SWR2 Tandem - Manuskriptdienst Alt, arm und allein Eine deutsche

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SWR2 Tandem - Manuskriptdienst
Alt, arm und allein
Eine deutsche Hilfereise in den ukrainischen Winter
Autor:
Pirmin Styrnol
Redaktion:
Rudolf Linßen
Regie:
Pirmin Styrnol
Sendung:
Montag, 04.04.16 um 10.05 Uhr in SWR2
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MANUSKRIPT
00: 42 Text, Sprecher männlich:
Als wir in der Ukraine ankommen hat es gerade geschneit. Es ist kalt, doch wir sind gut
ausgerüstet. Wollpullover, zwei paar Socken, ein dicker Schal und eine noch dickere
Winterjacke. Die Wollmütze lassen wir noch im Koffer – im Taxi geht schließlich kein
Wind. Die Stadt ist weihnachtlich geschmückt und obwohl es schon Mitte Januar ist,
klingen aus dem Autoradio Weihnachtslieder. In Lviv wird das griechisch-orthodoxe
Weihnachtsfest gefeiert, und das findet erst in ein paar Tagen statt.
01:11 Atmo Taxifahrt mit Musik
01:21 Text:
Mit dem Taxi fahren wir in die Innenstadt. Lviv liegt in der Westukraine, nahe der
polnischen Grenze. Der Krieg ist also mehrere Autostunden entfernt, trotzdem möchte
ich dessen Auswirkungen auf die Stadt kennenlernen. Gemeinsam mit dem Journalisten
und Fotografen Till Mayer, der schon seit Jahren als ehrenamtlicher Helfer in die
Ukraine reist, werde ich in den nächsten Tagen einen Einblick in die Welt der Alten und
Kranken erhalten.
01:46 O-Ton Till Mayer im Taxi:
„Mir geht es weniger um die politischen Hintergründe, klar bildet man sich da seine
Meinung. Aber für mich zählt das eigentlich gar nicht so, sondern ich will einfach
Menschen helfen, in so einer schwierigen Situation würdig zu überleben. Vor allen
Dingen alten Menschen, die dem halt besonders schutzlos ausgeliefert sind. Das ist das
wichtige, und eigentlich mache ich mir da weniger die Gedanken, wer sind jetzt die
Bösen und wer sind die Guten. Mir geht’s einfach darum, die Menschen dazustellen, wie
sie in so einer Situation versuchen das Leben zu meistern.“
02:18 Text, Sprecher männlich:
Einfach ist das nicht, derzeit, in der Ukraine. Korrupt war das Land schon vor der
Auseinandersetzung mit Russland, doch seit der Osten in einem fortwährenden
Kriegszustand lebt, schlittert die Ukraine in immer größere Wirtschaftsprobleme. Für
einen Euro bekommt man zum Zeitpunkt unserer Ankunft 27,5 Griwna. Die Ukrainische
Währung steht international zwar bei 26,9 für einen Euro, in Lviv geben die
Wechselstuben aber einen billigeren Kurs aus. Man vertraut der eigenen Währung nicht
mehr.
02:49 O-Ton Till Mayer im Taxi: „Die Inflation ist natürlich eine absolute Katastrophe.
Es betrifft auch die Grundnahrungsmittel. Der Staat hat jetzt einfach auch wenig Mittel
zur Verfügung da riesige Beträge für den Konflikt gebunden werden und auch davor war
es ja alles andere als ein stabiler Staat. Den ging’s ja auch wirtschaftlich vorher sehr
schlecht.“
03:05 Text, Sprecher männlich:
Till Mayer weiß wovon er spricht. Wie oft er bereits in der Ukraine war, kann er gar nicht
mehr zählen. Seit Jahren sammelt er Spenden, um der alten Bevölkerung in Lviv unter
die Arme zu greifen.
