1 SWR2 Tandem - Manuskriptdienst Amy gegen Schwanensee Die

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SWR2 Tandem - Manuskriptdienst
Amy gegen Schwanensee
Die Primaballerina Anna Koblova
Autor:
Thomas Franke
Redaktion:
Karin Hutzler
Sendung:
Montag, 04.04.16 um 19.20 Uhr in SWR2
Wiederholung:
Dienstag, 05.04.16 um 10.05 Uhr in SWR2
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MANUSKRIPT
Atmo:
O-Ton Anna:
Übersetzerin:
Ich hatte den Traum, an diesem Theater zu tanzen. Auf dieser Bühne zu stehen, an
ihrer Geschichte teilzunehmen. Ich darf auf die Bühne, ich spüre Glück und ich
bekomme dafür noch Geld. Das ist meine Arbeit. Und ich bin natürlich froh, dass es
so gekommen ist.
O-Ton Anna:
Übersetzerin auf O-Ton:
Ich war drei Jahre in Mutterschaft. In der Zeit habe ich eigene Stücke gemacht,
zeitgenössische. Und im November bin ich zurückgekommen. Vorher habe ich lange
nachgedacht. Ich hoffe, dass ich beides miteinander vereinbaren kann: meine
Soloprojekte und die Arbeit am Bolschoi-Theater. Obwohl ich hier wie da viel
erreichen will. Doch dafür brauche ich viel Kraft und Zeit. Und dann ist da noch mein
Kind. Aber bisher klappt es ganz gut.
Sprecher:
Anna Koblova, Jahrgang 1983. An die Ballettschule des Bolschoi Theaters kam sie
im Alter von 10 Jahren.
O-Ton Anna:
Übersetzerin:
Ich bin bald Rentnerin. Die Zeit bis dahin muss ich nutzen. Hier passiert alles sehr
schnell. In vier Jahren bin ich nicht mehr jung. Dann ist es vorbei. Wie beim Sport.
Atmo Ballettklasse
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O-Ton Anna:
Übersetzerin:
Es gibt halt nicht genug Platz für alle. Wenn du eine Rolle bekommst, bekommt
jemand anders keine. Dadurch entsteht natürlich eine gewisse Spannung. Aber ich
habe hier Leute, mit denen ich gern zusammen bin, Freunde vom Theater, und ich
halte mich fern von den Gesprächen und von den Leuten, mit denen ich unschöne
Erlebnisse hatte. Mir gefällt es jetzt sehr gut im Theater.
Sprecher:
Einer der vielen langen Flure im Bolschoi Theater. Hinter einer Tür ein Übungsraum.
Spiegel an den Wänden, Stangen, ein Klavier. Auf dem Boden sitzt eine junge Frau
mit kurz rasierten Haaren und Tätowierungen. Die Choreographin von „Amy“. Anna
probt Amy. Amy Winehouse. Ihr eigenes Stück.
O-Ton Anna:
Übersetzerin:
Ich habe von Amy Winehouse' Schaffen erst erfahren, als sie gestorben war. Wir
waren 2008 bei einem Gastspiel in London. Da lebte sie noch. Es gab die
Möglichkeit, ein Open Air Konzert von ihr zu besuchen. Aber ich wusste damals
überhaupt nicht, wer Amy Winehouse ist. Ich sah in der ganzen Stadt
Ankündigungen. Erfuhr, dass sie eine Skandalsängerin ist, die sich die ganze Zeit
prügelt, die ständig betrunken ist, die in furchtbar provokanten Kleidern auftritt, und
ich hatte den Eindruck, das ist ein Mensch, dessen Karriere auf Skandalen beruht.
Für mich war es unvorstellbar, hinzugehen, und zu schauen, worum es geht, was das
für ein Mensch ist. Und ich hatte auch nicht die Zeit. Als ich dann ihren Song
„Tribute“ hörte, hat mich das sehr gepackt. Ich hatte sofort den Wunsch, ein Stück zu
dem Thema zu machen.
Atmo
O-Ton Anna:
Übersetzerin:
Während der Arbeit an diesem Stück über Amy Winehouse passierte auch in
meinem Leben so eine starke Geschichte mit Trennung und Rückkehr.
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Ab einem bestimmten Moment war die Arbeit an diesem Stück für mich wie ein
Besuch beim Psychologen. Und nach der Premiere hatte ich das Gefühl, dass ich
mich von dem Schmerz befreit habe, den ich in mir hatte. Amy sagte in einem
Interview, dass all ihre Songs autobiographisch sind. Genauso geht es mir mit
diesem Stück. Es ist gut, dass da keine technisch besonders raffinierten Momente
drin sind. Es geht mehr vom Herzen aus, von einer Wahrheit, die ich im Leben selbst
erfahren habe.
Atmo
Sprecher:
Sommer 2013. Drei Stuhlreihen. Anna tanzt Amy. Die Vorstellung ist ausverkauft.
Etwa 60 Zuschauer. Der Eintritt kostet umgerechnet 5 Euro. Anna tanzt Amy, wenn
sie einen günstigen Raum findet und Tänzer, die für wenig Geld mitmachen.
