45-16 Kein Schadensersatz bei Sturz im Linienbus

Presse
Landgericht Hannover
07.04.2016
LANDGERICHT HANNOVER:
Kein Schadensersatz bei Sturz im Linienbus (10 O 75/15)
Mit am 11. März 2016 verkündetem Urteil hat die 10. Zivilkammer des Landgerichts Hannover
durch den Unterzeichner als Einzelrichter die Klage einer Frau auf Schadensersatz und
Schmerzensgeld im Zusammenhang mit einem Sturz im Linienbus der Beklagten abgewiesen.
Dem Rechtsstreit lag im Wesentlichen folgender Sachverhalt zugrunde:
Die seinerzeit 48-jährige Klägerin bestieg am Morgen des 08. Juli 2014 den Linienbus der
Beklagten an der Haltestelle Hölty-Gymnasium in Wunstorf. Nach Vorzeigen der Fahrkarte
ging sie mit einer Tüte in jeder Hand an mehreren - der Behauptung nach - belegten
Sitzplätzen vorbei durch den Mittelgang des Busses und steuerte einen freien Sitzplatz im
Bereich um die vierte Sitzreihe an. Zu dieser Zeit stand der Bus noch an der Haltestelle. Als
der Fahrer des Busses anschließend - wie die Klägerin meinte: ruckartig - anfuhr, um die
Haltestelle zu verlassen, stürzte die Klägerin im Mittelgang, da sie keinen sicheren Halt hatte.
Der Fahrer hielt den Bus daraufhin nicht an, sondern fuhr bis zur nächsten Haltestelle weiter
und kontaktierte dort den Rettungsdienst. Nach dessen Eintreffen wurde die Klägerin
erstversorgt und sodann zu einem Arzt gebracht. Infolge des Sturzes erlitt die Klägerin
erhebliche Schmerzen und zog sich eine Quadrizepssehnenruptur unter vollständigem Abriss
der Patella rechts zu, die im Rahmen eines stationären Krankenhausaufenthaltes operativ
sowie im Anschluss daran für sechs Wochen postoperativ durch Tragen einer Orthese
behandelt worden ist. Mit ihrer Klage begehrte die Klägerin im Wesentlichen ein
Schmerzensgeld von 5.000,00 Euro sowie verletzungsbedingte Mehraufwendungen von
5.827,90 Euro.
Die 10. Zivilkammer des Landgerichts Hannover hat die Klage abgewiesen, da
verschuldensabhängige Ansprüche mangels Pflichtverletzung des Busfahrers nicht bestünden
und eine Gefährdungshaftung wegen anspruchsausschließenden Mitverschuldens der
Klägerin nicht gegeben sei.
Aufgrund der durchgeführten Beweisaufnahme konnte die klägerische Behauptung eines
besonders ruckartigen Anfahrens des Busses zur Überzeugung der Kammer entkräftet
werden. Der Busfahrer hatte aus Sicht der Kammer überzeugend ausgeführt, das Gaspedal
Nr. 45/16
/ Dr. Stephan Loheit
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beim Anfahren nur leicht angetippt zu haben, wodurch die Haltestellenbremse gelöst worden
und der Bus nur mit dem sog. Kraftschluss des Leerlaufes ohne weiteres Gasgeben
geradeaus angefahren sei. Erst nach Verlassen der Haltestelle und nach dem Sturz der
Klägerin habe er Gas gegeben. Im unmittelbaren Haltestellenbereich habe er wegen des
nahen Gymnasiums stets mit über die Straße laufenden Schülern rechnen müssen.
Der durch den Kraftschluss des Leerlaufes bei Linienbussen entstehende allgemeine
Anfahrtruck sei zudem üblich. Hiermit müsse ein Fahrgast grundsätzlich rechnen und sein
Verhalten darauf einstellen. Tut er dies nicht, begründe dies keinen Schuldvorwurf.
Ebenso sei dem Busfahrer nicht vorwerfbar, dass er sich auf die mit dem Anfahren
verbundenen Tätigkeiten konzentriert und die Klägerin nicht weiter beobachtet hatte. Der
Fahrer eines Linienbusses dürfe aus Sicht der 10. Zivilkammer darauf vertrauen, dass
Fahrgäste im eigenen Interesse ihrer Verpflichtung nachkommen, sich stets einen festen Halt
zu verschaffen. Etwas anderes gelte ausnahmsweise dann, wenn für den Busfahrer leicht
erkennbare Anhaltspunkte bestehen, dass der zugestiegene Fahrgast nicht in der Lage sein
könnte, den normalerweise zugrunde zulegenden Anforderungen, sich einen sicheren Halt zu
verschaffen, zu genügen. Nur in solchen Fallkonstellationen wie bei einer ohne weiteres
erkennbaren schweren Behinderung, die dem Fahrer eine Vorsichtsmaßnahme geradezu
aufdrängen muss, könne verlangt werden, dass er sich vor dem Anfahren darüber
vergewissert, dass der Fahrgast nicht der Gefahr ausgesetzt ist, zu stürzen. An solchen
Anhaltspunkten fehle es hier jedoch: Die Klägerin war weder bewegungsmotorisch
eingeschränkt noch habe ihr mittleres Alter zu erhöhter Aufmerksamkeit gezwungen. Auch
eine „Behinderung“ der Klägerin durch ein (etwaig) für den Fahrer erkennbar erhebliches
Gewicht der Einkaufstüten sei nicht als relevante Behinderung anzusehen. Es handele sich
insoweit nämlich in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nicht
um eine zwingende, unbehebbare Behinderung, welcher nur durch Rücksichtnahme seitens
des Fahrers abgeholfen werden konnte. Vielmehr hätte sich die Klägerin im Interesse ihrer
eigenen Sicherheit beispielsweise mit einer Tüte zu dem angestrebten Sitzplatz begeben und
sich dabei mit einer Hand festhalten, sodann die Tüte abstellen und die zweite Tüte nachholen
können, oder aber sich beim Fahrer erkundigen können, ob der Bus noch so lange halten
werde, dass sie mit beiden Tüten den angestrebten Sitzplatz erreichen werde. Konnte die
Klägerin daher selbst in zumutbarer Weise für ihre Sicherheit sorgen, so habe sich für den
Busfahrer nicht die Überlegung aufdrängen müssen, dass die Klägerin beim Anfahren
möglicherweise stürzen werde. Daher sei er nicht verpflichtet gewesen, sie nach Vorzeigen
des Fahrausweises weiter zu beobachten. Hielte man den Fahrer für verpflichtet, derartige
Beobachtungen bei jeglichen Fahrgästen mit Gepäckstücken anzustellen, auch wenn sich kein
Hinweis auf eine unbehebbare Behinderung des Fahrgastes ergibt, so würde das in
unvertretbarem Maß seine Aufmerksamkeit von der Beobachtung derjenigen Vorgänge
ablenken, welche er im Interesse der Verkehrssicherheit im Auge behalten muss.
Aufgrund der vorgenannten Erwägungen scheide schließlich auch eine verschuldensunabhängige Haftung der Beklagten nach dem Straßenverkehrsgesetz aus. Das ganz
überwiegende Eigenverschulden der Klägerin an dem Sturz und den daraus resultierenden
Folgen lasse die von der Beklagten zu vertretende Betriebsgefahr des Linienbusses
vollständig zurücktreten und führe zur alleinigen Haftung der Klägerin für die Folgen des
Unfalls.
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Fahrgästen im öffentlichen Personennahverkehr ist daher im eigenen Interesse angeraten,
stets unmittelbar nach Zustieg festen Halt zu suchen.
Das Urteil ist nicht rechtskräftig.
(Az.: 10 O 75/15)
(Stichwort: "Sturz im Linienbus“)
Dr. Stephan Loheit
Richter am Landgericht
Medienmanager
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Das Landgericht Hannover - allgemeine Informationen (Februar 2016):


