bundestag hat ihn zu Fall gebracht, die sozialdemokratische Regierungsarbeit ist mit einem spektakulären innenpolitischen Finale beendet. Spott über den ungeliebten Nachfolger Kohl vermag die Stimmung auf den Brettern gelegentlich ein wenig aufzuhellen. In einer fiktiven Regierungserklärung läßt Karl Hoch den neuen Kanzler tremolieren: „Die Regierung wird Atome spalten, aber nicht unser sowieso schon geteiltes Land. Wir wollen weg von der Konfusion und hin zur Kernfusion. Dann wird eines Tages auch die Stunde schlagen, da die Endlagerung für unsere Menschen hier und draußen nicht mehr weit ist. Es ist Zeit, die Gräben zuzuschütten. Es geht doch um die Gemeinsamkeit der Demokraten über den Gräben.“162 Die postulierte Harmonie in Bonn ist selbstverständlich alles andere als von untadeliger Beschaffenheit, und so feiert die Satire landauf, landab wieder ihre Renaissance, im Chanson und im Kabarett. Der beschworene Aufschwung wird von den Barden mit monströsen Volten ins Lächerliche gezogen. Die Nachrüstungsdebatte ist gelaufen, die Realpolitik ist im Sinne der Falken entschieden, und die Kleinkunst hat wieder einen politischen Kontrahenten, der auf der Regierungsbank sitzt. Der Neokonservatismus, der sich wieder ungehemmt Bahn bricht, läßt sich nach der Frontbegradigung offen attackieren. Die alten klassischen Muster von rechts und links aus Kaiserzeit und Ära Adenauer haben wieder Gültigkeit. Degenhardt besingt das neue Lebensgefühl, die Rückkehr zur Bürgerlichkeit und law and order, die Losung heißt Restauration, und in seiner „Aufschwungs-Hymne“ jubeln teutonische Mannen: 162Hoche, Karl, 1984, S. 229. 202 http://www.mediaculture-online.de Wieder alles im Lot und auf Vordermann. Die Börse ist froh und der Herr Pastor. Die Feuerwehr rückt wieder ein, und dann singt der vereinigte Män-n-e-er-ch-o-o-r: Juwi juwi di haha ha...163 Werner Schneyder ist in seinem „Liederkabarett“ zu einem ganz ähnlichen Wende-Befund gekommen. Deutschsein hat wieder Konjunktur - in einem überwunden geglaubten Sinne. Bitterkeit spricht aus den Zeilen, der Zorn einer gescheiterten Bemühung. Die Niederlagen unter der vorigen Regierung sind bereits vergessen. Das, was kommt, kommen könnte, scheint bedrohlicher als vergangene Halbherzigkeiten unter Helmut Schmidt oder Willy Brandt. Jetzt reden wir wieder Fraktur Vorbei sind die bitteren Jahre der sprachlichen Duckmäuserei. Man muß nicht mehr Worte abwägen. Die Zeiten sind endlich vorbei. Wir tragen das Herz auf der Zunge. Das hat uns die Wende geschenkt. So ist uns der Schnabel gewachsen. Ein Schuft, der nicht sagt, was er denkt! Jetzt reden wir wieder Fraktur! Wer hat schuld am KZ? Pazifisten! Sie brauchen sich nicht zu entrüsten, Sie vaterlandslose Figur! 163Degenhardt, Franz Josef, Polydor 815 227-I. 203 http://www.mediaculture-online.de Wenn Staatsanwälte den Verdacht gegen Minister formulieren, dann ist das, wie wenn Terroristen eine Geisel liquidieren! Wir können wieder Blutzoll leisten. Das Wort ist wieder eingeführt, damit der einfache Soldat auch sprachlich was von Wende spürt. Jetzt hat unser Deutsch Konjunktur! Mit Worten, die nichts mehr vernebeln. Jetzt sitzen wir an den Hebeln. Und wir reden wieder Fraktur. Es ist die deutsche Geschichte in Illustrierten zu lesen. Wie spannend, wie sie an der Ostfront am deutschen Wesen genesen. Jetzt darf man auch wieder sagen, wie decorum et dulce es est, wenn man für die Heimat auch einmal das blühende Leben läßt. Jetzt reden wir wieder Fraktur! Wir haben schon lang drauf gewartet! Entartet bleibt immer entartet! Und unsre Natur ist Natur! Man darf wieder von Dolchstoß sprechen und Auschwitz leicht relativieren. 204 http://www.mediaculture-online.de Es gibt hier viel zuviel Kanaken! Wir werden sie schon reduzieren. Ein freies Leben führen wir und rüsten voller Wonne! Und wer etwas dagegen sagt, ist Moskaus 5. Kolonne! Schaut nur besorgt auf die Uhr! Es ist nicht zwölf, es ist später. Die Sprache ist ein Chronometer! Und wir reden wieder Fraktur. Werner Schneyder, 1984164 An kleineren und größeren Skandalen fehlt es in der Republik nicht. Es macht auch keinen Unterschied, wer an der Macht ist. Die Verfügbarkeit angehäufter materieller und politischer Gewalt hat die Politiker quer durch die Parteienlandschaft verführbar und erpressbar gemacht. Die Barschel-Affäre des Jahres 1987, zum Beispiel, ist nicht allein Affäre der CDU, wie sich später zeigt. Sie hat auch auf der Opferseite Spuren hinterlassen. Im Wechselbad der Macht bleibt die Makellosigkeit der Westen und der Moral eine uneinlösbare Utopie. Moralität reduziert sich bei Opposition und Regierung auf Augenblicke, Dogmen der Unfehlbarkeit haben auf lange Sicht keinen Bestand. Der Kabarettist hält wie der Fotograf ein Sofort-Bild in der Hand. Er kritisiert notwendig aus dem Augenblick und kann nicht wägend abwarten. Er bezieht Stellung, radikal, und muß mit Revisionen rechnen. Der Kabarettist zur Kießling-Wörner-Affäre. Ein Viersterne-General wird entlassen, weil er als Homosexueller für den Minister und die NATO angeblich zum Sicherheitsrisiko geworden ist. Der Minister sitzt aus und rehabilitiert den Geschaßten.165 164Schneyder, Werner, 1984, S. 61f. 165Vgl. Sichtermann, Barbara, Die Affäre Wörner/Kießling, in: Hafner, Georg M. und Jacoby, Edmu n d, 1989, S. 243ff. 205 http://www.mediaculture-online.de Vorzeitig entlassen werden kann man in diesem Land ja aus den verschiedensten Gründen, wie man in jüngster Zeit erfahren hat. Ich möchte zu diesen Affären nur eines sagen: Ob homo-, hetero-oder asexuell, ich halte Generäle an und für sich für ein Sicherheitsrisiko. Worum ging es eigentlich? Erst ging es um den Kopf von Wörner und um den Hintern von Kießling. Dann ging's kurz um den Kopf von Kießling und um den Hintern von Wörner. Dann haben sie sich anläßlich eines großen Zapfenstreiches verlobt. Wissen Sie, wer für mich der Mieseste in dieser ganzen Affäre war? Der Kießling. Der läßt sich von einem Herrn Wörner die Ehre zurückgeben! Also eine Ehre, die Herr Wörner einmal in der Hand gehabt hat, an die würde ich nicht einmal mehr anstreifen wollen. Werner Schneyder, 1984166 Über die Fremde - Dialektales und Dialektisches Der Dialekt, der geläufige oder grenzüberschreitende Akzent im Kabarett, im politischen Lied und im Chanson, gehören zu den beliebten künstlerischen Ausdrucksmitteln. Sie verleihen, je nach Intention des Texters und Protagonisten, dem Fremden Vertrautheit und Nähe, die die Nüchternheit der Hochsprache auf der Bühne nicht einräumt. Dialekt oder fremdländischer, mit Akzent behafteter Sprachgebrauch, schenken der dargestellten und besprochenen Wirklichkeit eine neue „Optik“ im akustischen Kontext. Die Nähe, die sich zum Zuhörer - gewissermaßen einschmeichelnd - herstellen läßt, verschafft unter Umständen eine dramaturgisch gewollte und sprachliche Spannung zum Inhalt des Textes. „Der brave Soldat Schweyk“, von Helmut Qualtinger gesprochen, ist nicht nur wegen des Inhalts für den Zuhörer von Interesse. Was über Krieg und Frieden hier im böhmischen Dialekt gesagt wird, trifft den Zuschauer, weil regionaler Sprach- und Sprechgebrauch der Tatsache des Krieges intime Nähe verleihen. Dialekt ist auf Bühne und Schallplatte selten dem Zufall überlassen. Die Mundart ermöglich in aller Regel die schamloseste Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen. Mit ihr kann die kognitive Verkrustung beim Zuschauer leichter überlistet werden. Das gilt freilich auch dann, wenn, umgekehrt, Fremde und Ausländer im „deutschen“ Kabarett auftreten. Die Realität läßt sich durch diesen absichtsvollen Kunstgriff ein weiteres Mal spiegeln: Durch einen Ausländer, der einen Deutschen spielt und durch den fremden Akzent, der die Konflikte 166Schneyder, Werner, 1984, S. 50. 206 http://www.mediaculture-online.de zwischen Ausländern und Deutschen aus ungewohnter akustischer Perspektive transparent macht. Das Ulmer Knobi-Bonbon-Kabarett der türkischen Einwanderer Mushin Omurca und Sinasi Dikmen macht solches in seinen Programmen deutlich, zuletzt in dem Programm Der Beschneider aus Ulm. Beim Abgang unterhalten sich die beiden nochmals über ihre Erlebnisse als türkische Fremde unter Deutschen. Omurca: (Nach der Verbeugung) So, das wärs ... Tschüüß! (Ab) Dikmen: Du darfst noch nicht gehen! Omurca: (Von hinten) Warum nicht? Ich bin fertig, hab Hunger ... Dikmen: Die (zu den Zuschauern) sind noch da! Omurca: Mein Gott! Müssen wir uns denn immer auf türkische Art verabschieden? Erst müssen die Gäste raus, dann wir. Das stinkt mir aber langsam! Dikmen: So sind eben die Kabarett-Zuschauer! Wenn sie was bezahlt haben, bleiben sie bis zum bitteren Ende da! Omurca: (Kommt zurück zu Dikmen) Merken die nicht, daß wir fertig sind? Dikmen: Wenn sie es gemerkt hätten, wären sie schon längst draußen. Omurca: (Zum Publikum) Guten Abend! Draußen ist noch schöner Abend! ... (Zu Dikmen) Keiner rührt sich! Dikmen: Die sitzen immer noch. Omurca: Schön, daß ihr da wart! Dikmen: ... gewesen seid! Omurca: Merkwürdig, die kapieren nicht. Dikmen: Langsam wird es mir aber zu blöd, ich gehe! Omurca: Spinnst Du, was soll ich denn machen? Dikmen: Kein türkischer Abend ohne Bauchtanz! Omurca: Warte doch! ... O.K. ich mache etwas Bauchtanz, aber du hast die Gage kassiert in der Pause. Gib mir meinen Anteil, dann kannst du gehen. Dikmen: Nimm! (gibt Omurca einen Hunderter) 207 http://www.mediaculture-online.de Omurca: He! Was soll das? Das ist nicht die Hälfte! Dikmen: Tschuldigung! Ich hätte es dir vorher sagen sollen: Mein Bruder Osman ... ,Ossi` ... ist in Schwierigkeiten. Omurca: Was habe ich mit deinem Bruder Osman zu tun? Dikmen: Theoretisch nichts, aber praktisch schon! Omurca: Ich komme überhaupt nicht mit. Dikmen: Dann bleibe eben da, wo du bist. Omurca: Mann, ich bin doch nicht der Bruder deines Bruders! Dikmen: Sei doch froh! Omurca: Ihr seid Brüder! Außerdem, ihr beide wohnt in zwei Eigentumswohnungen nebeneinander ... Ich dagegen bin zur Miete hier ... Dikmen: Nein, nein, nein! Nicht zwei Wohnungen! Sondern nur eine! Omurca: Nur eine? Ach, hat der Ossi seine Wohnung verkauft? Dikmen: Nicht direkt ... Wir haben die Wände dazwischen abgerissen und ... Omurca: Ach soo. Wiedervereinigung, sozusagen. Dikmen: Ja. Ein bißchen. Omurca: Weißt du, ich habe nichts dagegen .... Dikmen: Keiner war dafür. Omurca: ... aber, wenn ihr beide euch eine doppelt große Wohnung leisten wollt, dann müßt ihr beide sie finanzieren, nicht ich, oder? Dikmen: Das ist nur ein Solidaritätsbeitrag. Omurca: Solidaritätsbeitrag ist abgeschafft worden! Nicht mehr aktuell! Dikmen: Dann ist es ... Zwangsanleihe! Omurca: Du hast mich aber nicht mal gefragt, ob ich mich mit euch beiden solidarisieren will, zahlen will, zahlen kann ... Dikmen: Na gut! Hiermit stelle ich dir die Frage in aller Öffentlichkeit: Entweder zahlst du ... oder ... zahlst du! Omuca: Sehr demokratisch. 208 http://www.mediaculture-online.de Dikmen: Und die Antwort? Omurca: Ooo! Ich darf sogar wählen! ... Mmmmm ... Ich nehme den zweiten, aber unter einer Bedingung: Ich möchte mitentscheiden, was ihr aus meinem Geld macht! Dikmen: Na! Na! Na! Vertraue uns doch! Du weißt gar nicht, was gut oder was schlecht ist! Mensch sei doch froh, daß du nicht gezwungen wirst zu denken! Wir werden auch für dich denken müssen! ... Apropos: denken ... Im nächsten Monat ziehe ich dir 50,- Mark ab. Omurca: Wofür muß ich den Fuffi zahlen? Dikmen: Denksteuer! Auch das Denken muß bezahlt werden! (Ab) Omurca: Arschloch! (Zum Publikum) ... Seid ihr immer noch da?! ... Also, meine Damen und Herren, aus kabarett-wirtschaftlichen Gründen, können wir leider eure Aufenthaltserlaubnis in diesem Saal nicht mehr verlängern, gute Nacht! Knobi-Bonbon: „Der Beschneider von Ulm", 1993167 Die deutsch-türkische Gruppe Yarinistan mit ihren Gründern Geo Schaller und Nadim Hazar vermag in hervorragend arrangierten Songs die Vermischung der Kulturkreise zwischen Okzident und Orient zu artikulieren. Die Lieder sind durch ein hohes Maß an Selbstironie und sarkastischer Zuspitzung äußerst wirkungsvoll. Die Rolle, die der deutsche Spießer dem Türken als Kloputzer und Straßenfeger für des Deutschen Behaglichkeit und Bequemlichkeit zugedacht hat, sie wird von der singenden Truppe nur allzu bereitwillig artikuliert. Die verkrusteten Vorurteile werden spielerisch als gegeben und richtig angenommen, intellektuell bloßgestellt und dialektisch enttarnt. Die Balladen, Schau- und Hörstücke erzählen von „Emigrantenschicksalen, Hodschas, Bauchtänzerinnen, von Heimat und Heimatlosigkeit in der Großstadt“, so die Liedersammler Heide Buhmann und Hanspeter Haeseler. Und weiter: „Dabei gelingt es Yarinistan, zeitgenössische Musik zu kreieren, die aus deutscher, türkischer und kurdischer Kultur Anregungen schöpft, um sie zu etwas Neuem zu vereinen. Interessante Rhythmen der Balkanfolklore, die reizvollen Klänge der traditionellen Volksinstrumente, mischen sich mit Sequenzen des Rock.“168 167 Unveröffentlichte s Manuskript von Mushin Omurca,de m Autor freu n dlich zur Verfügung gestellt. 168Buhmann, Heide, Haesler, Hanspeter, 1993, S. 420. 209 http://www.mediaculture-online.de Türken sind froh Zigeuner sind lustig, die Türken sind froh trinken viel Raki und putzen das Klo Im dritten Stock boxt Mohammed der Orient erwacht Kopftuch-Schönheit, Hosen bunt Ali winkt und lacht Fatma tanzt mit ihrem Bauch andre tanzen auch Kewapspieß und grüner Türke Oh Allah bin ich zu Saßgedudel, Trommelklang Frauen sind tabu Ali singt vom Schwarzen Meer alle weinen sehr Zigeuner sind lustig, die Türken sind froh trinken viel Raki und putzen das Klo Sie feiern bis der Morgen graut der Selim ist schon weg Draußen in den Pissoirs wartet schon der Dreck Keiner sagt, was jeder weiß Deutschland ist ein S ........ Im dritten Stock kehrt Ruhe ein der Tschai schmeckt heimatlich Türken bleiben, Türken sind 210 http://www.mediaculture-online.de lieber unter sich Aber fröhlich könn' sie sein alle stimmen ein Zigeuner sind lustig, die Türken sind froh trinken viel Raki und putzen das Klo Yarinistan, 1987169 Uli Keuler, der schwäbische Solist und Moralist aus Mähringen, betreibt kabarettistische Aufklärung, indem er gängige Klischees über „den Islam“ ins Absurde steigert. Die landläufige Unwissenheit über die Weltreligion und ihre Vertreter wird durch den geschwätzigen - in der Aufführung deftig schwäbelnden - „Kenner“ drastisch bestätigt. Die Nummer ist aus Anlaß des Golfkrieges 1991 geschrieben und fordert die Selbstprüfung des Zuhörers und Zuschauers heraus. Teilt er die Tatsachenbehauptungen, die wüsten ethnischen und religiösen Unterstellungen, oder hat er andere Erfahrungen gemacht? Der schwäbische Dialekt ermöglicht die Verschränkung von „großer Politik“ mit der Erfahrung in der Provinz und am Stammtisch. Reaktionäres Denken und Sprechen, die Animalisierung der fremden Rasse und Kultur gewinnen im Dialekt an Plastizität. Hochdeutsche Rationalität muß nicht erst durchdrungen werden, um die Borniertheit zu desavouieren. Schwäbisches kommt gewissermaßen heimtückisch, ja „hinterfotzig“ daher. Die Distanz der hochdeutschen Nachrichtensprache zwischen einem Gesagten und einem Gemeinten verringert sich hier im rustikalen Dialekt auf ein relatives Minimum. Horväth, Karl Valentin oder Liesl Karlstadt bedienten sich ganz selbstverständlich dieses Mittels. Kein Künstler, der es stimmlich handhaben kann, wird auf diese suggestive Möglichkeit verzichten. Die bodenständige Aussprache, sie wirkt zudem stets „authentischer“ als gemeißeltes Mediendeutsch. Kabarett, das sich dieser Technik bedient, ist beim Publikum in aller Regel hochwillkommen und genießt einen „Vertrauensvorsprung“. 169Ebd. S. 216. Text: Jürgen Fischer, Musik: Nedim Hazar und Georg Schaller. 211 http://www.mediaculture-online.de Was wissen wir über den Islam? Meine Damen und Herren, was wissen wir über den Islam ? Als mir diese Frage vor einigen Monaten zum ersten Mal gestellt wurde, da war ich zunächst etwas ratlos. Ich hatte das Wort zwar oft gelesen, aber mir nie Gedanken darüber gemacht. Ein Sondierungsgespräch mit Fachleuten aus der Winzerstube meines Stammlokals „Zum Rössle“ ergab zunächst ein recht uneinheitliches Bild. Der Islam... Die einen erklärten, es handle sich um eine Geheimwaffe von Saddam Hussein, andere sprachen von einer afghanischen Rebellenorganisation und wieder andere meinten, es handle sich um eine Art Wirbelsturm, der sich über Asien zusammenbraue, und dann gut Nacht um sechse .... Der Informationsstand war so unübersichtlich, daß ich kurz davor stand, in einem dieser Dinger da nachzusehen, mit denen man normalerweise Blumen preßt und den Diaprojektor waagrecht hält. Dank Ausbruch des Golfkriegs blieb mir diese Prozedur erspart. Und inzwischen darf ich sagen: 15 Fernsehkanäle und ein Videogerät haben mich zu einem der profundesten Islamkenner zwischen der Straße von Hormuz, der Straße von Gibraltar und der „Lindenstraße“ gemacht. Was wissen wir über den Islam? Das hervorstechendste Merkmal des Islam ist sein granatenmäßiger Fanatismus. So hat es einer der lautesten Islamkenner auf der S-BahnStrecke Stuttgart-Plochingen formuliert, gestützt auf Ergebnisse eines Kolloquiums, das im Rahmen des Cannstatter Volksfestes stattfand. Im Islam ist alles verboten: Schweinefleisch, Alkohol, Bomerlunder, Saurer Fritz, Fernet Branca, Strümpfelbacher Trollinger, Asbach Uralt, Sechsämtertropfen, Amselfelder, Sannwald Weizen ... und das ist nur ein repräsentativer Querschnitt. Ebenso düster sieht's in anderen Lebensbereichen aus. Wo in den Tagen der Kreuzfahrer der Minnedienst für die orientalische Frau in zarten Versen verherrlicht wurde, da werden heute Frauen im Namen Gottes gegängelt und bevormundet, daß sogar der Vatikan schon von einer Annäherung zwischen den Weltreligionen spricht. (...) Wir haben bislang nur über die religiösen Grundlagen des Islams gesprochen. Aber was wäre der Islam ohne den Moslem? Nun, was wissen wir über den Moslem? Wie wir seit den Orientstudien des Ethnographen Kara Ben Nemsi wissen, lebt der Moslem in würfelförmigen Lehmbehausungen, die er bevorzugt in Oasen errichtet. Zur Vernichtung seiner Feinde benutzt er diese Oasen auch gerne als Fata Morgana. Das ist ein arabisches Wort und bedeutet „Christenfopper“. Der Moslem neigt zur Vielweiberei, die jedoch im Rückgang begriffen ist und das macht ihn aggressiv. Er rottet sich daher gerne mit anderen Artgenossen zusammen, um den Amerikaner für jeden Hennenfurz verantwortlich zu machen. Uli Keuler 1991170 Gerhard Polt hat zusammen mit dem Kabarettautor Hanns Christian Müller die bloßstellende Schlagkraft des Dialekts auf der Bühne zur anerkannten Meisterschaft getrieben. Müllererhält 1982 für seine Arbeit den Adolf-Grimme-Preis und hat an zahlreichen Scheibenwischer-Sendungen als Autor mitgewirkt. Polt schaut bei seiner Interpretation dem Volk nicht nur aufs bayerische Maul, er seziert mit sprachlichen und szenischen Mitteln die kleinbürgerlichen Ängste und ihre gewalttätigen Obsessionen. Man hat gelegentlich auf die Nähe der Poltschen Figur zu Ödön von Horváths Theater verwiesen, und der Kabarettist selbst räumt diese Nähe auch ein. Bei Horváth und Polt 170Unveröffentlichtes Manuskript, dem Autor freundlich zur Verfügung gestellt. 212 http://www.mediaculture-online.de liegen Lächerliches und Schockierendes eng beieinander. Polt läßt seinen Spießer eine „entstellte“ und entstellende Sprache sprechen. „Weniger der Inhalt als vielmehr die Art der Rede gibt Aufschluß über den Redner selbst“, betont Mario Gamper in einer Untersuchung zur Sprache des Münchner Kabarettisten.171 DerUmgang mit völkischen und ethnischen Ressentiments reflektiert das Sprechstück über den Russen. Das Fremde wird als zoologisches Ereignis begriffen, als ein organologisches „Phänomen“, das den deutschen Stammtischbruder und Spießer immer wieder „staunen“ läßt. Tiefsitzende Urängste gegen den alten Kriegsgegner kommen beiläufig an die Oberfläche. In einer weiteren Ebene ist es der Argwohn des Bajuwaren gegen alles Fremde, den Ausländer schlechthin, der sein extremes Recht einfordert. Erreicht wird solches auch durch die Schilderung einer „Russin“, die „sogar“ Mensch ist. Das Normale dient als Beleg für die Anomalität in dieser schlitzohrigen Völker-Posse, die aus der Negation ihre pädagogische Intention für den Zuschauer zieht. Alles über den Russen (...) Schaun Sie, jetzt sag ich Ihnen mal was: Ich mein, der Russe das Feindbild - der Russe, net ... Ich mein, der Kontakt zum Russen ist ja gewissermaßen seit der letzten Kriegsgefangenschaft ziemlich abgerissen. Der Russe ... Ich war ja drüben, aber wie soll ma den Russen, mein Gott ... Der Russe ist natürlich sehr vielfältig, verstehen Sie, es gibt ihn zum Beispiel in der Form von jüngeren Russen, net? Den Russen gibts auch älter ... in der Form vom Senior praktisch, nicht wahr ... Der Russe, eh ... Was, farblich? Ja, er geht praktisch vom Flachsblonden ... geht der Russe hinüber ins Braune, also bis ins Kastanienbraune, nicht wahr, rothaarig ist auch dabei ... Ja, schwarzhaarig ... Na ja, also bis ins Grau-Weiße geht er hinein, zweifellos... Interessant ist der Russe ... Da hab ich a interessante Beobachtung gemacht: Also, so im Herbst, wissens, was er da macht? Der Russe, da zieht er sich an Mantel an, und so a Mütze ... Des macht er gern. Und im Sommer, da läuft er, wenns heiß is, direkt hemdsärmelig herum. Net wahr. Wissens, was er gern mag ??? A Eis. A Speiseeiserl. Wissen Sie, ich muß Ihnen noch was sagen. Es ist ja schon interessant: Wenn er grinst, der Russe, oder wenn er lacht, wissens, was ma glauben könnte? - Da könnt ma glaubn, der hat a Gaudi! 171Gamper, Mario, Die Sprache als Verräter. Der Kabarettist Gerhard Polt, Tübingen 1991, S. 5 (unveröffentlicht e s Ms.). 213 http://www.mediaculture-online.de Ich habe folgende Beobachtung gemacht ... muß ich Ihnen schildern, weil - das ist interessant: Ein Russe, ein weiblicher, beugt sich über einen so winzigen, klitzekleinen Russen ... So a gewindelter Russe, net wahr. Und ich mein, sprachlich kann ichs nicht so, aber ich versuchs. Er sagt da zu dem kleinen Russen: „Guggugguggug, dadadada“. Und dieser kleine Russe, der hat gestrahlt! Dem is der Diezl ausm Mund gfalln. Der war restlos begeistert. Was er nicht mag, der Russe, des is der Krieg, den mag er gar net - interessanterweise. Den lehnt er direkt ab. Ma könnt sagn, er hat Angst davor. Aber wissen Sie, des is des, was ma dazu sagn kann. Die haben Angst. Und drum frag ich Sie: Wenn dieser Russe kommt ... verstehn Sie ... wissen Sie, was dann los ist? - Der Russe, wenn er kommt, dann is er da. Gerhard Polt, 1984172 Das Gespenst des Pazifismus Vitus Maria Deutelmoser entnimmt seiner Mappe einen Apfel, beißt hinein und räsoniert. Deutelmoser: Jetzt werd ich doch A 13, im Staatsdienst, gel. Da is überraschend eine Stelle freiworden, weil, es hat sich herausgestellt, daß der ander a Pazifist gwesen waar. Der hat sich öffentlich dazu bekannt, ohne das geringste ah, Schamgefühl, sagn mir mal. Ja, des hat doch keinen Sinn, daß man so jemand hinläßt. A 13, diese Position, und dann so a Einstellung, des geht doch net, da is doch der Pazifismus fehl am Platz. Weil simmer uns doch amal ganz ehrlich: Unsere Friedenssituation, des is doch eindeutig nur das Verdienst vom Militär. - Im Osten genauso. I will da gar nichts beschönigen. Da werd der Pazifist sogar - huit, Sie verstehen, de wissen genau, warumsn eisperrn, i muaß sagn, da kimmt er bei uns no direkt guat weg. Jetzt stelln Sie sich amal vor, mir hätten in der gesamten Welt lauter so Pazifisten, und nacherd kimmt der Ernstfall: Dann stehen sich Ost und West einander praktisch wehrlos gegenüber und dann bumsts, dann hammem Krieg. Denn diese Pazifisten habn ja noch nie an Krieg verhindert. Oder können Sie mir irgend einen Krieg nennen, den wo die verhindert hätten? - Eben. Und im Krieg selber sans praktisch so gut wie ein Ausfall, direkt eine Schwächung, und hinterher schlau daherreden, net, des kann ajeder. I moan, was so einer privat macht, des is dem seine Privatsache, gut, Schwamm drüber. Aber im öffentlichen Dienst waar er annähernd ein Schädling, und des haben die im Verwaltungsgericht ihm auch prompt anerkannt. - Er soll ja gsagt habn. Ost und West waar net desselbe, aber er hat überhaupt nix Eindeutiges gegan Osten direkt gsagt, und des is doch eine gefährliche Tendenz, wenn man so einen dann hi laßt. Bitte, ich mein, als Entschuldigung hat er angführt, daß sei Vater a Pfarrer war oder so, aber wenn die Kirche schon solche Gedanken aussprengt, na muaß ich ihm darauf verweisen, daß mir hier leben, hier, net in Wolkenkuckucksheim - Sie sehng ja, wer den Posten kriagt hat. Also i muaß schon sagn, mit diesem Pazifismus kimmr er net weit, jedenfalls nicht zum Staat. Gerhard Polt, Hanns Christian Müller: Da schau her, 1984173 172Polt, Gerhard/Biermösl Blosn, CD 33.624; auch in: Hildebrandt, Dieter, Müller, Hanns - Christian, Krieger Denkmal, 1984, S. 78ff. 173Polt, Gerhard, Müller, Hanns-Christian, Da schau her, 1984, S. 23f 214 http://www.mediaculture-online.de Die Ansprache im Dialekt - als Berliner Schnauze wie Günter Neumann, als „Schlesischer Schwan“ wie Ludwig Manfred Lommel, als schwäbischer Nörgler wie Willy Reichert, als kritische Instanz wie Polt oder Keuler - läßt sich für die Ablichtung subjektiv erlebten Unglücks oder sozialen Leids, in der Wirkung intensiv und „zudringlich“, ganz vorzüglich nutzen. Die Mundart demaskiert nicht nur Protagonisten, sie erlaubt auch den Blick in bedrohte Innenräume, auf den Zustand der psychischen Verunsicherung durch Arbeitslosigkeit zum Beispiel. In diesem Kontext haben Joana Emetz und Joy Fleming 1986 mit dem Chanson Butzekrampele ein ansprechendes Lied kreiert. Der Mannheimer Dialekt schafft Nähe, aus der das Bild einer anonymen und feindlichen Gesellschaft sich abhebt. Die Welt wird im Chanson als insgesamt dichotomisch erfahren: Der Idylle ist das drohende Schreckgespenst der Arbeitslosigkeit vermittelt, die von anonymen Kräften („was mache se bloß?“) gesteuert ist. Das Lied argumentiert nicht durch eine Geschichte, es überzeugt durch Emotionalität im vorgetragenen Ton. Seine Rationalität ist die Perfektion der Künstlerinnen Joana Emetz (Text und Musik) und Joy Fleming (Gesang), „ein musikalisches Gassenkind, das Musik nicht liest, nicht lesen kann, sondern hört, das Sprachen durch Singen gelernt hat, das nur ein paar Takte Rhythmus und eine Andeutung von Melodie wahrzunehmen braucht, um sofort in Musik zu verfallen“.174 Butzekrampel 1. Do renne se moi kläne Butze, Vertreiwe drauß de Rege. Mache Wind bis in die Wolke, Daß die sich bewege. Lache, pfeife, mache Krach Un en Mordskrakeel, Un ich steh unner'm Regedach, Hab Wolke uff de Seel': Die werre bald groß, Was mache se bloß? 174Sack, Manfred, 1991, S. 62. 215 http://www.mediaculture-online.de Mit Arweit is nix los, Die hocke uff de Stroß ... 2. Warum solle se dann fleißisch soi Un lerne wie die Affe? Un äner besser wie der anner, In de Schul sisch dabbisch schaffe? Dann stehe se do, als Verlierer, Leit, des is beschisse, Wenn se schaffe wolle un wie Hausierer Um ä Lehrstell bettle misse! Die werre bald groß ... 