Professor Dr. Jacob Joussen, Bochum Auswirkungen der Rechtsprechung des EuGH auf das deutsche Arbeitsrecht Diskriminierungsrecht, Befristungsrecht, Urlaubsrecht* I. Einleitung II. Auswirkungen im Diskriminierungsrecht 1. „Anwendungsbereich“: Die Rechtssache ACCEPT 2. Alter 3. Behinderung III. Auswirkungen im Befristungsrecht 1. Kücük und die Folgen – Die Missbrauchskontrolle in der Rechtsprechung 2. Weitere befristungsrechtliche Entscheidungen IV. Auswirkungen im Urlaubsrecht 1. Die Entscheidung Heimann und Toltschin – Urlaub bei fehlender Arbeitsleistung 2. Die Entscheidungen Lock und Brandes – Urlaubsentgelt 3. Die Entscheidung Bollacke – Urlaubsabgeltung V. Fazit I. Einleitung Dieser Beitrag skizziert die Auswirkungen der Rechtsprechung des EuGH anhand ausgewählter Entscheidungen aus den zurückliegenden drei Jahren1 in den Bereichen Diskriminierungsrecht, Befristungsrecht und Urlaubsrecht. Die Auswirkungen der europäischen Rechtsprechung zum Diskriminierungsrecht sind dabei politisch besonders kontrovers, die Rechtsprechung zum Befristungsrecht ist die derzeit am wenigsten dramatische, diejenige zum Urlaubsrecht hingegen die vielleicht rechtlich schwierigste. II. Auswirkungen im Diskriminierungsrecht Im Hinblick auf die Auswirkungen zum Diskriminierungsrecht lohnt es sich, zwei Bereiche anzusprechen, die in den letzten Jahren von entsprechenden Entscheidungen betroffen und * Bei dem Beitrag handelt es sich um eine ausführliche, um Fußnoten ergänzte Version des Vortrages, den der Verfasser am 24.4.2015 auf dem 8. Europarechtlichen Symposion des BAG in Erfurt gehalten hat. Herrn Dr. Tim Husemann dankt er für die zahlreichen Gespräche und wertvolle Unterstützung im Vorfeld herzlich. 1 Er knüpft damit an die Beiträge des 7. Symposions an, Willemsen, RdA 2012, 291ff.; Thüsing/Pötters/Stiebert, RdA 2012, 281ff. 1 vorangebracht worden sind. Zunächst geht es um die Frage, wann überhaupt eine Diskriminierung vorliegt. Dies kann man vor die Klammer gezogen als übergeordnete Frage des Anwendungsbereichs des Diskriminierungsrechts verstehen. 1. „Anwendungsbereich“: Die Rechtssache ACCEPT, EuGH, Urteil vom 25.4.2013 – Rs. C81/12 Die Rechtssache ACCEPT knüpft nahtlos an die umstrittenen Entscheidungen in den Rechtssachen Coleman2 und Feryn an – bleibt aber bei deren Erkenntnissen nicht stehen, sondern führt sie weiter. Vor allem die Entscheidung Feryn wurde schon schnell nach ihrer Publikation zum „Kanon des europäischen Antidiskriminierungsrechts“ gezählt3. a) Vorgänger: Feryn Gegenstand der Entscheidung war eine Verbandsklage in Belgien gegen das Unternehmen Feryn. Dessen Geschäftsführer hatte angeblich erklärt, er stelle keine Monteure marokkanischer Herkunft ein – weil die Kunden keine solchen Monteure wollten4. Ein aufgrund dieser Geschäftspolitik nicht eingestellter Marokkaner fand sich zwar nicht. Aber das störte den EuGH in dieser an die Druckkündigung erinnernden Situation nicht. Der Schlüsselsatz aus der Entscheidung Feryn lautet insofern: „Eine solche Diskriminierung setzt nicht voraus, dass eine beschwerte Person, die behauptet, Opfer einer derartigen Diskriminierung geworden zu sein, identifizierbar ist.“ Dies war die Geburtsstunde der sog. „opferlosen Diskriminierung“. b) ACCEPT In diesem Kontext erging auch die Entscheidung in Sachen ACCEPT5 vom 25.4.2013, die die Ausdehnung des Anwendungsbereichs der Richtlinie fortführt. In der Entscheidung ging es um Äußerungen des Herrn Becali, der sich als „Patron“ und „Finanzier“ des rumänischen Fußballclubs FC Steaua Bukarest tituliert hatte und auch so wahrgenommen wurde, ohne jedoch irgendeine rechtlich relevante Position innezuhaben. Er hatte in einem Interview geäußert: „Nicht einmal, wenn sich der FC Steaua auflöste, würde ich einen Homosexuellen in die Mannschaft aufnehmen (…). In meiner Familie hat ein Schwuler nichts verloren, und der FC Steaua ist meine Familie (…). Selbst wenn mir Gott sagen würde, 2 EuGH v. 17.7.2008 – Rs. C-303/06 – Coleman. Lobinger, EuZA 2009, 366, 367. 4 Wörtlich konnte man in einem Interview lesen: „… Marokkaner aber suchen wir nicht. Unsere Kunden wollen sie nicht…“, in: Zeitung De Standaard vom 28.4.2005. 5 EuGH v. 25.4.2013 – Rs. C-81/12 – ACCEPT. 3 2 dass (X) zu 100% nicht homosexuell ist, würde ich ihn nicht nehmen! Es wurde zu viel in der Zeitung darüber geschrieben, dass er homosexuell ist (…). Er könnte der größte Tyrann und der größte Säufer sein (…), aber wenn er homosexuell ist, möchte ich nichts von ihm hören.“ Im Rahmen der Klage ACCEPTs, einer rumänischen Nichtregierungsorganisation, die sich die Förderung und den Schutz der Rechte unter anderem homosexueller Personen zum Ziel gesetzt hat, rief das entscheidungsbefugte rumänische Gericht den EuGH an. Dieser hat in seiner Entscheidung vor allem betont, dass auch Äußerungen einer nicht entscheidungsbefugten Person einen Faktor darstellen können, der im Rahmen der Gesamtwürdigung eines Sachverhalts zu berücksichtigen ist. Es kann sich bei derartigen Äußerungen also um „Tatsachen“ handeln, „die das Vorliegen einer Diskriminierung vermuten lassen“. Die hier vor allem interessierende Erweiterung gegenüber Feryn findet sich in Rn. 47, wo der EuGH feststellt, es sei diesem „nicht zu entnehmen, dass es zur Glaubhaftmachung von ‚Tatsachen, die das Vorliegen einer Diskriminierung vermuten lassen‘, nach Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 erforderlich wäre, dass der Urheber von Äußerungen über die Einstellungspolitik einer bestimmten Einrichtung zwingend die rechtliche Befugnis haben müsste, diese Politik unmittelbar zu beeinflussen oder diese Einrichtung bei Einstellungen zu binden und zu vertreten.“ Damit lösten vorliegend die Äußerungen des nicht dem verklagten Arbeitgeber zuzurechnenden „Patrons“ die Beweiserleichterungen des Art. 10 der Richtlinie 2000/78 aus6. Damit weitet der EuGH den Anwendungsbereich der Richtlinie nochmals aus. Nun genügt nicht mehr nur eine opferlose Diskriminierung – dies stellte ja bereits eine erste Weiterung im Hinblick auf die Auslegung der „Benachteiligung“ dar. Es ist vielmehr nicht einmal erforderlich, dass der Anspruchsgegner selbst aktiv, durch positives Handeln benachteiligt hat. Der EuGH ebnet hier letztlich den Weg zu einer „Benachteiligung durch Unterlassen“: Der Umstand, dass der Anspruchsgegner, der Verein, sich nicht deutlich von den streitgegenständlichen Äußerungen distanziert hat, „stellt“, so der EuGH, „einen Faktor dar, den das angerufene Gericht im Rahmen einer Gesamtwürdigung berücksichtigen kann.“ Der Verein hätte sich distanzieren müssen, dann hätte kein Indiz vorgelegen, das die Vermutung einer erfolgten Diskriminierung trägt. 6 Zu dieser Problematik auch Franzen, EuZA 2014, 289ff. 3 Rein rechtlich bewegt sich das Gericht damit auf einen ersten Blick im Rahmen der Beweisregelungen der Richtlinie. Diese sehen, wie auch § 22 AGG, vor, dass der Anspruchsteller eine Diskriminierung lediglich glaubhaft machen muss. Dazu genügt es, entsprechende Tatsachen vorzutragen, die das Gericht zu der Überzeugung kommen lassen, dass nach allgemeiner Lebenserfahrung mit einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit eine Diskriminierung vorliegt7. Gelingt dem Anspruchsteller dies, wird die Beweislast auf den Gegner übertragen, der nun seinerseits den Vollbeweis im Hinblick auf das Nichtvorliegen einer Diskriminierung erbringen muss8. Zu Recht ist aber festgestellt worden, dass der EuGH in der Rechtssache ACCEPT diesen Regelungen nicht gerecht wird9. Es hätte doch nach den diskriminierungsrechtlichen Beweisregeln genügt, wenn der Verein darauf verweist, dass Becali nicht für ihn spricht, anstatt von ihm eine Widerlegung der Diskriminierung zu verlangen. Doch der EuGH schafft über den Weg der Beweisregelungen letztlich eine Pflicht der betroffenen Arbeitgeber, aktiv zu werden und zu handeln, um einem Diskriminierungsvorwurf zu entgehen – und zwar auch dann zu handeln, wenn die in diskriminierungsrechtlicher Hinsicht „verwerflichen“ Verhaltensweisen von jemandem ausgehen, der mit dem Arbeitgeber nicht rechtlich verbunden ist. Insbesondere verkennt diese Entscheidung mit ihrer über die Beweisregelung hergeleiteten Handlungspflicht aber zudem maßgeblich andere schützenswerte Rechtsgüter, etwa die Meinungsfreiheit, wenn der Gerichtshof letztlich primär eine Distanzierung von den Äußerungen wenn auch nicht explizit verlangt, so doch als den besten Weg sieht, die Vermutung einer erfolgten Benachteiligung zu entkräften. c) Übertragbarkeit? Es wäre sicher zu kurz gegriffen, Auswirkungen auf die deutsche Rechtslage schon allein deshalb zu verwerfen, weil die Entscheidung auf der Klage eines Interessenverbandes beruhte, die in Deutschland bekanntermaßen nicht vorgesehen ist. Vielmehr wird man auf zwei Ebenen Auswirkungen in Betracht ziehen müssen. aa) Auswirkungen im Hinblick auf Individualklagen 7 Bertzbach, in: Däubler/Bertzbach, AGG, 3. Aufl. 2013, § 22 Rn. 25 mwN; Bauer/Krieger, 4. Aufl. 2015, § 22 Rn. 4; Adomeit/Mohr, 2. Aufl. 2011, § 22 Rn. 34; BAG v. 17. 12. 2009 – 8 AZR 670/08, NZA 2010, 383; Husemann, EuZA 2014, 241, 246. 8 Potz, ZESAR 2008, 495, 500. 9 Ausführlich Husemann, EuZA 2014, 241, 248f. 4 Auf einer ersten Ebene hat die Entscheidung ACCEPT mit ihrer Bestätigung der Weichenstellung aus Feryn Auswirkungen auf Individualklagen. Wie wäre mit derartigen Äußerungen verfahrensrechtlich etwa bei einer Schadensersatzklage nach § 15 Abs. 1 AGG umzugehen? Die Auswirkungen von ACCEPT erscheinen evident. Entsprechende Äußerungen im Vorfeld einer Stellenausschreibung sind auch hier so auszulegen, als seien sie auf künftige Ausschreibungen bezogen, jedenfalls soweit sie in einem ausreichenden zeitlichen Zusammenhang mit ihnen stehen10. Dies gilt nicht mehr nur für solche Personen, die unmittelbar rechtlich für Einstellungen befugt sind, sondern weitergehend, wie ACCEPT deutlich gemacht hat. Für die bei ACCEPT und Feryn einschlägige Bewerbungssituation hält das deutsche Recht § 11 AGG parat. Die Vorschrift verlangt, eine Stelle diskriminierungsfrei auszuschreiben. Ein Verstoß führt zwar anerkanntermaßen nicht zu einem Schadensersatzanspruch, stellt aber ein ausreichendes Indiz im Sinne von § 22 AGG dar, um eine Beweislastumkehr auszulösen11. Im Zusammenspiel dieser Normen ermöglicht eine Übertragung der Rechtsprechung zu ACCEPT in das zivilrechtliche System des deutschen Rechts einen neuen Blick auf die bisher nicht überzeugende Rechtsprechung des BAG zu einer Zurechnung diskriminierender Stellenausschreibungen, etwa der Arbeitsagentur, zu werfen12. Das BAG hatte diese Zurechnung bisher viel zu unscharf unter Hinweis auf die Sorgfaltspflichten des Arbeitgebers begründet. Dies lässt sich nun, seit ACCEPT, anders lösen. Denn der EuGH hat es für die Beweislastumkehr ausreichen lassen, dass ein Dritter, hier: ein „Patron“, diskriminierende Äußerungen tätigt. Infolgedessen war es aus Sicht des Arbeitgebers nicht mehr ausreichend, sich einfach von den Äußerungen und dem Äußernden zu distanzieren. Dies wird dann erst recht für eine durch die Bundesagentur für Arbeit oder einen sonstigen Dritten geschaltete Stellenanzeige gelten müssen. Der Arbeitgeber kann sich – überträgt man die Rechtsprechung des EuGH in Sachen ACCEPT – nicht damit helfen, dass er angibt, nicht für die Abfassung oder Veröffentlichung der Stellenanzeige verantwortlich zu sein. Die diskriminierende Stellenanzeige löst – auch wenn sie von einem Dritten verfasst und/oder veröffentlicht ist – die Beweislastumkehr nach § 22 AGG aus. Was für einen „Patron“ gilt, wird für die beauftragte Bundesagentur oder einen privaten Jobvermittler erst recht gelten müssen. Es obliegt dann dem Arbeitgeber zu beweisen, dass keine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes vorgelegen hat. Für die Begründung der Beweislastumkehr kann das BAG in Zukunft auf den EuGH verweisen und 10 Benecke/Borgmüller, EuZW 2013, 469, 474 BeckOKArbR/Roloff, 34. Edition, Stand: 1.12.2014, § 11 AGG, Rn. 6 f. 12 BAG v. 5.2.2004 – 8 AZR 112/03, NZA 2004, 540. 11 5 muss nicht mehr die Sorgfaltspflichten des Arbeitgebers bemühen. Beide Ansätze verbindet, dass sie von einem gewünschten Ergebnis ausgehend – nämlich der Beweislastumkehr infolge der Verwirklichung des Tatbestandes des § 22 AGG – argumentieren und dabei dessen Dogmatik vernachlässigen. Das gilt weniger für das BAG und mehr für den EuGH. bb) Im Hinblick auf das – noch – fehlende Verbandsklagerecht Wirklich spannend wird jedoch etwas anderes: Man wird nach der Entscheidung ACCEPT mit noch mehr Berechtigung als nach Feryn die Frage formulieren müssen, ob aus rechtspolitischer Perspektive aus dieser Rechtsprechung zu einer opferlosen Diskriminierung und zur Diskriminierung durch Unterlassen eine Pflicht zur Einführung einer Verbandsklagemöglichkeit folgt, um Diskriminierungen zu sanktionieren, bei denen kein Betroffener identifiziert werden kann. Besteht ohne Verbandsklagerecht eine Regelungslücke13? Lückenhaft könnte der Schutz insbesondere dann sein, wenn man an die Situation im laufenden Arbeitsverhältnis denkt. Beispielhaft gedacht sei etwa an eine vom Arbeitgeber angebotene Fortbildungsveranstaltung, zu der er im Vorfeld ausschließlich Frauen einlädt. Fühlt sich ein Mann hierdurch diskriminiert und erhebt Klage, wird ihm möglicherweise § 22 AGG helfen. Doch genau dies ist, in Deutschland mangels Verbandsklagerecht, jedenfalls erforderlich: das Engagement eines Mannes in Form einer Klage. Gerade im laufenden Arbeitsverhältnis werden hiervon viele absehen. Wenn der Arbeitgeber außer der Ausschreibung keine weiteren Handlungen vornimmt, etwa weil sich kein Nichtmerkmalsträger um die Fortbildung bewirbt, bleibt die „diskriminierende“ Ausschreibung folgenlos. Wo kein Kläger, da kein Richter. Denn das Gesetz soll den Einzelnen vor konkreten Benachteiligungen schützen, es stellt nach derzeit vorherrschender Auffassung kein „Gesinnungsrecht“ dar14. Zu Recht ist der EuGH etwa für seine weite Auffassung der unmittelbaren Diskriminierung dahingehend kritisiert worden, dass er die Schaffung einer Gefährdungslage mit der Benachteiligung an sich gleichsetzt15. Nun könnte man in Deutschland mangels Verbandsklagerecht im AGG ein wenig beruhigter sein. Häufig wird vertreten, gerade die Entscheidung Feryn lasse deutlich werden, dass das Fehlen eines eigenständigen Verbandsklagerechts im deutschen AGG nicht im Widerspruch zum Unionsrecht stehe. Auch der EuGH habe in Feryn16 13 Frage aufgeworfen von Bayreuther, NZA 2008, 986; auch Sprenger, BB 2008, 2405 denkt darüber nach. Joussen/Husemann/Mätzig, RdA 2014, 279 mwN. 15 Vgl. hierzu m.w.N. Husemann, EuZA 2014, 241, 246. 16 EuGH v. 10.7.2008 – Rs. C-54/07 – Feryn, Rn. 27. 