Das Ende des deutschen Sozialmodells Martin Seeleib-Kaiser WSI-Herbstforum 2015, 26-27. November 2015, Berlin Gliederung § Stand der internationalen Forschung § Methodik § Historischer Überblick § Policy-Transformationen § Erklärungsansätze State of the Art § § § § Traditionell wird der bundesdeutsche Sozialstaat als idealtypischer konservativer Wohlfahrtsstaat kategorisiert (EspingAndersen 1990; 1999) Deutschland Ende der 1990er Jahre „kranker Mann Europas“ (Economist 1999); Bundesrepublik zu umfassenden Reformen weitgehend unfähig (vgl. Heinze 1998; Kitschelt/ Streeck 2003; Leibfried/Obinger 2003; Schmidt 2002). Bild „erstarrter Wohlfahrtsstaatslandschaften“ überein (EspingAndersen 1996). Seit Ende des Jahrzehnts: Konsens eines signifikanten und transformativen Wandels der politischen Ökonomie und des Wohlfahrtsstaates seit der Jahrhundertwende (vgl. Streeck 2009; Hinrichs 2010). § Forschungsfragen: 1) 2) War der Wandel in Tat “transformativ”? Wenn ja, wie können wir diesen Wandel erklären? Methodik § Referenzzeitpunkt: 1980 Grenzen der Wohlfahrtsstaatsexpansion (growth to limits; Flora 1986) § Modell Deutschland (Markovits 1982) § ideal-typische Kategorisierung des bundesdeutschen Wohlfahrtsstaatsregimes basiert auf Daten von 1980 (EspingAndersen 1990; 1999); Langzeitstudie belegt, wonach Wohlfahrtsstaatsregime sich um etwa 1980 herausgebildet hatten (Danforth 2014) § Methodik § Konzepte De-Kommodifizierung § De-Familialisierung § § Institutionelle Variablen: Lohnersatzraten, maximale Dauer des Leistungsbezugs und Abdeckung § Outcome Variablen: Armut und Ungleichheit; atypische Beschäftigung, Arbeitslosigkeit, Frauenerwerbstätigkeit Historischer Überblick § § § § Spaltung des Sozialstaates (Leibfried/Tennstedt 1985) Sozialversicherungsprinzip und beitragsbezogene Leistungen prägend für die Absicherung von ArbeitnehmerInnen; Sozialhilfe für nicht-erwerbstätige Bedürftige Stark ausgeprägtes männliches Ernährermodell (Lewis 1992). Wichtige Elemente der Kontinuität seit Bismarck. Wesentliche Meilensteine: § Rentenreform 1957 § Arbeitsförderungsgesetz 1969 § Deutsche Vereinigung (Ritter 2007). Historischer Überblick § § § Rentenreform von 1957: Leitmotiv – Lebensstandardsicherung (netto Lohnersatzrate für Eckrentner von etwa 70 Prozent in den 1970er Jahren erreicht). Arbeitsförderungsgesetz von 1969: Ziel – “unterwertige Beschäftigung” und Arbeitslosigkeit zu vermeiden; in den 1970er Jahren nahezu 90 Prozent aller Beschäftigungsverhältnisse mit Tarifbindung. Lebensstandardsicherung bei (kurzfristiger) Arbeitslosigkeit durch weitgehenden Berufsschutz und einer Nettolohnersatzrate von 68 Prozent (58 Prozent bei Arbeitslosenhilfebezug) Trend zum ‘Quasi-Universalismus’ (Leisering 2009). Historischer Überblick § § § Familienpolitik war transfer-intensiv und auf die Förderung der Familie als Institution ausgerichtet – ganz im Sinne des starken männlichen Ernährermodells (Lewis 1992). 1954: Einführung von Kindergeld für Familien mit mehr als 2 Kindern Öffentliche und öffentlich geförderte Kinderbetreuung residual (1975 weniger als 1 Prozent der Kinder im Alter von 0<3 Jahren und 66 Prozent der Kinder im Alter von 3-6.5 Jahren) Historischer Überblick § 1980er Jahre: Fiskalkonservatismus und Haushaltskonsolidierung § Implizite und explizite Entrechtlichung von Langzeitarbeitslosen (prime-working age); § Verlängerung der Arbeitslosengeldbezugsdauer für ältere Arbeitslose und Ausweitung der Frühverrentungs– möglichkeiten (stufenweise Rückführung ab 1992) § Einführung des Erziehungsurlaubs und Erziehungsgeldes (1986) § § Deutsche Vereinigung 1990 § Weitgehende Übertragung des westdeutschen Sozialmodells auf die neuen Bundesländer Historischer