3. Geh her, mein kläner Butzekrampel, Ich nemm dich in de Arm. Sie steht noch net uff Grün, doi Ampel, Noch hoschts trocke un hoschts warm. Noch hoschts dehäm schä, wie en Ferscht, Weescht nix von Lug und Trug: Im große Lewens-Rege werscht Demnächscht noch naß genug ... Die werre bald groß... Text und Melodie Joana Emetz, 1986175 175Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin.Unter dem Titel „Moi kläne Butze“ auch in: Kröher, Hein und Oss, 1991, S. 356f. 216 http://www.mediaculture-online.de Eine Zensur findet statt Das Kabarett hat von jeher die Zensur - was immer dies global betrachtet meint - und ihre scheinbar zivil und nur dem Recht und dem Geschmack verpflichteten Obmänner in den Funk- und Fernsehanstalten beschäftigt. „Eine Zensur findet nicht statt“ wird im Grundgesetz Artikel 5 freundlich und bestimmt behauptet. Die Realität sieht freilich auch nach 1949 anders aus und ist mit der Verfassungswirklichkeit weiterhin nicht in Deckung. Dabei ist von vornherein zu fragen, ob die Interventionen von kirchlicher, staatlicher oder öffentlich-rechtlicher Seite für die Kabarett-Kunst nicht zugleich stets eine fruchtbare Provokation bedeuten. Das klingt ketzerisch, dient gleichwohl der Standortbestimmung der öffentlich befehdeten Kunst. Es gibt die bislang nicht widerlegte These, daß das Kabarett ganz allgemein, vor allem aber das politische, den direkten Schlagabtausch mit der Obrigkeit als kreatives Potential für sich nutzt. Wäre alles geduldet, gäbe es nicht immer wieder öffentlich-rechtliche Nachstellungen und Verfolgungen in Richtung Kleinkunst, dann müßte dieser Kunstbetrieb um seine Legitimation und seine literarische Wirkung zu Recht fürchten. Es ist eine schizophrene und zugleich, wenn man so will, sadomasochistische Ausgangslage: Das Kabarett wird von den Rezipienten gerade dort als unverzichtbares Instrumentarium verstanden, wo es auf Kollisionskurs mit einer mächtigen oder staatstragenden Auffassung ist. Die Spannung, die Werner Finck erzeugte, liegt gerade im unausgesprochenen Verbot, in der Möglichkeit zum staatlichen Eingriff. Die verfolgte Kunst lebt von dem Tanz auf dem Vulkan und von der relativen Ungewißtheit ihrer Wirkung auf die Politik. Zensur, wenn sie heute im Kontext des Kabaretts stattfindet, hat ihren Ort in der Fernsehgesellschaft fast ausschließlich im Fernsehmedium selbst. Im Theatersaal, auf den Kanälen der Rundfunksender ist nahezu alles erlaubt, herrscht nächtens ein gerüttelt Maß an Narrenfreiheit, wobei freilich immer noch die feinen Mechanismen der „inneren Zensur“ in Rechnung zu stellen sind. Der öffentliche Skandal, der registrierte, er findet seit den späten fünfziger Jahren in bezug auf das Kabarett nur noch im Fernsehen statt. Emsige Staatskanzleien zwischen München und Kiel, geschaftelhuberische Rundfunkräte prüfen mit Bedacht, ob Sitte und Anstand in deren Sinne - gewahrt bleiben, und die Kirche - heute leiser als früher- läßt ebenfalls die Übereinstimmung mit ihren verfügten Dogmen und Moralwerten prüfen. Jeder dieser Eingriffe von seiten der bestallten Fernsehwächter alarmiert die Kabarettisten, weil die 217 http://www.mediaculture-online.de Folgen meist viel weiterreichen als der konkrete Einzelfall zunächst signalisiert. Zu erinnern ist hier an den „Fall“ Mathias Richling vom Oktober 1989. In einer „Nachschlag“-Sendung des SDR hat der Künstler die Äußerungen des Papstes zur Empfängnisverhütung frech und „schamlos“ auf die Schippe genommen. Der SDR stellt sich nach Protesten der katholischen Kirche nur noch halbherzig vor den Kabarettisten und gibt dem Künstler zumindest für diese Sendereihe den Laufpaß. An dem Beispiel werden die Mechanismen der Zensur vermittelt sichtbar. Ihr Gesicht präsentiert sich seit den Tagen des Fürsten Metternich in vielerlei Gestalt und Kostümierung. Sie genießt Bestandsschutz und provoziert die Rituale präventiver Vorsichtsmaßnahmen bei den verantwortlichen Fernsehredaktionen und den Akteuren am Bildschirm. Die krude und nackte Zensur findet heute in der Tat nur noch sporadisch statt, doch ist sie aus dem Medienalltag nicht wegzudenken. Die Praxis belegt es, wenngleich die Einflüsse von seiten der Politik insgesamt subtiler geworden sind. Der Eingriff des Bundeskanzlers, der seine „Betroffenheit“ über den Fernsehfilm „Die Terroristen“176 artikuliert, weil er darin als (fiktives) Opfer eines gescheiterten Anschlags benannt wurde, hat für den Kunstbetrieb freilich erhebliche Folgen. Die Empörung des Politikers ist stets bedeutsam, weil sie der Liberalität im Kulturbetrieb fast immer entgegensteht. Das Husten der Volksvertreter schlägt, kalkuliert und beabsichtigt, Wellen und dient in aller Regel der Einschüchterung. Auf die Presse, zumal auf die aus der Provinz, machen Minister-Rügen Eindruck. Der politische Effekt der indirekten Kunstdisziplinierung ist damit erreicht. Bösartig Der Fernsehausschuß des Südwestfunks hat mehrere Stunden nachgedacht und ist nach dieser schwierigen Übung zu dem Schluß gekommen, daß man es gerade noch einmal durchgehen lassen kann, wenn in einem vom SWF zu verantwortenden Film der Bundeskanzler ein bißchen zum Abschuß freigegeben wird. Der Ausschuß konnte logischerweise auch keine Gründe für ein Mißtrauen gegenüber der SWF-Spitze erkennen, die in einem schwierigen Abwägungs- und Entscheidungsprozeß gestanden habe. Die Senderwirklichkeit sah etwas anders aus: Die Verantwortlichen waren entweder nicht greifbar oder sie ließen sich von nachgeordneten Chargen versichern, der Film sei gänzlich harmlos. Senderwirklichkeit ist: Die Kontrollmechanismen beim SWF funktionieren nicht, ob aus Inkompetenz oder Desinteresse bleibe dahingestellt. 176Südwest Presse, 23.11.92. 218 http://www.mediaculture-online.de Der Ausschuß drehte sich so gequält, weil der Intendant nur noch kurz im Amt ist und weil man ihm zum Abschied keine Rüge mitgeben wollte. Das ist nett, dient aber nicht der Reinlichkeit des Senders. Wer einen bösartigen Schwachsinn zu verantworten hat, wie er in dem Film „Die Terroristen“ zu besichtigen war, der muß sich auch noch am letzten Tag an seine Verantwortung erinnern lassen. Ulrich Wildermuth, Südwestpresse, 5.12.1992 Zensur sei die mit Machtmitteln versehene Kontrolle menschlicher Äußerungen, haben die Wissenschaftler Michael Kienzle und Dirk Mende notiert.177 Zensur führt nach dieser Einschätzung bei Bedarf „zu rechtsförmigen und außerrechtlichen Sanktionen. Beispielsweise zur Behinderung, Verfälschung oder Unterdrückung von Äußerungen vor oder nach ihrer Publizierung.“ Die Grenzen, die dabei berührt oder auch überschritten werden sind fließend, manchmal auch schwierig in ihrer Bewertung. Die Ablehnung eines zur Uraufführung eingereichten Schauspiels durch den Intendanten kann mit Zensur etwas zu tun haben, es ist aber nicht zwingend. Die objektiv zensurierende Arbeit im Lektorat des Senders steht gelegentlich unter dem Verdacht der Literatur-Beugung. Das Terrain ist allemal schlüpfrig, die Begriffe müssen am jeweiligen Fall stets neu definiert werden. Der Rotstift kommt gelegentlich ganz leichtfüßig und mit dem beliebten Argument des „Sachzwangs“ daher. Ein solches Beispiel bringt Hanns Dieter Hüsch zu Papier. Die Satire ist der Realität absolut gewachsen und belegt die Mutationen der Zensur, zeigt alten Wein in neuen Schläuchen. Eins dreißig „Jaa ...“, sagte der junge Redakteur Roland Müller-Remscheid, „Ihr Textbeitrag ist ja hochinteressant. Aber zu lang, zu lang.“ „Wie lang ist er denn?“, fragte ich. „Frau Bachmann, wie lang ist der neue Hüsch-Text?“ „Etwas über neun Minuten“, rief Frau Bachmann zurück. 177Kienzle, Michael/Mende, Dirk, 1980, S.231. 219 http://www.mediaculture-online.de „Über neun Minuten. Das ist leider zu lang.“ „Und wie lang darf er sein?“, fragte ich. „Eins dreißig, notfalls auch eins vierzig.“ „Seh'n Sie“, sagte er, „es ist ja in der Hauptsache eine Musiksendung.“ „Ich dachte, es wäre eine Wortsendung. Kulturelles Wort.“ „Ja schon“, sagte er, „aber in Musik verpackt, gell? Das Wort sozusagen als Schmuggelware. Aber Ihr Text ist zu lang.“ „Neun Minuten, das kann ich beim besten Willen nicht machen. Ich kann nur eins dreißig machen, maximal.“ „Viellleicht kann man den Beitrag singen“, sagte ich, „dann wär's ja Musik.“ „Ja, wenn es Poesie wäre“, sagte er, „aber es ist ja Prosa und da geht ja dann der Informationscharakter flöten.“ „Wenn er flöten geht“, sagte ich, „ist er doch schon verpackt.“ „Nein, nein“, sagte er, „es ist ja alles drin, von Johannes über Zefirelli bis zum Kirchentag. Der Text ist ausgezeichnet, gar keine Frage. Ich hab' ihn unserer Putzfrau vorgelesen als Test, sie war begeistert. Nur: Es wird in ihrem Text zu viel gesprochen, versteh'n Sie. Wir lassen ja schon zum Teil unsere Moderatoren die Ansage singen.“ „Und das geht?“, fragte ich. „Natürlich geht das. Die jungen Burschen heutzutage sind doch flexibel.“ „Tja“, sagte ich, „dann machen Sie doch nur noch Musik. Ein Programm völlig ohne Wort.“ „Das geht nicht“, sagte er, „wir haben ja einen Auftrag. Etwas muß schon gesprochen werden. Und wenn's ein Telephon-Interview von 20 Sekunden ist. Der Hörer soll schon ab und zu seine Muttersprache hören.“ „Seh'n Sie mal“, sagte er. „Ich würde ja Ihren Beitrag ungekürzt auf mich nehmen. Aber ab Herbst dürfen die meisten Texte sowieso nicht länger als 40 Sekunden sein. „Ja“, sagte ich, „was mach' ich da?“ „Oh ... Und wenn wir die neun Minuten jeweils nach einer Minute mit Musik unterbrechen. Also, den Text neunmal unterbrechen wie einen Fortsetzungstext. Das wäre eine Möglichkeit“, sagte er. „Aber dann müßte ich alle anderen Textbeiträge rausschmeißen.“ „Wie lang sind die?“ „In der Regel 15 Sekunden: eine Frage, eine Antwort. Und dann rasch wieder Musik.“ 220 http://www.mediaculture-online.de „Sie müssen Ihren Text eben noch mal verdichten“, sagte er. „Es tut mir leid, aber Sie machen doch Kleinkunst, Sie bevorzugen doch die kleine Form, und jetzt müssen Sie eben noch etwas kleiner werden, eins dreißig, das hat auch was Spannendes, und was wegfällt, fällt nicht durch, das wissen Sie ja (...) Hanns Dieter Hüsch, 1992178 Mit dem Tatbestand der unmittelbaren Rundfunkzensur muß sich Hüsch neben anderen Kollegen schon Ende der fünfziger Jahre auseinandersetzen. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk der Ära Adenauer ist machtgeschützt und vertritt das pluralistische Prinzip nur insoweit, als er nicht mit Bonner Interessen kollidiert. Die Antiatombewegung hat es im Radio schwer und kann sich anfänglich nicht durchsetzen, und das gilt auch für Hüsch. Der Niederrheiner erinnert sich in einem Interview: „Ich bekam eine Auftragsarbeit und zwar vom Südwestfunk. Diese Sache kriegten glaube ich vier Leute. Ich weiß nicht, wer die anderen drei waren. Jedenfalls, es sollte etwas über die Atombombe gemacht werden. Und zwar sollte das in einer Form gemacht werden, die so ein bißchen oratorisch war. Ich glaube, der Kästner hat damals auch noch mitgemacht. Und ich habe dann meine später sehr bekannt gewordenen vier Gesänge gegen die Atombombe geschrieben. Das war 58 oder 57, jedenfalls Ende der fünziger Jahre und das wurde dann in Baden-Baden mit Musik produziert, mit meiner eigenen Musik, und nicht gesendet und auf Eis gelegt. Das war das erste Mal. >Ja warum können Sie es nicht machen?< - >Ja, wir können es nicht machen, es ist zu scharf und aggressiv.< Es war eine schöne Mischung aus Bibelzitaten usw. Aber dann wurde das 1965, dieselbe Geschichte, neu produziert vom Saarländischen Rundfunk. Und auf einmal ging es. Das heißt, das ist die alte Geschichte: Die Zeit, sagen wir der Sturm war vorbei, nun konnte man das machen. Man konnte es praktisch historisch machen. Das ist genauso, wenn man sagt: Tucholsky kann man immer machen, man muß nur die Jahreszahl dazu sagen.“179 Hannelore Kaub, das streitbare Kabarett-Haupt vom Bügelbrett, erfährt im Juli 1964, was es mit der öffentlich-rechtlichen Zensur im Fernsehen auf sich hat.180. Das Mauer- und 178Hanns Dieter Hüsch, Eins dreißig, 1992, S. 48. 179Hippen/Jacobshagen, SDR: 4.11.89. 180Vgl. S. 152ff. 221 http://www.mediaculture-online.de Deutschlandbild der Kabarettistin ist nicht genehm und paßt nicht in die kaltkriegerische Fernsehlandschaft der einseitigen Schuldzuweisung. „Das war die erste und letzte Chance, die wir je hatten, im Abendprogramm zu landen. Und das sollte erst ein und eine Viertelstunde sein, dann eine Stunde und als dann wirklich gesendet wurde, waren es nur noch 45 Minuten. Es war alles rausgeschnitten, was spannend und neu war und darunter auch dieser Mauersong. Den könnte man heute noch singen.“181 Die Kabarettserie „Hallo Nachbarn“ des NDR wird 1965/66 trotz reichlicher Zuschauerproteste ersatzlos gestrichen, mancher Biß sitzt den Verantwortlichen denn doch zu tief. Peter Altmann befindet: „Als die Hamburger Intendanz die Sendung „Hallo Nachbarn“ absetzte, tat sie es aus Sorge um das vermutlich weitgehend unmündige Publikum. Das fatale Elite-Denken also in Reinkultur, verbunden mit einer autoritären Verneinung des Kabarettisten-Rechts auf öffentliche Wirksamkeit - raffiniert ausgedrückt durch die Unterstellung, das Kabarett maße sich ein Mandat an, das niemand erteilt habe.“182 Wolfgang Neuss wird durch eine Springer-Kampagne in West-Berlin mit Aufführungsverboten belegt oder in den Medien bewußt ausgegrenzt. Er hat schließlich in seiner satirischen Postille Neuss Deutschland die Leser ermahnt, kein Geld mehr für die amerikanischen Soldaten im Vietnamkrieg locker zu machen. 1972 fällt das Programm „Der Abfall Bayerns“ der Fernsehzensur zum Opfer. Die euphemistischen Drahtseilakte einer vermeintlichen Entschuldigung oder Begründung sind immer noch hörenswert. Fernsehdirektor Helmut Oeller gibt anrührende Erklärungen einer gewundenen Medienrhetorik zur Entschuldigung ins Mikrofon. O-Ton Oeller: „Es war so, daß wir in einigen Nummern der Ansicht waren, daß diese zu verbessern seien. Wir konnten uns darüber mit Sammy Drechsel und seinen Freunden nicht verständigen. Ich habe das sehr bedauert, zumal wir schon 20 Sendungen gemacht hatten. Ich glaube aber, diese Qualitätsfrage war nicht nur eine Frage der Lach- und Schießgesellschaft, sondern auch der Entwicklung. 