14 6 nicht dessen Einführung verlangt17. Vielmehr komme in Deutschland allenfalls der Klagebefugnis nach § 17 AGG eine erhöhte Bedeutung zu18. Wird es jedoch auch nach ACCEPT noch hierbei bleiben können? Es gibt Anlass zu zweifeln. Art. 17 der Richtlinie wird insofern den Weg weisen. Danach legen die Mitgliedstaaten die Sanktionen fest, die bei einem Verstoß gegen die einzelstaatlichen Vorschriften zur Anwendung dieser Richtlinie zu verhängen sind, und treffen alle erforderlichen Maßnahmen, um deren Durchführung zu gewährleisten. Die Sanktionen müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein. Ist dies aber bei der opferlosen Diskriminierung, wie sie nun auch durch ACCEPT nochmals weitergeführt wurde, noch der Fall? Immer wird formuliert, die einschlägigen Richtlinienbestimmungen verlangten keine Verbandsklagemöglichkeit; vielmehr sähen diese eine solche Möglichkeit lediglich als eine Option an. Man wird also vom Wortlaut der Richtlinie her argumentieren können und dann zu dem Ergebnis kommen müssen, dass die Richtlinie selbst ein Verbandsklagerecht nicht explizit verlangt. Das war sicher auch Vorstellung des historischen Gesetzgebers. Aber die Auslegung gerade des europäischen Rechts bleibt hier eben nicht stehen, sondern sucht immer primär nach dem Ziel19. Und so hat auch in diesem Zusammenhang der EuGH in das Zentrum seiner Überlegungen immer die Frage gestellt, wie wirksam eine Umsetzung ist, um Diskriminierungen zu verhindern, also um das Richtlinienziel zu erreichen. Genügt das deutsche Recht ohne Verbandsklage tatsächlich noch diesen Anforderungen? Fallen nicht zu viele Fallgestaltungen heraus, weil eben niemand klagt? Ja, das AGG postuliert kein Gesinnungsrecht. Aber eine Beweisregelung kann nur Diskriminierungen zu verhindern helfen, wo jemand klagt. Diskriminierung setzt aber eben, wie gerade ACCEPT deutlich macht, viel früher an. Es erscheint zweifelhaft, ob die Einschätzung, ein Verbandsklagerecht sei nicht verlangt, noch dauerhaft haltbar ist. § 17 AGG mit seiner kleinen Lösung zugunsten des Betriebsrats wird insofern jedenfalls kein Anker sein. Ob der EuGH noch dauerhaft so konziliant sein wird, lässt sich nicht abschätzen. Insofern macht gerade ein Fall wie ACCEPT deutlich, wie hilfreich – aus rechtspolitischer Sicht – ein Verbandsklagerecht sein kann, über das man derartigen Formen von „Diskriminierungen“ begegnen kann; ein zugegebenermaßen sehr stark rechtspolitisches Argument. Aber ein sol17 ErfK/Schlachter, 15. Aufl. 2015, § 23 AGG Rn. 1. ErfK/Schlachter, 15. Aufl. 2015, § 17 AGG Rn. 2. 19 Zusammenfassend dazu Joussen, Die Auslegung europäischen (Arbeits-)Rechts, 2000, passim 18 7 ches könnte auch das Denken und die Auslegung des EuGH beeinflussen, dann aber mit unmittelbaren Auswirkungen für Deutschland. 2. Alter Das Merkmal „Alter“ ist inhaltlich weitgehend fest umrissen. Im Hinblick auf die Frage, wann eine (un-)mittelbare Benachteiligung wegen des Alters vorliegt, verdient die Entscheidung des EuGH in Sachen Tyrolean Airways eine kurze Erwähnung. Die Fluggesellschaft berücksichtigte zum Zwecke der Einstufung des Kabinenpersonals die jeweils zurückgelegten Dienstzeiten der betroffenen Arbeitnehmer20. Keine Berücksichtigung fanden dabei Zeiten, während derer das Kabinenpersonal für andere Fluggesellschaften des Konzerns gearbeitet hat. Der EuGH hat hier weder eine unmittelbare noch eine mittelbare Altersdiskriminierung angenommen. Eine unmittelbare Benachteiligung schloss er zu Recht sehr knapp aus, weil das Merkmal der Berufserfahrung nicht untrennbar mit dem Alter des Beschäftigten verbunden ist. Auch eine mittelbare Benachteiligung lehnte der EuGH ab, da die Nichtberücksichtigung von Vordienstzeiten bei einer anderen Gesellschaft gerade auf einem Kriterium beruhe, das weder untrennbar mit dem Alter des Arbeitnehmers verbunden sei noch mittelbar daran anknüpfe. Immerhin gibt das Gericht zu, es sei nicht ausgeschlossen, dass die Anwendung des Kriteriums hier in bestimmten Einzelfällen dazu führen könne, dass die Höhergruppierung bei den wechselnden Flugbegleitern später erfolge als bei denen, die immer schon bei Tyrolean Airways tätig waren. Doch genau dies genügt dem EuGH nicht für eine mittelbare Benachteiligung. Das BAG hat diese Rechtsprechung bereits rezipiert und geht unter Zitierung des Urteils des EuGH davon aus, dass Regelungen zur Berücksichtigung einer Vorbeschäftigungszeit bei einem anderen Arbeitgeber keine diskriminierungsrechtlichen Fragen aufwerfen21. a) Die Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung wegen des Alters Im Zentrum des Kriteriums „Alter“ steht jedoch seit Beginn die Rechtfertigung der Ungleichbehandlung. Dabei prüft der EuGH zu Recht entweder den besonderen Rechtfertigungstatbestand in Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie oder den allgemeinen des Art. 4 Abs. 1. Schließlich ist er auch nicht abgeneigt, Art. 2 Abs. 5 als Rechtfertigungstatbestand anzunehmen, obwohl es sich hierbei eigentlich um eine Bereichsausnahme handelt22. 20 EuGH v. 7.6.2012 – Rs. C-132/11 – Tyrolean Airways. BAG v. 19.12.2013 – 6 AZR 94/12, NZA 2014, 1360. Zur Ausnahme, wenn Vergütungssysteme an Berufserfahrungen anknüpfen, die man während seines gesamten vorherigen Erwerbslebens bei sämtlichen Arbeitgebern sammeln konnte EuGH, NJ 2012, 436, 436 f. (Schaumberg); von Roetteken, jurisPR-ArbR 28/2012 Anm. 2. 22 Temming, EuZA 2012, 205, 212; Kaiser, ZESAR 2014, 473, 475. 21 8 aa) Großzügige Linie bei Altersgrenzen Beurteilt man die zahlreichen Entscheidungen des EuGH, wird deutlich, dass das Gericht beim altersspezifischen Rechtfertigungsgrund unterschiedliche Rechtfertigungsmaßstäbe anlegt. Eine der wesentlichen Fallgruppen seiner Entscheidungen bilden diejenigen zu den Altersgrenzen für den Eintritt in den Ruhestand. Hier stellt der Gerichtshof regelmäßig die Prärogative des nationalen Normsetzers in den Vordergrund und beschränkt seine eigene Prüfung sehr stark. Eine Verhältnismäßigkeit wird eher vermutet als geprüft, die Interessenabwägung wird vorgenommen, allerdings mit einem sehr großzügigen Blick23. Häufig genügt es etwa dem Gerichtshof, wenn die betreffende Maßnahme zur Erreichung des identifizierten Ziels „nicht unvernünftig“ ist24. Letztlich führt er lediglich eine Willkürkontrolle durch25. bb) Strengere Rechtfertigungsprüfung in weiteren Fällen Sehr viel strenger geht der EuGH bei anderen Ungleichbehandlungen wegen des Alters vor; dort nimmt er die Verhältnismäßigkeitsprüfung augenscheinlich ernster, gerade im Hinblick auf das Kriterium der Erforderlichkeit26. Dies ließe sich an verschiedenen Entscheidungen aufzeigen27. Zwei Beispiele, die dies in dem hier vorgestellten Zeitraum belegen, sind die Entscheidungen in den Rechtssachen Odar und Ingeniørforeningen i Danmark. (1) Die Entscheidungen in den Rechtssachen Odar und Ingeniørforeningen i Danmark Die Entscheidung in der Rechtssache Odar28 betraf, wie die Entscheidung Andersen29, Entlassungsabfindungen. Der Fall spielt in Deutschland und vermischt eine Diskriminierung wegen des Alters mit derjenigen wegen einer Behinderung. Gegenstand war die Zulässigkeit der Reduzierung von Sozialplanleistungen wegen einer bevorstehenden Rentenberechtigung des Arbeitnehmers. Inhaltlich ging es um eine gerade auch in Deutschland sehr bekannte Vorgehensweise bei der Vereinbarung eines Sozialplans und dort um die Frage, ob sogenannte „rentennahe“ Arbeitnehmer mit einer niedrigeren Abfindung bedacht werden dürfen als Arbeit23 Vgl. nur EuGH v. 21.7.2011 – Rs. C-159/10 u.a. – Fuchs; EuGH v. 6.11.2012 – Rs. C-286/12 – Kommission/Ungarn; Joussen, ZESAR 2013, 276, 286; Röbke, EuZW 2010, 142, 146. 24 EuGH v. 21.7.2011 – verb. Rs. C-159/10 u.a. – Fuchs, Rn. 60; EuGH v. 18.11.2010 – Rs. C-250/09 u.a. – Georgiev, Rn. 51; EuGH v. 5.7.2012 – Rs. C-141/11 – Hörnfeldt, Rn. 32; EuGH v. 16.10.2007 – Rs. C-411/05 – Palacios, Rn. 72; EuGH v. 12.1.2010 – Rs. C-341/08 – Petersen, Rn. 75; EuGH v. 12.10.2010 – Rs. C-45/09 – Rosenbladt, Rn. 69. 25 So auch Höpfner, ZfA 2010, 449, 472; Kilpatrick, ILF 2011, 280, 292; Kocher, RdA 2008, 238, 241; Kaiser, ZESAR 2014, 473, 476. 26 Kaiser, ZESAR 2014, 473, 480. 27 EuGH v. 18.6.2009 – Rs. C-88/08 – Hütter; EuGH v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 – Kücükdeveci; EuGH v. 8.9.2011 – Rs. C-297/10 u.a. – Hennigs. 28 EuGH v. 6.12.2012 – Rs. C-152/11 – Odar. 29 EuGH v. 12.10.2010 – Rs. C-499/08 – Andersen. 9 nehmer, die dem Betrieb in etwa gleich lang angehören, aber von einem gesetzlichen Rentenbezug noch (deutlich) weiter entfernt sind30. Filtert man (aus Zeitgründen) das im Sachverhalt ebenfalls vorhandene Problem der Diskriminierung wegen einer vorliegenden Behinderung heraus, ging es darum, dass Herr Odar einen Anspruch auf eine Abfindung nach einem von den Betriebspartnern vereinbarten Sozialplan hatte. Grundlage für die Höhe der Abfindung nach einer betriebsbedingten Kündigung war die sogenannte Standardformel aus der Multiplikation eines Altersfaktors mit der Betriebszugehörigkeit und dem Bruttomonatsentgelt. Doch hatten die Betriebspartner bei Mitarbeitern, die älter als 54 Jahre waren, eine Sonderformel angewandt, die sich aus der Multiplikation der Anzahl der Monate bis zum frühestmöglichen Renteneintritt mit 0.85 und dem Bruttomonatsgehalt ergab. Wenn die Abfindung nach der Standardformel größer war als die nach der Sonderformel, wurde die geringere Summe ausgezahlt, die aber einen Mindestbetrag (nämlich die Hälfte der Standardformelabfindung) nicht unterschreiten durfte. Unter Außerachtlassung weiterer Einzelheiten der Berechnung ergab sich, dass Herr Odar nun einen aus seiner Sicht aufgrund der Einschlägigkeit der Sonderformel viel zu geringen Abfindungsbetrag erhielt: statt ca. 600.000 Euro ergaben sich lediglich rund 308.000 Euro. Herr Odar sah in der Zahlung der geminderten Abfindung eine Diskriminierung aufgrund seines Alters. Wegen seines Alters diskriminiert fühlte sich auch der seinerzeit 67-jährige Herr Landin. Denn obwohl das dänische Angestelltengesetz grundsätzlich die Zahlung einer gesetzlichen Entlassungsabfindung vorsieht, wird dieser Anspruch für solche Personen ausgeschlossen, die bei Ausscheiden eine Volksrente erhalten. Landin bezog keine Volksrente. Allerdings nur deswegen nicht, weil er trotz Erreichen der Altersgrenze entschieden hatte weiterzuarbeiten. Aus diesem Grund verlangt er, vertreten durch seine Gewerkschaft „Ingeniørforeningen i Danmark“, die Zahlung einer Abfindung, die unterbliebene Zahlung sei altersdiskriminierend. Die Differenzierungsmöglichkeit, die nach § 10 Satz 3 Nr. 6 AGG für Sozialpläne ausdrücklich vorgesehen ist und vom BAG bereits zuvor gebilligt worden war31, fand nun auch beim EuGH Gnade. Er sah diese Benachteiligung älterer Arbeitnehmer als gerechtfertigt an und rekurrierte dafür auf eine Rechtfertigung nach Art. 6 Abs. 1 Unterabsatz 1 der Richtlinie 2000/78/EG. 30 Willemsen, RdA 2013, 166 mwN aus der Rechtsprechung des BAG. BAG v. 30.9.2008 – 1 AZR 684/07, NZA 2009, 386; BAG v. 11.11.2008 – 1 AZR 475/07, NZA 2009, 210; BAG v. 20.1.2009 – 1 AZR 740/04, NZA 2009, 495. 31 10 Bei der Entscheidung in Sachen Odar steht, dies lässt sich vernehmbar mindestens zwischen den Zeilen herauslesen, die „Überbrückungsfunktion“ des Sozialplans nach § 112 BetrVG im Hintergrund32. Die Abfindung im Sozialplan dient also33, so wird man heute überwiegend argumentiert finden, nicht – vergangenheitsbezogen – als Entschädigung für den Rechts- oder als Kompensation für den Arbeitsplatzverlust34, sondern dient – zukunftsorientiert – dem Ausgleich und der Milderung von Nachteilen, die infolge der Betriebsänderung entstehen35. Und auch für die gesetzlichen Abfindungen hat der EuGH die Überbrückungsfunktion in der der Rechtssache Ingeniørforeningen i Danmark betont: „Die Entlassungsabfindung allein für Arbeitnehmer vorzusehen, die zum Zeitpunkt ihrer Entlassung keine Volksrente beziehen können, ist aber im Hinblick auf das vom Gesetzgeber verfolgte Ziel, Arbeitnehmer stärker zu schützen, deren Übergang in eine andere Beschäftigung sich aufgrund der Dauer ihrer Betriebszugehörigkeit als schwierig darstellt, nicht unvernünftig36.“ Der EuGH erkennt in seinen Entscheidungen ausdrücklich an, dass solche Ziele der Überbrückung „als Ausnahme vom Grundsatz des Verbots der Diskriminierung wegen des Alters“ eine Ungleichbehandlung im Sinne von Art. 6 Abs. 1 Unterabsatz 1 rechtfertigen könnten. Der Überbrückungsgedanke wird damit im Ergebnis zur tragenden Säule seiner Argumentation. Denn (nur) er erklärt, warum es sachlich gerechtfertigt sein kann, bei einer formelhaft berechneten Abfindung ältere Arbeitnehmer nur deshalb ungünstiger zu behandeln als jüngere, weil jene in absehbarer Zeit Anspruch auf eine (vorgezogene) gesetzliche Altersrente haben, bzw. ältere Arbeitnehmer mit Anspruch auf eine Altersrente von einer gesetzlichen Entlassungsentschädigung auszuschließen. Im Fall Odar liege das zur Rechtfertigung erforderliche legitime Ziel der Anwendung der Sonderformel darin zu vermeiden, dass die Entlassungsabfindung Personen zugutekomme, die keine neue Stelle suchen, sondern ein Ersatzeinkommen in Form einer Altersrente beziehen 32 Dazu schon Wiedemann/Willemsen, Anmerkung AP Nr. 3 zu § 112 BetrVG 1972; in Abgrenzung zu der auch heute noch gelegentlich vertretenen „Entschädigungstheorie“, s. Richardi, Sozialplan und Konkurs, 1975, 14. 33 Vgl. mwN Willemsen, RdA 2013, 166, 169. 34 S. etwa Bauer/Krieger, AGG, 4. Aufl. 2015, § 10 Rn. 45d bezüglich der nachträglichen Rückzahlung für erbrachte Arbeitsleistungen oder Betriebstreue des Arbeitnehmers. 35 Mit den Worten des Ersten Senats des BAG hört sich das dann wie folgt an: „[d]ie Sozialplanabfindung [ist] keine Belohnung für die Dienste in der Vergangenheit, sondern eine zukunftsgerichtete Hilfe, die dazu dient, künftige Nachteile auszugleichen oder zu mildern.“, BAG v. 7.6.2011 – 1 AZR 34/10, NZA 2011, 1370. 36 EuGH v. 26.2.2015 – Rs. C-515/13 – Ingeniørforeningen i Danmark, Rn. 27. 11 wollten37. Dabei sei die Anwendung der Sonderformel auch angemessen, vor allem im Hinblick auf die dem Gesetzgeber und den Sozialpartnern zustehende Ermessensfreiheit38. Besonderen Wert legt der EuGH auf die Erforderlichkeit, die zu bejahen sei, weil ein älterer Arbeitnehmer die Garantie habe, dass ihm zumindest die Hälfte des ihm nach der Standardformel zustehenden Betrags tatsächlich gezahlt werde. Inwiefern sich diese Entscheidung von derjenigen in der Rechtssache Andersen aus dem Jahr 201039 unterscheidet, in der es um den gesetzlichen, vollständigen Ausschluss einer Abfindung ging, und zwar unterschiedslos und unabhängig davon, ob der betreffende Arbeitnehmer weiter arbeiten wollte oder nicht40, ist bereits vielfach angesprochen worden41 und kann hier nicht vertieft werden. In der Sache Ingeniørforeningen i Danmark sah der EuGH das legitime Ziel für die dänische Regelung darin, den Übergang von Arbeitnehmern mit einer längeren Betriebszugehörigkeit (die Abfindungshöhe ist gestaffelt nach der Betriebszugehörigkeit) in eine neue Beschäftigung zu erleichtern42. Die Ausklammerung derjenigen, die eine dänische Volksrente beziehen können, beruhte auf der Überlegung, dass diese Arbeitnehmer regelmäßig aus dem Berufsleben ausschieden. Mit der abermaligen Betonung dieser Überbrückungsfunktion bejahte der EuGH auch die Erforderlichkeit und Angemessenheit43. Auch der Umstand, dass diese Regelung die Personen, die tatsächlich eine Volksrente erhalten werden, mit denjenigen gleichstellt, die Anspruch auf eine solche Rente haben, hat den EuGH nicht gestört. Und dies, obwohl – wie er explizit feststellt – die Regelung damit darauf hinaus laufe, dass entlassenen Mitarbeitern, die auf dem Arbeitsmarkt bleiben wollten, die Abfindung allein deshalb vorenthalten werde, weil sie aufgrund ihres Alters eine Rente beanspruchen könnten. Der EuGH blickt an dieser Stelle vergleichend auf den der Sache Andersen44 zu Grunde liegenden Sachverhalt und stellt heraus, dass dort für die betroffenen über 60-jährigen nur die Möglichkeit bestand, eine verminderte Altersrente zu beziehen. Das war im Fall des Herrn Landin gerade anders. Er hatte die Altersgrenze erreicht und Anspruch auf eine volle Rente. (2) Die Auswirkungen auf das deutsche Arbeitsrecht 37 EuGH v. 6.12.2012 – Rs. C-152/11 – Odar, Rn. 44. EuGH v. 6.12.2012 – Rs. C-152/11 – Odar, Rn. 47. 