Überblick § Deutsche Vereinigung: Entscheidung die Vereinigung weitgehend ohne Einkommenssteuererhöhungen zu finanzieren § Hohe Arbeitslosigkeit und weitreichende Frühverrentungen belasten die Sozialversicherungssysteme – umfassende West-Ost Transfers notwendig – ein Jahrzehnt nach der Vereinigung beliefen sich diese noch auf 25.8 Milliarden EURO (2001) (Bleses/Seeleib-Kaiser 2004; Seeleib-Kaiser 2007). § Signifikanter Anstieg der Sozialversicherungsbeiträge § Sozialversicherungsbeiträge in Prozent des Bruttolohns: 1980-2010 45.00 40.00 35.00 30.00 25.00 20.00 Source: BMAS 2011: 7.7. Sozialstaatsreformen § Die Rentenreform sowie die Arbeitsmarktreformen der frühen 2000er haben den Pfad zum “QuasiUniversalismus” umgekehrt und erneut den institutionellen Dualismus verstärkt (Seeleib-Kaiser et al. 2012). § Die Familienpolitik wurde weitgehend von einer transfer-intensiven auf eine beschäftigungs– orientierte Familienpolitik umgestellt (Seeleib-Kaiser 2010; Fleckenstein/Seeleib-Kaiser 2011). Rentenreform § Bis Ende der 1990er Jahre weitgehend inkrementale Reformen (Ebbinghaus 2006). § Riester Reform: Reduzierung der Lohnersatzrate für zukünftige Rentner von 70 auf etwa 52 Prozent und Teilprivatisierung (Umsetzung bis 2030 [Leisering 2011]). § Die zeitlich gestreckte Teilprivatisierung ermöglicht eine sog. Schichtung (layering), wonach das System der gesetzlichen Rentenversicherung über Zeit abgeschmolzen wird, jedoch nur jene Rentner, die in der Lage sind eine betriebliche oder private Alterssicherung aufzubauen, potentiell eine kombinierte Lohnersatzrate von 70 Prozent erzielen können. Rentenreform § Dualismus: Tiefe: Vergleich der prospektiven Lohnersatzraten der Alterssicherung für gegenwertige ArbeitnehmerInnen § Reichweite: Verbreitung betrieblicher Absicherung (SeeleibKaiser et al. 2012). § § § Ende der Lebensstandardsicherung für viele: 2030 wird ein Arbeitnehmer mit durchschnittlichem Lohn 37 Beitragsjahre benötigen, um eine Altersrente auf dem Niveau der Grundsicherung im Alter zu beziehen (Schmähl 2007) – Altersarmut ist vorprogrammiert (OECD). Das layering der gesetzlichen und betrieblichen bzw. Privaten Alterssicherung wird langfristig zu einem Systemwechsel führen Betriebliche Rentenabsicherung nach Industriesektor Dtld/USA (Privatwirtschaft) Branche 2001 2005 2011 USA 2010 Industrieller Sektor Produktionsgüterindustrie 43 73 63 * 65 Baugewerbe 22 32 42 45 Dienstleistungssektor Kredit/Versicherungen 76 Handel/Handelsvermittlung/ Reparatur 27 Grundstücks- und Wohnungswesen/andere Unternehmensdienstleistungen 16 89 84 82 47 48 44 28 40 * 37 Gastgewerbe 10 26 26 12 Gesamt 38 52 50 42 Sektorabgrenzung basiert auf nationalen Definitionen; * nicht mit Vorjahren vergleichbar, da Definitionsänderung. Quelle: Seeleib-Kaiser 2014 Netto-Lohnersatzraten der Altersversorgung (Average Worker; Basisjahr 2012) Lohnersatzrate Lohnersatzrate der staatlichen der staatlichen Altersversorgung und freiwilligen betrieblichen Altersversorgung Deutschland 55,3 76,4 Vereinigte Staaten 44,8 88,9 Quelle: OECD Rentenmodelle (www.oecd.org/pensions/pensionsataglance.htm) Arbeitslosenversicherung § Hartz Reformen Reduzierung der maximalen Bezugsdauer von 32 auf 18 (24) Monate; Regelbezugsdauer maximal 12 Monate; § Zusammenlegung der Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zum neuen Arbeitslosengeld II auf Sozialhilfeniveau; (Reduzierung der netto Lohnersatzrate von 54 auf 17 Prozent für allein–stehende Arbeitslose mit vorherigem Durchschnittsverdienst) – jegliche Arbeitsgelegenheit ist zumutbar § Für Kurzzeitarbeitslose keine signifikanten Veränderungen § Verstärkter Dualismus § Reformen beschleunigen den Trend der Entrechtlichung – Anteil