181In: Hippen/Jacobshagen, SDR: 4.11.89. 182Altmann, Peter, Was darf und was ist der politische Kabarettist: Hofnarr oder Agitator?, in: Die Andere Zeitung, 24.3.1966, hier zitiert nach: Meyer, Ellen, 1988, S. 33. 222 http://www.mediaculture-online.de Es war einfach nicht mehr so viel da, was die Lach- und Schießgesellschaft provoziert und animiert hätte, entsprechend gut und scharf zu sein.“ Und weiter meint der Fernsehgewaltige: „Satire darf aufklären, informieren, kritisieren. Aber wo ist die Grenze? Ich glaube die Grenze ist dort, wo statt Information Unterstellung stattfindet, wo statt Information Voyeurismus gemacht wird. Ich glaube, sie hat ihre Grenze dort, wo statt Aufklärung möglicherweise sogar Verleumdung stattfindet, wo statt notwendiger Unterscheidung, notwendigem Gefecht, möglicherweise schutzwürdige religiöse oder sittliche Werte verletzt werden.“183 Z wie Zensur Wichtig nicht, ob sie so heißt! In einer Demokratie sind jene, welche sich zensieren lassen, noch schuldiger als die Zensoren. Die hündischste aller Zensuren: die eigene Vorzensur! Wieviele Worte werden von dem Blick auf die Fernsehgage zensiert. Der teuflischste aller Zensoren „das Geld“. Rundfunk und Fernsehen sind bemüht, das Volk vor der Luft zu schützen, die möglicherweise nicht nach dem eigenen Käse riecht. Zensoren haben eine gute Nase. Denken Sie mal mit der Nase. Sie kastrieren und halten das Ergebnis noch für Potenz. 183Hippen/Jacobshagen,SDR: 4.11.89. 223 http://www.mediaculture-online.de Sie machen das öffentliche Leben zu einer Bühne. Zu einer Bühne gehören Versatzstücke, Vorhang und Kulissen. Eine Gesellschaft, in welcher ein Busen anrüchig ist und ein Marschallstab eine Reliquie. Rudolf Rolfs, 1967184 Franz Josef Degenhardt, Dietrich Kittner, Die 3 Tornados, der unerschrockene Siegfried Zimmerschied aus Passau185, auch der Floh de Cologne, sie alle haben als Kabarettisten oder Ensemble die Zensur am eigenen Programm erfahren. Es gibt Prozesse wegen des Verdachts der Religionsbeschimpfung im Falle der Tornados. Sie melden zum Beispiel Zweifel an der sogenannten unbefleckten Empfängnis der Mutter Maria an und handeln sich damit eine Strafverfolgung ein. Der Generalsekretär der Bischofskonferenz, Prälat Schätzler, hat jedenfalls gegen die Überwachung und Reglemetierung des Kabaretts im Fernsehen dem Grunde nach keine Bedenken. Im Gegenteil: „Wenn ich jetzt im Rundfunkrat bin, oder wenn ich als Sekretär der Bischofskonferenz plötzlich nach einer solchen Sendung auch eine große Anzahl Briefe bekomme, von Leuten, bei denen ich annehme, daß sie nicht nur jetzt schreiben, damit sie auch schreiben, sondern, die wirklich betroffen sind, die sich beleidigt fühlen, dann kann ich annehmen, daß das eine größere Gruppe ist. Und dann habe ich sogar die Verpflichtung, daß ich öffentlich gegen so etwas auftrete und öffentlich den Sender befrage: Wie kommt ihr dazu, den Leuten, die euch die Gebühren geben, so etwas vorzulegen und vorzusetzen. Und dann frage ich mich natürlich auch, wieso kommt denn so ein Dilettant, der sich als Satiriker ausgibt dazu, permanent die Mattscheibe zu mißbrauchen?“186 Zensur, einmal protegiert und geduldet, erzieht zur fatalen Duckmäuserei, zur Anpassung an die vorherrschende Moral und staatliche Doktrin. Im Scheibenwischer vom 16. Juni 1988 wird solches besungen. Aus der Sicht der Kabarettisten ist das angepaßte Verhalten 184Rolfs, Rudolf, 1967. 185Vgl. Landshuter, Walter/Liegl, Edgar, 1987. 186In: Hippen/Jacobshagen, SDR: 4.11.89. 224 http://www.mediaculture-online.de im übrigen die beste Voraussetzung für einen gehobenen Posten bei einer öffentlichrechtlichen Anstalt. Lieber Gott mach mich fromm, daß ich weit nach oben komm, hilf mir meinen Mund zu halten, vor den irdischen Gewalten, laß mich nicht zu tolerant sein und ein bißchen Intrigant sein, daß mich der Herr Pfarrer liebt und mir Heiligenbildchen gibt. Lieber Gott mach mich kalt, daß ich nie zu Schwachen halt, hilf mir Treue vorzuheucheln und den Mächtigen zu schmeicheln, laß mich nicht an Dogmen zweifeln und mich hüten vor den Teufeln, die stets alles kritisieren und des Lehrers Gunst verlieren. Lieber Gott mach mich dumm, daß ich niemals frag warum. Hilf mir stets das eigne Denken auf den Alltag einzuschränken, vor Geboten mich zu ducken, gegen Zwang nicht aufzumucken, dann schaff 's ich mit dieser Tour sicher bis zum Abitur. Lieber Gott mach mich fromm, 225 http://www.mediaculture-online.de daß ich weit nach oben komm. Laß mich stets ein dumpfer Christ sein, nie ein grüner Anarchist sein. Ich will statt zu demonstrieren an Fronleichnam mitmarschieren. Hilf mir nirgends anzuecken, alle Stiefel blank zu lecken, dann werd ich, das hoff ich sehr, einmal Fernsehredakteur. Scheibenwischer, 16.6.1988187 Zu spektakulärer Berühmheit gelangt die radikale Zensurmaßnahme des Bayerischen Rundfunks vom 22. Mai 1986. Der Sender setzt im Einvernehmen mit der Programmdirektion und dem Intendanten Reinhold Vöth die Sendung ab. Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl (26. April 1986) findet in das Programm zwar nicht direkten Eingang, immerhin reflektiert aber Lisa Fitz den Vorgang in ihrer Nummer vom verstrahlten Opa auf einer surrealen Ebene. So hat aber der BR nicht gewettet und macht von der Möglichkeit Gebrauch, sich im Namen seiner Zuschauer auszublenden. Die Sittenwächter des Südens haben wieder einmal mächtig zugeschlagen, wobei sie aber nicht mit der vehementen öffentlichen Reaktion rechnen. Die Presse auf den bajuwarischen Zensurstreich ist jedenfalls verheerend, die nachträglichen Rechtfertigungsversuche des Fernsehdirektors Helmut Oeller an den Haaren herbeigezogen und mit der üblichen „machtgeschützten Ästhetik“ begründet. Der verstrahlte Großvater (Lisa Fitz kommt auf die Bühne, setzt sich ans Telefon und wählt.) Lisa Fitz: Ja? Hallo? Ist dort die Strahlenschutzkommission? 187Ebd. 226 http://www.mediaculture-online.de Ja? Na prima, also es geht um folgendes: Unser Großvater, gestern ist er übrigens 91 geworden, der war neulich draußen im Garten, das heißt, er saß eben draußen in seinem Rollstuhl ... der macht das übrigens fast jeden Tag, das ist bei dem ganz normal, bloß jetzt war's eben so, daß es auf einmal angefangen hat zu regnen und ... von uns hat leider keiner dran gedacht, den Großvater reinzuholen, und auf die Art und Weise ist der gute Mann geschlagene vier Stunden im Regen gesessen. Klar, das wär natürlich nicht weiter schlimm, aber wir haben uns jetzt eben gedacht, wegen dem russischen Kernkraftwerk, wissen Sie, da hat's doch geheißen, man soll sich bei Regen möglichst nicht im Freien aufhalten ... ich mein, wie soll ich sagen, wir befürchten jetzt eben, daß der Großvater schon ordentlich was abgekriegt hat von der Radioaktivität und wie gesagt, gestern ist er 91 geworden, da muß man ja auch jeden Tag mit dem Schlimmsten rechnen ... und deswegen ... ich mein, den kann man ja nicht so einfach begraben, am Ende verstrahlt der noch den ganzen Friedhof ... und jetzt wollt ich eben wissen: Müssen wir unseren Großvater jetzt endlagern? Oder vielleicht muß man ihn ja auch wiederaufbereiten, ich versteh von diesen Dingen ja nichts, aber man macht sich nun mal so seine Gedanken, wo ich doch erst kürzlich in der Zeitung gelesen hab, daß radioaktiv verseuchte Leute nicht normal begraben werden dürfen. Die sind doch praktisch ... wie sagt man dazu? Sondermüll, richtig. Ja, gut, können Sie mir vielleicht sagen, wie das laufen soll, weil irgend so etwas wie eine Beerdigung muß man einem Menschen ja geben ... gibt's da vielleicht Richtlinien dafür, zum Beispiel ob der Pfarrer seine Predigt im Strahlenschutzanzug halten muß? ... Gibt's nicht, aha ... aber eine anständige Beerdigung, das ist doch das einzige, worauf sich der Großvater jetzt noch freut, ich meine, vielleicht täte es eine richtig weihevolle Endlagerung ja auch, aber ein bißchen christlich müßte es eben schon zugehen ... Wieso geht das nicht?! ... Ach was! Die Halbwertzeit von meinem Großvater interessiert mich nicht! Solche Sachen hätten Sie sich eben überlegen sollen, bevor Sie mit der Atomspalterei angefangen haben, jetzt haben wir den Salat, und der Großvater darf's ausbaden ... Ja, ebenfalls, wiederhörn. (Sie legt den Hörer auf.) Opa lassen wir nicht mehr an die frische Luft. Ab 100 Millirem ist man nämlich kein Christ mehr. (Lisa Fitz geht ab.) Scheibenwischer vom 22.5.86188 Interview mit dem Intendanten Interview mit dem Intendanten Reinhold Vöth zur Nichtübernahme der Sendung „Scheibenwischer“ am 22.5.1986, gesendet in „Funk Intern“ auf Bayern 1 März: Von Zensur, Entmündigung, Sauerei, Diktatur und Unverschämtheit war die Rede nach dem Ausblenden des BR aus dem „Scheibenwischer“. Der bayerische Zuschauer hat sich gefragt, warum er eigentlich nicht selber entscheiden kann darüber, ob er ein Programm sehen will oder nicht. Herr Vöth, warum hat der Bayerische Rundfunk ausgeblendet? Vöth: Für das Programm des Bayerischen Rundfunks gibt es klare gesetzliche Regelungen. Wir haben hier ein eigenes Rundfunkgesetz. In diesem Gesetz sind auch die Verantwortlichkeiten geregelt, wer entscheidet, was im Programm kommt. Das ist nun einmal so geregelt, und wenn 188In: Hildebrandt, Dieter, Zensur, 1986, S. 29ff. 227 http://www.mediaculture-online.de die Verantwortlichen, in diesem Fall der Fernsehdirektor, der für das Fernsehprogramm zuständig ist, und in der Gesamtverantwortung der Intendant, sich entscheiden, etwas nicht zu bringen, dann tun sie das in Ausfluß ihrer Verantwortung. Das Gesetz sieht nicht vor, den sogenannten mündigen Fernsehzuschauer, der nun selbst entscheidet, was er sehen will und was nicht, sein Programm gewissermaßen selber macht. Wenn man das wollte, müßte das Gesetz geändert werden. Dann könnte alles gesendet werden. Dann gibt es aber auch keine aufsichtsrechtlichen Beanstandungen und keine Debatten im Rundfunkrat, ob Sendungen des Bayerischen Rundfunks oder der ARD gegen das Rundfunkgesetz verstoßen haben, ob wir Programmdefizite vielfältiger Art haben. Dann ist das eben reguliert über den sogenannten mündigen Fernsehzuschauer und Radiohörer, der selbst entscheidet, ob er einschaltet oder nicht. Solange aber das Gesetz besteht, und solange klare Verantwortlichkeiten hier festgelegt sind, mit der Konsequenz, daß der für diese Maßnahme Verantwortliche jederzeit mit der Mehrheit des Rundfunkrates abberufen werden kann, so lange müssen diese Verantwortungen wahrgenommen werden. Und da kann man nicht von einer Zensur sprechen, da kann man auch nicht von einer Sauerei sprechen oder einer Entmündigung. Das ist ein gesetzlicher Auftrag und eine Verpflichtung, die wir haben und die wir erfüllen müssen. März: Was im „Scheibenwischer“ war denn der Anlaß, daß man sich ausgeblendet hat? Vöth: Diese Sendung war eine Livesendung des Senders Freies Berlin, die der SFB in das ARD-Programm eingebracht hat. Das ändert aber nichts an der Tatsache, daß der Bayerische Rundfunk für die Ausstrahlung dieser Sendung die volle rundfunkrechtliche Verantwortung trägt. In Wahrnehmung dieser Verantwortung hat der Fernsehdirektor den SFB gebeten, informiert zu werden über die Inhalte dieser Sendung. Nachdem es hier einige Probleme der Information gegeben hat, kam dann das Manuskript, und der Fernsehdirektor kam beim Studium des Manuskriptes zu dem Ergebnis, daß er diese Sendung nicht verantworten kann. Es hat sich hier um Passagen über einen strahlenverseuchten Großvater und seine Beerdigung, die Diffamierung der Bundeswehr, das im Krieg als Düngemittel vergossene Blut auf schlesischem Boden und die Dekontaminierung des Papstes nach der Berührung der Erde gehandelt. März: Herr Vöth, was wäre denn umgekehrt gewesen, wenn dieses Programm ausgestrahlt worden wäre? Vöth: Da hätte es sicher Beschwerden von Zuschauern gegeben; da hätte es sicher eine Behandlung im Rundfunkrat gegeben. Aber das alles war nicht das Motiv unseres Handelns. Wir haben das in eigener Verantwortung getan, weil wir der Meinung waren, daß hier etwas geschehen ist, was umschrieben werden kann mit Verletzung des Geschmacks, der Lebenswerte und der Würde anderer. Und damit wir uns richtig verstehen: Es geht nicht darum, daß Kabarett nicht sein kann. Das Kabarett braucht einen Spielraum; das Kabarett muß die Möglichkeit haben, kritisch zu formulieren, Überspitzungen und Provokationen als Stilmittel einsetzen zu können. Aber es gibt eine Grenze auch hier im Kabarett. Darüber haben wir oft gestritten. Die Grenze ist unserer Meinung hier verletzt worden. Ich möchte hier auch einmal grundsätzlich etwas sagen. Wir haben hier die Toleranz, die immer gefordert wird, nun auch einmal so gesehen, daß sie nicht einseitig von denen in Anspruch genommen werden kann, die den Freiraum für den Affront ständig für sich beanspruchen, sondern daß die Toleranz auch denen zugebilligt werden muß, die hier verletzt werden. Sie müssen dabei ja bedenken, daß eine solche Sendung von uns gewissermaßen frei Haus an die Zuschauer geliefert wird. Ich möchte nicht wissen, wieviele unserer Zuschauer durch persönliche Beziehungen im Verwandtenkreis, im Familienkreis betroffen sind, wenn Opfer des letzten Krieges und der Vertreibung in Schlesien, das Blut, das dort geflossen ist, als schlechtes Düngemittel bezeichnet finden, um nur ein Beispiel zu nennen.189 189Ebd., o.S. 228 http://www.mediaculture-online.de Der normative Diskurs des Intendanten, seine rhetorischen Finten und Ausflüchte, die Fülle der Schutzbehauptungen