39 EuGH v. 12.10.2010 – Rs. C-499/08 – Andersen. 40 Auf die entscheidenden Schwächen weist Wißmann, RdA 2011, 181, 184, hin. 41 Grünberger/Sagan, EuZA 2013, 324, 330; Burke, ZESAR 2014, 473, 480; Seiwerth, ZESAR 2013, 319, 319. 42 EuGH v. 26.2.2015 – Rs. C-515/13 – Ingeniørforeningen i Danmark, Rn. 22. 43 EuGH v. 26.2.2015 – Rs. C-515/13 – Ingeniørforeningen i Danmark, Rn. 27. 44 EuGH v. 12.10.2010 – Rs. C-499/08 – Andersen. 38 12 Der Kontext und die Tragweite der Entscheidung Odar, die in Deutschland mit Spannung erwartet worden war45, sind bereits mehrfach eingehend beleuchtet worden46. Über verschiedene Einzelaspekte des Urteils kann man sicher hadern und gerade auch der Begründung gewisse Inkonsistenzen vorhalten, etwa wenn es um die (Nicht-)Äußerungen zu § 10 Satz 3 Nr. 6 AGG und seine Unionskonformität geht47. Doch lässt sich zunächst festhalten, dass der EuGH letztlich die Sichtweise des BAG auf einer ersten Ebene bestätigt48, der zufolge die Höhe der Sozialplanabfindung nach dem Lebensalter modifiziert werden kann und die Betriebspartner Kürzungen für rentennahe Jahrgänge vorsehen können49. Dies ist unmittelbar einleuchtend, denn dort, wo es nichts mehr oder doch erheblich weniger zu überbrücken gilt als im Normalfall, weil die wirtschaftlichen Nachteile infolge des Arbeitsplatzverlusts eben deshalb erheblich geringer sind, weil in absehbarer Zeit andere Lohnersatzleistungen bereitstehen, verfehlte ein Sozialplan, der die allgemeine Abfindungsformel unmodifiziert anwendet, seinen Zweck50. Richtig ist es dann auch, den Betriebsparteien einen erheblichen Beurteilungs- und Gestaltungsspielraum zu überlassen, welche Kürzung für rentennahe Jahrgänge angemessen ist51. Das BAG hat nach Odar dessen Begründungen rezipiert und geht im Prinzip von einer Vereinbarkeit der Rechtsprechung des Ersten Senats mit derjenigen des EuGH aus52. Dem wird man zustimmen können. Trotzdem bleibt darauf hinzuweisen, dass schon wegen des den Betriebspartnern zugebilligten Ermessenspielraums nicht einheitlich alle möglichen Sozialplangestaltungen diskriminierungssicher vorhergesagt werden können. Doch nach den sich mittlerweile herauskristallisierten Grundlinien kann man sicher einige Eckpunkte festhalten. In Sozialplänen ist eine Kürzung für rentennahe Arbeitnehmer zulässig. BAG und EuGH sehen dies in gleicher Weise. Zwei Fragen sind dann im Hinblick auf die Altersdiskriminierung offen: Wie hoch kann die Kürzung ausfallen? Und ab wann ist man „rentennah“53? Beide Fra- 45 Grünberger/Sagan, EuZA 2013, 324, 328. Willemsen etwa hat sie dazu genutzt, grundlegend über „Sinn und Grenzen des gesetzlichen Sozialplans“ nachzudenken, Willemsen, RdA 2013, 166. 47 S. nur EuGH, AuR 2013, 269, 269 f. (Heuschmid). 48 Seel, FA 2013, 70, 72. 49 In diesem Sinne etwa BAG v. 7. 6. 2011 – 1 AZR 34/10, NZA 2011, 1370. 50 Willemsen, RdA 2013, 166, 170. 51 So sowohl das BAG wie auch der EuGH: BAG v. 20.1.2009 – 1 AZR 740/07, NZA 2009, 495; EuGH v. 6.12.2012 – Rs. C-152/11 – Odar; EuGH v. 5.7.2012 – Rs. C-141/11 – Hörnfeldt. 52 BAG v. 26.3.2013 – 1 AZR 813/11, NZA 2013, 921; BAG v. 23.4.2013 – 1 AZR 916/11, NZA 2013, 980. 53 Zu den zusätzlichen Fragen im Rahmen eines erzwingbaren Sozialplans Willemsen, RdA 2013, 166, 171. 46 13 gen betreffen die Verhältnismäßigkeit der ungleich behandelnden Maßnahme. Man wird mit dem EuGH sicher davon ausgehen können, dass bei der Frage der Kürzungshöhe jedenfalls dann eine Verhältnismäßigkeit gegeben ist, wenn dem betroffenen Arbeitnehmer durch eine Garantieklausel zumindest die Hälfte der ihm eigentlich nach der Grundformel zustehenden Summe garantiert zugesprochen wird. Dann ist man gleichsam auf der „sicheren Seite“. Doch ist mit dem BAG davon auszugehen, dass diese Einschätzung des EuGH bezüglich der Hälfte nicht so zu verstehen ist, dass nicht auch größere Kürzungen denkbar sind – entscheidend ist, was der Zweck der Überbrückung gebietet. Ob der völlige Ausschluss einer Abfindung für den Fall eines Anspruchs auf Altersrente möglich ist, war nach der OdarEntscheidung umstritten54. Die Entscheidung in Sachen Ingeniørforeningen i Danmark spricht nunmehr dafür. Und damit ist die Einschätzung, die Möglichkeit der „nahezu uneingeschränkten Einschnitte bei Sozialplanabfindungen“ durch die Rechtsprechung des BAG sei mit dem Verbot der Altersdiskriminierung unvereinbar, jedenfalls zu pauschal formuliert55. Ab wann überhaupt eine Differenzierung vorgenommen werden darf, ist dann auch wieder nur annäherungsweise bestimmbar. Die 54 Jahre aus Odar sind deutlich großzügiger als die bislang anerkannten 60 oder 59 Jahre56 bzw. 67 Jahre57. 3. Behinderung Der Begriff der „Behinderung“ hat die jüngste Rechtsprechung des EuGH wieder einmal in die Presse gebracht. Nach Art. 1 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 78/2000/EG liegt eine unmittelbare Diskriminierung unter anderem auch dann vor, wenn eine Person wegen einer „Behinderung“ benachteiligt wird. Der Begriff der Behinderung ist in der Richtlinie selbst indes nicht definiert. In der Rechtssache Chacón Navas58 hatte der EuGH im Jahr 2006 entschieden, dass unter „Behinderung“ eine „langfristige“ Einschränkung zu verstehen ist, „die insbesondere auf physische, geistige oder psychische Beeinträchtigungen zurückzuführen ist und die ein Hindernis für die Teilhabe am Berufsleben bildet“59. 54 Dafür Willemsen, RdA 2013, 166, 170, mit Verweis auf BAG v. 31.7.1996 – 10 AZR 45/96, NZA 1997, 165; Krieger/Arnold, NZA 2008, 1153, 1154; Mohr, RdA 2010, 44, 48, 53; dagegen Zange, NZA 2013, 601, 604; Grünberger/Sagan, EuZA 2013, 324, 328; offen lassend Seiwerth, ZESAR 2013, 319, 319 ff. 55 EuGH, AuR 2013, 269, 269 f. (Heuschmid). 56 BAG v. 26.5.2009 – 1 AZR 198/08, NZA 2009, 849. 57 EuGH v. 26.2.2015 – Rs. C-515/13 – Ingeniørforeningen i Danmark. 58 EuGH v. 11.7.2006 – Rs. C-13/05 – Chacón Navas. 59 So auch noch einmal ausdrücklich EuGH v. 11.7.2006 – Rs. C-13/05 – Chacón Navas, Rn. 41. 14 Für das Vorliegen einer Behinderung in Abgrenzung zu einer bloßen Erkrankung waren damit die Begrifflichkeiten der Beeinträchtigung und des Teilhabehindernisses zentral für die Einschätzung, ebenso das Erfordernis der langen Dauer. Dies lag vom nationalen Recht her gesehen nicht nahe, das für eine Unterscheidung zwischen Krankheit und Behinderung immer maßgeblich auf die Behandlungsfähigkeit bzw. -zugänglichkeit rekurriert hatte. Das aber ist eben nicht die europäische Denkweise, jedenfalls nicht im Diskriminierungsrecht. Es liegt nahe, dass bei einer derartigen Diskrepanz in den Begrifflichkeiten eine Klärung und weitere Begriffsarbeit erforderlich sind. Der EuGH hat 2013 sowie 2014 noch einmal einen Beitrag geleistet, der auch in der nachfolgenden Rechtsprechung des BAG, die ebenfalls viel Beachtung gefunden hat, Auswirkungen gezeigt hat. Entscheidend war diesbezüglich, dass die EU zwischenzeitlich, im Jahr 2009, die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung anerkannt hatte und nun die Pflicht bestand, die Richtlinie 2000/78 in Übereinstimmung mit dem Übereinkommen auszulegen. Dies hat zu einer spürbaren Ausweitung des Begriffsinhalts der Behinderung geführt. a) Die Entscheidungen in der Rechtssache Ring sowie in der Rechtssache Kaltoft Am 11.4.2013 traf der EuGH eine Entscheidung in der Rechtssache Ring60, am 18.12.2014 in der Rechtssache Kaltoft61. In der aus Dänemark stammenden Rechtssache Ring wehrten sich zwei Arbeitnehmerinnen gegen ihre Kündigungen, die wegen vorliegenden Erkrankungen ausgesprochen worden waren. Die eine war wegen einer Rückenerkrankung etwa fünfeinhalb Monate wiederholt krankheitsbedingt abwesend, die andere über mehrere Monate hinweg am Stück, wobei sie etwa acht Stunden pro Woche bei langsamem Tempo hätte arbeiten können. Im Kern ging es darum, ob ein besonderes Kündigungsrecht eingreifen konnte oder ob dies deshalb zu verneinen sei, weil die Frauen dadurch „wegen einer Behinderung“ diskriminiert würden. Waren sie also behindert? Herr Kaltoft wiederum war viele Jahre bei einer dänischen Kommune als Tagesvater beschäftigt. Unstreitig war, dass er während der gesamten Zeit seiner Beschäftigung „adipös“ im Sinne der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) war. Bei der Adipositas handelt es sich um eine Krankheit. 2010 wurde er mehrmals unangekündigt von der für die Tagesbetreuer Verantwortlichen besucht, die sich nach seinem – nicht erfolgtem – Gewichtsverlust erkun60 61 EuGH v. 11.4.2013 – Rs. C-335/11 – Ring. EuGH v. 18.12.2014 – Rs. C-354/13 – Kaltoft. 15 digte. Mit Schreiben vom 22.11.2010 kündigte die Gemeinde Herrn Kaltoft und führte aus, dass diese Kündigung nach einer „konkreten Prüfung vor dem Hintergrund eines Rückgangs der Kinderzahl“ erfolgt sei. Die für Kaltoft tätige Gewerkschaft machte nun geltend, dass dieser Opfer einer Diskriminierung wegen Adipositas geworden und ihm dafür Schadensersatz zu leisten sei. Unter anderem wurde dem EuGH vom entscheidenden Gericht die Frage vorgelegt, ob Adipositas als eine Behinderung betrachtet werden könne. Zudem wollte das Gericht wissen, welche Kriterien ggf. hierfür ausschlaggebend seien. Der EuGH hat in beiden Entscheidungen seine Vorstellungen zur Ausfüllung des Begriffs der Behinderung fortentwickelt und an die UN-Behindertenkonvention angepasst. Chacón Navas hatte noch aus nur einer Perspektive geschaut und für eine Behinderung verlangt, dass die langfristige Beeinträchtigung selbst zu einer Teilhabebeschränkung führte. Nun aber greift der Gerichtshof auf, dass der Begriff der Behinderung, wie die UN-Konvention vorgibt, ein sich „ständig weiter entwickelnder Begriff“ ist. Das führt dazu, dass sich die Teilhabebeschränkung nicht mehr allein aus der Beeinträchtigung selbst ergeben kann, sondern auch aus den Umständen in der Gesellschaft. Eine Behinderung liegt somit dann vor, wenn die physischen, geistigen oder psychischen Beeinträchtigungen die betroffene Person „in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können.“ Letztlich führt dieser Ansatz zu einer zweistufigen Vorgehensweise62. Es muss zunächst eine individuelle Beeinträchtigung vorhanden sein. Diese kann von Geburt an vorliegen, durch einen Unfall eingetreten sein oder sich auf andere Weise entwickelt haben. Zweitens muss durch diese Beeinträchtigung ein langfristiges Teilhabehindernis entstanden sein, und zwar in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren, das heißt, der Betroffene muss an der vollen und wirksamen Teilhabe am Berufsleben, gleichberechtigt mit den anderen, gehindert sein. Dafür ist ein weiter Blick auf die Situation erforderlich. Man wird insofern von einer relevanten Beeinträchtigung auszugehen haben, wenn sich die Beeinträchtigung nach Auffassung der Umwelt dieser Person nachteilig auf die Ausführung einer beruflichen Tätigkeit ausüben kann63. Auch ein Dritter kann somit solche relevanten Barrieren aufbauen bzw. nicht beseitigen und damit die Teilhabehinderung verursachen64. 62 S. so auch Grünberger, in: Preis/Sagan, Europäisches Arbeitsrecht, 2015, § 3 Rn. 94. Grünberger, in: Preis/Sagan, Europäisches Arbeitsrecht, 2015, § 3 Rn. 95. 64 Fuhlrott/Wesemann, ArbRAktuell 2014, 307, 308. 63 16 In der Rechtssache Ring liegt also eine ganz erhebliche Weiterentwicklung der Rechtsprechung des EuGH zum Begriff der Behinderung, gerade auch im Verhältnis zur Krankheit. Eine Krankheit ist diskriminierungsrechtlich eine Behinderung, so lässt sich dies zusammenfassen, wenn, und zwar nur wenn sie eine Einschränkung in der genannten Art mit sich bringt, in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren eine Teilhabe in vollem Umfang behindert und langfristig ist. Demgegenüber ist sie lediglich eine diskriminierungsrechtlich irrelevante Erkrankung, die auch nach der Rechtssache Ring möglich ist65, wenn mit ihr keine langfristigen Einschränkungen im Berufsleben einhergehen. Personen mit „irgendeiner“ Krankheit werden von der Gesellschaft nicht stigmatisiert66. Ungefähr ein Jahr später hat der EuGH in der Rechtssache Kaltoft diese Rechtsprechung konkretisiert und am Beispiel der Krankheit „Adipositas“ herausgearbeitet, dass diese eine Behinderung zumindest darstellen kann – was zu entscheiden aber nicht seine Kompetenz, sondern die des nationalen Gerichts ist. Die Kernaussage lautet dort: Adipositas kann eine Behinderung im diskriminierungsrechtlichen Sinne darstellen. Die Grundidee des EuGH überrascht nach dem zuvor Gesagten nicht mehr. Adipositas „als solche“ stellt zwar keine Behinderung dar, kann es aber. Dafür könnte etwa sprechen, dass der Arbeitnehmer aufgrund seiner Adipositas an der vollen und wirksamen Teilhabe am Berufsleben, gleichberechtigt mit anderen Arbeitnehmern, gehindert wäre, „und zwar aufgrund eingeschränkter Mobilität oder dem Auftreten von Krankheitsbildern, die ihn an der Verrichtung seiner Arbeit hindern oder zu einer Beeinträchtigung der Ausübung seiner beruflichen Tätigkeit führen“67. Ein Indiz für die Teilhabebeeinträchtigung kann dann auch die Kündigung darstellen. b) Auswirkungen auf das deutsche Arbeitsrecht – begrifflich und kündigungsrechtlich Wie aber verhält es sich nun im deutschen Arbeitsrecht? Das BAG hatte nach der Rechtssache Ring über eine HIV-Infektion zu entscheiden. Diese Entscheidung lässt deutlich werden, dass das deutsche Recht in zweifacher Hinsicht vom europäischen Denken beeinflusst ist: zum einen im Hinblick darauf, wann eine Behinderung vorliegt, zum anderen aber auch im Hinblick darauf, ob eine Kündigung dann noch möglich ist. aa) Die Entscheidung des BAG vom 19.12.2013 65 EuGH, ArbRAktuell 2013, 235 (Geißler). Grünberger, in: Preis/Sagan, Europäisches Arbeitsrecht, 2015, § 3 Rn. 96. 67 EuGH v. 18.12.2014 – Rs. C-354/13 – Kaltoft, Rn. 60. 66 17 Der Sechste Senat des BAG hatte in seiner Entscheidung aus dem Dezember 201368 über eine Wartezeitkündigung aufgrund einer HIV-Infektion zu entscheiden. Ein Arbeitnehmer war befristet als chemisch-technischer Assistent beschäftigt, eine Probezeit mit entsprechender Kündigungsmöglichkeit war vereinbart worden. Bevor der Arbeitnehmer im Rahmen der Medizinproduktion im sog. Reinraumbereich beschäftigt wurde, teilte er dem Arbeitgeber mit, er sei symptomfrei HIV-infiziert, dies führe zu einem Grad der Behinderung von 10. Die daraufhin ausgesprochene Kündigung, die noch in der kündigungsrechtlichen Wartezeit erfolgte, sei, so der Arbeitnehmer, eine Diskriminierung wegen seiner Behinderung. Zwei Fragen hatte das BAG zu behandeln. Die eine betraf § 2 Abs. 4 AGG und sein Verhältnis zur Kündigung in der Wartezeit – dies spielt im hiesigen Kontext keine Rolle, so spannend das Urteil gerade in diesem Teil auch ist69. Wichtig für diesen Beitrag hingegen ist der zweite Teil der Entscheidung, auf den sich auch der zweite Leitsatz der Richter bezog: „Eine symptomlose HIV-Infektion hat eine Behinderung im Sinne des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes zur Folge. Dies gilt so lange, wie das gegenwärtig auf eine solche Infektion zurückzuführende soziale Vermeidungsverhalten sowie die darauf beruhende Stigmatisierung andauern.