03:16 O-Ton Till Mayer im Taxi: „Wie ich 2007 hier war empfand ich die Situation der
Rentner schon wirklich katastrophal. Und damals war die Kaufkraft der Rente noch
knapp 80 bis 90 Euro. Jetzt haben wir 50 Euro und die Ersparnisse sind zum größten
Teil aufgebraucht. Ich frage mich wirklich manchmal, wie die Rentner es schaffen zu
überleben. Vor allem die, die keine Familienangehörigen haben, die den Winter ihres
Lebens als unerträglich empfinden.“
03:43 Atmo: aussteigen aus dem Taxi und Schritte durch den Schnee
03:47 Atmo Schritte und Klavierthema Shchedryk
04:03 Text, Sprecher männlich:
Nach 20 Minuten Fahrt sind wir in der Innenstadt. Wir steigen aus und gehen zu Fuß
weiter. Dass in der Ukraine Krieg herrscht, ist hier auf den ersten Blick nicht zu
bemerken. Geschäftiges Treiben auf der Straße, wunderschöne Gebäude und Parks
säumen unseren Weg. Die Altstadt von Lviv ist UNESCO-Weltkulturerbe, früher war sie
ein großer Tourismusmagnet – seit der Spaltung des Landes verirren sich aber kaum
noch Besucher hierher. Russische Touristen sind ohnehin nicht gern gesehen. Lviv ist
politisch eindeutig pro-westlich eingestellt.
04:36 Atmo: Schritte und klopfen ans Fenster
04:40 Text, Sprecher männlich:
Bald sind wir am Ziel angekommen. Das Medico Soziale Zentrum von Lviv, kurz MSZ.
04:47 Atmo: Eintreten ins MSZ, weibliche Stimme aus dem Hintergrund
04:55 Text, Sprecher männlich: (im Hintergrund Atmo von Gespräch der
Krankenschwestern)
Hier treffen wir auf unsere Dolmetscherin. Olga H. wird uns in den nächsten Tagen
begleiten. Nach einer kurzen Vorstellungsrunde führt Till mich durch die Einrichtung
05:05 O-Ton Till Mayer führt durchs MSZ: „Wir sind jetzt hier im Medico Sozialen
Zentrum, kurz MSZ, und das wurde vom ukrainischen Kreuz mit Unterstützung vom
badischen Roten Kreuz ins Leben gerufen. Da muss man sich drunter vorstellen: eine
sehr große drei Zimmer Wohnung. Jetzt befinden wir uns im Hauptraum, das ist wie ein
ganz ganz großes Wohnzimmer, und da finden auch immer die ganze Aktionen statt,
zum Beispiel wenn sie ihre Kaffee-Runden machen oder wenn der Chor sich trifft. Das
ist so quasi der soziale Raum. Und da sieht man auch, dass sie hier sehr viel Herz
reingelegt haben. Vor einem Jahr haben sie hier alles sehr schön in modischem violett
gestrichen. Vielleicht ein bisschen ungewohnt für westliche Augen, aber die Menschen
hier die lieben das wirklich sehr.“
05:40 Atmo Schritte auf Holzboden durch das MSZ
05:45 O-Ton Till Mayer führt durchs MSZ: „Jetzt sind wir hier im Behandlungsraum,
die Schwestern behandeln hier eben ihre Klienten wenn sie herkommen und kleine
Wewehs haben, oder sich Medikamente abholen. Und auch Massagen werden hier
verschrieben. Es ist der offizielle Stützpunktraum von den Krankenschwestern.“
05:59 Atmo Schritte auf Holzboden durch das MSZ
06:01 O-Ton Till Mayer führt durchs MSZ: „Und was neu ist, seit einem Jahr haben
wir auch eine große Waschmaschine hier drinnen stehen und einen Wäschetrockner
und die Krankenschwestern waschen jetzt auch oft die Bettwäsche von den Menschen
hier. Obwohl es eigentlich gar nicht ihre Aufgabe ist. Die ist eigentlich nur, nach dem
medizinischen Wohl zu schauen und wenn es nötig ist eine Überweisung zum Arzt zu
machen und ihnen Medikamente und Spritzen zu verabreichen. Aber der Zustand ist oft
so schlecht, dass die Betten völlig verdreckt waren, grade bei inkontinenten Klienten und
jetzt schaffen wir es wenigstens einmal pro Woche, dass die Wäsche mitgenommen und
gewaschen wird. Was mich besonders beeindruckt: eine Krankenschwester verdient
bloß 50 Euro und trotzdem sind sie nicht nur bereit ihre Pflicht zu tun, sondern machen
auch noch mehr als sie tun müssten.“
06:45 Text, Sprecher männlich (unterlegt mit Atmo vom Kaffeeklatsch:
Drei Zimmer und ein Flur – das ist das MSZ. Von hier werden rund 70 Rentner in Lviv
grundversorgt. Ursprünglich wurde das MSZ vom badischen roten Kreuz gegründet, um
Menschen zu helfen, die unter Diktaturregimen gelitten hatten. So finden sich unter den
Patienten ehemalige KZ-Häftlinge und Gulag-Insassen. Geleitet wird die Einrichtung von
Nina Dobrinka.
