Was soll ich nur tun?

Was soll ich
nur tun?
Wie REGA-Piloten erleben auch
Notfallärzte, Katastrophenhelfer oder
Feuerwehrleute täglich Situationen,
in denen sie blitzschnell richtig
entscheiden müssen. Für lange Überlegungen bleibt keine Zeit.
Quelle: Keystone
Die Wohnung kaufen oder mieten?
Zitronen- oder Erdbeereis? Zu zweit
umher reisen oder gleich Kinder kriegen? Das Leben ist eine Summe aus
Entscheidungen. Während uns die
kleinen meist leicht von der Hand
gehen und oft unbewusst getroffen
werden – bis zu 20.000 davon am
Tag – lassen uns die grösseren länger
zögern. Je mehr Optionen zur Auswahl stehen, desto schwieriger ist
die Entscheidung und desto unglücklicher werden wir. Denn: Viele Möglichkeiten bedeuten zwar mehr Freiheit, aber auch höhere Ansprüche und
eine grössere Angst davor, sich falsch
zu entscheiden. Was, wenn mir etwas
Besseres entgeht? Was wäre, wenn ich
mich anders entschieden hätte?
Wichtige Entscheidungen, denen wir
eine grosse Auswirkung auf unser Leben beimessen, schieben wir deshalb
gerne so lange wie möglich auf. Denn
je länger man überlegt, desto fundierter fällt die Entscheidung aus – oder?
Stimmt nicht, meint die Forschung.
Eine Verfechterin des Entscheidens ist
die amerikanische Philosophin Ruth
Chang. Auch sie findet es gut, vor
schweren Entscheidungen erst einmal
Informationen zu sammeln. Danach
aber endlose Pro- und Kontra-Listen
zu schreiben, hält sie für Irrsinn:
4
Das Gehirn 3/2015
Eine wirklich grosse Entscheidung sei
deshalb so schwer zu treffen, weil es
sehr gute Gründe für die eine wie die
andere Möglichkeit gebe. Daran ändert sich auch durch Grübeln nichts.
Es kommt der Punkt, an dem jedes
weitere Abwarten nur noch ein Aufschieben ist.
So viele Informationen wie nötig,
so viel Bauchgefühl wie möglich
Jede Entscheidung ist besser als keine
Entscheidung – weil dadurch neue
Wege auftauchen, sich neue Chancen
eröffnen und schnell auch weitere
Entscheidungen warten. Menschen
neigen dazu, die Konsequenzen ihrer
Handlungen im Voraus überzubewerten – die guten wie die schlechten. Was nach dem Entscheiden tatsächlich passiert, entspricht in den
seltensten Fällen dem, was wir uns
ausgemalt haben. Dafür fällt mit der
Entscheidung auch der Druck weg:
Die Konsequenzen sind meist leichter
zu tragen als die Entscheidung selbst.
Doch wie schaffen wir es, über unseren Schatten zu springen? Nur nicht
zu viele Informationen sammeln,
sondern stattdessen auf die Intuition
hören, meint Gerd Gigerenzer, Direktor des Max-Planck-Instituts für
Bildungsforschung und des Harding
Zentrum für Risikokompetenz. Dieses erforscht die Kunst des Entscheidens und den Umgang mit Risiken
und Unsicherheiten. Einem vagen
Bauchgefühl sollen wir demnach trauen, auch wenn rational alles gegen
eine Entscheidung spricht? So einfach ist es nicht. Auch unser Bauchgefühl ist nämlich nicht unabhängig,
sondern wird von einer Vielzahl von
Faktoren beeinflusst: von Hormonen,
bisherigen Erfahrungen, Vorurteilen,
spontanen Gefühlen, sogar der Tageszeit. Psychologen der Universität des
Saarlands haben gezeigt, dass unsere
Intuition in den meisten Fällen zu
der vertrauteren Möglichkeit neigt.
Muss unser Gehirn eine Entscheidung
treffen, sucht es in den ersten Sekundenbruchteilen nach allem, was ihm
bekannt vorkommt – und erst dann
nach weiteren Informationen. Auch
wenn es diese gesammelt hat, neigt
es zu der allerersten Einschätzung.
Dahinter steckt das Belohnungshormon Dopamin: Es wird ausgeschüttet,
wenn wir etwas Bekanntes wiedererkennen, und verschafft uns dafür
ein gutes Gefühl.
Die Entscheidung begrüssen
Die Kunst des Entscheidens besteht
also in einem guten Mix aus Verstand
und Gefühl. Dass das zuweilen alles
andere als einfach ist, bewies ein
Experiment der Stanford University
Ende der 90er-Jahre eindrücklich:
Unter dem Vorwand, ihr Gedächtnis zu testen, wurden Studenten gebeten, sich zwei bzw. sieben Zahlen
zu merken. Währenddessen wurden
sie an einem Buffet mit allerlei süssen
Bauen wir ein Haus? Studien zeigen:
Wer lange über grossen Entscheidungen grübelt, wird nicht schlauer.
Das spontane Bauchgefühl
ist mindestens ebenso wichtig.
Quelle: iStockphoto
5
Das Gehirn 3/2015
Köstlichkeiten vorbeigeschleust. Die
Chance, dass die Studenten zur Kalorienbombe griffen, stieg massiv an,
wenn sie sich sieben statt zwei Zahlen
merken mussten: Der Verstand war
mit der Aufgabe derart beschäftigt,
dass bei der Entscheidung für die Torte das Gefühl die Führung übernahm.
Um Denken und Fühlen gleichermassen Platz einräumen zu können,
macht es durchaus Sinn, sich einige
Tage Zeit zu lassen oder zumindest
einmal über die Sache zu schlafen. So
werden Einflüsse wie die momentane Gemütslage relativiert. Die besten
Entscheidungen scheinen wir ohnehin im Schlaf zu treffen. Dann aber
gilt: sich mutig und voll und ganz für
einen Weg entscheiden und dahinter
stehen. Grosse Entscheidungen gilt es
als Chance zu begreifen, mehr über
sich selbst zu erfahren: Was ist mir
wichtig? Wer möchte ich sein? Das
ist es auch, was vielen Menschen im
Grunde Angst macht: Entscheidungen
kann ihnen niemand abnehmen. Sie
müssen selbst getroffen und für sich
selbst begründet werden – und zeigen
so, was für ein Mensch man ist. Dass
uns heute so viele Möglichkeiten offen
stehen, ist ein Geschenk. Gäbe es nur
leichte Entscheidungen, würden sich
schliesslich alle immer gleich entscheiden – und das Leben wäre halb
so spannend.