“ Weil das BAG nunmehr auf Wartezeitkündigungen das AGG unmittelbar anwendet, hatte es die Frage zu beantworten, ob eine derartige Infektion eine Behinderung darstellt. In seiner Entscheidungsbegründung orientiert sich der Sechste Senat letztlich eng an dem durch die Rechtssache Ring erweiterten Begriffsverständnis zum Merkmal Behinderung70. Eine Behinderung liegt somit nach Einschätzung des BAG vor, wenn sich die Beeinträchtigung auf die Partizipation in einem oder mehreren Lebensbereichen auswirkt. Ob eine Beeinträchtigung relevant ist, ergibt sich demnach erst aus dem Zusammenwirken von behindernden sozialen Kontextfaktoren (Barrieren) und individueller Gesundheitsstörung71. „Eine Gesundheitsstörung kann auch darin liegen, dass die (gesellschaftliche) Teilhabe durch das Verhalten anderer beeinträchtigt wird. Behinderung ist nach diesem Verständnis sowohl persönliche Eigenschaft als auch soziales Verhältnis72. Eine Behinderung in diesem Sinne kann demnach auch erst durch das „Behindern“ eines Menschen durch seine Umwelt entstehen73.“ 68 BAG v. 19.12.2013 – 6 AZR 190/12, NZA 2014, 372. Zu diesem Aspekt siehe etwa Düwell, jurisPR-ArbR 9/2014 Anm. 1; Stenslik, Anmerkung AP Nr. 3 zu § 2 AGG; Oberthür, ArbRB 2014, 212, 212 ff. 70 Vgl. BAG v. 19.12.2013 – 6 AZR 190/12, NZA 2014, 372, Rn. 57. 71 Welti, in: Schiek, AGG, 2007, § 1 Rn. 37; Welti, DÖV 2013, 795, 797. 72 Welti, in: Schiek, AGG, 2007, § 1 Rn. 37; vgl. auch von Roetteken, AGG, Loseblatt Stand: 10/2013, § 1 Rn. 159b. 73 BAG v. 19.12.2013 – 6 AZR 190/12, NZA 2014, 372, Rn. 58. 69 18 Das BAG stellt selbst bei aller erkannten Annäherung der Begriffsverständnisse zwei Abweichungen zu der Begrifflichkeit fest, die vom EuGH entwickelt wurde. Einerseits ist das nationale Recht zugunsten der Betroffenen weiter: So stellt der EuGH nur auf die Beeinträchtigung im Berufsleben ab, das AGG und die UN-Konvention hingegen auf die gesamte gesellschaftliche Teilhabe. Zudem geht das nationale Verständnis bisher davon aus, dass bereits Abweichungen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate dauern, langfristig sind, nach Unionsrecht bedarf es einer Einzelfallentscheidung darüber, wann eine Einschränkung „langfristig“ ist. Andererseits ist das nationale Recht enger, da es auf alterstypische Abweichungen abstellt; hingegen werden alterstypische Einschränkungen stets nicht als Behinderung angesehen. Zudem verlangt der nationale Begriff, dass Beeinträchtigungen eingetreten sind, europäisch gedacht genügt, dass sie eintreten können. Das BAG löst die Diskrepanzen uneingeschränkt zugunsten der Betroffenen: „Der Behindertenbegriff des AGG ist maßgeblich, soweit das nationale Recht von einem weiteren Behindertenbegriff als das supranationale Recht ausgeht. Im Übrigen ist der Behindertenbegriff des Unionsrechts zugrunde zu legen74.“ bb) Folgen für den Behinderungsbegriff Die Folgen dieser ausdehnenden Begriffsbestimmung sind nicht zu unterschätzen. Zum Teil liest man schon, es stehe nach dem Urteil des BAG „zu befürchten, dass weitere Arbeitnehmer mit chronischen Erkrankungen als behindert im Sinne des AGG einzustufen sind75.“ Doch sind die Auswirkungen dieser europäisch beeinflussten Begriffsbestimmung auf verschiedenen Ebenen relevant. Die erste Ebene betrifft die rein begriffliche Ebene. Hier wird maßgeblich, dass für die Entscheidung über das Vorliegen einer Behinderung gerade die Wechselwirkung mit sozialen Kontextfaktoren herangezogen werden soll. Eine Krankheit ist unabhängig von ihrer Dauer keine Behinderung, wenn aus ihr keine Einschränkung an der gesellschaftlichen bzw. beruflichen Teilhabe resultiert76. Man ist, so lässt sich als Ergebnis dieses weiten Begriffsverständnisses zusammenfassen, nicht behindert, sondern man wird es – durch das Verhalten Dritter. Und so ist verständlich, dass auch die symptomlose HIVInfektion wie die Adipositas zu einer Behinderung werden kann, wenn sie zu derartigen Stigmatisierungen und Einschränkungen führen, wie sie zum Teil festzustellen sind, was dann aber wieder Aufgabe der Gerichte im Einzelfall ist. 74 BAG v. 19.12.2013 – 6 AZR 190/12, NZA 2014, 372, Rn. 63. Fuhlrott/Wesemann, ArbRAktuell 2014, 307, 309. 76 Stenslik, Anmerkung AP Nr. 3 zu § 2 AGG, unter II.3. 75 19 Ist diese Begrifflichkeit konturlos, wie ihr gelegentlich vorgeworfen wird, und verhindert sie Rechtssicherheit77? Dies wird man in gewisser Weise bejahen, aber auch akzeptieren müssen. Denn dies ist solchen, sich entwickelnden Rechtsbegriffen geradezu immanent. Schon zur Zeit des Erlasses der Richtlinie 2000/78/EG war eine klare Identifizierung einer Behinderung nicht möglich – die gesellschaftliche Entwicklung mit einer vollständigen Veränderung des Blickwinkels bei der Behinderung primär im Hinblick auf den Aspekt der eingeschränkten Teilhabe bringt es dann aber nahezu zwangsläufig mit sich, dass sich auch der diskriminierungsrechtliche Tatbestand verändert. Die Trauer darüber, dass auf diese Weise eine Einzelfallentscheidung vorherrschend werde, die nicht mehr sicher prognostizierbar ist, ist letztlich nicht lauter. Allzu schnell vergisst man dabei, dass der Gesetzgeber sein Schutzmodell offen an den Begriff der Behinderung geknüpft hat. Wandelt sich dieser Begriff, etwa durch die von der Gemeinschaft übernommene UN-Konvention, wandelt sich auch der Schutzumfang des Gesetzes. Eine Behinderung ist nicht schematisch wie eine Krankheit allein an allgemeinen Kriterien, etwa dem Vorliegen von bestimmten Viren o.ä. festzumachen. Insofern ist die Reichweite der Entwicklung im UN-Kontext kaum zu überschätzen. Infolgedessen kann eine Behinderung neben den bisher von allen einheitlich anerkannten und insofern unproblematischen Fällen wie Amputationen u.ä. bei jeder heilbaren wie unheilbaren Krankheit vorliegen, insbesondere bei Langzeiterkrankungen wie etwa Diabetes oder auch einer Allergie, genauso bei Hepatitis oder einer chronischen Hauterkrankung78 oder einer Adipositas. Das eigentliche Problem liegt dann auf der Hand: Rechtlich mag man ganz gut mit der zweistufigen Prüfung zurechtkommen, doch wie bestimmt man im Einzelfall die Teilhabeeinschränkung? Gerade hier wird man wohl anerkennen müssen, dass das Recht an seine Grenzen stößt, und zwar im Hinblick auf seinen Teilaspekt der Rechtssicherheit. cc) Folgen für die Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen und für Kündigungen Die Auswirkungen der europäisch überlagerten Begriffsbestimmung betrifft jedoch auch noch eine zweite, inhaltliche Ebene. Mit der Erweiterung des Behindertenbegriffs geht nämlich auch eine Ausdehnung des Diskriminierungsrechts in ganz unterschiedlichen Schattierungen einher. Je weiter der Begriff der Behinderung gefasst wird, umso häufiger sind entsprechende Sachverhalte einschlägig. Das heißt, umso häufiger wird sich vor allem die Frage stellen, inwieweit eine ungleich behandelnde Maßnahme wegen der Behinderung von einer Rechtferti77 78 So jedenfalls Stenslik, Anmerkung AP Nr. 3 zu § 2 AGG, in seinem Fazit. Vgl. die Beispielsaufzählung bei Grünberger, in: Preis/Sagan, Europäisches Arbeitsrecht, 2015, § 3 Rn. 96. 20 gung getragen ist. Dazu hat sich der EuGH in den angesprochenen Entscheidungen ebenfalls verhalten, und zwar im Hinblick auf Art. 5 der Richtlinie. Dieser verlangt, dass angemessene Vorkehrungen zu treffen sind, um die Anwendung des Gleichheitssatzes auf Menschen mit Behinderung zu gewährleisten. „Das bedeutet, dass der Arbeitgeber die geeigneten und im konkreten Fall erforderlichen Maßnahmen ergreift, um den Menschen mit Behinderung den Zugang zur Beschäftigung, die Ausübung eines Berufes (…) zu ermöglichen, es sei denn, diese Maßnahmen würden den Arbeitgeber unverhältnismäßig belasten.“ In das deutsche Recht sind diese Vorgaben durch § 84 Abs. 1 SGB IX und das dort geregelte Präventionsverfahren implementiert, das jedoch weitgehend wirkungslos war79. Konkret praxisrelevant wird diese Vorgabe aber nun über § 8 AGG. Der Sechste Senat des BAG hat insofern herausgestellt, dass eine Rechtfertigung einer Maßnahme und damit auch einer Kündigung nach § 8 AGG nur möglich ist, wenn ein (weiterer) Einsatz des Behinderten auch nicht durch angemessene Vorkehrungen ermöglicht werden kann. Nur dann, wenn eine Beschäftigungsmöglichkeit nicht durch zumutbare Maßnahmen herbeigeführt werden kann, kann dann auch dem Behinderten diskriminierungsfrei gekündigt werden, weil § 8 AGG insofern eine Rechtfertigung bereithält80. Ist künftig eine krankheitsbedingte Kündigung überhaupt noch möglich, wenn die Krankheit zugleich auch eine Behinderung darstellt? Die Antwort lautet ja, sie ist möglich, aber sie wird die besonderen Hürden des Art. 5 der Richtlinie, das heißt des § 8 AGG überspringen müssen. Das bedeutet, dass eine Kündigung bei einer vorliegenden Behinderung nur dann möglich ist, wenn die Pflichten des Art. 5 der Richtlinie erfüllt wurden und dennoch ein Kündigungsgrund fortbesteht81. Werden diese Pflichten missachtet, besteht die Vermutung, dass der Kündigungsgrund bei Erfüllung der Pflichten nicht mehr vorgelegen hätte; diese Vermutung kann bzw. muss vom Arbeitgeber dann widerlegt werden82. Derartige Maßnahmen, die der Arbeitgeber ergreifen muss, können dann etwa in der Arbeitszeitreduzierung liegen, oder in der Durchführung des Betrieblichen Eingliederungsmanage- 79 Düwell, jurisPR-ArbR 9/2014 Anm. 1. BAG v. 19. 12. 2013 – 6 AZR 190/12, NZA 2014, 372, Rn. 54. 81 EuGH, EzA Nr. 31 zu Richtlinie 2000/78/EG, S. 30 (Stiebert/Pötters). 82 EuGH v. 11.4.2013 – Rs. C-335/11 – Ring, Rn. 66 ff. 80 21 ments, dessen Rolle im Licht der neuen Rechtsprechung des EuGH zum Behindertenbegriff in Zusammenhang mit Art. 5 der Richtlinie möglicherweise noch einmal zu überdenken ist83. III. Auswirkungen im Befristungsrecht Im Hinblick auf die – im Vergleich zum Diskriminierungsrecht deutlich ruhigeren – Entwicklungen im Befristungsrecht der vergangenen drei Jahre kann man eine Zweiteilung vornehmen. Auf der einen Seite haben der EuGH und ihm nachfolgend auch das BAG versucht, die Rechtsprechung infolge der Entscheidung Kücük fortzuentwickeln, zu konkretisieren und zu verstetigen. Auf der anderen Seite gibt es ein Sammelsurium von Entscheidungen, die Einzelaspekte des Befristungsrechts betrafen, für die sich ein gemeinsamer Nenner aber nicht so recht finden lässt. 1. Kücük und die Folgen – Die Missbrauchskontrolle in der Rechtsprechung Von der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Kücük aus dem Jahr 201284 wird gelegentlich gesagt, sie habe dazu geführt, dass sich das Befristungsrecht in einer Phase der grundlegenden Neuorientierung befinde85. Dies mag etwas übertrieben erscheinen, weil auf den ersten Blick nur ein kleiner Teilaspekt des Befristungsrechts erfasst ist, doch mit der Betonung der Rechtsmissbrauchskontrolle und der entsprechenden Auslegung des § 5 der Rahmenvereinbarung ist ein zentraler Aspekt des Befristungsrechts überhaupt betroffen. Bezüglich der Folgen der Kücük-Entscheidung86 ist zum einen zu sehen, wie der EuGH seinen Ansatz zur Missbrauchskontrolle bei Kettenbefristungen fortgeführt hat. Zum anderen stellt sich die Frage, wie das BAG auf diese Entwicklungen reagiert hat. Aus der Rechtssache Kücük hatten sich im Wesentlichen zwei Leitlinien ergeben: Erstens hatte der EuGH entwickelt, dass allein aus dem Umstand, dass der Arbeitgeber wiederholt Arbeitsverhältnisse befristet oder sogar dauerhaft befristete Arbeitsverhältnisse nutzt, noch nichts folgt, und zwar auch dann nicht, wenn der Bedarf durch dauerhafte Einstellungen zu decken wäre. Weder kann man davon ausgehen, dass schon allein deshalb kein sachlicher Grund für die Befristung vorliegt, noch ergibt sich aus diesem Umstand unwillkürlich, dass von einem Missbrauch auszugehen ist. Deshalb ist etwa das Vorhalten einer Personalreserve 83 In diesem Sinne auch EuGH, AuR 2013, 410 f., 411 (Heuschmid). EuGH v. 26.1.2012 – Rs. C-586/10 – Kücük. 85 Greiner, NZA 2014, 284, 284. 86 Hierzu bereits Willemsen, RdA 2012, 291; die darüber hinaus gehende Literatur zur Entscheidung Kücük ist nahezu uferlos, s. nur Brose/Sagan, NZA 2012, 308; Gooren, ZESAR, 2012, 225; Junker, EuZA 2013, 3; Persch, ZTR 2012, 268; vgl. auch EuGH, AP Nr. 9 zur Richtlinie 99/70/EG (Joussen). 84 22 auch in großen Unternehmen nicht erforderlich87. Zweitens müssen für die Beurteilung, ob für eine erneute Befristung ein Sachgrund (der Vertretung) vorliegt, alle Umstände des Einzelfalls berücksichtigt werden, vor allem auch die Anzahl und die Gesamtdauer der Verträge, die mit demselben Arbeitgeber bereits in der Vergangenheit abgeschlossen worden sind88. a) Die weiteren Konkretisierungen durch den EuGH – Márquez Samohano, Fiamingo und Mascolo Diese Grundlinien hat der EuGH nachfolgend, seit 2012, in drei Entscheidungen fortentwickeln und präzisieren können, ohne den von ihm eingeschlagenen Pfad zu verlassen. Es handelt sich um die drei Entscheidungen aus dem Jahr 2014 in den Rechtssachen Márquez Samohano89, Fiamingo90 und Mascolo91. Alle drei Entscheidungen hatten wieder Kettenbefristungen zum Gegenstand. Zu untersuchen war jeweils, welche Maßnahmen zur Vermeidung von Missbrauch aufeinanderfolgender befristeter Arbeitsverträge geboten sind, um den Anforderungen der Rahmenvereinbarung gerecht zu werden. Alle drei Fälle betonen die Grundlinien aus Kücük in jeweils einem besonderen Aspekt. In der aus Spanien stammenden Rechtssache Márquez Samohano, die anlässlich der Verlängerung von befristeten Arbeitsverträgen durch Universitäten mit Assistenzprofessoren erging, legte der EuGH den Schwerpunkt auf den aus Kücük bekannten Aspekt, dass die nationalen Gerichte jeweils zu prüfen haben, ob die streitigen Verlängerungen tatsächlich der Deckung eines zeitweiligen Bedarfs gedient haben oder ob sie nicht vielmehr in Wirklichkeit – rechtsmissbräuchlich – dazu eingesetzt wurden, um einen ständigen und dauerhaften Bedarf an Lehrkräften zu decken. Gelegentlich wurde in diesem Kernsatz der Entscheidung eine signifikante Neuausrichtung der Rechtsprechung mit zusätzlichen Lasten für die Arbeitgeber gesehen92. Doch hat der EuGH schon in Kücük den nationalen Gerichten eine entsprechende Prüfpflicht auferlegt. Fazit ist daher, dass der EuGH, wie im Übrigen auch das BAG, davon ausgeht, dass eine Befristung sachlich nicht gerechtfertigt sein kann, wenn schon von Beginn an eine Dauervertretung beabsichtigt war93. Die auf diese Weise stärker konturierte Missbrauchskontrolle soll also darauf achten, dass eine Verlängerung aufeinanderfolgender befris- 87 BAG v. 18.7.2012 – 7 AZR 443/09, NZA 2012, 1351, Rn. 29; Brose/Sagan, NZA 2012, 308, 309. Von Stein, NJW 2015, 369, 369; EuGH, AP Nr. 9 zur Richtlinie 99/70/EG (Joussen). 89 EuGH v. 13.3.2014 – Rs. C-190/13 – Márquez Samohano. 