sind keineswegs „historisch“. Die verbale Flucht hinter die Bürde der „Verantwortung“, das vorgegebene Wissen um den „guten Geschmack“, sind alles klassische Argumentationsmomente im alten Kampf zwischen Zensurkräften und dem abgetrotzten Anspruch auf künstlerische Freiheit. Die ästhetischen Parolen dienen wie zu Zeiten der römischen censura der mehr oder weniger geglückten Kaschierung der realen politischen Absichten. Die Absetzung eines Kabarettprogramms aus vorgeblichen Gründen der künstlerischen Unzulänglichkeit hat nicht nur Tradition, sondern gehört zu den Regularien im machtgeschützten Kulturbetrieb, zumal im öffentlich-rechtlichen, der die Vorzensur de jure und aus politischen Motiven eben nicht vorsieht. Ausgelacht - Das Kabarett unter Hammer und Sichel Kabarett unter den Bedingungen der sich sozialistisch nennenden Kulturpolitik der DDR heißt 40 Jahre Auseinandersetzung mit einer expliziten oder auch impliziten Zensurpolitik. Diese ist ganz gewiß nicht mit den Rahmenbedingungen in der Bundesrepublik zu vergleichen. Berufsverbot oder Androhung der Verhaftung in der DDR tangieren nicht nur das künstlerische Selbstverständnis der Artisten der Leipziger Pfeffermühle, der Distel oder der Academixer. Die Kontrolle durch Stasi einerseits und die sogenannten Bezirkskommissionen andererseits, denen die Manuskripte vorab vorzulegen sind, bedeutet Vorzensur der extremen Art. Insofern ist der staatliche Zensureingriff in der DDR von fundamental anderer Qualität als hierzulande. Es gibt Konvergenzen der staatlichen und öffentlich-rechtlichen Kabarettpolitik, die Unterschiede sind aber dennoch gravierend. Nicht immer fühlen sich die Künstler der Kabaretts in der DDR kontrolliert. Das staatlich verordnete Wohlwollen kann von Fall zu Fall auch zur zweiten, unkritisch übernommenen Selbstzensur der Kabarettisten werden. Rainer Otto, vor der Wende noch der Leiter der Leipziger Pfeffermühle, läßt solches jedenfalls 1989 noch mehr oder minder unverblümt durchblicken. Er beteuert im Interview in naiver Unschuld: „Erstens schreibt mir niemand vor, was ich schreiben soll worüber ich schreiben soll. Es gibt natürlich immer mal Auseinandersetzungen, Differenzen zwischen bestimmten Funktionären und uns; und ich 229 http://www.mediaculture-online.de finde, ein Satiriker der so etwas nicht erzeugt, der ist kein guter Satiriker. Wer sich keine Feinde macht, der sollte sowieso von der Satire lassen.“ Es gebe über „einzelne“ Sätze und Nummern „gelegentlich“ Diskussionen, räumt Otto ein, und weiter: „Und wenn man uns nachweist - das machen andere Kabaretts in der Bundesrepublik zum Beispiel auch-, wenn man uns nachweist, daß die Fakten nicht stimmen, wenn man uns nachweist, daß das, was wir auf der Bühne sagen, nicht der Wirklichkeit entspricht, dann sind wir natürlich auch bereit, darüber nachzudenken.“190 Das Zitat belegt anschaulich die Zwickmühle im alten DDR-Kabarett. Hurra-Humor ist unter der staatlichen Aufsicht ebenso gegeben, wie gelegentlich kritischer Widerstand zu vernehmen ist. Das Programm „Lebensverweise“ (1979) der Pfeffermühle wird abgesetzt. Die Aufsicht moniert eine Passage, in der Volkskammerpräsident Horst Sindermann als „Kaviarfreund“ und notorischer Intershop-Kunde bezeichnet ist. Eben das geht zu weit. Der Pfeffermühlen-Gag: „Sie wissen ja, warum wir so viele Schlaglöcher haben - weil wir die nicht exportieren können“, führt zu einem sechsmonatigen Aufführungsverbot. Die gesteckten Grenzen bleiben allemal eng.191 Schon 1957 wird Konrad Reinhold auf offener Bühne verhaftet, vier weitere Pfeffermühlen-Chefs müssen den Hut nehmen. Doch es gibt auch, von Fall zu Fall, die Möglichkeit auf kleinere Miß- oder Übelstände zu verweisen. Die Kritik richtet sich dann vor allem gegen „menschliche Schwächen“ und politische „Untugenden“. Ein stürmisch gefeiertes Lied von 1974 belegt diese Möglichkeit der verdeckten Systemkritik. Ja verzeihen Sie die Befragung: Warn Sie schon einmal auf einer Tagung? (Er war schon einmal auf einer Sitzung.) Was ich jetzt leicht bringe, ist keine Überspitzung: Jede Sitzung hat ein Protokoll, Worin verzeichnet steht, wer reden soll. 190In: Antl/Naumer, SDR: 17.6.1989. 191Vgl. ebd. 230 http://www.mediaculture-online.de Erstens spricht der Direktör, Und wer spricht dann hinterher? Danach spricht Kollege Schade von der Renommier-Brigade. Danach spricht der BGL, aber nicht besonders schnell, denn er hat sein Manuskript aus Versehen nicht getippt; und nun hat er's nicht dabei, deshalb spricht er heute frei. Danach spricht die FDJ, zur Verwunderung ziemlich flott, denn der Jugendsekretär ist ja nicht der Jüngste mehr. Dann kommt die DFD heran, mit dem Frauenförderungsplan. Doch die Rede schrieb ein Mann, man merkt's den Kraftausdrücken an. So läuft die Sitzung wie sie soll, nach dem Protokoll, nach dem Protokoll. Wenn man Bier trinkt, und in Mengen, spürt man ein gewisses Drängen. Das einzige, was Erleichterung brächte, wär die Tür am Eingang da, die rechte. Festgelegt ist, wer wann soll – in 'nem Protokoll, Protokoll. Erstens geht der Ehrengast, und es folgen voller Hast Direktör und Meister Schade 231 http://www.mediaculture-online.de von der Renommier-Brigade. Danach geht der BGL, aber nicht besonders schnell, denn er weiß nicht, was er soll, doch ihn zwingt das Protokoll. Und so ist er dann bereit und tut seine Schuldigkeit. Und dann kommt die FDJ, und die muß besonders flott, denn der Jugendsekretär steht auf einem Bein nurmehr. Und dann fragt die DFD - daß kein Irrtum hier entsteh -, woher sie denn nun erführ, wo für sie die rechte Tür, wo sie darf und wo sie dürfen soll, steht im Protokoll, steht im Protokoll. Der Betrieb und alle seine Kader gehn zuweilen auch in ein Theater, gehn zuweilen auch ins Kabarett - schön wär's, wenn auch das gefallen tät. Naja, und auch da geht's weiter wie es soll nach dem Protokoll, nach dem Protokoll. Erstens lacht der Direktör, dann erst lacht sein Sekretär, dann erst lacht Kollege Schade von der Renommier-Brigade, danach lacht der BGL, aber nicht sofort sehr schnell; 232 http://www.mediaculture-online.de schaut erst einmal hin und her hin zu seinem Direktör. Wie er sieht, daß der sich krümmt, na da wird auch eingestimmt. Und dann lacht die FDJ, na die lacht besonders flott, geht vor Lachen in die Höh und sie haut der DFD lachend auf das linke Knie; Na, und nun lacht auch die. Denn die Höhen der Kultur, die erstürmt man lachend nur, aber stets nur wie man soll, nach dem Protokoll, nach dem Protokoll. Leipziger Pfeffermühle, 1974192 Ein Jahr vor der Vereinigung der beiden Teile Deutschlands spitzt sich die Sprache im DDR-Kabarett merklich zu. Die Kabarettisten sprechen jetzt unverhohlener und deutlicher über die Mißstände im eigenen Land. Was früher unmöglich schien, hat sich die Plattform des Kabaretts erobert. In dem Programm „Neudeutsch für DDR-Bürger“ experimentiert das Leipziger Ensemble Academixer 1988 mit dem noch Unerlaubten, kritisiert nahezu ungetarnt Ideologie und Sprechweise der Nomenklatura. Auf der Schallplatte heißt es indessen eher abwiegelnd und beschwichtigend: „Es ist politische Satire, wo wir Zeitgenossen in Zeitverhältnissen vorführen und spielerisch mit dieser widersprüchlichen Wirklichkeit umgehen - und zwar so, daß gelacht werden kann und Veränderungswille und Widerspruchsgeist der Zuschauer bestärkt werden.“193 Die Zurechtbiegung der Sprache als ideologisches Machtinstrument der Funktionäre demonstrieren Die Academixer in der Endphase der alten Republik mit Deutlichkeit. Von einer verdeckten „Sklavensprache“, einem Rösselsprung zwischen einem Gesagten und 192Ebd. - BGL d.i. Betriebsgewerkschaftsleiter; DFD d.i. Demokratischer Frauenbun d Deutschla n d. 193Academixer, Neudeutsch für DDR-Bürger; Text: Jürgen Hart. 233 http://www.mediaculture-online.de dem Gemeinten, ist nunmehr, Monate vor dem Einsturz der Mauer, kaum noch etwas zu spüren. Die Academixer agieren offensiv und mit fröhlicher Unerschrockenheit. Es gibt nichts mehr zu verlieren. Unter Kollegen Anke Geißler: In unserem ersten Unterrichsabschnitt wollen wir uns mit dem Vollständigkeitsprinzip beschäftigen. Wir nehmen einen beliebigen Satz. Christian Becher: Die Schuhe stehen im Schrank. Anke Geißler: Oder: Christian Becher: Der Hund bellt auf dem Hof. Anke Geißler: Oder: Christian Becher: Die Kollegen stellten unbequeme Fragen. Anke Geißler: Ja, wir nehmen den letzten Satz, denn dieser ist ungenau und unvollständig. Ein DDR-Bürger in leitender oder mittlerer Position weiß nichts damit anzufangen. Christian Becher: Worum geht's? Anke Geißler: Sehen Sie! Denn nicht alle Kollegen stellten unbequeme Fragen. Christian Becher: ... und sie stellen auch nicht immer unbequeme Fragen. Besser ist also Gong Anke Geißler: Einige unserer Kollegen stellten anläßlich der Vorbereitung der Gewerkschaftswahlen unbequeme Fragen. Christian Becher: Halt! Sie merken: Hier paßt die zweite Hälfte des Satzes „unbequeme Fragen“ nicht mit der ersten Hälfte des Satzes „anläßlich der Vorbereitung der Gewerkschaftswahlen“ zusammen. Also vervollständigen wir: Gong Anke Geißler: Einige unserer Kollegen stellten anläßlich der Vorbereitung der Gewerkschaftswahlen interessante und anregende Probleme zu Diskussion. Christian Becher: Sie merken: Der Satz ist vollständig und somit druckreif. Die Academixer, 1988194 194Ebd. 234 http://www.mediaculture-online.de Es folgen dann weitere groteske Beispiele aus der sozialistischen Sprachfabrik. Das Kind ist demnach in die sozialistische Schülerpersönlichkeit zu übersetzen, aus Jugendliche wird Vertreter der heranreifenden jungen Generation. Der Satz Wir sammeln Kartoffeln lautet demzufolge sozialistische Schülerpersönlichkeiten, Vertreter der heranreifenden jungen Generation unseres Landes beteiligen sich erfolgreich an der verlustlosen Einbringung der Hackfruchternte. Das Program der Ost-Berliner Distel „Keine Mündigkeit vorschützen“ fällt 1988 der Zensur zum Opfer. Die Autoren haben das verbotene Programm in Auszügen inzwischen dokumentiert. Der inkriminierte Text reflektiert in einem Beitrag die fehlende Freizügigkeit im Reiseverkehr der DDR. Nicht zuletzt an dieser Einschränkung und den damit verbundenen Demütigungen zerbricht die DDR ein Jahr später. Die kesse Distel nimmt hier vieles vorweg - ohne Publikum, auf dem Papier, nur zur Lektüre für die Bezirkskommission, die Stasi und ihre Funktionäre. Was niemand sehen darf, trägt die Überschrift: Die Vorhut des Kommunismus (Im Reisebüro. Mann A und Reisebüroangestellte R) A: (provozierend) Ich möchte eine Reise zum Wolfgangsee buchen. R: (sehr freundlich) Wieviel Personen bitte? A: Ich meine den Wolfgangsee in Österreich. R: Ich weiß, wo der Wolfgangsee liegt, ich war schließlich im „Weissen Rössl“. Wieviel Personen? A: Drei. Ich, meine Frau und unsere 17jährige Tochter. R: Mal sehen, was wir noch haben ... (schlägt ein Buch auf) Seeblick oder Waldblick? A: Beides. 235 http://www.mediaculture-online.de R: Dann geht's nur noch Juni, Juli oder August. A: Ich nehme alle drei Monate. R: Ihren Ausweis bitte. A: ( Provokatorische Haltung, kippt, plötzlich sehr erschrocken) Aber wieso denn?! ... Es war doch nicht so gemeint ... Man wird sich doch noch einen kleinen Scherz. Ich hab'doch mit meinen Kumpels von der Gießerei gewettet, daß ich mich traue! ... Ich nehme auch Halle-Süd im November oder Bitterfeld mit Werkblick! R: (immer gleichmäßig freundlich) Ich denke, Sie wollen nach Österreich? Und dazu brauch' ich Ihren Personalausweis. A: Ich weiß genau, warum: Personenkennzahl - und dann geht alles seinen Computergang! Sie wollen doch meiner Tochter nicht die Zukunft vermasseln! R: Wieso vermasselt sich Ihre Tochter die Zukunft, wenn sie mal nach Österreich fährt? Was glauben Sie, wie viele Söhne und Töchter des Landes nach Österreich fahren! Und die haben alle eine Bombenzukunft vor sich. A: Ja diiie! - Sie müssen mich verwechseln. Wir gehören nicht dazu. R: Ich verwechsle Sie nicht. Im Gegenteil ... A: Und warum wollen Sie mir dann eine Österreich-Reise andrehen!? Sie, das ist eine Provokation! Gleich verlange ich Ihren Ausweis! R: Aber Bürger! ... Ich werd Ihnen das mal erklären ... Seh'n Sie mal: der Kommunismus ... A: Damit dürfen Sie mir gar nicht kommen. Der ist ja nun vertagt bis zum - nach dem Jüngsten Gericht. R: (Immer noch lächelnd) Ja eben. Und trotzdem haben wir doch die schönsten Vorstellungen von den Möglichkeiten des Kommunismus. Und damit uns diese schönen Vorstellungen in den Alltagskämpfen nicht verloren gehen, hat sich eine kleine Schar von Vorkämpfern - also ein bewußter Vortrupp - ohne großes Aufheben bereit erklärt, die materiellen Möglichkeiten schon jetzt vorzuleben. Und dazu gehört auch Urlaub am Wolfgangsee. A: Und zu diesen Vorkämpfern gehöre ich nicht! Ich bin keine Kulturprominenz und ich hab' keinen Onkel in der Politprominenz! R: Aber Bürger ... Damit es nicht heißt, diese ... vorweggenommene Zukunft sei auf die Dauer nur für eine bestimmte Elite vorgesehen, sondern für alle, werden jedes Jahr drei ganz normale Bürger unserer Republik reingelassen. Und dazu gehören Sie! A: (Entsetzt) Drei im Jahr? R: (leise) Unter uns: Im Jahr 2000 werden es 10 sein. Die Jahrtausendüberraschung. A: Drei im Jahr ... ! 