07:15 O-Ton Nina Dobrinka Voice Over Sprecher, weiblich:
Wir existieren und arbeiten dank dem Deutschen Roten Kreuz, den freiwilligen Helfern
vom DRK und solchen Leuten wie Till Mayer, der außerordentlich viel für das Zentrum
macht, für die Menschen des RK.
07:36 O-Ton Nina Dobrinka, Voice Over Sprecher, weiblich:
Dank ihm existiert das Programm „Medikamente für die Klienten des RK in Lviv“.
07:48 Text, Sprecher männlich:
Die Finanzierung seitens des badischen roten Kreuz ist mittlerweile zu Ende, erklärt
Nina uns. Medikamente werden aber nach wie vor aus Deutschland bezahlt. Finanziert
durch Spendenfonds.
08:06 O-Ton Nina Dobrinka, Voice Over Sprecher, weiblich:
Wir versuchen es hinzubekommen, dass das Zentrum weiterhin existiert, damit die
Leute weiterhin kommen können. Ehemalige KZ-Häftlinge oder des Ghettos, sowie jetzt
auch alleinstehende Menschen im hohen Alter, die nahe am Zentrum wohnen. Viele
besuchen uns, und wir erteilen ihnen medizinische und soziale Hilfe, so gut wir es eben
können.
08:30 Musik: Klavierthema Shchedryk
08:34 Text, Sprecher männlich (unterlegt mit Klavierthema):
Doch längst nicht alle Patienten sind noch mobil genug für eine ambulante Behandlung
im MSZ. Am nächsten Tag begeben wir uns deshalb in einen Randbezirk von Lviv.
Dazwischen Atmo Schritte durch Schnee und Klaviermusik kurz freistehend
Gemeinsam mit unserer Dolmetscherin Olja besuchen wir Onufrij Dudok. Auf dem Weg
kommen wir an einer Wechselstube vorbei. Die Griwna ist wieder gefallen. Ihr Wert liegt
jetzt bei fast 28 für einen Euro.
08:57 Musik und Atmo kurz hochfaden
09:00 Text, Sprecher männlich:
Dudok feiert in Kürze seinen 90. Geburtstag.
09:02 Atmo empfang bei Onufrij Dudok, Klingel und großes Hallo
09:15 Text, Sprecher männlich:
Er empfängt uns mit Tee und selbstgebranntem Schnaps. Die Wohnung ist einfach
eingerichtet, nur auf seinen Holzboden ist er stolz.
09: 23 Atmo Till Mayer lobt den Holzboden: „Das ist der schönste Holzboden von Lviv
hier“.
09:45 Text, Sprecher männlich:
Onufriy Dudok lebt in einer einfachen Ein-Zimmer Wohnung. Er führt uns zu einer
kleinen Holzbank, die unter einem großen Wandteppich hängt. Er selbst nimmt auf
einem Schemel platz. Über dem Wandteppich thront, handtellergroß, die Flagge der
Ukraine. An einer Tischlampe im Eck das Zeichen der EU.
10:03 O-Ton Till Mayer: „Oufryi Dudok ist für mich als Journalist so ein Interviewpartner
den ich wahrscheinlich nie vergessen werde. Erstmal wegen seiner Geschichte, er hat
drei KZs überlebt, aber er ist ein Mann der so viel Milde ausstrahlt und so viel Güte,
solche Menschen trifft man einfach nur selten. Der Herr Dudok ist noch sehr fit muss
man sagen, trotz seines hohen Alters ist er eigentlich nie krank und hat eine kleine
Datscha und da werkelt er im Sommer rum und baut sein Obst und Gemüse an. Das
kommt dann ins Einmachglas und damit schafft er’s dann eben auch im Winter über die
Runden zu kommen mit seiner kargen Rente. Aber er ist nie einer der irgendwie klagen
würde.“
10:33 Atmo Onufrij Dudok lädt zum Wein trinken ein: „Probieren Sie bitte unseren
Wein“, anstoßen „auf die Liebe und auf das Treffen“
10:46 Text, Sprecher männlich:
Onufriy Dudok wird im Alter von 17 Jahren festgenommen. Eine Wehrmachtsstreife
greift ihn ohne Ausweis auf, zur Strafe wird er zuerst in ein Arbeitslager, später in ein KZ
geschickt. Dudok überlebt zuerst das Konzentrationslager Mauthausen und wird dann in
einen Zug nach Auschwitz-Birkenau gebracht.