90 EuGH v. 3.7.2014 – Rs. C-362/13 u.a. – Fiamingo. 91 EuGH v. 26.11.2014 – Rs. C-22/13 u.a. – Mascolo. 92 Etwa von Klenter, jurisPR-ArbR 21/2014, Anm. 5. 93 BAG v. 25.3.2009 – 7 AZR 34/08, NZA 2010, 34. 88 23 teter Arbeitsverträge wirklich nur zur Deckung eines zeitweiligen Bedarfs dient und nicht in Wirklichkeit dazu eingesetzt wird, „um einen ständigen und dauerhaften Bedarf zur Einstellung von Arbeitskräften zu decken94.“ Aber, und dies ist entscheidend, auch nach Márquez Samohano scheint es unproblematisch zu sein, wenn ein Arbeitgeber auf einer abstrakten Ebene dauerhaften Personalbedarf mit unterschiedlichen jeweils befristet beschäftigten Arbeitnehmern decken möchte. Die Rechtsprechung des EuGH ist insofern personen-, nicht stellenbezogen: Die Prüfung, ob ein dauerhafter Personalbedarf gedeckt wird und damit ein Verstoß gegen die Rahmenvereinbarung vorliegt, erfolgt erst auf der konkreten Ebene, in Bezug auf das jeweilige Arbeitsverhältnis95. Auch in der Rechtssache Fiamingo arbeitete der EuGH einen schon aus Kücük bekannten Aspekt besonders heraus. Der Entscheidung liegen mehrere, parallele Sachverhalte aus Italien zugrunde, in denen Seeleute aufeinanderfolgend befristete Arbeitsverträge erhalten hatten. Wie schon zwei Jahre zuvor betont der EuGH auch hier die Pflicht der nationalen Gerichte, bei aufeinanderfolgenden Befristungen vor allem auch die Anzahl der Verträge zu berücksichtigen, die mit derselben Person zur Verrichtung der jeweils identischen Arbeit geschlossen wurden. Auf diese Weise, so der EuGH, solle ausgeschlossen werden, dass der Arbeitgeber rechtsmissbräuchlich auf das Gestaltungsinstrument der (Sachgrund-)Befristung zurückgreife96. Neu an dieser Entscheidung ist allerdings, dass der EuGH Stellung dazu nimmt, wann schon gar nicht von einem „ununterbrochenen“ Verlängerungszusammenhang auszugehen ist, sodass dann auch keine Missbrauchskontrolle erforderlich würde. Bei einer Unterbrechung der Arbeitsvertragssituationen von 60 Tagen, so der EuGH in der Rechtssache Fiamingo, könne man gegebenenfalls davon ausgehen, dass diese Verträge nicht mehr als ununterbrochen bzw. aufeinanderfolgend anzusehen seien97. Schließlich hat der EuGH in der erneut aus Italien stammenden Rechtssache Mascolo Ende 2014 den Begriff der „sachlichen Gründe“ näher umrissen, die nach § 5 Nr. 1 lit. a der Rahmenvereinbarung eine Befristung rechtfertigen können98. Er nutzt die Begründung seiner Entscheidung vor allem dazu, seine Grundlinien aus Kücük zu wiederholen und sieht eine Miss- 94 EuGH v. 13.3.2014 – Rs. C-190/13 – Márquez Samohano, Rn. 59. Brose, in: Preis/Sagan, Europäisches Arbeitsrecht, 2015, § 9 Rn. 160. 96 EuGH v. 3.7.2014 – Rs. C-362/13 u.a. – Fiamingo, Rn. 72. 97 EuGH v. 3.7.2014 – Rs. C-362/13 u.a. – Fiamingo, Rn. 71. 98 Vgl. EuGH v. 26.11.2014 – Rs. C-22/13 u.a. – Mascolo. 95 24 brauchsverhinderung dann regelmäßig als gegeben an, wenn ein sachlicher Grund für die Befristung tatsächlich vorliegt – wenn dieser denn spezifisch genug formuliert ist. b) Die Auswirkungen auf Deutschland Diese seit 2012 bekannten und durch die Rechtsprechung des EuGH vorgegebenen Eckpunkte der Missbrauchskontrolle und Handhabung der Kettenbefristungen haben deutliche Spuren auch in der Rechtsprechung des BAG bzw. in der Anwendung vor allem des § 14 Abs. 1 TzBfG hinterlassen. Mittlerweile ist jedoch auch eine Missbrauchskontrolle im Rahmen des § 14 Abs. 2 TzBfG anerkannt99. Die Einzelheiten der Auswirkungen der Rechtsprechung des EuGH auf die deutsche Rechtsordnung sind – was nicht überraschen kann – umstritten. Doch lassen sich einige Eckpunkte herausdestillieren. aa) Grundlegendes Das BAG hat zunächst versucht, die Missbrauchskontrolle zumindest ein wenig zu strukturieren100 und für die dogmatische Anknüpfung § 242 BGB gewählt. In Nachfolge zu Kücük geht das BAG nun davon aus, dass die nach den Grundsätzen des institutionellen Rechtsmissbrauchs vorzunehmende Prüfung eine Würdigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls erfordere101. Mit der Anknüpfung an § 242 BGB macht der Siebte Senat deutlich, dass er die Missbrauchsprüfung separat vornehmen möchte, nicht hingegen als einen Teil der Sachgrundprüfung, etwa der Vertretung. Dies ist zwar kritisiert worden102, lässt sich aber mit den Grundlinien des EuGH vereinbaren. Folge ist, dass das Vorliegen eines Rechtsmissbrauchs grundsätzlich zunächst vom Arbeitnehmer darzulegen ist103. Herauskristallisiert hat sich dabei mittlerweile die Formulierung, dass die nach den Grundsätzen des institutionellen Rechtsmissbrauchs vorzunehmende Prüfung zweistufig abzulaufen hat. Neben einer „Würdigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls“, die auf einer zweiten Stufe stattfinde, sei auf einer ersten Stufe konkreter zu prüfen: „Von besonderer Bedeutung sind die Gesamtdauer der befristeten Verträge sowie die Anzahl der Vertragsverlängerungen. Ferner ist der Umstand zu berücksichtigen, ob der Arbeitnehmer stets auf demselben Arbeits- 99 BAG v. 19.3.2014 – 7 AZR 527/12, NZA 2014, 840. BAG v. 19.2.2014 – 7 AZR 260/12, NZA-RR 2014, 408, Rn. 38 spricht von einer „groben Orientierungshilfe“, zur Kritik s. Bruns, NZA 2013, 769, 771; vgl aber zuletzt noch BAG v. 12.11.2014 – 7 AZR 891/12, Rn. 28. 101 BAG v. 18.7.2012 – 7 AZR 443/09, NZA 2012, 1351, Rn. 40; vgl. zuletzt BAG v. 12.11.2014 – 7 AZR 891/12, Rn. 28. 102 Bayreuther, NZA 2013, 23, 24; Greiner, ZESAR 2014, 357, 362. 103 Von Stein, NJW 2015, 369, 371. 100 25 platz mit denselben Aufgaben beschäftigt wird oder ob es sich um wechselnde, ganz unterschiedliche Aufgaben handelt104.“ Diese zweistufige Prüfung bei der Missbrauchskontrolle stellt im Übrigen nur auf die letzte Befristungsabrede ab: Diesen Ansatz sieht das BAG durch die europäischen Vorgaben zu Recht nicht gefährdet105. bb) Stufenprüfung – 1. Stufe Das BAG prüft somit zunächst, auf einer ersten Stufe, die Gesamtdauer der befristeten Verträge sowie die Anzahl der Vertragsverlängerungen. Schon hat es verschiedene Versuche gegeben, Erwartungen an die Missbrauchskontrolle zu formulieren. Der Siebte Senat hat dabei ein Modell aus drei Bereichen als grobe Orientierungshilfe entwickelt106, das später von Kiel als „Rechtsmißbrauchsampel“ bezeichnet wurde107. Der von ihm als „grün“ bezeichnete Bereich weist darauf hin, dass in der Regel kein Missbrauch zu sehen ist. Dazu bietet sich als Orientierungshilfe § 14 Abs. 2 TzBfG an, denn die dort genannten Höchstdauer und Verlängerungsanzahl hat schon der Gesetzgeber „geadelt“ 108 . Es liegt in der Tat nahe, bei lediglich knapper Überschreitung noch nicht von einem Rechtsmissbrauch auszugehen, etwa bei vier Verlängerungen oder einer drei Jahre dauernden Kette109. Hier müsste schon der Arbeitnehmer erheblich vortragen, um einen Rechtsmissbrauch zu vermuten110. In einem von Kiel als „gelb“ bezeichneten Bereich ist eine intensive Kontrolle erforderlich, da trotz Vorliegen eines Sachgrundes ein Rechtsmissbrauch gegeben sein könnte. Dies soll dann der Fall sein, wenn die Grenzen des § 14 Abs. 2 Satz 1 TzBfG mehrfach überschritten werden111. Infolge der Lösung über § 242 BGB muss die dafür besonderen Umstände der Arbeitnehmer vortragen, der Arbeitgeber kann sie dann allerdings entkräften112. Kiel deutet an, dass 104 BAG v. 19.2.2014 – 7 AZR 260/12, NZA-RR 2014, 408, Rn. 38. BAG v. 18.7.2012 – 7 AZR 443/09, NZA 2012, 1351, Rn. 12 f.; KR/Lipke, 10. Aufl., 2013, § 14 TzBfG Rn. 145d; EuGH, AP Nr. 9 zur Richtlinie 99/70/EG (Joussen). 106 Vgl. die Entscheidungen BAG v. 18.7.2012 – 7 AZR 443/09, NZA 2012, 1351, Rn. 36 ff.; BAG v. 18.7.2012 – 7 AZR 783/10, Rn. 32 ff.; BAG v. 13.2.2013 – 7 AZR 225/11, Rn. 36 ff.; BAG v. 19.2.2014 – 7 AZR 260/12, Rn. 35; BAG v. 12.11.2014 – 7 AZR 891/12. 107 Kiel, Jahrbuch des Arbeitsrechts 50 (2013), 25, 45 ff.; ihm folgend etwa von Stein, NJW 2015, 369, 371 ff. 108 Vgl. hierzu auch BAG v. 12.11.2014 – 7 AZR 891/12, Rn. 29. 109 In diesem Sinne auch das LAG Rheinland-Pfalz v. 6.2.2013 – 8 Sa 207/12, das eine Befristung von drei Jahren und zehn Monaten bei sieben Verträgen als nicht rechtsmissbräuchlich ansah. 110 Bei 7 Jahren und 9 Monaten und 4 Befristungen und keinem weiteren Vortrag des Arbeitnehmers sah der Siebte Senat keinen Anhaltspunkt für eine Missbrauchskontrolle, BAG v. 18.7.2012 – 7 AZR 783/10. 111 So wörtlich zuletzt BAG v. 12.11.2014 – 7 AZR 891/12, Rn. 29; vgl. aber auch schon BAG v. 18.6.2012 – 7 AZR 443/09, BAGE 142, 308, Rn. 48. 112 BAG v. 19.3.2014 – 7 AZR 527/12, NZA 2014, 840. 105 26 eine vergleichbare Situation dann gegeben ist, wenn entweder die Gesamtbefristungsdauer (gegenüber § 14 Abs. 2 TzBfG) oder die Verlängerungsanzahl um das Vierfache überschritten ist, also ab acht Jahren bzw. ab zwölf Verlängerungen, oder wenn beides kombiniert um das Dreifache überschritten wird, also ab sechs Jahren und zugleich neun Verlängerungen113. Schließlich sei – im Sinne einer „Rotphase“ – ein Rechtsmissbrauch bereits indiziert, wenn die Eckpunkte alternativ oder kumulativ in besonders gravierendem Maße überschritten seien114. Dies hat das BAG, in der Tradition von Kücük, daher dort gesehen, wo es um dreizehn befristete Verträge innerhalb von fünf Jahren ging115. Letztlich beinhaltet dieses Modell eine Beweislastregelung, die der Gesetzgeber seinerseits nicht, zumindest jedoch nicht so vorgesehen hat. Folgt man der Ampelregelung, ist damit nicht nur die zweistufige Prüfung einer möglichen missbräuchlichen Befristung erfasst, sondern eben auch eine Beweislastregelung, die innerhalb der ersten Stufe geprüft wird und das Prüfprogramm für die zweite Stufe vorgibt. Mit anderen Worten: Es gibt jetzt den § 22 AGG des Befristungsrechts. Schon diese Vorschrift – wie die obigen Ausführungen zu ACCEPT verdeutlichten – ist nicht einfach zu handhaben. Dies gilt umso mehr für eine bloß richterrechtliche Regelung, der noch die klaren Konturen fehlen. Dies gilt etwa für die Rechtsfolgenseite der Stufen „grün“ und „gelb“. Bei „grün“ muss der Arbeitnehmer, will er trotz insoweit fehlender Indizien eine rechtsmissbräuchliche Befristung beweisen, „erheblich“ vortragen. Wann aber kann – wenn weder Länge noch Anzahl der Verlängerungen „verdächtig“ sind – überhaupt noch eine missbräuchliche Befristung vorliegen? Mit anderen Worten: Sperrt ein „grün“ auf der ersten Stufe nicht – zumindest tatsächlich – die konkrete Missbrauchsprüfung auf der zweiten Stufe? Noch undeutlicher wird dies im Falle eines „gelb“. Wenn etwa zwölf Verlängerungen vorgelegen haben, prüft das Arbeitsgericht „intensiv“. Tut es dies sonst etwa nicht? Eine Abweichung von der Beweislastverteilung soll dann noch nicht gelten, sondern erst auf Stufe „rot“. 113 So zum „gelben“ Bereich: BAG v. 19.2.2014 – 7 AZR 260/12, NZA-RR 2014, 408: 15 Jahre, 3 Befristungen. BAG v. 18.6.2012 – 7 AZR 443/09, BAGE 142, 308; zuletzt BAG v. 12.11.2014 – 7 AZR 891/12, Rn. 29; Kiel, Jahrbuch des Arbeitsrechts 50 (2013), 25, 45 ff.; von Stein, NJW 2015, 369, 371 ff. 115 BAG v. 18.6.2012 – 7 AZR 443/09, BAGE 142, 308, Rn. 49; ebenso bei 6 Befristungen und 11 Jahren, vgl. BAG v. 12.11.2014 – 7 AZR 891/12; LAG Düsseldorf v. 17.7.2013 – 7 Sa 450/13, ZTR 2014, 48: 18 Befristungen über acht Jahre; LAG Hamm v. 14.2.2103 – 11 Sa 1168/12, LAGE Nr. 5 zu § 14 TzBfG: Rechtsmissbrauch bei 12 Befristungen über 9 Jahre; LAG Rheinland-Pfalz v. 11.1.2013 – 9 Sa 366/12, LAGE Nr. 3 zu § 14 TzBfG: Rechtsmissbrauch bei 17 Befristungen über fast 9,5 Jahre. 114 27 Dann ist der Arbeitgeber in der Pflicht, der „besondere Umstände“ vortragen und ggf. auch beweisen muss, die eine missbräuchliche Befristung ausscheiden lassen. Was kann das aber überhaupt noch sein? Eine solche richterrechtliche Beweislastregelung läuft zudem Gefahr – ähnlich wie bei der Festsetzung der Notenstufe beim Arbeitszeugnis –, faktisch schon viel zu entscheiden. Letztlich wird abzuwägen sein, wie sehr man dem berechtigten Wunsch nach Rechtssicherheit Rechnung tragen müsste oder möchte. Um der Rechtsprechung des EuGH gerecht zu werden, ist aber jedenfalls erforderlich, dem Arbeitgeber auch auf der zweiten Stufe die – reelle – Möglichkeit zu bieten, einen Sachverhalt darzulegen, der einen auf den ersten Blick vorliegenden Rechtsmissbrauch ausschließt. cc) Stufenprüfung – 2. Stufe Erneut im Sinne der von der Rechtsprechung des EuGH verlangten umfassenden Prüfung bleibt auch der Siebte Senat aber nicht stehen, wenn er die erste Stufe erfolgreich erklommen hat, sondern prüft im Wege der Gesamtabwägung weiter. Dann können weitere Indizien die Abwägung in die eine oder auch andere Richtung beeinflussen. Schon angesprochen wurde, dies ist unmittelbare Konsequenz aus der Rechtssache Samohano, dass besonders gewichtig der Umstand werden kann, dass ein Arbeitgeber einem bereits langjährig beschäftigten Arbeitnehmer gegenüber trotz tatsächlich vorhandener Möglichkeit einer dauerhaften Einstellung immer wieder auf befristete Verträge zurückgreift116. Ebenso kann ein Indiz im Rahmen der Gesamtabwägung darin zu sehen sein, dass die jeweils vereinbarte Befristungsdauer hinter dem zeitlich zu erwartenden Vertretungsbedarf zurückbleibt117. Was die 60 Tage Unterbrechung in der Rechtssache Fiamingo angeht, wird dies sicher Auswirkungen auf die Rechtsprechung in Deutschland haben. Das BAG hatte sogar eine zweijährige Unterbrechung nicht als von vornherein relevant angesehen; auch dort sei ein Rechtsmissbrauch möglich118. Dies war, wie man jetzt sagen kann, wohl etwas zu viel des Guten. c) Zwischenergebnis Letztlich wird es im Rahmen der Missbrauchskontrolle bei einem Herantasten bleiben müssen. Die hier vorgestellten Leitplanken mit der zweistufigen Prüfung, die als eine zulässige 116 So auch von Stein, NJW 2015, 369, 372. BAG v. 10.7.2013 – 7 AZR 833/11, NZA 2013, 1292; von Stein, NJW 2015, 369, 372. 118 BAG v. 10.7.2013 – 7 AZR 761/11, NZA 2014, 26. 117 28 Umsetzung der Auslegungsvorgaben des EuGH angesehen werden kann119, mögen dazu eine Hilfestellung geben. Rechtssicherheit im engeren Sinne zu erwarten, wäre allerdings eine Überforderung dieser Grundzüge. Doch lässt sich, wie deutlich geworden ist, gut nachzeichnen, welche Auswirkungen die europäischen Entwicklungen schon gehabt haben. 