der Empfänger von Versicherungsleistungen niedriger als in den USA (Seeleib-Kaiser et al. 2012) – extrem hohes Armutsrisiko unter Arbeitslosen (EU-SILC 69%). § Anteil der Arbeitslosen mit Versicherungsleistungen D/USA (1971-2013) 80% 70% 60% 50% 40% 30% 20% Germany United States (Regular UI) 10% 0% United States (All UI including Extra Benefits) Quelle: Seeleib-Kaiser et al. 2012; Bundesagentur für Arbeit (http://statistik.arbeitsagentur.de/Navigation/Statistik/Statistiknach-Themen/Zeitreihen/Zeitreihen-Nav.html) Atypische Beschäftigung Atypische Beschäftigung liegt nach OECD Angaben in Dtld. bei knapp 40% Niedriglohnbeschäftigung* Angaben in Prozent 1996 2000 2006 2008 2009 2010 Deutschland 13,6 15,9 17,5 21,5 20,2 20,5 USA 24,7 24,2 24,5 24,8 25,3 25,1 *Niedriglohnbeschäftigung wird definiert als der Anteil der Arbeitnehmer mit weniger als zwei Dritteln des Medianeinkommens aller abhängig Beschäftigten. Quelle: OECD Employment Outlook 2008, 2010, 2011, 2012. Familienpolitik § Reformen in den 2000er Jahren: Einführung eines einkommensbezogenen Elterngeldes (65% Nettolohns; maximal €1,800 pro Monat) für die Dauer von 12 Monaten (zwei zusätzliche Partnermonate) § massive Ausweitung der Kinderbetreuung für Kinder zwischen 1 und 3 Jahren – seit August 2013 Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz. § Rekalibrierung: vom transfer-intensiven zum beschäftigungsorientierten Ansatz in der Familienpolitik § 2 Family Policy (R)evolution (1980-2008)? SOCIAL DEMOCRATIC Non comprehensive/ residual family policy along all dimensions 1 Swe4 Comprehensive Nor4 Ost4 child care, long Fin4 duraBon of Fin3 Fra4 Swe3 leave and high Fra3 Ost3 replacement rates NZ3 Fin2 Fra2 Swe2 Ger4 -1 dim2 0 RADICALS & LIBERALS Ger3 Nor3 Medium childcare services, medium-‐ long duraBon of leave and medium replacement rates, but high child allowance UK4 Aus4 Ost2 Den3 Net2 NZ4 Swi4 Ire3 Swi3 UK2 Can2 Net3 Net4 Den2 Ire4 UK3Can3 Jap3 Bel2 Ger2 Ita4 Bel4 Bel3 Ita3 Jap4 Ita2 Den4 Nor2 Can4 Low-‐medium comprehensive childcare services and short-‐medium duraBon of leave -2 CHRISTIAN DEMOCRATIC Aus2 US2 US3 NZ2 US4 Swi2 Jap2 Ire2 Aus3 -2 -1 0 dim1 1 2 Zusammenfassung des Politikwandels 1980 1990 2000 2010 Outcome Variables Poverty Rate (40 % of median) 2.6 3 4 4.6 Poverty Rate (60 % of median) 10.6 11.8 12.7 16.4 Inequality (Gini) 0.244 0.258 0.266 0.286 49.6 52.2 58.1 66.1 Unemployment Rate 3.8 7.2 10.7 8.6 Long-term Unemployment Rate 39.3 46.3 51.5 45.4 51 42 44 32 N/A 13.9 15.9 20.5 Female Employment Rate Percent of Unemployed Receiving Unemployment Insurance Benefit Low-wage Employment (in percent of total) Zusammenfassung des Politikwandels 1980 1990 2000 2010 Institutional Variables Pensions Pension Replacement Rate / single 73 76 73 Pension Prospective Net Replacement Rate (base year 2010) 61 56 Unemployment Compensation Unemployment Insurance / Maximum Duration in Months 12 32 Unemployment Compensation Net Replacement Rate / Initial Period (single/average wage) Unemployment Compensation Net Replacement Rate / Long-term Unemployed (single/average wage) 32 12 (24) 60 59 54 17 Zusammenfassung des Politikwandels 1980 1990 2000 2010 Family Policy Parental Leave / Duration in Months Parental Leave Benefit (per month) Childcare (no of places as a percentage of age group 0<3/3-6 yrs) 0 36 36 0 € 307 € 307 1.6/69.3 1.8/69.0 7.0/89.5 36 65% of net wage max €1800 27.6/93.4 Notes: For Gini and poverty rates data is for 1981, 1989, 2000 and 2010; low-wage employment is for the years 1996, 2000 and 2010; long-term unemployment 1980=1983; childcare 1980=1985; 1998=2000; 2010=2012. Sources: Poverty and Inequality: LIS 2013; Unemployment rate: BMAS (2011); Employment/ long-term unemployment Statistics -OECD Employment and Labour Market Statistics (available at http://stats.oecd.org/BrandedView.aspx?oecd_bv_id=lfs-data-en&doi=data-00310-en#); Pension Replacement Rate -- Scruggs et al. 2014; Pension Prospective Replacement Rate -- OECD 2012; Recipiency rate: own calculations based on annual average number of unemployed and unemployment insurance benefit recipients from BMAS 2012; Unemployment Insurance Replacement Rates -OECD Tax-Benefit Models (http://www.oecd.org/els/benefits-and-wages-statistics.htm); childcare -- Bleses/Seeleib-Kaiser 2004; Statistisches Bundesamt 2012. ni te U d Po rtu l ga ly Liberal Ita n ce ai re e Sp G m y 50 Social democratic do ng Ki s nd d an G er m rla he et N nl an Fi en ed 0 Conservative Sw k ar ria st m en D Au ce Fr an nd la m iu lg Ire Be 100 Clusteranalyse: Outcomes Mediterranean Countries Erklärungsansätze § Wie können wir den Politikwandel erklären? Machtressourcenansatz und Parteiendifferenztheorie (Korpi 1983; Esping-Andersen 1990; Huber and Stephens 2001; Brady 2009); § Varianten des Kapitalismus (Estévez-Abe et al. 2001; Mares 2003). § Institutionelle Erklärungsansätze: Pfadabhängigkeit (Pierson 1994), Semi-Souveränität und Vetospieler-Theorem (Tsebelis 2002; Katzenstein 1987; Schmidt 2002) § Erklärungsansätze § § § Deutsche Vereinigung als kritische Weggabelung (critical juncture; Cappocia/Kelemen 2007). Mahoney (2002: 6) definiert eine ‚critical juncture‘ als “Entscheidungspunkt bei dem eine von mehreren Optionen gewählt wird”, die in der Folge einen pfadabhängigen Prozess einleitet, der wiederum zukünftige Wahlmöglich– keiten einschränkt (Capoccia/Kelemen 2007: 348). Die dt. Vereinigung im Wesentlichen ohne Einkommens– steuererhöhung zu finanzieren, hat “Deutungsmuster” ermöglicht (Gerhards 1995), die bis dato vorherrschende Annahmen über den “wirtschaftlichen Wert der Sozialpolitik” (Briefs 1930) abgelöst und zu einer Neudefinition der Zielsetzung in der sozialpolitischen Reformdiskussion geführt haben. Erklärungsansätze § Deutungsmuster: § Renten- und Arbeitslosenversicherung: Stabilisierung und Reduzierung der Lohnnebenkosten zum Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit (Standort- und Globalisierungsdebatte der 90erJahre) § Familienpolitik: nachhaltige Familienpolitik zur Förderung und besseren Nutzung von Humankapital; besonders wichtig aufgrund des Fachkräftemangels (Demographiediskurs, gekoppelt mit dem Diskurs, wonach die Sozialpolitik stärker ‘sozialinvestiv’ ausgerichtet werden sollte) Schlussbemerkung § Die Bundesrepublik kann nicht mehr als ideal-typischer konservativer Wohlfahrtsstaat charakterisiert werden: bei der Absicherung der Risiken Arbeitslosigkeit und Alter hat sich die bundesdeutsche Sozialpolitik deutlich dem liberalen US-amerikanischen Modell angenähert § Im Bereich der Familienpolitik können wir eine ‘sozialdemokratische’ Wende identifizieren § § Diese doppelte sozialpolitische Transformation kann durch die gängigen Ansätze in der Politikwissenschaft (PRA, VoC, institutional explanations [path dependence, veto player theorem]) nicht erklärt werden. Schlussbemerkung § § § § Neue Deutungsmuster, die zu einer Neubestimmung des wirtschaftlichen Werts der Sozialpolitik geführt haben Umfassende gesetzliche Absicherung der Risiken Arbeitslosigkeit und Alter nicht länger von ökonomischen Nutzen für die politische Ökonomie der Bundesrepublik Ausgebaute Familienpolitik als wirtschaftlicher Nutzen für die bundesdeutsche Ökonomie zu Beginn des 21. Jahrhunderts (Förderung und bessere Nutzung des Humankapitals) Staatliche Familienpolitik als ‘politics for the market’
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