236 http://www.mediaculture-online.de R: Man kann nicht alle 17 Millionen auf einmal reinlassen. Die Leute sind ja nicht vorbereitet. Sieht man ja an Ihnen, wie Sie sich sperren. Und dann sagt sich ja der Vortrupp: Wozu kämpfen wir vor, wenn die anderen so schnell nachkommen. Fehlt ja jegliche Motivation! A: Dann gehöre ich also jetzt zu den Privilegierten, gegen die ich immer gewettert habe ... Wie stehe ich denn da vor meinen Kumpels? R: Sie können getrost mit sich im reinen bleiben, denn wir haben keine Privilegierten. Wir haben nur Leute, die sich aufgrund ihrer eigenen Verdienste oder der Verdienste anderer so verdient gemacht haben, daß... ich nicht weiß, ob wir den Satz zu Ende denken sollten. A: (Unglücklich, verzweifelt) Also nun muß ich an den Wolfgangsee? Oder wie? R: Sie müssen nicht. Das Reinlassen in die Klasse der Vorleber von morgen findet auf freiwilliger Basis statt. A: Wie ist man denn ausgerechnet auf mich gekommen? R: Eine Fügung dunkler Schicksalsmächte. Wer zu den Glücklichen gehört - der fährt und fragt nicht. A: Und wer nicht zu den Glücklichen gehört? R: Der fährt nicht - und fragt erst recht nicht. In der Hoffnung, daß er vielleicht doch mal fährt. Man will sich doch die Schicksalsmächte nicht verärgern, die im Dunklen webenden und wägenden. A: Und wenn ich mich weigere? R: Dann wären Sie schön dumm. Wir haben noch mehr Sonderknüller im Angebot: Sonderläden, Sonderautos, Sonderärzte, Sonderwohnungen, Sonderkuren ... A: Nun sage einer, bei uns kann man nicht wie im Paradies leben. R: Man muß nur DAZU gehören. A: Und wer bestimmt, wer dazu gehört? R: Na die, die dazu gehören. Die Distel, 1988195 Die anfängliche Wende-Begeisterung weicht über Nacht in den Neuen Ländern der Nachdenklichkeit. So hat man sich die Wiedervereinigung nicht vorgestellt. Die Spaßmacher der Herkules-Keule in Dresden, das Kabarett am Obelisk in Potsdam oder 195Zitiert in: Oechelshaeuser, Gisela (Hrsg.), 1990, S. 91f. 237 http://www.mediaculture-online.de die Hallenser Kiebitzsteiner kritisieren unisono die „Abwicklung“ ihrer Kultur und die kolonialen Handlungsmuster der Wessis. Von Zusammenwachsen keine Spur, allenfalls von unkontrollierten Wucherungen, die soziales Handeln vermissen lassen. Die Academixer beklagen solches in dem Programm „Schlag auf Schlag“ (1993), Die Distel konstatiert die Struktur der aufziehenden Konkurrenz- und Ellenbogengesellschaft schon früher. Auch jetzt, im Zuge der neugewonnenen Meinungsfreiheit, erfüllt das östliche Kabarett eine Ventilfunktion. Das Syndrom der mentalen und psychischen Unterwerfung unter das Diktat des Geldes und Marktes ist allenthalben (kritisch) spürbar. Das Kabarett verschafft im Rahmen seiner bescheidenen, aber doch kathartisch disponierten Möglichkeiten einen kleinen, aber wichtigen spielerischen Freiraum. Kabarett jenseits der Elbe rechnet mit den spezifischen Alltagsnöten seiner vereinigten Zuschauer. Anders als das westdeutsche Fernsehen, das einem egalitären Humor von Lübeck bis Garmisch verpflichtet ist, ist das Ost-Kabarett auf regionale Problemstellungen eingestellt. Der Bundeskanzler und die große Politik ist ein Thema, aber nicht das entscheidende. Die Selbstbehauptung gegen Westarroganz ist wichtiger als die nochmalige stimmliche Imitation von Blüm oder Kohl. Demnach gibt es in der Breite deutliche Unterschiede in der Struktur der Satire und der Persiflage. Winter ade Zensor ade - scheiden tut weh. Aber das Scheiden macht, daß jetzt kein Aas mehr lacht. Komm Stück für Stück heimlich zurück. Stasi ade - schipp Sand und Schnee. Doch in der Produktion kriegt ihr nur Leistungslohn. Aus Horch und Guck wird jetzt Hauruck. 238 http://www.mediaculture-online.de Privilegiert war, wer regiert. Aber der Handwerker lacht, denn er behält seine Yacht. Weiter regiert, wer repariert. Grenzen ade - Reisen tut weh, wenn man im Trabbi zwängt, finanziell eingeschränkt, geht's uns auch mies, wir fahr'n nach Paris. Winter ade - scheiden tut weh. „Der scharfe Kanal“ - Distel-Programm vom 31.12.1989196 Lieder zur Niederlage Einheit, schöne Götterspeise – Deutsche ins Elysium. Auf zur deutschen Hochzeitsreise, himmlisches Delirium. Kohl und Modrow binden wieder, was einst Ulbricht streng geteilt. Alle Deutschen werden Brüder, wo ihr rechter Flügel weilt. Seid verschlungen Millionen von dem Kuß der Deutschen Bank. D-Mark heißt der Göttertrank. Leistung muß sich wieder lohnen. Brüder, in der Deutschen Bank muß ein lieber Vater wohnen. 196Ebd., S. 21. Text: P. Ensikat. 239 http://www.mediaculture-online.de Auferstanden aus Ruinen und dem Wohlstand zugewandt, lasset uns jetzt mitverdienen deutsche Hand wäscht deutsche Hand. Laßt uns brüderlich verteilen Deutschland Ost an Deutschland West. Laßt sie um die Beute keilen. In den Mond wie eh und je sieht der dumme Rest, sieht der dumme Rest. Süßer Versprechen nie klingen als bis zum 18. März. Grad als ob Engelein singen, wolln die Partein dir ans Herz. Was sie gesungen in heiliger Schlacht, das ist vergessen in eiliger Nacht. Erst wenn die Stimmen gezählt, sieht man auch, was man gewählt. Im Märzen der Wähler die Stimme abgibt. Hier wird bloß der Bundestagswahlkampf geübt. Ob Kohl oder Genscher und ob Lafontaine, das wolln die drei hier bei uns bloß mal sehn. Wir wähln Amateure für Profis in Bonn – egal, wer verliert - bei uns wird nicht gewonn'. Ob Eppelmann, Böhme, ob Schnur, de Maizière – die legen sich Oskar und Helmut nicht quer. Das Wählen ist des Bürgers Lust, 240 http://www.mediaculture-online.de er hat es ja noch nie gemußt – das Wählen. Das muß ein guter Wähler sein, der unterscheidet die Partein. Wer unterscheidet die Partein? Der Wähler. Mein Haus hat eine Ecke – es ist ein Westgrundstück. Nun kommt der Eigentümer und will das Stück zurück. Ich hab das Haus gebauet. Doch das macht ih'm nichts aus. Er hat's schon angeschauet sein Grundstück und mein Haus. Der Hai ist gekommen, die Räume mißt er aus. Nun zieht endlich Freiheit und Einheit ins Haus. Wenn die Makler erst da sind, dann wohn' wir im Zelt. Es stand doch der Sinn uns nach der freien, freien Welt. Die Distel am 10.3.1990197 197Ebd., S. 27f. Text: P. Ensikat. 241 http://www.mediaculture-online.de Deutscher Epilog Spreng-Sätze Es fing alles ganz harmlos an. Irgendwann mußte Friedrich Karl Flick eintausendachthundertmillionen DM vorbeibringen. An der Steuer. Legal. Das Volk ließ ihn mit dieser Bürde allein. Einzig die Herren Minister Friedrichs, Lambsdorff, Matthöfer, Karry, Kiep, Lahnstein, sowie die Kanzler Schmidt und Kohl hatten Mitleid und nahmen ihren Anteil. Ebenso nahmen Anteil die CDU, CSU, FDP und SPD. Der SPIEGEL war dabei. Darauf beschloß der Handelsvertreter Norbert M. für seine Reisekostenabrechnung die Strecke Stuttgart-München künftig um 60 Kilometer zu verlängern. Irgendwann hatten die Vorstandsmitglieder der NEUEN HEIMAT soviel Anteil genommen, daß die NEUE HEIMAT liquidiert werden mußte, der SPIEGEL war dabei. Irgendwann, nachdem Gewerkschaftsfunktionär Alfons Lappas siebzigtausend Wohnungen verkauft hatte, mußte sich das Gewerkschaftsmitglied Erich K. mit seiner dreiköpfigen Familie eine neue Heimat suchen, der SPIEGEL war nicht dabei. Irgendwann gab ein Ministerpräsident sein „persönliches Ehrenwort“. 242 http://www.mediaculture-online.de Irgendwann wurde er in einer Schweizer Badewanne tot aufgefunden. Der STERN war dabei. Irgendwann gab's „Tutti frutti“. Irgendwann war die Antenne am VW-Golf der Altenpflegerin Monika W mutwillig abgebrochen worden. Irgendwann entstand in Libyen eine deutsche Giftgasfabrik. Irgendwann konnte Herr K. seine Kredite nicht mehr abzahlen und brachte sich um. Irgendwann gab es die Fernbedienung. Irgendwann zog Schalck-Golodkowski an den Tegernsee. Irgendwann zog es Honecker nach Chile und Möllemann kam aus der Dominikanischen Republik zurück. Irgendwann wurden die Landschaften in den Hochglanzanzeigen immer exotischer und schöner. Irgendwann setzte sich der achtzehnjährige Günter L. in einer Bahnhofstoilette den Goldenen Schuß. Irgendwann starb Miss Elli - und am blauen Ascona von Herrn S. war der Seitenspiegel abgeknickt. Irgendwann wurden die Mieten erhöht. Irgendwann hatte sich der Treibhauseffekt verdreifacht. Irgendwann wurden die Diäten erhöht. Irgendwann erfand SAT 1 das Glücksrad. Irgendwann kündigte die Wohnungsbauministerin – wegen Eigenbedarf. Irgendwann sagte der Kanzler: „Gemeinsam werden wir es schaffen.“ Irgendwann wurden die Menschen in den Hochglanzanzeigen immer reicher und schöner, und der bayerische Ministerpräsident verreiste mit seiner Familie nach Kenia. 243 http://www.mediaculture-online.de Irgendwann stand in den drei Kinderzimmern der Familie F. jeweils ein Fernseher. Irgendwann hatte Rambo als Held ausgedient, an seine Stelle trat ein Ehemann, der für eine Reality-Show seine Frau erschoß. Darauf beschloß Herr Mayer, wohnhaft in Günzburg, Drosselweg 16, nicht länger Zuschauer zu sein. Irgendwann fand man das Beil, mit dem er seine Frau erschlagen hatte, in einem Wäldchen bei Neu-Ulm. BILD war dabei. Irgendwann gab's Computerspiele. Irgendwann gab's Computerkriege. Irgendwann intervenierte der amerikanische Präsident George B. in der Golfregion. Irgendwann ertrug der Jugendliche Marco T. die Einsamkeit der Techno-Disco nur noch mit crack. Irgendwann gab's das Schweigen der Lämmer. Irgendwann hatten wir die Freiheit, eine Kreditkarte zu nutzen. Irgendwann entdeckte man im Kernkraftwerk Brunsbüttel Risse und Petra Kelly und Gert Bastian tot in ihrer Wohnung. Keiner war dabei. Irgendwann sagte ein Vater zu seinem zwölfjährigen Sohn: „Laß dir nichts gefallen!“ Irgendwann packte der Lehrer H. aus Berlin zu seinem Frühstücksbrot eine Gaspistole in seine Aktentasche. Irgendwann hatte der Jurist und Abgeordnete Wissmann zehntausend Mark Strafe wegen Steuerhinterziehung bezahlt. Daraufhin wurde er Forschungsminister. Irgendwann wurde der querschnittsgelähmte Bernd G. an einem verkaufsoffenen Samstag in der Fußgängerzone 244 http://www.mediaculture-online.de aus seinem Rollstuhl gestoßen. Irgendwann hat so ein Rotzlöffel auf dem Nachhauseweg dem überfüllten Abfalleimer an der Bushaltestelle den Boden weggetreten. Dabei hatte alles so harmlos angefangen. Irgendwann mußte jemand eintausendachthundert Millionen ganz legal an der Steuer vorbeibringen. Irgendwann stank der Fisch vom Kopf, und die Republik hatte sich verändert. Thomas Freitag, 1993198 198Thomas Freitag (1993). Dem Autor freundlich zur Verfügung gestellt. 245 http://www.mediaculture-online.de Anhang Das Kabarett in der Bildungsarbeit Wenn die Beobachtung nicht täuscht, dann steht die Kabarett-Kultur in der Bundesrepublik in Blüte. Nach Hanns Dieter Hüsch wäre solches durchaus ambivalent, denn: „Kabarettisten sind Protestanten. Man hat ihnen ein Leids angetan, und nun zahlen sie's heim mit barem Spott.“ Der Konsum der literarischen Kabarett-Kost ist vor allem bequem, manchmal auch billig, wenn sie im Fernsehen angeboten wird. Über die didaktische Umsetzung des Genres in der Bildungsarbeit und im politischen Unterricht ist freilich bislang nur wenig nachgedacht worden.199 Dabei könnte sich durchaus ergeben, daß das Kabarett in hervorragender Weise geeignet ist, um die verschiedenen Nahtstellen zwischen Literatur und Politik, Kultur und Subkultur und satirisch gespiegelter Zeitgeschichte exemplarisch herauszuarbeiten. Anders als das Geschichtsbuch, das dem „objektiven Rückblick“ verpflichtet ist, setzt das Kabarett in Lied, Wort und Ton auf die subjektive, auch polemische Ablichtung von gesellschaftlichen Fragen und Ereignissen. Es geht dabei nicht um den allgemeinen Standpunkt, sondern um die Bewertung der Geschichte durch das artistische Individuum. 199Die didaktischen Hinweise wurden in Zusammenarbeit mit Günther Gugel, Verein für Friedenspädagogik, Tübingen, entwickelt. 246 http://www.mediaculture-online.de 1. Interpretation und Neuformulierung Text 1: Der Mond ist aufgegangen Helmut Kohl spricht Matthias Claudius Der Mond, meine Damen und Herren, und das möchte ich hier in aller Offenheit sagen, ist aufgegangen! Und niemand von Ihnen, liebe Freunde, meine Damen und Herren, wird mich daran hindern, hier in aller Entschlossenheit festzustellen: Die goldnen Sternlein prangen und wenn Sie mich fragen, meine Freunde, wo, dann sage ich es Ihnen: am Himmel! Und zwar, und das sei hier in aller Eindeutigkeit gesagt, so, wie meine Freunde und ich uns immer zu allen Problemen geäußert haben: hell und klar. Und ich scheue mich auch nicht, hier an dieser Stelle ganz konkret zu behaupten: Der Wald steht schwarz und ... lassen Sie mich das hinzufügen und schweiget. Und hier sind wir doch alle aufgerufen - gemeinsam -, die uns alle tief bewegende Frage an uns gemeinsam zu richten: Wie geht es denn weiter? Und ich habe den Mut und die tiefe Bereitschaft und die Entschlossenheit, hier in allem Freimut und aller Entschiedenheit zu bekennen, daß ich es weiß! Nämlich: Und aus den Wiesen steiget 247 http://www.mediaculture-online.de das, was meine Reden immer ausgezeichnet hat: der weiße Nebel wunderbar. Quelle: Dieter Hildebrandt, Was bleibt mir übrig, 1989, S. 286 f. Tonaufzeichnung: KLIG H.D. Hüsch, K. Wecker, D. Hildebrandt, Merkton, Doppel - CD 882 976 Vorschläge zur Interpretation – Vor welchem Hintergrund ist der Text vermutlich entstanden? – Welches sind die Stilmittel, die Hildebrandt einsetzt? – An welche Zielgruppe richtet sich der Vortrag? – Welcher Vorkenntnisse bedarf der Leser / Hörer? – Was wird kritisiert? – Welches Verständnis von Politik verbirgt sich hinter dem Vortrag? – Ist der Text auch auf andere Persönlichkeiten im öffentlichen Leben übertragbar? – Worin besteht der Unterschied zwischen der gedruckten Fassung und dem Tondokument? – Wie ist die Reaktion beim Fernsehpublikum einzuschätzen im Gegensatz zu einem Bühnenvortrag? Umgangsmöglichkeiten mit dem Text – Skizzieren Sie auf einem Blatt Papier in groben Umrissen ein Bühnenbild für den Kabarettvortrag. – Welche Regieanweisungen würden Sie einem Kameramann für die Fernsehaufzeichnung geben? Notieren Sie entsprechende Anweisungen an den Rand des Textes. – Schreiben Sie eine kurze Zeitungskritik von 10 bis 15 Zeilen in der Rolle: eines erklärten Gegenes von Hildebrandt bzw. eines begeisterten Zuschauers. – Wählen Sie ein Volkslied (z.B. „Fuchs, du hast die Gans gestohlen“ oder „Alle meine Entchen“) und legen Sie den Text nach dem obigen Muster einer bekannten Persönlichkeit in den Mund. 248 http://www.mediaculture-online.de 2. Was darf die Satire? 