2. Weitere befristungsrechtliche Entscheidungen Neben der Weiterentwicklung der Rechtsprechung zur Missbrauchskontrolle beim Abschluss mehrerer befristeter Arbeitsverhältnisse hintereinander waren vor allem diskriminierungsrechtliche Sachverhalte Gegenstand der Rechtsprechung des EuGH, die im deutschen Recht mithin von § 4 Abs. 2 TzBfG erfasst sind. Darüber hinaus hatte der Gerichtshof über den Anwendungsbereich des Befristungsrechts zu entscheiden. a) Valenza und Rosado Santana Eine unmittelbare Auswirkung auf die nationale Rechtsordnung hat die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Valenza120 gezeigt. Diese schloss recht eng an diejenige in der Rechtssache Rosado Santana121 an und ist nicht nur für das Verständnis der Auslegung der Richtlinie selbst interessant. aa) Die Entscheidung des EuGH Inhaltlich hatte der EuGH in der Rechtssache Valenza über eine italienische Angelegenheit zu entscheiden. Die dortigen Regelungen sehen vor, dass bereits befristet beschäftigte Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst ohne das sonst übliche Auswahlverfahren unmittelbar als unbefristet beschäftigte Arbeitnehmer eingestellt werden können. Die Dienstzeiten, die sie während der Zeit der befristeten Beschäftigung erreicht haben, werden allerdings bei der Festlegung des vor allem für die Vergütung relevanten Dienstalters nicht berücksichtigt. Fraglich war, ob diese Bestimmung mit der Vorgabe des § 4 der Rahmenvereinbarung und dem dort enthaltenen Verbot der Diskriminierung befristet beschäftigter Arbeitnehmer kompatibel ist. Die Entscheidung des EuGH war eindeutig. § 4 der Rahmenvereinbarung steht grundsätzlich einer solchen Regelung entgegen, die Dienstzeiten aus befristeten Tätigkeiten bei der Festlegung des Dienstalters im Rahmen der Verbeamtung vollständig nicht berücksichtigt. Etwas anderes kann dann, entsprechend der Systematik des gesamten Befristungsrechts, wiederum 119 So auch Brose, in: Preis/Sagan, Europäisches Arbeitsrecht, 2015, § 9 Rn. 162. EuGH v. 18.10.2012 – Rs. C-302/11 u.a. – Valenza. 121 EuGH v. 8.9.2011 – Rs. C-177/10 – Rosado Santana. 120 29 nur gelten, wenn dieser Ausschluss durch „sachliche Gründe“ im Sinne des § 4 Nr. 1 oder Nr. 4 der Rahmenvereinbarung gerechtfertigt wäre. Entscheidend ist der Ansatzpunkt des Gerichtshofes: Es spielt für ihn keine Rolle, dass die Klägerinnen im Ausgangsfall mittlerweile unbefristet beschäftigt waren122. Maßgeblich sei, so der EuGH, dass die von den Klägerinnen behauptete Diskriminierung ihre Dienstzeiten als noch befristet beschäftigte Arbeitnehmerinnen betraf. Hier griff der Gerichtshof letztlich seine eigene Rechtsprechung aus der Entscheidung Rosado Santana mit einer recht weiten Auslegung des Anwendungsbereichs des § 4 der Rahmenvereinbarung auf123. Der EuGH stellte zunächst fest, dass die früher befristet beschäftigten Klägerinnen mit zuvor unbefristet Beschäftigten vergleichbar seien. Sodann untersuchte er überaus ausführlich, ob für die festgestellte Ungleichbehandlung ein sachlicher Grund vorlag124. Dabei war für den EuGH aber sicher, dass der bloße Umstand, dass die Dienstzeiten auf der Grundlage eines bloß befristeten Arbeitsverhältnisses geleistet werden, keinen solchen sachlichen Grund darstellt. bb) Die Auswirkung auf Deutschland: Änderung der Rechtsprechung des BAG Die Entscheidung hat unmittelbare Auswirkung auf die Rechtsprechung des BAG125, das in Reaktion auf die Rechtsprechung des EuGH seine bisherige Rechtsprechung zur Ablehnung der Anwendung des § 4 Abs. 2 TzBfG auf Arbeitnehmer, die im Anschluss an ein befristetes Arbeitsverhältnis ein unbefristetes Arbeitsverhältnis zu geänderten Bedingungen eingehen, aufgegeben hat126. In verschiedenen tariflichen Regelungswerken, so auch im TV-L, sind Bestimmungen zur Anrechnung von Vordienstzeiten enthalten. § 16 Abs. 2 Satz 2 TV-L etwa regelt im Hinblick auf die Stufenzuordnung nach der Einstellung, dass einschlägige Berufserfahrung – ausdrücklich auch die aus befristeten Arbeitsverhältnissen – bei der Stufenzuordnung zu berücksichtigen ist127. In § 16 Abs. 3 TV-L, der den Stufenaufstieg regelt, fehlt allerdings eine entsprechende Regelung, die die Anrechnung der bei der Stufenzuordnung nicht verbrauchten Berufserfahrung aus vorherigen Tätigkeiten vorsieht. Daran hatte das BAG lange keinen Anstoß 122 EuGH v. 18.10.2012 – Rs. C-302/11 u.a. – Valenza, Rn. 34. Kritisch zu diesem Ansatzpunkt beim Anwendungsbereich, EuGH, ZESAR 2013, 169, 177 f. (Kovàcs). 124 Unklar ist allerdings schon, welche Rechtfertigungsgrundlage der EuGH heranziehen möchte, s. EuGH, ZESAR 2013, 169, 179 f. (Kovàcs). 125 A.A. Klauk, jurisPR-ArbR 14/2013, Anm. 6. 126 BAG v. 21.2.2013 – 6 AZR 524/11, NZA 2013, 625 unter Aufgabe von BAG v. 11.12.2003 – 6 AZR 64/03. 127 Sofern keine schädliche Unterbrechung iSd Protokollerklärung Nr. 3 zu § 16 TV-L (idR 3 Monate) vorliegt. 123 30 genommen, weil es in der fehlenden Anrechnung keine Diskriminierung befristet Beschäftigter gesehen hatte. Denn, so das BAG, § 4 Abs. 2 TzBfG gelte nur während der Laufzeit des befristeten Arbeitsvertrages128. Diese Rechtsprechung hat das BAG nunmehr vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache Valenza ausdrücklich aufgegeben. Die in Valenza vom EuGH vorgenommene Ausweitung des Anwendungsbereichs der Richtlinie musste vom BAG nachvollzogen, § 16 Abs. 3 TV-L entsprechend unionsrechtskonform ausgelegt werden. Konkret hieß das, dass bei einer gesetzeskonformen Auslegung des § 16 Abs. 3 Satz 1 TV-L die Stufenlaufzeit mit der Zuordnung des Beschäftigten zu einer Stufe seiner Entgeltgruppe nach seiner Einstellung nicht automatisch neu zu laufen beginnt. War er zuvor bereits befristet bei demselben Arbeitgeber beschäftigt und liegt keine schädliche Unterbrechung vor, so werden auch die Zeiten an Berufserfahrung berücksichtigt, die der Arbeitnehmer gesammelt hat und die noch nicht für einen Stufenaufstieg ausreichten. „Ein anderes Verständnis wäre mit § 4 Abs. 2 Satz 3 TzBfG nicht vereinbar.“129 Das hat zur Folge, dass Arbeitnehmer im Hinblick auf ihre Eingruppierung dann so gestellt werden, als hätten sie von Anfang an unbefristet bei dem Arbeitgeber gearbeitet, ohne ein vorgeschaltetes befristetes Arbeitsverhältnis. Doch wirkt diese Rechtsprechung über § 16 TV-L hinaus. Die grundlegende Ansicht des BAG, § 4 Abs. 2 TzBfG verbiete nur eine Ungleichbehandlung während der Dauer der Befristung und schütze Arbeitnehmer, die im Anschluss an ein befristetes Arbeitsverhältnis ein neues Arbeitsverhältnis mit dem Arbeitgeber eingehen, nicht vor einer Verschlechterung der Arbeitsbedingungen, kann keine allgemeine Geltung mehr beanspruchen130. § 4 der Rahmenvereinbarung sieht wie § 4 Abs. 2 TzBfG lediglich ein allgemeines Verbot der Schlechterbehandlung vor. Dieses Verbot enthält aber keine zeitliche Begrenzung, keiner der beiden Wortlaute deutet darauf hin. Infolgedessen ist es dann aber auch nicht relevant, ob ein Arbeitnehmer zwischenzeitlich ein unbefristetes Arbeitsverhältnis mit seinem Arbeitgeber vereinbart hat131. Die Ursache für die Benachteiligung wird durch das befristete Verhältnis gesetzt; sie zu beseitigen, bedeutet, dass Arbeitnehmer Y nach zwei Jahren in einem befristeten Arbeitsverhältnis am darauffolgenden ersten Tag seines unbefristeten Arbeitsverhältnisses genauso zu stellen ist 128 BAG v. 11.12.2003 – 6 AZR 64/03; noch bestätigt durch BAG v. 18.1.2012 – 6 AZR 496/10. BAG v. 21.2.2013 – 6 AZR 524/11, NZA 2013, 625. 130 Das BAG hat erkannt, dass seiner bisherigen Rechtsprechung „die Grundlage entzogen ist“, ausdrücklich mit dieser Formulierung BAG v. 21.2.2013 – 6 AZR 524/11, NZA 2013, 625, Rn. 27. Eingehend hierzu Günther, ZTR 2013, 652; Kahl, ZTR 2012, 611; BAG, AP Nr. 3 zu § 6 TV-L (Benecke). 131 So auch Brose, in: Preis/Sagan, Europäisches Arbeitsrecht, 2015, § 9 Rn. 62. 129 31 wie X, der zusammen mit Y angefangen hatte, jedoch von vornherein einen unbefristeten Arbeitsvertrag geschlossen hatte. Der Rechtsprechungsänderung ist infolgedessen auch inhaltlich zuzustimmen. b) Carratù und Nierodzik Die Entscheidung in der Rechtssache Carratù132 sowie diejenige in der Rechtssache Nierodzik133 betrafen die Auslegung des § 4 Nr. 1 der Rahmenvereinbarung, demzufolge ein befristet Beschäftigter in seinen „Beschäftigungsbedingungen“ nicht schlechter behandelt werden darf als ein Dauerbeschäftigter. In der Rechtssache Carratù war unklar, ob davon auch die Entschädigung umfasst ist, die ein Arbeitgeber einem Arbeitnehmer aufgrund der rechtswidrigen Aufnahme einer Befristungsklausel in seinen Arbeitsvertrag zu zahlen hat134. Das in der Rechtssache Nierodzik wiederum vorlegende polnische Gericht hatte wissen wollen, ob unter „Beschäftigungsbedingungen“ auch Kündigungsregelungen zu verstehen sind, konkret die Dauer der Kündigungsfrist. Die Entscheidungen überraschen nicht und lassen deutlich werden, dass der EuGH eine weite Auslegung135 dieses Begriffs verfolgt. Er bejaht in beiden Fällen die Subsumtionsmöglichkeit und entwickelt seine Rechtsprechung, die aus den Rechtssachen Del Cerro Alonso136 und Gavieiro Gavieiro137 bekannt ist, fort. Im Vordergrund steht für den Gerichtshof die Beschäftigung, das heißt das zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer geschlossene Arbeitsverhältnis. Was „aufgrund“ dieses Verhältnisses gewährt oder ausgestaltet wird, unterfällt den „Beschäftigungsbedingungen“. Dies gilt unabhängig davon, wann etwa eine Leistung konkret gezahlt wird, also etwa eine Entschädigungszahlung. Insbesondere mit einem systematischen Argument und dem Verweis auch auf die Richtlinie 2000/78, in der Beschäftigungsbedingungen auch Entlassungsbedingungen umfassten, subsumiert er etwa in der Rechtssache Nierodzik die Kündigungsfrist unter die Beschäftigungsbedingungen. Damit gilt dann aber auch, dass die Anwendung unterschiedlich langer Kündigungsfristen bei befristet bzw. unbefristet beschäftigten Arbeitnehmern eine diskriminierungsrechtlich relevante Unterscheidung darstellt138. Sie 132 EuGH v. 12.12.2013 – Rs. C-361/12 – Carratù. EuGH v. 13.3.2014 – Rs. C-38/13 – Nierodzik. 134 EuGH, ZESAR 2014, 243 (Medem). 135 Brose, in: Preis/Sagan, Europäisches Arbeitsrecht, 2015, § 9 Rn. 67. 136 EuGH v. 13.9.2007 – Rs. C-307/05 – Del Cerro Alonso. 137 EuGH v. 22.12.2010 – Rs. C-444/09 – Gavieiro Gavieiro. 138 EuGH v. 13.3.2014 – Rs. C-38/13 – Nierodzik, Rn. 35. 133 32 bedarf also einer Rechtfertigung, die jedoch – ganz im Sinne der Rechtssache Valenza – nicht bloß in der Berufung auf die bloß temporäre Natur eines Arbeitsverhältnisses liegen kann. Die Tendenz zur weiten Auslegung des Begriffs der „Beschäftigungsbedingungen“ wird sich, so lässt sich nach den beiden genannten Entscheidungen ohne große Unsicherheit vorhersagen, fortsetzen. Die Dauer und Lage des Urlaubs werden daher ebenso hierunter fallen wie die Ausstattung des Arbeitsplatzes oder die Gestaltung der Arbeitszeitbedingungen139. Auch wenn der Begriff der „Beschäftigungsbedingungen“ in § 4 Abs. 2 TzBfG nicht ausdrücklich aufgenommen ist, muss nicht eigens betont werden, dass auch die nationale Norm diesen weiten Anwendungsbereich des Diskriminierungsverbots mittragen wird. IV. Auswirkungen im Urlaubsrecht Zum Schluss soll auf die Auswirkungen der Entscheidungen des EuGH aus den letzten drei Jahren zum vieldiskutierten140 (Erholungs-)Urlaubsrecht eingegangen werden. Es sind vier Entscheidungen aus drei Bereichen, die die vergangenen drei Jahre im Wesentlichen geprägt haben: Die Entscheidung Heimann und Toltschin, die sich mit dem Themenbereich Arbeitsleistung zu befassen hatte, die Entscheidungen Lock und Brandes hinsichtlich des Urlaubsentgelts sowie die Entscheidung Bollacke, die die Urlaubsabgeltung zum Gegenstand hatte. 1. Die Entscheidung Heimann und Toltschin – Urlaub bei fehlender Arbeitsleistung Die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Heimann und Toltschin141 zeigt sich im engen Kontext zur Schultz-Hoff-Rechtsprechung142 und entwickelt diese in einem wesentlichen Aspekt weiter. a) Die Entscheidung des EuGH Hintergrund der Entscheidung war eine Vorlage des Arbeitsgerichts Passau. Mehreren Arbeitnehmern war 2009 betriebsbedingt gekündigt worden. Auf der Grundlage eines mit dem Betriebsrat vereinbarten Sozialplans wurden die Arbeitsverträge nach Ablauf der Kündigungsfrist um ein Jahr verlängert, dabei wurden jedoch im Wege von „Kurzarbeit Null“ die Arbeitspflicht der betroffenen Arbeitnehmer und zugleich die Lohnzahlungspflicht suspendiert. Für die Zeit der Kurzarbeit erhielten sie Kurzarbeitergeld von der Bundesagentur für 139 Brose, in: Preis/Sagan, Europäisches Arbeitsrecht, 2015, § 9 Rn. 68. Siehe nur Mehrens/Witschen, in: Preis/Sagan, Europäisches Arbeitsrecht, 2015, § 7 Rn. 1; Höpfner, RdA 2013, 16, 16. 141 EuGH v. 8.11.2012 – verb. Rs. C-229/11 und C-230/11 – Heimann und Toltschin. 142 EuGH v. 20.1.2009 – verb. Rs. C-350/06 und C-520/06 – Schultz-Hoff u.a. 140 33 Arbeit. Nach Ablauf der derart verlängerten Arbeitsverhältnisse erhoben die Arbeitnehmer Klage, mit der sie vom Arbeitgeber jeweils Abgeltung für den in den Jahren 2009 und 2010 nicht genommenen Jahresurlaub verlangten. Das Arbeitsgericht Passau war unsicher, ob ihnen der Jahresurlaub zustehen konnte, obwohl sie nicht gearbeitet hatten. Hatte nicht vielmehr eine Kürzung „pro-rata-temporis“ zu erfolgen mit der Folge, dass die Zeit der Kurzarbeit Null dazu führen würde, dass sich der bezahlte Jahresurlaub, auf den der Arbeitnehmer während der Kurzarbeit Anspruch hat, (ggf. ebenfalls auf Null) verringert? Der EuGH entschied – dabei entschied er anders als in Schultz-Hoff, und er entschied zur Erleichterung vieler so, wie es in Deutschland schon zuvor ganz herrschende Auffassung war. Denn nach dieser wird bei Einführung von Kurzarbeit der Urlaubsanspruch so umgerechnet wie bei Teilzeitbeschäftigten. Nach der entsprechenden Berechnungsformel (Anzahl der Urlaubstage im Jahr dividiert durch Anzahl der betrieblich-regelmäßigen Arbeitstage pro Woche multipliziert mit der Anzahl der individuellen tatsächlichen Arbeitstage pro Woche) kommt damit bei Kurzarbeit Null ein Urlaubsanspruch von Null heraus, da – wie man schön mathematisch formuliert findet – „x mal Null eben Null ist“143. Der EuGH sah dieses Vorgehen, in seiner bemerkenswert kurz begründeten Entscheidung, als europarechtskonform an, insbesondere als vereinbar mit Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG. Eine Übertragung der Grundsätze Schultz-Hoff lehnt er ausdrücklich ab, und zwar primär aus drei Gründen. Zum einen verneinte er eine Vergleichbarkeit zwischen erkrankten Arbeitnehmern und solchen, die sich in Kurzarbeit befinden. Nur letztgenannte könnten sich nämlich ausruhen und Freizeitaktivitäten nachgehen, infolgedessen bestehe bei ihnen auch anders als bei langzeiterkrankten Arbeitnehmern kein Erholungsbedarf. Daher befänden sie sich in einer anderen Lage, als wenn sie aufgrund ihres Gesundheitszustands arbeitsunfähig wären und an den durch die Erkrankung hervorgerufenen Beschwerden leiden würden. Zweitens seien nur bei den kurzarbeitenden Beschäftigten die synallagmatischen Leistungspflichten suspendiert, nicht hingegen bei den Langzeiterkrankten. Drittens sei das Ziel der Kurzarbeit, nämlich Entlassungen zu verhindern, bedeutsam. Denn der Arbeitgeber könne, so der EuGH, von diesem Instrument abgehalten werden, wenn er dabei Urlaubs- bzw. Urlaubsabgeltungsansprüchen ausgesetzt sei144. 143 Zu den Nachweisen bezüglich der nahezu einheitlichen Auffassung s. etwa Rudkowski, NZA 2012, 74, Fn. 11, auch mit Nachweisen zu den wenigen abweichenden Stimmen, Fn. 15. 144 S. die Begründungen in EuGH v. 8.11.2012 – verb. Rs. C-229/11 und C-230/11 – Heimann und Toltschin, Rn. 28-30. 