Bedienstete insgesamt:
davon Richterinnen und Richter:

Landgerichtsbezirk:
o Amtsgerichte Burgwedel, Hameln, Neustadt a. Rbge., Springe, Wennigsen

Strafrecht:
o 11 große Strafkammern
 1 Schwurgericht, zugleich auch allgemeine Strafkammer
 8 allgemeine Strafkammern
 3 Jugend- und Jugendschutzkammern
o 7 Strafvollstreckungskammern
o 7 kleine Strafkammern, davon 1 zugleich als kleine Jugendkammer
o 3 Kammern für Bußgeldsachen, davon 2 als Jugendkammern

Zivilrecht:
o 23 Zivilkammern (erste und zweite Instanz)
o 7 Kammern für Handelssachen

Zahlen und durchschnittliche Verfahrensdauer am Landgericht:
o Strafsachen:
2013
Neueingänge insgesamt :
1.597
davon 1. Instanz:
185
davon Schwurgericht:
25
davon 2. Instanz:
857
davon Beschwerden:
555
216
89
Erledigungen (ohne Beschwerden):
1. Instanz:
davon Schwurgericht:
Erledigungsdauer (Monate):
davon Schwurgericht:
2. Instanz:
Erledigungsdauer (Monate):
o Zivilsachen:
Neueingänge insgesamt :
davon 1. Instanz:
davon 2. Instanz:
davon Beschwerden:
Erledigungen (ohne Beschwerden):
1. Instanz:
Erledigungsdauer (Monate):
2. Instanz:
Erledigungsdauer (Monate):
2014
1.662
191
21
812
659
2015
1.701
169
20
823
709
2013
181
20
7,3
3,5
803
5,7
2014
186
24
9,4
4,2
812
5,9
2015
158
13
7,4
3,4
832
5,7
2013
8.557
6.122
1.089
1.346
2014
8.011
5.585
1.211
1.215
2015
8.689
6.441
1.122
1.126
2013
6.548
11,3
1.164
5,3
2014
5.871
10,6
1.131
5,1
2015
5.817
10,6
1.177
5,3
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Internetseite
des
Landgerichts
Hannover
unter
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Rubrik
„Aktuelles
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Medieninformationen“:
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