1986 wurde eine Folge der Sendereihe Scheibenwischer vom Bayerischen Runfunk abgesetzt. Der folgende Text von Lisa Fitz erzürnte die bayerischen Mediengewaltigen: Text 2: Der verstrahlte Großvater (Lisa Fitz kommt auf die Bühne, setzt sich ans Telefon und wählt.) Lisa Fitz: Ja? Hallo? Ist dort die Strahlenschutzkommission? Ja? Na prima, also es geht um folgendes: Unser Großvater, gestern ist er übrigens 91 geworden, der war neulich draußen im Garten, das heißt, er saß eben draußen in seinem Rollstuhl ... der macht das übrigens fast jeden Tag, das ist bei dem ganz normal, bloß jetzt war's eben so, daß es auf einmal angefangen hat zu regnen und ... von uns hat leider keiner dran gedacht, den Großvater reinzuholen, und auf die Art und Weise ist der gute Mann geschlagene vier Stunden im Regen gesessen. Klar, das wär natürlich nicht weiter schlimm, aber wir haben uns jetzt eben gedacht, wegen dem russischen Kernkraftwerk, wissen Sie, da hat's doch geheißen, man soll sich bei Regen möglichst nicht im Freien aufhalten ... ich mein, wie soll ich sagen, wir befürchten jetzt eben, daß der Großvater schon ordentlich was abgekriegt hat von der Radioaktivität und wie gesagt, gestern ist er 91 geworden, da muß man ja auch jeden Tag mit dem Schlimmsten rechnen ... und deswegen ... ich mein, den kann man ja nicht so einfach begraben, am Ende verstrahlt der noch den ganzen Friedhof ... und jetzt wollt ich eben wissen: Müssen wir unseren Großvater jetzt endlagern? Oder vielleicht muß man ihn ja auch wiederaufbereiten, ich versteh von diesen Dingen ja nichts, aber man macht sich nun mal so seine Gedanken, wo ich doch erst kürzlich in der Zeitung gelesen hab, 249 http://www.mediaculture-online.de daß radioaktiv verseuchte Leute nicht normal begraben werden dürfen. Die sind doch praktisch ... wie sagt man dazu? Sondermüll, richtig. Ja, gut, können Sie mir vielleicht sagen, wie das laufen soll, weil irgend so etwas wie eine Beerdigung muß man einem Menschen ja geben ... gibt's da vielleicht Richtlinien dafür, zum Beispiel ob der Pfarrer seine Predigt im Strahlenschutzanzug halten muß? ... Gibt's nicht, aha ... aber eine anständige Beerdigung, das ist doch das einzige, worauf sich der Großvater jetzt noch freut, ich meine, vielleicht täte es eine richtig weihevolle Endlagerung ja auch, aber ein bißchen christlich müßte es eben schon zugehen ... Wieso geht das nicht?! ... Ach was! Die Halbwertzeit von meinem Großvater interessiert mich nicht! Solche Sachen hätten Sie sich eben überlegen sollen, bevor Sie mit der Atomspalterei angefangen haben, jetzt haben wir den Salat, und der Großvater darf's ausbaden ... Ja, ebenfalls, wiederhörn. (Sie legt den Hörer auf.) Opa lassen wir nicht mehr an die frische Luft. Ab 100 Millirem ist man nämlich kein Christ mehr. (Lisa Fitz geht ab.) Scheibenwischer vom 22.5.86 (194) (Quelle: Scheibenwischer Zensur, S.29-32.) Text 3: Unmündig? BR blendet sich erneut aus Man mag die Begründung der bayerischen Rundfunkgewaltigen zur Absetzung des Scheibenwischers drehen und wenden, wie man will: der Vorgang ist und bleibt ein Skandal. Denn erneut wurde damit dem „frei“-staatlichen Zuschauer eine TV-Sendung 250 http://www.mediaculture-online.de vorenthalten, die alle anderen Bundesdeutschen getrost sehen durften und gegen die sämtliche anderen ARD-Anstalten auch nichts einzuwenden hatten. Der unmündige Bürger als idealer BR-Konsument: So hätten sie's wohl gern. Und das offerierte Ersatzprogramm unter dem Titel: „Heiße Ware Swing“ deutet - ob nun unter Mitwirkung Dieter Hildebrandts oder nicht - auf eine in jedem Fall bedenkliche Tendenz hin. Ohnehin nämlich hat ebenso unverbindliches wie unsägliches Tralala anstelle Anstoß erregender Beiträge ein unerträgliches Übergewicht auf dem Bildschirm bekommen. Sowieso wird uns so ziemlich jeder erdenkliche Mattscheibenschwachsinn zugemutet. So läßt sich denn über die Grenzen des guten Geschmacks in der Tat trefflich streiten. Nicht aber darüber, daß in einer freiheitlich verfassten Demokratie und im öffentlichrechtlichen Rundfunk Satire erlaubt sein muß. Die jedoch ist nun einmal oft genug nicht nach dem Geschmack jener Entscheidungsträger, welche die bevorzugte Zielscheibe für professionelle Spötter abgeben. Bleibt ihnen und ihrer Verträglichkeit die letztwillige Verfügung überlassen, dürften wir wir über kurz oder lang in die alles nivellierende, anödende, kritikfreie Röhre gucken. Nürnberger Nachrichten, 23. Mai. 1986 Positionenspiel Zwei TeilnehmerInnen übernehmen in Rede und Gegenrede die Position „Der Text darf nicht gesendet werden, weil ...“ bzw. „Der Text muß gesendet werden weil ...“. In einer Ecke des Raumes steht der „Pro-Redner“, in der anderen der „Kontra-Redner“, die übrigen Teilnehmer stehen im Raum dazwischen. Nun tragen die beiden Redner abwechselnd je ein Argument vor. Die Zuhörer verändern ihren Standpunkt, je nach Zustimmung oder Ablehnung des Argumentes. Sich auf den Redner hinbewegen bedeutet Zustimmung. Sich von ihm fortbewegen, Ablehnung. Dabei sollen die Zuhörer nur auf die vorgetragenen Argumente hören und nicht aufgrund ihrer Vorüberzeugung reagieren. 251 http://www.mediaculture-online.de Nach jedem vorgetragenen Argument verändern also die Zuhörer ihren Stand-Punkt. An der Stellung und Verteilung der Gruppe im Raum läßt sich die Überzeugungskraft der jeweiligen Argumente ablesen. Diskussionsübung Im Rundfunkrat wird die bereits erfolgte Absetzung einer PolitikerParodie heftig diskutiert. Der Intendant hat sie mit seinem Fernsehdirektor verfügt. Der Rundfunkrat hat über die Entscheidung nachträglich zu befinden. Es kommt zu kontroversen Stellungnahmen und einer Abstimmung. An der Sitzung nimmt nebem dem Intendanten und dem Fernsehdirektor ein Vertreter der CSU, CDU, FDP, SDP und der GRÜNEN teil. Hinzu kommen die Vertreter der „gesellschaftlich relevanten Gruppen“ im Rundfunkrat. Sie werden u.a. durch die Gewerkschaften, die Kirchen, Städtetag, Bühnengenossenschaft, Bauernverband, Journalistenverband oder auch Landesfrauenverband repräsentiert; auch sie beteiligen sich an der Diskussion. Die Vertreter diskutieren die Entscheidung der Intendanz und sollen nach ca. 30 Minuten ihr Votum abgeben. Diese Übung kann in simultanen Kleingruppen oder als Podiumsdiskussion vor dem Plenum durchgeführt werden. Der monierte Text ist dabei zunächst nur den Teilnehmern der Diskussionsrunde bekannt. Im Anschluß an die Abstimmung wird er auch dem Plenum vorgetragen. 3. Schlagzeilen Das Münchner Crüppel Cabaret Die Kabarettisten im Rollstuhl fanden sich Anfang der achtziger Jahre zu gemeinsamer Arbeit zusammen. Wer ihr Programm gesehen hat, ist zur Überprüfung des eigenen, vermeintlich „gesunden“ Standorts aufgerufen. Der Vortrag ist Provokation, ein Schlag gegen betuliches caritatives Handeln im Sinne einer beliebigen Wohltätigkeitsveranstaltung. Die „Versehrten“ im Rolli zeigen auf Doppelbödiges in 252 http://www.mediaculture-online.de unserer Gesellschaft, auf die Ideologie von strahlenden athletischen Körpern, wie sie uns die Werbung präsentiert, und auf ihren berechtigten Anspruch ernstgenommen zu werden. Text 4: Schlagzeilen knüppeldick Halbblinder Arzt operierte: Zwei Tote! In einem Koblenzer Krankenhaus operierte dieser Mann kranke Menschen dann und wann. Zwei Patienten starben kurz darauf. Der Skandal war perfekt, der Arzt flog auf. Keine Lehrstelle für behinderten Sohn: Vier Tote! Architekt brachte die ganze Familie um. Kinderlähmung war der Grund. Der Vater flippte aus, machte allen den Garaus. Auch er selbst macht sich hin. Es geschah in Berlin. Aus Verzweiflung: Todkranke Mutter vergiftete ihr Kind! Danach schnitt sich die Frau ihre Pulsadern auf. Multiple Sklerose hatte sie, hatte Angst, sie zu vererben und ihr Söhnchen zu verderben. Grad drei Jahre war der Knabe, und schon trug man ihn zu Grabe. 253 http://www.mediaculture-online.de Medizin tötet mehr Menschen als Straßenverkehr! Geheimstatistik: Jährlich lassen 15.000 ihr Leben. In der Bundesrepublik müssen viele Menschen leiden, weil die Ärzte Mist verschreiben. Selbst Kleinkinder, die aufmucken, müssen Tranquilizer schlucken. Anwalt spricht von Skandal: Rollstuhlfahrer in Haar eingesperrt! Zum Notarzt wollt der Rolli hin. Doch er landete in Haar, weil er eigensinnig war, und dort sperrte man ihn ein; Eigensinn, der darf nicht sein. Gelähmter Bruder aus Mitleid erstochen! Der Vierundzwanzigjährige bat: Erlöse mich! Er tat es aus Liebe zu ihm, zu dem Bruder, der ihn bat: Mach ein Ende, schreit zur Tat. Stich dein Messer mir ins Herz, und vorbei ist all mein Schmerz Weil es verkrüppelt auf die Welt kam: Vater erschlug Baby im Kreißsaal! Eine Hasenscharte war der Grund, Der Vater konnte sie nicht ertragen, deshalb hat er sein Kind erschlagen. Aus dem Brutkasten raus, an die Wand und aus. 254 http://www.mediaculture-online.de Das war ein Überblick über Schlagzeilen krüppeldick. Wenn die Presse von uns auch nichts wissen mag, jeden Mord an einem Krüppel bringt sie an den Tag in Schlagzeilen krüppeldick. Wie gesagt, das war nur ein Überblick. Werner Geifrig, Neues aus Rollywood, 1987 Text 5: Die Kunst des aufrechten Ganges im Sitzen Ganz unten, da sind die „Rollis“, wie sie sich selbst bezeichnen, die hinaufschauen müssen, wenn Passanten den Betreuer fragen, ohne den Gemeinten anzuschauen, „was er denn hätte“. Die Solidarität der Nichtbehinderten, die nie daran denken, dass der Rollstuhl um die Ecke stehen kann. Oder ist der Text, den eine PRAgentur für das Verkehrsministerium erfand: „Blöder Radler“ - „Sturer Autler“ „Bumms!“ nicht so gemeint, daß man in Sekundenschnelle aus der Mitte der Gesellschaft verschwinden und sich in einer „Randgruppe“ wiederfinden könnte? Randgruppen werden von Politikern als „Paket“ behandelt. Sie stehen außerhalb der gesunden Gesellschaft, nörgeln an ihrem Status herum, fühlen sich nicht integriert, möchten nicht zusammen mit Asozialen, Chaoten oder Terroristen in einem Atemzug genannt werden und vor allem keine Almosen erhalten. Sie fühlen sich als Restrisiko der Gesellschaft, die sich im Kriegszustand befindet. Zum Zuschauen gezwungen, sehen sie den Kampf Chemie gegen die Natur, Arbeitsplatzinhaber gegen Arbeitslose, Auto gegen Auto, Erwachsene gegen Kinder, Menschen gegen Tiere, Medien gegen Menschen oder Nullen gegen NullLösungen, fühlen sich unschuldig an der Entstehung des ganz normalen Wahnsinns, sehen aber mit Erstaunen, dass sie die Rechnung bezahlen sollen. Die Urheber von Katastrophen beschließen, sparsamer zu werden, suchen lobbyarme Gruppen, finden sie unter anderen in den Behinderten und sanieren ihren Haushalt 255 http://www.mediaculture-online.de mit Abstrichen am Haushalt der Schwächsten. Regt sich Protest bei den Betroffenen, den man eigentlich gar nicht erwartet hatte, dann klärt man die Mehrheit der Nichtbehinderten kühl und knapp auf, wie viele Millionen es kostet, die Behinderten, die keine Gegenleistung erbringen könnten, am Leben zu erhalten. Dieter Hildebrandt in: Werner Geifrig: Neues aus Rollywood, 1987 Fragen zu den Texten – Wie wirkt Text 4, wie Text 5 auf Sie? – Welche Gefühle werden angesprochen? – Welche Methoden der Distanzierung werden bei Ihnen aktiviert? Was beschreiben die „Schlagzeilen knüppeldick“? – Welches Verständnis von der Gesellschaft steht dahinter? – Deckt sich ein solches Kabarett mit Ihrer Auffassung von „Kunst“? Was wollen die Behinderten erreichen? – Was kann ein „Rollstuhl-Kabarett“ beim Zuschauer, bei Wohlfahrtsfunktionären und bei Politikern auslösen? Möglichkeiten der Weiterarbeit – Text 3 wird ohne die Schlagzeilen verteilt. Die TeilnehmerInnen sollen jeweils eigene Schlagzeilen formulieren. Diese werden dann mit den Schlagzeilen von „Rolli“ verglichen. – Die 6. Schlagzeile berichtet von einem Tod auf Verlangen. Nehmen Sie darauf in einem Brief an die Autoren des Kabaretts Stellung. – Suchen Sie aus der Tagespresse Meldungen und Berichte über Behinderte. Lesen Sie diese Berichte laut in der Gruppe, ohne Kommentar. Lesen Sie die Meldungen in verschiedener Betonung und verschiedenem Rhythmus. Kontrastieren Sie dieAussagen durch Werbeaussagen. – Stellen Sie sich vor, es ist Volkstrauertag. Am Kriegerdenkmal der Stadt wird mit Musik und Ansprachen der Opfer von Kriegen und Gewaltherrschaft gedacht. 