34 Systematisch fügt sich die Begründung in die Rechtsprechung des EuGH zur Kürzung des Urlaubsanspruchs bei Teilzeitbeschäftigten ein. Der Gerichtshof verweist darauf, dass die Situation des Kurzarbeiters vergleichbar sei mit derjenigen eines Teilzeitbeschäftigten. In der Entscheidung in der Rechtssache Landeskrankenhäuser Tirol145 habe er dargelegt, dass die Minderung des Urlaubsanspruchs pro-rata-temporis zu billigen sei, denn sie sei aus sachlichen Gründen gerechtfertigt. Die Entscheidung des EuGH zum Urlaubsanspruch der in Kurzarbeit tätigen Arbeitnehmer ist richtig. Einleuchtend ist die Argumentation, dass bei Kurzarbeitern anders als bei Langzeiterkrankten eben kein Erholungsbedürfnis und damit eben auch ein Unterschied zur Fallkonstellation in Sachen Schultz-Hoff vorliegt146. Argumentativ allerdings drängen sich doch zahlreiche Fragen auf. Der EuGH war aber auch in einer schwierigen Situation. Er konnte bei den „Null-Kurzarbeitern“ nicht das Entstehen des Urlaubsanspruchs verneinen – obwohl zum Teil gerade in die Entscheidung Heimann hineingelesen wird, dass er das getan habe147. Doch war, in der Vorstellung des EuGH, der Urlaubsanspruch offenkundig zunächst einmal entstanden. Denn mit den Entscheidungen in den Rechtssachen BECTU148 sowie Dominguez149 hatte er nationale Regelungen verworfen, die die Entstehung des Urlaubsanspruchs von der Erfüllung zusätzlicher Voraussetzung abhängig machen, etwa von einer effektiven Mindestarbeitszeit. Die Entscheidungen Schultz-Hoff und KHS konnte er nicht heranziehen, sie betrafen nicht die Entstehung des Urlaubsanspruchs, sondern dessen Untergang in natura wie auch in Form der Abgeltung. Während er bei Schultz-Hoff zur Erkenntnis gelangt war, die finanzielle Abgeltung des Urlaubs bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses könne nicht mehr davon abhängig gemacht werden, ob der Arbeitnehmer in der Lage gewesen wäre, bis zum Ende des Übertragungszeitraums den Urlaub zu nehmen, hatte er mit der Entscheidung KHS diesen Ausreißer wieder eingefangen und nationale Regelungen gebilligt, nach denen der Urlaubsanspruch auch bei Krankheit 15 Monate nach Ende des Beschäftigungsjahres verfällt. Hätte der EuGH sich auf diese Entscheidungen berufen, hätte er den Verfall der Ansprüche bei der Kurzarbeit Null als europarechtswidrig einstufen müssen. 145 EuGH v. 22.4.2010 – Rs. C-486/08 – Zentralbetriebsrat der Landeskrankenhäuser Tirol. In diesem Sinne auch Rudkowski, EuZA 2013, 260, 263. 147 Powietzka/Christ, NZA 2013, 18, 22. 148 EuGH v. 26.6.2001 – Rs. C-173/99 - BECTU. 149 EuGH v. 24.1.2012 – Rs. C-282/10 – Dominguez. 146 35 Das wollte der EuGH offensichtlich nicht – und bemühte daher den Vergleich mit den Teilzeitbeschäftigten. Dazu musste er allerdings vertreten, Kurzarbeiter seien als „vorübergehend teilzeitbeschäftigte Arbeitnehmer“ anzusehen. Man muss hier wohl rätseln und dahinstehen lassen, was Teilzeitarbeit Null sein soll. Aber so genau nimmt der EuGH das alles nicht. Sein Ziel ist klar: Der Anspruch auf Urlaub entsteht zunächst, aber er wird dann - in einem zweiten Schritt reduziert – eben ggf. auch auf Null. b) Auswirkungen auf das deutsche Arbeitsrecht Bei den Auswirkungen auf das deutsche Recht wird man differenzieren müssen: Auf der einen Seite stehen die Konsequenzen für die betroffene Sachverhaltskonstellation der Kurzarbeit Null. Auf der anderen Seite geht es um anderweitige Freistellungssituationen. Für die Kurzarbeit Null liegt eine Rechtsprechung des BAG bisher nicht vor. Die Vorstellung des EuGH von einer anteiligen Kürzung spiegelt wie angesprochen indes die ganz überwiegende Auffassung im deutschen Schrifttum wieder. Aus dem Urteil Heimann folgt also kein Anpassungsbedarf für das deutsche Recht150. Dass man mit der Argumentation des EuGH hadern kann, ist eine eigenständige Frage. Man kann im Übrigen auch nach der Entscheidung des EuGH nicht formulieren, dass die Rechtsprechung in Deutschland gezwungen wäre, der Auslegung des EuGH zu folgen, sie könnte vielmehr auch Kurzarbeitern einen Urlaubsanspruch in vollem Umfang zusprechen. Denn Art. 7 der Richtlinie garantiert, wie ihr Art. 15 deutlich macht, lediglich ein Mindestschutzniveau151. Kein deutscher Richter wäre also daran gehindert, über dieses hinauszugehen, dies vor allem vor dem Hintergrund, dass die deutschen Gerichte ja regelmäßig davon ausgehen, dass der Urlaubsanspruch auch im ruhenden Arbeitsverhältnis entsteht. Doch scheint mir dies nicht sehr wahrscheinlich, zu stark sind die Argumente der ganz überwiegenden Auffassung, die - wie der EuGH - insbesondere auch auf die Zielvorstellung von Kurzarbeit überhaupt abstellt. Wie sollte der Arbeitgeber entlastet werden, würde er hier doch wieder zusätzlich belastet, ohne dass ein zwingender Grund gegeben ist? Man wird also darauf setzen dürfen, dass eine mögliche Entscheidung des BAG so ausfallen wird, wie es der EuGH vorgezeichnet hat, auch wenn es nicht unbedingt geboten ist. Doch wird man sich darüber hinaus auf die mindestens so spannende Frage konzentrieren müssen, welche Auswirkungen die Richtung des EuGH für andere Freistellungen haben kann 150 151 EuGH, EuZA 2013, 260, 267 (Rudkowski). Mehrens/Witschen, in: Preis/Sagan, Europäisches Arbeitsrecht, 2015, § 7 Rn. 23. 36 und haben wird152. Wie ist also die Frage des Urlaubsanspruchs in einem nicht krankheitsbedingt ruhenden Arbeitsverhältnis zu beurteilen? Zu denken ist dabei etwa an die Kürzung des Urlaubsanspruchs während der Pflegezeit nach dem Pflegezeitgesetz oder der Familienpflegezeit nach dem Familienpflegezeitgesetz. Was ist mit dem Urlaubsanspruch während eines unbezahlten Sonderurlaubs? Was mit einer Kürzung während der Elternzeit oder während des Mutterschutzes? Während sich beim Mutterschutz Kürzungsfragen nicht stellen, weil § 17 MuSchG ausdrücklich bestimmt, dass der Urlaubsanspruch der Arbeitnehmerin im Mutterschutz im vollen Umfang weiterbesteht, ist dies bei der Elternzeit anders. Gerade im Hinblick auf diese ist Bewegung zu erwarten, denn hier sind mehrere Verfahren vor dem BAG anhängig. Besonders bei der Elternzeit spielt aber noch ein Weiteres herein. Dort ist § 17 BEEG eigens zu beachten, der es dem Arbeitgeber gestattet, den Urlaubsanspruch für jeden vollen Kalendermonat um ein Zwölftel zu kürzen. Ist dieser aber europarechtskonform? Oder, um mit dem EuGH in Sachen Heimann zu sprechen: Ist Elternzeit Teilzeit Null? Da der Elternurlaub eine Form des „nicht krankheitsbedingten“ Ruhens der Arbeitspflicht darstellt, müsste nach der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Heimann eigentlich gelten, dass diese Kürzungsregelung (wie bei der Kurzarbeit Null) möglich und zulässig sein müsste; das spricht für eine Europarechtskonformität des § 17 BEEG. Doch so einfach ist es nicht. Denn zu Recht wird etwa darauf verwiesen, die Entscheidungsgründe aus Heimann ließen sich nicht ohne Weiteres übertragen, denn es ließe sich doch schwerlich behaupten, dass sich Eltern in der Elternzeit erholen oder einer Freizeittätigkeit nachgingen, wie dies bei den Kurzarbeitern der Fall sei153. Zudem muss berücksichtigt werden, dass § 17 Abs. 1 BEEG aus anderen Gründen europarechtswidrig sein könnte, nämlich wegen eines Verstoßes gegen § 2 der Rahmenvereinbarung im Anhang der Elternurlaubsrichtlinie 2010/18/EU. Kamanabrou hat dies jüngst eindrucksvoll untersucht – und geht von einer „teilweisen Europarechtswidrigkeit“ der Bestimmung aus, weil § 17 Abs. 1 BEEG eine anteilige Kürzung des Jahresurlaubs für Zeiten der Elternzeit uneingeschränkt zulasse, obwohl eine Beschränkung in den ersten vier Monaten der Elternzeit nicht zulässig sei154. 152 Im Einzelnen hierzu Fieberg, ZESAR 2013, 258. Kamanabrou, RdA 2014, 321, 325. 154 Kamanabrou, RdA 2014, 321, dort finden sich zahlreiche Nachweise zu den unterschiedlichen Auffassungen. 153 37 Für die Kürzung des Urlaubsanspruchs während eines vereinbarten unbezahlten Sonderurlaubs liegt eine Entscheidung des BAG vom 6.5.2014 vor155. In ihr ging es um eine Krankenschwester, die nach langjähriger Tätigkeit mit ihrem Arbeitgeber unbezahlten Sonderurlaub vom 1.1.2011 bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses am 30.9.2011 vereinbart hatte. Nun verlangte sie von ihrem Arbeitgeber die Abgeltung von 15 Urlaubstagen aus dem Jahr 2011. Das BAG hat ihr diesen Anspruch zugesprochen, denn einzige Voraussetzung sei das Bestehen eines Arbeitsverhältnisses – und eine Kürzungsvorschrift wie etwa § 17 BEEG liege nicht vor. Hier wird aber dann doch eine Tendenz in der Rechtsprechung des Neunten Senats erkennbar, der davon ausgeht, das Unionsrecht zwinge nicht zu einer Verringerung des Urlaubsanspruchs wegen des Ruhens eines Arbeitsverhältnisses. Genau dies möchte er auch nicht aus der Rechtssache Heimann herauslesen. Stattdessen geht er von dem Gedanken aus, dass die Richtlinie ohnehin nur Mindeststandards setze. Und somit könne der Urlaubsanspruch, wenn er einmal entstanden sei, eben auch bei Ruhenssituationen aufrechterhalten bleiben. Ein verallgemeinerungsfähiges Fazit für alle Ruhenstatbestände lässt sich bisher nicht ziehen. Es wird insofern nichts anderes übrig bleiben, als für jeden einzelnen Ruhenstatbestand einzeln herauszuarbeiten, wie sich mögliche Urlaubsansprüche zu diesen verhalten, ob sie entstehen und ob sie gegebenenfalls reduziert werden können156. Die Entscheidung des EuGH in Sachen Heimann und Toltschin zeigt aber, dass der jeweilige Sinn und Zweck der Norm, die das Ruhen anordnet, eine wichtige Weiche stellt. Die Kritik, etwa an der Entscheidung des BAG zum vereinbarten unbezahlten Sonderurlaub, ist zwar inhaltlich nachvollziehbar, wenn sie davon ausgeht, der kleine Arbeitgeber falle aus allen Wolken, wenn er sich erst auf ein Sabbatjahr einlasse und dann von seinen Zahlungspflichten erfahre157. Konsequent ist sie gleichwohl, denn sie hält, soweit es unionsrechtlich möglich ist, an dem Konzept fest, dass der Urlaubsanspruch eben regelmäßig entsteht, unabhängig vom Ruhen oder Nichtruhen der einzelnen Pflichten. 2. Die Entscheidungen Lock und Brandes – Urlaubsentgelt Die Entscheidungen in den Rechtssachen Lock und Brandes hatten das Urlaubsentgelt gemäß Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie zum Gegenstand, welcher zufolge der Arbeitnehmer Anspruch auf 155 BAG v. 6.5.2014 – 9 AZR 678/12, NZA 2014, 959. Zu möglichen Auswirkungen auf einzelne Konstellationen Powietzka/Christ, NZA 2013, 18, 22 f. 157 So Bauer, ArbRAktuell 2014, 283. 156 38 „bezahlten“ vierwöchigen Jahresurlaub hat. Das deutsche Pendant hierzu findet sich unter anderem in § 1 BUrlG – vor allem aber in der Berechnungsvorschrift des § 11 BUrlG. a) Lock Herr Lock war bei der British Gas Trading Limited beschäftigt, sein Lohn setzt sich aus einem Festbetrag sowie Provisionen für tatsächlich erfolgte Verkäufe zusammen. Für die Zeit seines Urlaubs erhielt er nur sein Grundgehalt und Provisionen für die tatsächlich erzielten Verkäufe. Lock verlangte ein darüber hinaus gehendes Urlaubsentgelt und begründete dies damit, dass er während des Urlaubs keine Provisionen habe erzielen können. In der Rechtssache Lock158 setzt der EuGH seine Rechtsprechung aus der Rechtssache Williams159 fort und entwickelt die dortigen Leitlinien zur Berechnung des Urlaubsentgelts weiter. Zugunsten Locks nahm der EuGH eine ungerechtfertigte Vergütungseinbuße während des Urlaubs an. Ein Verstoß gegen Art. 7 der Richtlinie 2003/88 liege vor allem deshalb vor, weil die Gefahr bestünde, dass ein Arbeitnehmer davon abgehalten werden könne, seinen Urlaub zu nehmen, wenn er befürchten müsse, (gegebenenfalls auch erst in Folgemonaten) Vergütungseinbußen zu erleiden. Daher sei auch eine Provision in die Berechnung des Urlaubsentgelts mit einzubeziehen. Dies wird für das deutsche Recht ohnehin nicht ernsthaft zu bestreiten sein160. Provisionen fließen in die Berechnung des Geldfaktors im Sinne des § 11 BurlG ein. Ein Handlungsbedarf oder ein Neuerungspotential ergibt sich folglich nicht161. b) Brandes Wenn schon angeklungen ist, dass die Mutterschutzrichtlinie eine Rolle spielen kann, wenn es um die Entstehung bzw. den Untergang von Urlaubsansprüchen geht, ist nicht verwunderlich, dass auch die Rahmenvereinbarung zur Teilzeit gegebenenfalls einschlägig sein kann und berücksichtigt werden muss. Und dort können dies dann insbesondere die Regelungen zur Nichtdiskriminierung nach § 4 der Rahmenvereinbarung sein. In der Rechtssache Brandes hat der EuGH daher entschieden, dass übertragene Urlaubsansprüche aus den Zeiten einer Vollbeschäftigung bei einem späteren Wechsel in eine Teilzeitbeschäftigung nicht gekürzt werden 158 EuGH v. 22.5.2014 – Rs. C-539/12 – Lock. EuGH v. 15.9.2011 – Rs. C-155/10 – Williams. 160 Vgl. für das deutsche Recht nur Schinz, in: Henssler/Willemsen/Kalb, 6. Auflage 2014, § 11 BurlG, Rn. 14. 161 EuGH, BB 2014, 1599 (Hilgenstock); Pötters, EuZW 2014, 549, 552; Kern, ArbRAktuell 2014, 319; kritisch im Hinblick auf die Aussagen zu Überstunden Franzen, NZA 2014, 647, 648. 159 39 dürfen, wenn der Arbeitnehmer den Urlaub im vorangegangenen Bezugszeitraum nicht in Anspruch nehmen konnte. Dieses Kürzungsverbot bezieht sich dabei nicht nur auf die Urlaubsdauer, sondern, so der EuGH, auch auf den Urlaubsentgeltanspruch162. aa) Die Entscheidung des EuGH Die Entscheidung betraf einen deutschen Sachverhalt. Frau Brandes war ursprünglich vollzeitbeschäftigt, sie arbeitete fünf Tage pro Woche. Im Dezember 2010 bestand schwangerschaftsbedingt ein Beschäftigungsverbot, anschließend ging sie in Mutterschutz, bis Dezember 2011 dann in Elternzeit. Ab dem 22.12.2011 arbeitete sie wieder, nun allerdings nur in Teilzeit mit 50vH der regulären Arbeitszeit, und zwar an drei Tagen pro Woche. Der unstreitige Urlaubsrest für die Jahre 2010 und 2011 betrug 29 Urlaubstage, bezogen allerdings auf die Vollzeitbeschäftigung. Der Arbeitgeber errechnete daraus einen 17-tägigen Anspruch, weil er nun die Teilzeitbeschäftigung der Berechnung zugrunde legte. Die Idee dahinter: Weil Brandes ja nun nur noch teilzeitbeschäftigt war, benötige sie auch nur weniger Urlaub, um eine Woche frei zu haben, sonst erhielte sie ja mehr Urlaubswochen als in Vollzeit. Dies war nicht fernliegend – im Gegenteil: Vielmehr entsprach dies der ständigen Rechtsprechung des Neunten Senats des BAG. Dieser ging seit jeher davon aus, dass sich der Erholungsurlaub bei einer Veränderung der Arbeitszeit sowohl im Hinblick auf die Anzahl der Urlaubstage als auch auf das Urlaubsentgelt je Urlaubstag an die neu vereinbarte Arbeitszeit anpasst und dementsprechend bei einer Veränderung der Arbeitszeit umgerechnet und mit dem neuen Teilzeit-Entgelt vergütet wird163. Daraus folgte zusammengefasst, dass es sowohl für die Zahl der Urlaubstage als auch für das Urlaubsentgelt entscheidend auf die Verhältnisse ankam, die bei der späteren Realisierung des Urlaubsanspruchs zugrunde lagen164. Dem konnten schon früher nicht alle folgen165, nun hat auch der EuGH diesen Ansatz des BAG verworfen. Jedenfalls hinsichtlich des gesetzlichen Mindesturlaubs ist seiner Ansicht nach davon auszugehen, dass die Anzahl der Urlaubstage, die aus dem Zeitraum der Beschäftigung mit einer höheren Arbeitszeit stammen, nicht gekürzt werden darf, wenn sich die Arbeitszeit und infolgedessen auch die Arbeitstage pro Woche später reduzieren bzw. sie zur 162 EuGH v. 13.6.2013 – Rs. C-415/12 – Brandes. BAG v. 28.4.1998 – 9 AZR 34/97. 164 Dassau, ZTR 2013, 476, 476. 165 S. etwa ErfK/Gallner, 13. Aufl. 2013, § 3 BurlG, Rn. 15; Hohmeister, BB 1999, 798. 