Anna tanzt Amy. Strahlend, auf High Heels, im Cocktailkleid, umgarnt von jungen
Tänzern.
Anna am Boden. Barfuß. Wie Amy allein.
Anna wie Amy wieder stehend. Mit einem Glas Rotwein.
Atmo hoch: Glas zerspringt an der Wand.
Sprecher:
Anna tanzt barfuß durch die Scherben.
Anna tanzt Amy am Ende, kaputt wie das Rotweinglas.
O-Ton Anna:
Übersetzerin:
Man muss ja Geld verdienen. Denn das Leben in Moskau ist teurer als in Berlin.
Allein für die einfachsten Lebensmittel geben wir rund 20.000 Rubel aus.
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Sprecher:
20.000 Rubel sind umgerechnet etwa 400 Euro. Anna verdient zwischen 800 und
1.200 Euro. Ihr Mann ist freiberuflicher Kameramann, je nach Auftragslage, verdient
er noch einmal etwa das Doppelte. Annas Gehalt geht voll für die Miete drauf.
O-Ton Anna:
Übersetzerin:
Das Bolschoi-Theater ist staatlich. Das bedeutet ein festes Gehalt und sichere Arbeit.
Mir scheint, dass die Lage im Land bald schwierig wird. Der Euro steigt. Die
Ressourcen, die der Staat ausbeutet, gehen zu Ende, es gibt keine Produktion. Ich
glaube, dass es in Russland eine große Krise geben wird, und wie wir da raus
kommen, ist mir schleierhaft. Ich bin ein Kind der Perestroika, ich habe keine Angst
vor Schwierigkeiten, vor Hunger, wir können Gemüse anpflanzen.
Mit dem zeitgenössischen Tanz ist es wie mit einem hungrigen Wolf. Du musst weit
laufen, um etwas zu essen zu finden. Und je weiter du läufst, desto hungriger wirst
du.
Atmo Cafeteria
Sprecher:
Mittagspause in einer Cafeteria. Am Tresen gibt es Salat, Teigtaschen, Pfannkuchen,
fette saure Sahne, Fleisch mit Kartoffeln. Borschtsch.
Anna isst Salat.
O-Ton Anna:
Übersetzerin:
Das war das erste und einzige Mal, dass ich heute gesessen habe. Jetzt holen wir
schnell mein Kind ab, meine Ljudmila, dann gehen wir hier her zurück, zur
Durchlaufprobe, und dann ist es auch schon 10 Uhr abends.
Wir sollten uns beeilen, die Metro wird voll sein. Ich kenne alle Abkürzungen.
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O-Ton Anna:
Übersetzerin:
Sieht nach Frühling aus. Zwei Wochen war es dunkel, Schnee und Regen. Da wollte
man ständig schlafen. Und ich hatte immer schlechte Laune. Das lag schwer auf der
Seele, richtig erdrückend.
Oh, viertel vor vier. Ich ruf mal schnell an.
In Eile bin ich nur, wenn ich von A nach B muss. Alles andere mache ich gern
intensiv und langsam. Ich bin in der Beziehung nicht sehr zeitgemäß.
Wahrscheinlich, weil ich eine Ballettausbildung habe. Die dauert viele Jahre und ist
sehr gründlich. Und deshalb bin ich vielleicht nicht besonders flexibel und schnell.
Sprecher:
Bis vor kurzem hat Anna mit ihrem Mann und der kleinen Tochter außerhalb
Moskaus gewohnt. Jeden Tag fuhren sie erst mit dem Vorortzug, dann mit der Metro
ins Zentrum. Jeden Tag verbrachten sie mehrere Stunden im Verkehr. Das ist normal
in Moskau.
Zur Zeit wohnt die kleine Familie in zwei Zimmern mit Küche und Bad in einem der
prunkvollen Hochhäuser aus der Stalinzeit. Barikadnaja heißen das Haus und die
Metrostation.
Atmo:
Sprecher:
Im Treppenhaus bröckelt Putz, Membranen von Abhörmikrophonen liegen blank.
Atmo:
Sprecher:
Die Klavierlehrerin Marina Alexandrowna kommt. Annas Tochter Ljudmila bekommt
Klavierstunden.
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O-Ton Anna:
Übersetzerin:
Ich bin wirklich eine glückliche Mutter, denn der Kindergarten im Bolschoi Theater
bewahrt die besten Dinge aus dem Sowjetsystem. Sie haben strenge Regeln.
Rituale, die immer eingehalten werden, Feiern. Die Erzieherinnen sind dabei aber
voller Liebe für die Kinder.
Sprecher:
Seit dem Ende der Sowjetunion hat es keine Reform des Erziehungswesens
gegeben.
O-Ton Anna:
Übersetzerin:
Willst du jetzt essen? Iss mal nach der Stunde. Jetzt? Vielleicht nach der Stunde Ein Stück jetzt, ein Stück danach.
Sprecher:
Auch die russische Gesellschaft hat Schwierigkeiten mit Abweichungen von der
Norm. Anna bekommt das bei ihren Soloprojekten zu spüren.