256 http://www.mediaculture-online.de – Ein junger Behinderter im Rollstuhl liest zum Abschluß der Veranstaltung Wolfgang Borcherts Aufruf „Dann gibt es nur eins“. Im Anschluß an die Feier kommen nacheinander der Bürgermeister, der Pfarrer und ein Ortsvorsitzender der örtlichen Mehrheitspartei zu dem Rollstuhlfahrer. Wie verlaufen vermutlich die Gespräche? Spielen Sie diese als kleine Szene mit verteilten Rollen. – Ein junger Nicht-Behinderter der provokativ einen Rollstuhl benützt, macht in ernster Absicht dasselbe. Wie reagieren nun die drei Personen? Glossar zum Kabarett Bühne Sie spielt im Kabarett eine untergeordnete Rolle, zumal kleine provisorische Spielstätten wie Kellertheater oder Varietébühnen bevorzugt werden. Das Spiel mit dem Unfertigen und Unkonfektionierten im Kabarett mag hier sein Korrelat haben. Gleichwohl haben sich die Kabaretts immer wieder um Originalität beim Dekor bemüht, um augenfällige Akzente zur Hervorhebung des individuellen Ansatzes. Wolfgang Neuss setzte im Berliner Domizil auf die Pauke und die vorhandenen architektonischen Besonderheiten des Raumes. Hanns Dieter Hüsch tingelt seit Jahr und Tag mit dem Harmonium durch die Lande und hat dieses zu seinem Markenzeichen gemacht. Die Bühne ist im Idealfall für den Kabarettisten das, was er dazu erklärt: zusammengeschobene Mensatische, eine stillgelegte Fabrikhalle. Conférence (französisch: Vortrag) Der Conférencier war vor allem in den zwanziger und dreißiger Jahren im Kabarett von herausragender Bedeutung. Zunächst nur als Überleitung zwischen den einzelnen Nummern gedacht, enwickelte sich die Zwischenansage zu einer selbständigen Gattung mit solistischem Charakter. Finck pflegte dieses Genre mit vielen weiteren Kollegen. Bei 257 http://www.mediaculture-online.de Unterhaltungssendungen im Rundfunk kommt die Conférence gelegentlich noch zum Vortrag. „Doppelconférencen“ sind von Paul Morgan und Kurt Robitschek überliefert. „Eine Doppelconférence ist ein Dialog zwischen einem G'scheiten und einem Blöden, wobei der G'scheite dem Blöden etwas Gescheites möglichst gescheit zu erklären versucht - mit dem Resultat, daß zum Schluß der Blöde zwar nicht gescheiter, aber dem Gescheiten die Sache zu blöd wird. Beide haben daher am Ende nichts zu lachen. Dafür desto mehr das Publikum.“( Karl Farkas, Wiener Kabarettist) Couplet (französisch: Pärchen) Seit dem 19. Jahrhundert ist es die Bezeichnung für ein scherzhaftsatirisches Lied, oft zweideutig und pikant-erotisch. Meist mit gleichlautender Endzeile oder Kehrreim vorgetragen, aber keineswegs ausschließlich. Claire Waldoff, Otto Reutter, Willy Rosen sind bekannte Couplet-Sänger. Das Couplet steht in engster Nachbarschaft zum Chanson. Überschneidungen sind gegeben. Vergleiche hierzu das Lied „lieber Gott mach mich fromm“ (S. 231). Dialekt Er wird im deutschsprachigen Kabarett in zunehmendem Maße eingesetzt. Mit ihm lassen sich, oft schärfer als durch die Hochlautung, Zustände und Mißstände charakterisieren. Er schafft Nähe und täuscht diese auch gelegentlich vor (Polt). Die sprachliche Fallhöhe (Uli Keuler schwadroniert in schwäbischer Mundart über islamischen Fundamentalismus) rückt das scheinbar Unvereinbare dicht zusammen: Eine Weltreligion wird aus der Perspektive der sinistren Regionalität abgeklopft. Nicht die Religion wird desavouiert, dagegen der Sprecher und seine ideologische Verhaftung. Damit hat auch die zunehmende Nachahmung von Politikern etwas zu tun. Vor allem über den Dialekt wird eine hohe Identifikationsmöglichkeit geschaffen. (Vergl. M. Richling, Gerhard Polt, Jürgen von Manger, Siegfried Zimmerschied und viele andere.) 258 http://www.mediaculture-online.de Fernseh-Kabarett Wir haben zu unterscheiden: Kabarett im Fernsehen, das direkt für die Bedingungen des Mediums konzipiert ist („Nachschlag“, „Jetzt schlägt's Richling“ u.a.), und die abgefilmten Aufzeichnungen von Kabarettveranstaltungen (z.B. aus dem Unterhaus in Mainz). Dieter Hildebrandts „Scheibenwischer“ stellt eine Mischform dar, da im Sendesaal auch Publikum anwesend ist. Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Qualitätsfrage, ob das Medium das Produkt insgesamt verändert. Der Autor neigt zur Bejahung dieser Frage. Am „Scheibenwischer“ läßt sich das nachweisen. Witz und Humor als ein „regionales Ereignis“ finden hier nur noch bedingt statt. Die Pointe ist eine solche, die in Rostock oder Meersburg ganz ähnliche Reaktionen hervorrufen wird. Das Fernsehen, so scheint es, macht das Kabarett über weite Strecken egalitär, weil jeder alles verstehen muß. Das ist eine Chance, aber auch ein nicht zu unterschätzendes Problem. Nur selten kommen im übrigen fernsehspezifische Techniken zum Einsatz. Die Möglichkeiten von Schnitt, Beleuchtung und Montage sind bislang kaum ausgeschöpft. Humor (lateinisch humor / umor: Feuchtigkeit) „Gabe eines Menschen, die Unzulänglichkeit der Welt und der Menschen, den Schwierigkeiten und Mißgeschicken des Alltags mit heiterer Gelassenheit zu begegnen“ (Duden, Das Herkunftswörterbuch, 1989). Nach klassischer und antiker Vorstellung steht dahinter die Lehre von den Körpersäften und damit auch die Temperamentenlehre: sie unterscheidet den cholerischen, melancholischen, phlegmatischen und sanguinischen Charakter, die „schlechte“ oder „gute“ Gestimmtheit des Menschen. Humor- aus lateinisch humores „Feuchtigkeiten“ - hat erst im 17. und 18. Jahrhundert die allein positive Deutung erfahren. Wichtig ist beim Humor die philantropische Haltung: Ohne Schärfe wird auf „Ungereimtheiten“ verwiesen. Anders als die Satire, die mit Bissigkeit auf Veränderung setzt, ist der humorige Ansatz 259 http://www.mediaculture-online.de „versöhnlich“ gestimmt. Der Humor ist konstituierend für das Kabarett und definiert nur in Grenzfällen eine Gattung, z.B. die „Humoreske“. Ironie (griechisch eironeia: Verstellung) Das Mittel ist ebenfalls konstituierend für das Kabarett. Die Bühnentechnik des Als-Ob kommt zur Anwendung. Der Kabarettist „verstellt“ sich. Zwischen seinem Wissen und seiner Aktion und Rede wird eine Diskrepanz sichtbar. „Die Ironie ist eines der wichtigsten Mittel, die Glaubwürdigkeit einer Person oder Sache in Zweifel zu ziehen.“ (Ueding, 1991, S. 80.) Der Akteur simuliert vor dem Publikum Nichtwissen und verbirgt seine Kenntnis über den wahren Sachverhalt. Oft wird Einverständnis mit dem beschriebenen Sachverhalt nur vorgetäuscht oder „geheuchelt“. Durch Übertreibung läßt sich aus dieser Perspektive nachdrücklich kritisieren. Ironie, die für den Zuschauer nicht kenntlich wird, verfehlt ihr Anliegen im übrigen und führt unter Umständen zu eklatanten Mißverständnissen. In der zwischenmenschlichen Alltagskommunikation ist dies oft zu beobachten. Im klassischen Griechenland war der „Ironiker“ im übrigen ein zu tadelnder Zeitgenosse: „Auch wer vor der Steuer sein Eigentum niedriger als richtig angab, tat klein und galt als Ironiker. Das war im Grunde ebensosehr Lüge und Täuschung wie die entsprechende Verstellung nach oben hin, das Großtun. Aristoteles muß in seiner Ethik zugeben, das Großtun und Kleintun eigentlich gleich weit von der goldenen Tugendmitte der Wahrhaftigkeit entfernt sind.“ (Weinrich, H., 1966, S. 59.) Kabarett 1894 (Französisch cabaret), Schenke, Wirtshaus; Kaffe-, Teebrett und -geschirr; fächerweise abgeteilte Schüssel für Kompotts. (Brockhaus Konversations-Lexikon, vierzehnte vollständig neubearbeitete Auflage in sechzehn Bänden, Berlin und Wien 1894.) 260 http://www.mediaculture-online.de Karikatur (italienisch caricare: übertreiben, überladen) Sie besteht in der verzerrenden Übertreibung einer charakteristischen Eigenschaft. Damit die Karikatur durch den Zuschauer erschlossen werden kann, sollte ihm das überzeichnete Vorbild bekannt sein. Bei der gezeichneten Karikatur von Politikern wird das deutlich. Die herausgestellten Augenbrauen des Finanzminister Theo Waigel auf Zeitungskarikatur machen nur für den Kenner des Ministers Sinn. Dieter Hildebrandt karikiert in dem Gedicht „Der Mond ist aufgegangen“ (vgl. S. 254f.) die Sprechweise des Bundeskanzler Kohl. Die Leerformeln werden jedoch als bekannt vorausgesetzt und entfalten durch diese Beziehung die komische Wirkung. Komik (griechisch komikos / komos: Festzug, dörfliches Fest) Sie beruht u.a. auf der Inkongruenz von der jeweiligen Anschauung über eine Sache oder Menschen und der tatsächlichen Erscheinung im Leben, auf der Bühne, im Film oder Varieté. Ein volleibiger Minister für Sozialfragen, der im Spiel auf der Bühne für die sozial Schwachen Interesse zeigt, kann komisch wirken, weil dies nicht mit der vorgefaßten Vorstellung des Publikums in Einklang zu bringen ist. Die grölende und prustende Witwe wirkt komisch, weil der Zuschauer Trauer voraussetzt. Man unterscheidet zwischen „freiwilliger“ und „unfreiwilliger“ Komik. Jene ist gegebenenfalls literarisch oder künstlerisch kalkuliert, diese Ergebnis des platten Unvermögens, sich auszudrücken. Das Kabarett jongliert und hantiert mit dem Spektrum der Komik ganz selbstverständlich. Komik wird unterschiedlich erfahren, da der eigene Standort die Reichweite und Wirkung der Komik bestimmen. Kabarett ohne Komik ist denkbar. Ihr Entzug - je länger, je mehr weitet sich im Theatersaal und am Bildschirm zur Katastrophe. Kluge Analytiker haben den Humor qualitativ über die Komik gesetzt, den Witz darunter. Die Massenmedien verwechseln zunehmend Komik mit Ulk und Blödelei. Und das ist gar nicht komisch. Musik 261 http://www.mediaculture-online.de Sie spielt im Kabarett traditionell eine wichtige Rolle. Auf die enge historische Verbindung von Chanson, Couplet und Kabarett ist zu verweisen. Das Lied erlaubt einen hohen affektiven Zugang. Mit ihr lassen sich Szenen gliedern und Texte akzentuieren. Auffallend ist der häufige Einsatz von bekannten Melodien im Kabarett, die als Grundlage für den neuen Text dienen. Hier wird im allgemeinen auf den Wiedererkennungseffekt gesetzt. Dieser erlaubt die rasche emotionale Einstimmung. Ein parodistisch eingesetzter Liedtext kann auf der „bekannten“ Musikschiene wesentlich leichter rezipiert werden. Auf dem Bekannten fußt die neue Botschaft. Das Musikzitat schafft ein Ambiente der vertrauten musikalischen Behaglichkeit, auf der sich ganz Ungewohntes oder Überraschendes sagen und singen läßt. Parodie (griechisch: Gegengesang) Sie setzt ein wissendes Publikum voraus, das den Original-Text kennt. Dieser wird ganz oder in Teilen verspottet oder lächerlich gemacht, indem die äußere Form beibehalten wird und ein anderer dem Original „unangemessener“ Inhalt präsentiert wird. Das Verfahren hat große Verwandtschaft zur Travestie, wobei die Abgrenzung nicht immer sinnvoll gemacht werden kann. Erwin Rotermund führt aus: „Eine Parodie ist ein literarisches Werk, das aus einem anderen Werk beliebiger Gattung formal-stilistische Elemente, vielfach auch den Gegenstand übernimmt, das Entlehnte aber teilweise so verändert, daß eine deutliche, oft komisch wirkende Diskrepanz zwischen den einzelnen Strukturschichten entsteht. Die Veränderung des Originals, das auch ein nur fiktives sein kann, erfolgt durch totale oder partiale Karikatur, Substitution (Unterschiebung), Adjektion (Hinzufügung) oder Detraktion (Auslassung) und dient einer bestimmten Tendenz des Parodisten, zumeist der bloßen Erheiterung oder der satirischen Kritik.“ (Rotermund, 1963, S. 9.) Pointe 262 http://www.mediaculture-online.de Auf Ihr basiert die entscheidende Wirkung im Kabarett. Das Moment der überraschenden Wendung spielt dabei eine Rolle. Der „eigentliche, unerwartete Sinn“ (Wilpert) rückt in die Szene. Sprachlich kommt es dabei oft zu einer „Enttarnung“ von Meinungen oder Vorurteilen, ein Gesagtes erscheint im neuen Licht, auf alle Fälle ereignet sich ein dramaturgischer Umschlag. Die Pointe betont nicht nur einen Schlußakzent - wie beim Witz -, sie tritt auch innerhalb der Szene in Erscheinung. Satire Die Herkunft des Wortes scheint nicht gesichert. Ein Zusamenhang mit griechisch satyros ist nicht gegeben. Das lateinische Wort satura (Opferschale) kommt in Betracht, auch die etruskische Wendung satir „reden“. Unter Satire versteht man im literarischen Sinn eine Spottdichtung mit erzieherischer Tendenz. Heute bezeichnet die Satire im allgemeinen die Verspottung und kritische Auseinandersetzung mit Mißständen oder Personen. Anders als wie bei der „humorigen“ Betrachtung, setzt die Satire auf die Veränderung des beschriebenen Defizits. Die Satire agiert „politischer“ als die Humoreske; die Satire prangert an und stellt auch bloß, sie kann auch verletzen oder den Gegner demütigen. Die Mittel der Satire sind u.a. Humor, Ironie und Witz. Das satirische Element ist im Kabarett fast immer vertreten. Travestie ( italienisch travestire: verkleiden) Der Inhalt wird beibehalten, doch die Form gezielt verändert und manipuliert. Auch hier wird die Kenntnis vom „Original“ vorausgesetzt. Bei Hildebrandts Kohl-Vortrag der Claudius-Vorlage („Der Mond ist aufgegangen“, S. 254f.) sind Mittel der Travestie eingesetzt, freilich auch die der Parodie. An Friedrich Theodor Vischers (1807-1887) FaustParodie oder -Travestie sei erinnert. 263 http://www.mediaculture-online.de Witz Das Wort bedeutete in der Klassik „Verstand“, „Klugheit“ und „Geist“. Heute hat es die Verschiebung zu „Schlauheit“ und „Pfiffigkeit“ erfahren. Die prägnante, meist kurze und „pointierte“ sprachliche Ausformung eines Sachverhalts mit einer überraschenden Wendung gehört zur Charakteristik des Witzes. Zu seiner Dramaturgie zählt das Moment der Überraschung, das Zussammenspiel von enttäuschter Erwartung und tatsächlichem Vortrag. Zensur (lateinisch censura: strenge Prüfung) Staatliche, halbstaatliche oder kirchliche Überwachung des Literatur-, Musik-, Film-, Radio- oder Fernsehbetriebs mit dem Ziel der inhaltlichen Überwachung und Steuerung. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk kennt im Sinne des Grundgesetzes (Artikel 5) keine Zensur, gleichwohl gibt es immer wieder faktische Zensureingriffe. „Zensur ist die mit Machtmitteln versehene Kontrolle menschlicher Äußerungen. Sie führt bei Bedarf zu rechtsförmigen und außerrechtlichen Sanktionen. Beispielsweise zur Behinderung, Verfälschung oder Unterdrückung von Äußerungen vor oder nach ihrer Publizierung. Durch die Bedrohung der beruflichen/ bürgerlichen Existenzen zielt Zensur auf die Internalisierung von Herrschaftsansprüchen. Selbstzensur ist das Resultat erfolgreicher Zensur.“ (Kienzle/Mende, Zensur in der BRD, 1980, S. 231.) Die Geschichte des Kabaretts ist immer auch die Geschichte der behinderten Kunst- und Meinungsäußerung, mithin der Zensur, gewesen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des 264 http://www.mediaculture-online.de Rechteinhabers unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. 265
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