11:04 O-Ton Onufrij Dudok
11:13 Text, Sprecher männlich:
Während des Transportes hören die Insassen plötzlich Sirenen. Der Zug wird
bombardiert, deutsche Geschütze feuern zurück. Dudoks Wagen wird zwar nicht
getroffen, trotzdem muss der Zug anhalten – und bleibt eine Woche lang stehen.
11:26 O-Ton Onufrij Dudok
11:31 Musik: Klavierthema Shchedryk (im Hintergrund noch immer Onufrij Dudok
11:32 Text, Sprecher männlich:
Die Wageninsassen essen den Reif und den Schnee, der sich an den Türgriffen im
Wageninneren sammelt. So schafft es Dudok zu überleben, bis die Tür sich wieder
öffnet.
11:42 O-Ton Onufrij Dudok l.W. „AUSCHWITZ – Auschwitz“
11:52 Musik: Klavierthema Shchedryk (läuft seit 11:31 weiter, wird kurz lauter bis)
11:56 Text, Sprecher männlich:
Während Onufriy Dudok erzählt, beginnt es draußen zu dämmern. Trotzdem bleibt das
Licht aus – Strom ist teuer…
12:00 Atmo unter dem Sprechertext beginnt Dudok mit dem Papier zu rascheln
(man hört Olja „Das ist ein Dokument aus Flossenbürg aus dem Archiv, wo angegeben
ist dass er da ist.“ Vorher und hinterher ist Onufrij Dudok zu hören)
12:15 O-Ton Till Mayer: „Wie viel Rente bekommt denn der Herr Dudok, wenn ich
fragen darf?“ Antwort von Übersetzerin Olja: „1400 Griwna“. Frage Autor: „Kann man
davon leben?“
12:37 Text:
1400 Griwna Rente im Monat, nach damaligem Wechselkurs ca 51 Euro. Davon bezahlt
Onufriy Dudok Strom, Gas, und Lebensmittel
12:49 O-Ton Dudok und Olja: „Er kann von dieser Rente leben, weil er so was
gewohnt ist, aber die Frau kann nicht davon leben, sie hat noch niedrigere Rente –
1100.“
13:03 Text:
Als wir uns verabschieden lächelt Onufriy Dudok uns an. Was denn sein größter
Wunsch sei, möchte Till von ihm wissen. Ich wünsche mir, dass Russland seine
Kämpfer zurückzieht, antwortet er. Er möchte, dass man die Ukraine endlich in Frieden
lässt. Krieg, hat Onufriy Dudok wahrlich genug erlebt…
13:21 O-Ton Onufrij Dudok
13:24 Musik: Klavierthema Shchedryk rückt bei 13:33 in den Hintergrund
13:33 O-Ton Till Mayer: „Bei alten Menschen ist halt kein Kindcheneffekt da. Die sind
nicht süß, die schauen nicht nett aus wie ein Kleinkind. Da investiert auch keine
Versicherung mehr in ein Projekt, weil sie denken, wenn sie erwachsen sind werden es
vielleicht mal unsere Kunden. Die haben ja nicht mehr viel vor sich, da geht’s ja ans
Sterben und mit solchen Menschen lässt sich nicht mehr Profit machen.
13:46 Atmo unter O-Ton: Straße in Lviv.
13:48 Atmo unter O-Ton: Auto wird gestartet, im Autoradio läuft „Sweet Dreams“
14:00 Text, Sprecher männlich (darunter Straßenatmo und Autoradio):
Am nächsten Tag haben wir eine weitere Verabredung. Olga, eine Krankenschwester
des MSZ, nimmt uns mit auf ihre täglichen Hausbesuche. Olga ist schon 73 Jahre alt
und selbst Rentnerin, doch sie kümmert sich nach wie vor um ihre Patienten. Zum
Einen, weil ihr Beruf für sie mehr ist, als eine Verpflichtung, zum anderen aber, weil ihre
Rente nicht zum Leben reichen würde. Durch Rente und Job kommt sie auf knappe 100
Euro im Monat.
14:27 Atmo: Ende der Taxifahrt. Olga: „Ich glaube wir sind da“. Till: „Wieviel will er
haben?“ Olga diskutiert mit Taxifahrer: „60 Griwna“ Bei 14:43 aussteigen und Tür
geht zu
14:47 Text, Sprecher männlich:
Olga trägt einen dicken Mantel und noch dickere Stiefel. Die Stiefel, erzählt mir Till, hat
sie von einem bayrischen Helfer bekommen. Sie seien teurer als ein ganzes
Monatsgehalt einer Krankenschwester. Damit stapft Olga durch den ukrainischen
Schnee. Unser Ziel ist eine Wohnblocksiedlung.