O-Ton Anna:
Übersetzerin:
Du kannst das System nicht überwinden, aber du kannst in ihm dein eigenes System
bauen. Denn es gibt unterhalb des politischen Systems noch ein menschliches. Die
Mütter können sich zusammensetzen, können etwas organisieren, Veranstaltungen,
Ausflüge. Es ist nur traurig, wenn es dann Konflikte gibt. Wichtig ist: Um dich nicht
vom System zerstören zu lassen, musst du nicht unbedingt sehr stark sein. Oft
zerbrechen gerade die Starken. Du musst beweglich sein. Klug. Oder wie Wasser.
Wasser kann sich einen eigenen Weg bahnen. Es ist oft ein sehr schmaler Grat,
dabei nicht konformistisch zu sein. Wenn du alles rechtfertigst und geschehen lässt,
ohne etwas dagegen zu sagen, wenn du schweigst - dann ist das schäbig. Wenn du
in dem System dein eigenes System baust, verstehst du, ok, wenn dieser Weg hier
verschlossen ist, versuche ich es eben anders. Aber wir merken, dass unser Raum
immer kleiner und dass es immer schwieriger wird.
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Atmo Bolschoi
Sprecher:
Anna Koblova tanzt in "Die Flammen von Paris". Die Musik schrieb Boris Asafjev, die
Originalchoreographie stammt von Vasily Vainonen aus dem Jahr 1932. Gemessen
am sonstigen Repertoire des Bolschoi ist das ein nahezu modernes Stück.
O-Ton Anna:
Übersetzerin:
Es ist schon viel besser geworden. Es gibt das Ballet von Jiri Kilian und von William
Forsythe. Aber die sind beim Publikum nicht so bekannt und nicht sehr beliebt. Die
Zuschauer wollen Schwanensee, die Touristen kommen deshalb ins Bolschoi. Und
das Theater bietet dem Publikum, was es sehen möchte. Denn das Theater braucht
einen vollen Zuschauerraum, und die Künstler sind Geiseln des Repertoires.
Mittlerweile hat auch die ältere Generation von Tanzpädagogen ihren Blick auf den
zeitgenössischen Tanz geändert, von einer gewissen Verachtung hin zu der
Meinung, wenn die jungen Leute das machen, dann muss da ja irgendetwas dran
sein.
Als ich anfing barfuss zu tanzen, fragten viele, ob ich mir keine Schuhe mehr leisten
könne. Es war unser Plus, dass wir in der Klassik sehr stark waren, und zugleich
unser Minus. Denn wir haben nichts anderes beachtet. Wir waren die Führenden,
und alles andere war ferner liefen und hat uns nicht bereichert.
Sprecher:
Im Bolschoi-Theater zählt nur Spitze.
Atmo
Sprecher:
Revolution. Paris in Flammen.
Mit aufgepflanzten Bajonetten laufen Tänzer über die Bühne. Der Solotänzer drückt
sich ab. Steht einen Moment in der Luft. Landet. Drückt sich wieder ab. Steht einen
Moment in der Luft. Springt. Und springt. Und springt. Anna gehört zum Volk.
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O-Ton Anna:
Übersetzerin:
Das ist so ein typischer Corps de Ballet. Aber mir gefällt daran, dass wir alle
unterschiedliche Kostüme haben, und dass du trotzdem im Rahmen der
Choreographie und des Geschehens deine kleine Welt, deine Individualität schaffen
kannst. Du fühlst dich nicht als gesichtsloses Schräubchen, wie in der Klassik, bei
der Pyramide, wo alle unten stehen, und oben nur einer. Hier ist die
Herangehensweise ein bisschen persönlicher. Ich denke, das ist das Verdienst des
Choreographen, des großen Alexei Ratmansky. Für ihn ist jeder Mensch eine Farbe.
Wie bei den Impressionisten.
Sprecher:
Es ist kurz nach zehn. Feierabend. Anna sitzt. Zum ersten Mal seit der
nachmittäglichen Klavierstunde ihrer Tochter. Zwanzig Jahre Bolschoi macht die
Gelenke kaputt. Nur wenige Tänzer finden nach ihrer Zeit eine neue Aufgabe im
Tanz.
O-Ton Anna:
Übersetzerin:
Deshalb bin ich wie eine Archäologin, wie eine Irre. Suche alles im Leben, was meine
Persönlichkeit bereichern kann. Irgendwelche Nuancen, Details, Beziehungen. So
wie im Museum, wo es einen großen Fundus an den verschiedensten Dingen gibt.
Ich will jetzt die verschiedensten Empfindungen sammeln und eine breite Palette
anlegen.
O-Ton Anna:
(Telefon)
Übersetzerin:
10 Minuten, dann komm ich aus dem Theater.
Der Durchlauf ist zu Ende, ich zieh mich noch um.
Ihr arbeitet? Gut, okay. Wir hatten Orchesterdurchlauf, ich muss noch von dem einen
Saal in den anderen.
Ich hab dich verstanden. Ich bin schon unterwegs.
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