163 40 Zeit der Geltendmachung des Anspruchs reduziert sind. Vielmehr bleibt ein einmal erworbener Urlaubsanspruch im Sinne eines „Wertguthabens“ erhalten. Argumentativ knüpft der EuGH eng an die Entscheidung in der Rechtssache Zentralbetriebsrat der Landeskrankenhäuser Tirols zum österreichischen Recht166 an. Schon dort hatte er deutlich gemacht, dass die Inanspruchnahme des Jahresurlaubs zu einer späteren Zeit als dem eigentlichen Bezugsraum in keiner Beziehung zu der in dieser späteren Zeit von dem Arbeitnehmer geleisteten Arbeit stehe. Daraus folgerte er, dass eine Veränderung, etwa hinsichtlich einer Verringerung der Arbeitszeit, nicht zu einer Minderung des bereits in der Vollzeittätigkeit erworbenen Jahresurlaubs führen könne. In der deutschen Rezeption war überwiegend vertreten worden, diese Entscheidung könne wegen der besonderen österreichischen Bedingungen167 allenfalls Auswirkungen auf das Urlaubsentgelt haben168. Doch nun wird deutlicher, wie der EuGH zu verstehen ist. Auf der Grundlage seiner Vorstellung vom Urlaubsrecht als besonders bedeutendem Grundsatz des Sozialrechts der Union und mit dem Hinweis seiner Verankerung in Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte folgert er, dass keine restriktive Auslegung erfolgen dürfe. Daher sei zwar der pro-rata-temporisGrundsatz, der in § 4 Nr. 2 der Rahmenvereinbarung über Teilzeitbeschäftigung normiert sei, auch auf die Gewährung des Jahresurlaubs bei Teilzeitbeschäftigten anzuwenden, nicht jedoch nachträglich auf einen Anspruch auf Jahresurlaub, der bereits in der Zeit der Vollbeschäftigung erworben wurde. Eine Kürzung wäre, so der EuGH, letztlich eine nicht begründbare, verbotene Benachteiligung von Teilzeitbeschäftigten169. Die Vorstellung, dass die in Wochen ausgedrückte Urlaubszeit (in Vollzeit fünf Wochen und nach der Kürzung auch in Teilzeit fünf Wochen) gleich bleibe, verwechselt nach Auffassung der europäischen Richter „die Ruhephase, die dem Zeitabschnitt eines tatsächlich genommenen Urlaubs entspricht, und die normale berufliche Inaktivität während eines Zeitabschnitts, in dem der Arbeitnehmer auf Grund des Arbeitsverhältnisses, das ihn an seinen Arbeitgeber bindet, nicht zu arbeiten braucht170.“ 166 EuGH v. 22.4.2010 – Rs. C-486/08 – Zentralbetriebsrat der Landeskrankenhäuser Tirols. Näher zu diesen Latzel, EuZA 2014, 80, 84 f. 168 Fieberg, NZA 2010, 925; Powietzka/Christ, NJW 2010, 3397; Rudkowski, NZA 2012, 74. 169 Zu den aufgeworfenen Fragen der Entscheidung Brandes eingehend Schubert, NZA 2013, 1105. 170 EuGH v. 13.6.2013 – Rs. C-415/12 – Brandes, Rn. 41. 167 41 Die Folge ist eindeutig: Mit dem Wechsel in Teilzeit verkürzt sich der einmal erworbene Urlaubsanspruch, der noch nicht erfüllt wurde, nicht, auch nicht anteilig171. Die Anzahl der Urlaubstage bleibt daher gleich. Da der Arbeitnehmer – z.B. Frau Brandes – jetzt nur noch drei Tage in der Woche arbeitet und entsprechend auch nur drei Tage Urlaub benötigt, um der Arbeit eine Woche fernzubleiben172, führt dies im Ergebnis dazu, dass die Freizeit des Arbeitnehmers verlängert wird; die Urlaubstage für sich genommen vermehren sich aber nicht173. bb) Auswirkungen auf das deutsche Arbeitsrecht Die Auswirkungen dieser Rechtsprechung auf das deutsche Arbeitsrecht sind schnell erkennbar: Das BAG hat bereits reagiert. In seinem Urteil vom 10.2.2015 hat der Neunte Senat seine bisherige Rechtsprechung aufgegeben, nach der die Urlaubstage grundsätzlich umzurechnen waren, wenn sich die Anzahl der mit Arbeitspflicht belegten Tage verringerte174. Es bedarf hier also keiner Gesetzesänderung mehr, die Gerichte haben schon gesprochen. Gegenstand war die aus Brandes bekannte Situation des Urlaubsanspruchs bei einem Wechsel von einer Vollzeit- in eine Teilzeittätigkeit mit weniger Wochenarbeitstagen. Das BAG hatte dabei § 26 Abs. 1 TVöD mit seinem Urlaubsanspruch zu beurteilen. Dieser regelt zwar, dass sich der für die Fünftagewoche festgelegte Erholungsurlaub nach einer Verteilung der wöchentlichen Arbeitszeit auf weniger als fünf Tage in der Woche vermindert. „Die Tarifnorm ist jedoch wegen Verstoßes gegen das Verbot der Diskriminierung von Teilzeitbeschäftigten unwirksam, soweit sie die Zahl der während der Vollzeittätigkeit erworbenen Urlaubstage mindert175.“ Anders als von manchen erwartet176 scheint das BAG davon auszugehen, dass die Rechtssache Brandes auch auf den tariflichen Urlaub Auswirkung hat, nicht nur auf den gesetzlichen Mindesturlaub. Konsequenz auch in Deutschland ist, dass sich der Urlaub schlicht nach der Zeit berechnet, in der er entsteht, also im Bezugszeitraum177. Dies ist eine bloße Folge aus dem Verständnis der europäischen Urlaubsnormen, sodass es nicht hilft, darüber zu sinnieren, auf diese Weise kä- 171 Buschmann, AiB 2014, 24. Vgl EuGH v. 13.6.2013 – Rs. C-415/12 – Brandes, Rn. 16. 173 So auch Stiebert/Imani, NZA 2013, 1338, 1341. 174 BAG v. 10.2.2015 – 9 AZR 53/14 (F) zum Zeitpunkt der Drucklegung lag nur die Pressemitteilung vor, weshalb eine vertiefte Auseinandersetzung unterbleiben muss. 175 So die Pressemitteilung des BAG. 176 Kentner/Praß, AuA 2013, 644, 645; Dassau, ZTR 2013, 476, 477. 177 Schubert, RdA 2013, 370, 377. 172 42 me es zu einer „Vermehrung“ von Urlaubstagen178. Das Bemühen des „Menschenverstandes“ ist hier ähnlich nutzlos: Zwar mutet die Vorstellung schon schwer verdaulich an, dass es bei einem Wechsel von Vollzeit in Teilzeit mit nur noch einem Arbeitstag pro Woche dazu kommen kann, dass infolge der Brandes-Rechtsprechung eine sehr lange Urlaubsphase entsteht179. Doch ist dies richtig – denn für eine Kürzung des Anspruchs besteht kein Rechtsgrund, mögen auch die Folgen gerade für kleinere und mittlere Betriebe zu „kaum hinnehmbaren personalwirtschaftlichen Belastungen“ führen180. Die Ansicht, es käme allein auf die Anzahl der zustehenden Urlaubswochen anstelle der Urlaubstage an, die vor allem auch hinter der früheren Rechtsprechung des Neunten Senats steht, lässt sich daher auch in der nationalen Rechtsordnung nicht halten, sie widerspräche den Auslegungen des EuGH. Daher ist die Abkehr des Neunten Senats von seiner Rechtsprechung folgerichtig. Trotz des Gesetzeswortlauts, der von „Urlaubswochen“ spricht, sind es die Tage der Arbeitsbefreiung, um die es geht. Für das zu gewährende Urlaubsentgelt hat die Rechtsprechung ebenfalls Auswirkungen – eine Kürzung ist auch hier abzulehnen. Unklar ist, wie schließlich der umgekehrte Fall zu beurteilen ist, also ein Wechsel von Teilzeit in Vollzeit. Mit Rückgriff auf das entscheidende unionale Grundrecht wird man sich nicht vorstellen können, dass der EuGH hier tatsächlich dem später Vollzeitbeschäftigten lediglich den geringeren Teilzeitanspruch aus früherer Zeit gewährt181. Auf die Argumentation indes darf man gespannt sein. 3. Die Entscheidung Bollacke – Urlaubsabgeltung In der Entscheidung in der Rechtssache Bollacke182 ging es darum, ob der Abgeltungsanspruch vererbbar ist. Da es sich um einen Anspruch handelt, ist dies eigentlich sehr naheliegend. Und trotzdem ist genau dies, die Vererbbarkeit des Urlaubsabgeltungsanspruchs, im deutschen Recht immer verneint worden. Und schon wieder ist festzustellen: Europa hat gesprochen. Deutsches Urlaubsrecht muss sich wandeln. a) Die Entscheidung des EuGH Frau Bollacke machte Abgeltungsansprüche für unstreitig nicht genommene Urlaubstage ihres verstorbenen Ehemannes geltend. Das LAG Hamm wollte nun wissen, ob Art. 7 der Arbeitszeitrichtlinie einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der ein Anspruch auf bezahlten 178 S. schon den Titel des Beitrags von Stiebert/Imani, NZA 2013, 1338. Auf den Menschenverstand und das Beispiel verweist in seinem Beitrag Giesen, FA 2013, 257. 180 So die Befürchtung von Karb, öAT 2013, 164. 181 Dassau, ZTR 2013, 476, 477. 182 EuGH v. 12.6.2014 – Rs. C118/13 – Bollacke. 179 43 Jahresurlaub ohne Begründung eines Abgeltungsanspruchs für nicht genommenen Urlaub untergeht, wenn das Arbeitsverhältnis durch den Tod des Arbeitnehmers endet. Der EuGH hat diese Frage bejaht. Die allgemeinen Argumente sind bekannt, sie verweisen auch hier auf den besonderen Grundsatz des Sozialrechts der Union und die gebotene weite Auslegung. Entscheidend sei hier aber, dass für das Entstehen eines Urlaubsabgeltungsanspruchs schon nach dem Wortlaut nur zwei Voraussetzungen erforderlich seien: erstens die Beendigung des Arbeitsverhältnisses und zweitens das Vorliegen von Resturlaub. Warum das Arbeitsverhältnis endet, ist für den EuGH irrelevant. Eine Differenzierung nach unterschiedlichen Beendigungstatbeständen sei nicht geboten. Schließlich sei es nötig, auch hier den Anspruch zu gewähren, weil anderenfalls ein unwägbares, weder vom Arbeitnehmer noch vom Arbeitgeber beherrschbares Ereignis, nämlich der Tod des Arbeitnehmers, rückwirkend zum vollständigen Verlust des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub führen würde. b) Die Auswirkungen auf das deutsche Arbeitsrecht Bisher hatte sich die durch die Entscheidung Schultz-Hoff erzwungene Aufgabe der Surrogatstheorie183 in Deutschland gerade für den Erbfall nicht durchgesetzt. Das BAG hielt aus hier nicht im Einzelnen vorzutragenden Gründen unverändert daran fest, dass bei Tod des Arbeitnehmers auch der Urlaubsanspruch untergehe und sich nicht in einen Abgeltungsanspruch im Sinne des § 7 Abs. 4 BUrlG umwandeln könne184. Gerechtfertigt wurde dies immer auch mit der Vorstellung vom Zweck des Urlaubs. Der diene dazu, die Arbeitskraft des Arbeitnehmers wiederherzustellen und langfristig zu erhalten. Dies sei beim Erben nicht erreichbar, daher könne auch der Anspruch auf Abgeltung entfallen185. Doch dies ist inkonsequent. Denn wenn die Surrogatstheorie, aus hier nicht nachzuzeichnenden Gründen, aufgegeben ist, kann ein Abgeltungsanspruch doch mit diesem Argument dem Erben kaum versagt werden186. Man wird konstatieren müssen, dass der Abgeltungsanspruch vom EuGH als ein Vermögensanspruch angesehen wird - mit allen Konsequenzen. 183 Dazu mit einem Überblick Schubert, RdA 2014, 9. BAG v. 12.3.2013 – 9 AZR 532/11, NZA 2013, 678. 185 BAG v. 12.3.2013 – 9 AZR 532/11, NZA 2013, 678, Rn. 13; so auch Höpfner, RdA 2013, 65, 70. 186 Forst, FA 2014, 226, 228. 184 44 Erneut wird das BAG sich anpassen müssen. Der Abgeltungsanspruch gemäß § 7 Abs. 4 BUrlG fällt damit auch dann in den Nachlass, wenn das Arbeitsverhältnis durch den Tod des Arbeitnehmers endet. Die Gegenargumente sind bekannt187. Es bleibt aber systematisch richtig, die Konsequenz aus der Aufgabe der Surrogatstheorie, dass nämlich der Abgeltungsanspruch ein reiner Geldanspruch ist, auch bis zum Ende zu denken. Ein solcher Anspruch geht eben nicht, wie der EuGH zu Recht erkennt, mit dem Tod des Arbeitnehmers unter. Damit ist jeder Anspruch des Arbeitnehmers bei dessen Tod abzugelten, sofern er aus dem BUrlG stammt. Der EuGH sieht letztlich Urlaubs- und Urlaubsabgeltungsanspruch als zwei Aspekte eines einzigen Anspruchs. Dies hatte er in Schultz-Hoff schon deutlich gemacht. Und damit ist es konsequent, wenn auch die Vererblichkeit des Abgeltungsanspruchs vertreten wird. Folglich ist mit einer nunmehr erforderlichen richtlinienkonformen Auslegung des § 7 Abs. 4 BUrlG davon auszugehen, dass auch der Tod als Beendigungsgrund unter die Tatbestandsvoraussetzung „Beendigung des Arbeitsverhältnisses“ zu subsumieren ist. Doch gilt dies erneut wieder nur für den gesetzlichen Urlaubsanspruch, denn nur für diesen gilt die Richtlinie. Für darüber hinaus gewährten Zusatzurlaub gelten die Vorgaben aus Bollacke indes nicht, doch wird dies auch explizit anders gesehen und mit Verweis darauf, dass § 7 Abs. 4 BUrlG sich allgemein auf den Urlaub, nicht auf den Mindesturlaub beziehe, vertreten, dass auch weitergehende Urlaubsansprüche grundsätzlich abzugelten und damit vererbbar sein könnten188. Dass insgesamt auch sozialversicherungs- und steuerrechtliche Konsequenzen zu beachten sind, sei hier nur erwähnt, aber nicht vertieft189. Ebenfalls an dieser Stelle nur erwähnt sei eine weitere Folgefrage der Entscheidung Bollacke, die sich bei der Umsetzung der Vorgaben des EuGH in das deutsche Recht zeigt. Da es sich bei der Urlaubsabgeltung – infolge der Rechtsprechung des EuGH und der damit verbundenen Aufgabe der Surrogatstheorie – um einen reinen Geldanspruch handelt, unterfällt dieser, sofern er dem Arbeitnehmer zusteht, auch (tarif-) vertraglichen Ausschlussfristen, wie das BAG bereits entschieden hat190. Fraglich ist nun, ob auch die dem Erben zustehenden Abgeltungsansprüche den Ausschlussfristen unterfallen, die im Arbeitsverhältnis des Erblassers gelten. 187 S. nur Giesen, FA 2014, 231, 232f. So etwa Heuschmid/Hlava, AuA 2014, 383, 384. 189 Dazu Ricken, NZA 2014, 1361; Forst, FA 2014, 226 ff., 230 f. 190 BAG v. 19.6.2012 – 9 AZR 652/10; da der Abgeltungsanspruch bereits mit der rechtlichen Beendigung des Arbeitsverhältnisses entsteht und regelmäßig sofort fällig wird, kann ein selbst nach lang andauernder Arbeitsunfähigkeit bestehender Abgeltungsanspruch auf den gesetzlichen Mindesturlaub aufgrund tariflicher Ausschlussfristen verfallen; BAG v. 8.4.2014 – 9 AZR 550/12; siehe hierzu auch Moderegger, ArbRB 2014, 278. 188 45 Die Umsetzung der Vorgaben des EuGH in die deutsche Dogmatik ist hier deswegen schwierig, weil der Tod des Arbeitnehmer sowohl Tatbestandsmerkmal für das Entstehen des Abgeltungsanspruchs an sich ist als Voraussetzung dafür, dass die dem Erblasser zustehenden Ansprüche auf den Erben übergehen. Für die Frage, ob Ausschlussfristen den Anspruch erfassen, ist damit entscheidend, welchen gesetzlichen Tatbestand man zuerst als erfüllt ansehen möchte, das Entstehen des Abgeltungsanspruchs oder den Übergang der Forderung auf den Arbeitnehmer. Folgt man der Ansicht, dass nur übergehen kann, was auch existiert191, spricht viel dafür, dass auch die Abgeltungsansprüche des Erben den Ausschlussfristen unterfallen192. V. Fazit Wie so häufig führen auch im Verhältnis zwischen europäischen Vorgaben und nationalen Auswirkungen im Arbeitsrecht Simplifizierungen nicht weiter. Man kann nicht sagen, alles sei gut oder alles sei schlecht und werde immer schlechter. Der EuGH dehnt im Diskriminierungsrecht unverändert den Schutz vor Ungleichbehandlungen aus. Dies kann dann aber auch nicht folgenlos für die deutsche Rechtsordnung bleiben. Die opferlose Diskriminierung, die möglicherweise dauerhaft doch zu einem Verbandsklagerecht führen muss, wie auch die Ausdehnung des Begriffs der Behinderung machen deutlich, dass sich die deutsche Rechtsordnung ganz konkret auf die Auswirkungen dieser Spruchpraxis wird einrichten müssen. Ein Stillstand ist im Diskriminierungsrecht nicht zu erkennen. Im Befristungsrecht scheint demgegenüber auf europäischer Ebene eine Phase der Konsolidierung erreicht. Kücük hatte viel bewegt, in den letzten Jahren war das BAG darum bemüht, diese Rechtsprechung in die deutsche Befristungssystematik zu implementieren. Für das Urlaubsrecht schließlich wird man der Einschätzung der Präsidentin des BAG, die Europarichter hätten es vom Kopf auf die Füße gestellt193, beipflichten. Gerade hier sind daher Anpassungen erforderlich. 191 Siehe aber Ricken, NZA 2014, 1361, 1362f. So im Ergebnis auch Bell, AiB 2014, 64, 66; differenzierter Forst, FA 2014, 226, 230. 193 Nach dem Bericht über die Jahrespressekonferenz Ingrid Schmidt, FAZ vom 12.2.2015. 192 46
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