15:03 Atmo Schritte durch den Schnee (gehen in den Hintergrund)
15:09 O-Ton Olga Roman, Text Voice Over, Sprecher weiblich:
Ich bin 73 Jahre alt und arbeite für das rote Kreuz seit 54 Jahren. Das ist mein ganzes
Leben.
Ich gehe schon so lange zu meinen Patienten, dass sie für mich schon so etwas wie
eine eigene Familie sind. Zu einigen gehe ich schon seit 7 oder 8 Jahren. Wenn ich
nicht da bin, dann machen sie sich manchmal Sorgen und fragen wo ich bin.
15:30 O-Ton Olga Roman
15:35 Atmo Türklingel, eintreten und Treppe
15:55 Text, Sprecher männlich:
Die Wohnung der Patientin liegt im vierten Stock. Als wir oben ankommen, ist Olga
komplett außer Atem. Eine alte Frau öffnet uns die Tür. Sie ist auf einen Stock gestützt
und trägt ein altes, blümchenverziertes Nachthemd.
16:08 Atmo Begrüßung, Olga atmet schwer. Olja übersetzt: „Sie sagt Du sollst Platz
nehmen. Sie hat erzählt, dass sie Probleme mit den Augen hat, deshalb hat sie Tropfen
genommen, aber die helfen nicht so sehr.“ Till: „Und die Brille ist ihr kaputtgegangen?“
Patientin: „Alles geht kaputt“
16:42 Text, Sprecher männlich:
Die Brille der Patientin ist notdürftig mit einem Pflaster geflickt. Die Matratze in ihrem
Bett, das sie gleichzeitig als Couch benutzt, ist komplett durchgelegen – in der Mitte ist
eine tiefe Kuhle zu sehen. Das gesamte Leben der Frau reicht vom Bett zur Küchenzeile
und wieder zurück – rausgehen ist unmöglich. Der Wohnblock hat keinen Fahrstuhl und
Treppen steigen kann sie nicht mehr.
17:05 Atmo Patientin erzählt, Olja übersetzt: „Seit 55 Jahren lebt sie hier“
17:09 Text, Sprecher männlich:
An jenem Tag treffen wir noch auf zwei weitere Patienten von Olga. Immer bringen wir
ein Care-Paket mit Gemüse, Obst und Käse mit. Alle Patienten leben von der
Mindestrente, umgerechnet rund 49 Euro im Monat. Wieder kommen wir an einer
Wechselstube vorbei. Der Kurs liegt jetzt bei 28,2.
17:27 Atmo: Treppenhaus, eintreten, guten Tag
17:38 Text, Sprecher männlich:
In jeder Wohnung in der wir ankommen, läuft das Radio. Dann fühlt man sich nicht so
allein, sagt eine Rentnerin. Immer stellen wir dieselbe Frage:
17:46 Atmo-O-Ton Autor: „Glauben Sie, dass sich an der Rentensituation in der
Ukraine bald etwas ändern wird?“ Antwort Patientin, übersetzt von Olja: „Gott weiß
es ob sich was ändert oder nicht. Es ist doch Krieg. Das ganze Geld geht für den Krieg.
Wozu brauchen wir diesen Krieg? Für die Menschen? Aber was können wir machen?“
Autor: „Hoffen?“ Antwort: „Ja! Nur Gott kann uns helfen…“
18:37 Musik: Klavierthema Shchedryk
18:53 Text, Sprecher männlich (im Hintergrund läuft die Musik weiter):
Am nächsten Tag ist es kalt. Minus acht Grad hat es, als wir uns wieder auf den Weg
machen. Im MSZ haben wir von einem besonders schweren Fall erfahren. Die 83Jährige Sofia lebt in einer Wohnung ohne Heizung und warmem Wasser. Sie möchten
wir besuchen.
Eigentlich erwarten wir, bei unserer Ankunft eine traurige, frierende Gestalt vorzufinden.
Doch wir werden überrascht.
19:17 Atmo: Ankunft bei Sofia, völlig wildes Durcheinandergeplapper, lautes
Radio, großer Kontrast
19:30 Text, Sprecher männlich:
Eine kleine Frau wirbelt aus der Tür. Sie ist nur ca 1 Meter 50 groß versucht aber
trotzdem jedem von uns einen Kuss aufzudrücken und umarmt uns stürmisch. Aus der
Wohnung im Hintergrund tönt in voller Lautstärke das Radio, während die 83-jährige
Sofia auf uns einredet. Dass Dolmetscherin Olja mit dem Übersetzen gar nicht
hinterherkommt, scheint Sofia egal zu sein. Wir können nicht anders, die Stimmung ist
direkt ausgelassen – das ukrainische Energiebündel hat uns kalt erwischt. Damit haben
wir nicht gerechnet.
20:01 Atmo bei Sofia, sie spricht, Olja übersetzt: „Sie wird zu Gott beten dass wir
alle gesund bleiben, dass der Gott uns hilft, dass wir nie Kummer erleben.“
20:15 Text, Sprecher männlich (Atmo bricht abrupt ab):
Wir treten ein – und werden direkt wieder mit der Realität konfrontiert. Der Raum ist
ungefähr drei Quadratmeter groß, an jeder Wand steht ein Bett, dazwischen ist
genügend Platz dass eine Person hindurchgehen kann. Der Boden besteht aus nacktem
Beton. An der Türseite lehnt ein selbstgezimmerter Altar, mit Jesus-Fresken,
Mariabildchen und Rosenkränzen. Das einzige Fenster ist zur Hälfte mit Pappkarton
geflickt. Jemand hat es eingeworfen, erzählt Sofia uns.
20:42 Atmo Till Mayer: „Wie schaut’s denn aus mit ihrer Gasheizung? Die funktioniert
ja nicht so richtig“ Olja übersetzt in ukrainisch, Sofia antwortet.
20:54 Text, Sprecher männlich (im Hintergrund spricht Sofia weiter):
Sie zieht sich warm an, und das muss reichen, erklärt Sofia. Ihre Gasheizung ist
durchgerostet und müsste ausgetauscht werden, aber das kann sie sich nicht leisten.
Deshalb ist ihre einzige Wärmequelle der Gasherd in der Küche, sagt sie, dreht den
Herd auf und reibt zur Demonstration ihre Hände über der Flamme. Sofort steigt uns
Gasgeruch in die Nase. Nicht nur die Heizung scheint durchgerostet zu sein, auch die
Leitungen sehen marode und brüchig aus.
21:19 Atmo: Olja übersetzt Sofias Geschichte: „Manchmal geht sie hier in der Nähe
in ein Geschäft, da geht sie zu den Mädchen, sitzt ein bisschen mit ihnen und dann geht
sie nach Hause und zieht sich wieder warm an.“
21:30 Musik: Klavierthema Shchedryk (Bis 21:33 noch Atmo, Sofia: „Tak.“)
21:54 O-Ton Sofia
22:05 Text, Sprecher männlich:
Tagsüber geht sie meist durch die Straßen und sammelt alte Zeitungen, erzählt Sofia.
Das Altpapier verkauft sie dann an bestimmte Händler. Das bringt zusätzlich zu ihrer
Rente ein bisschen was ein.
22:16 O-Ton Sofia
22:24 Text, Sprecher männlich:
Während Sofia erzählt, bilden sich vor ihrem Mund kleine Atemwolken. In der Wohnung
ist es so kalt, dass unsere Finger längst steifgefroren sind. Die Ritzen in der alten
Holztür hat Sofia mit einem alten Teppich und mehreren Handtüchern verstopft.
Trotzdem zieht es.
22:40 O-Ton Sofia, übersetzt von Olja: „So ist das Schicksal“
22:52 O-Ton Sofia, Text Voice-Over Sprecherin weiblich:
Ich weine. Ich weine wegen des Krieges. Und ich weine, weil unsere Leute dort sterben
müssen.
22:57 O-Ton Sofia, übersetzt von Olja: „Sie sagt sie weint hier, diejenigen die böse
sind, die werden da oben weinen.“
23:05 Musik: Klavierthema Shchedryk, läuft im Hintergrund weiter
23:10 Atmo: Schritte im Schnee, Straßengeräusche
23:23 Text, Sprecher männlich:
Auf dem Weg zurück ins warme Hotelzimmer spricht keiner von uns ein Wort. Der Krieg
ist noch immer weit weg – und irgendwie doch so nah.
23:32 Musik und Atmo stehen alleine
23:40 Text, Sprecher männlich:
Der Wert der Griwna steht an diesem Tag bei 28,4.
23:45 Musik Klavierthema, letzter Akkord verklingt langsam (bis 23:50)
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leben“