2 SWR2 Tandem - Manuskriptdienst Alt, arm und allein Eine deutsche Hilfereise in den ukrainischen Winter Autor: Pirmin Styrnol Redaktion: Rudolf Linßen Regie: Pirmin Styrnol Sendung: Montag, 04.04.16 um 10.05 Uhr in SWR2 __________________________________________________________________ Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Mitschnitte der Sendungen SWR2 Tandem auf CD können wir Ihnen zum größten Teil anbieten. Bitte wenden Sie sich an den SWR Mitschnittdienst. Die CDs kosten derzeit 12,50 Euro pro Stück. Bestellmöglichkeiten: 07221/929-26030. Einfacher und kostenlos können Sie die Sendungen im Internet nachhören und als Podcast abonnieren: SWR2 Tandem können Sie ab sofort auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/tandem.xml Kennen Sie schon das neue Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de ___________________________________________________________________ MANUSKRIPT 00: 42 Text, Sprecher männlich: Als wir in der Ukraine ankommen hat es gerade geschneit. Es ist kalt, doch wir sind gut ausgerüstet. Wollpullover, zwei paar Socken, ein dicker Schal und eine noch dickere Winterjacke. Die Wollmütze lassen wir noch im Koffer – im Taxi geht schließlich kein Wind. Die Stadt ist weihnachtlich geschmückt und obwohl es schon Mitte Januar ist, klingen aus dem Autoradio Weihnachtslieder. In Lviv wird das griechisch-orthodoxe Weihnachtsfest gefeiert, und das findet erst in ein paar Tagen statt. 01:11 Atmo Taxifahrt mit Musik 01:21 Text: Mit dem Taxi fahren wir in die Innenstadt. Lviv liegt in der Westukraine, nahe der polnischen Grenze. Der Krieg ist also mehrere Autostunden entfernt, trotzdem möchte ich dessen Auswirkungen auf die Stadt kennenlernen. Gemeinsam mit dem Journalisten und Fotografen Till Mayer, der schon seit Jahren als ehrenamtlicher Helfer in die Ukraine reist, werde ich in den nächsten Tagen einen Einblick in die Welt der Alten und Kranken erhalten. 01:46 O-Ton Till Mayer im Taxi: „Mir geht es weniger um die politischen Hintergründe, klar bildet man sich da seine Meinung. Aber für mich zählt das eigentlich gar nicht so, sondern ich will einfach Menschen helfen, in so einer schwierigen Situation würdig zu überleben. Vor allen Dingen alten Menschen, die dem halt besonders schutzlos ausgeliefert sind. Das ist das wichtige, und eigentlich mache ich mir da weniger die Gedanken, wer sind jetzt die Bösen und wer sind die Guten. Mir geht’s einfach darum, die Menschen dazustellen, wie sie in so einer Situation versuchen das Leben zu meistern.“ 02:18 Text, Sprecher männlich: Einfach ist das nicht, derzeit, in der Ukraine. Korrupt war das Land schon vor der Auseinandersetzung mit Russland, doch seit der Osten in einem fortwährenden Kriegszustand lebt, schlittert die Ukraine in immer größere Wirtschaftsprobleme. Für einen Euro bekommt man zum Zeitpunkt unserer Ankunft 27,5 Griwna. Die Ukrainische Währung steht international zwar bei 26,9 für einen Euro, in Lviv geben die Wechselstuben aber einen billigeren Kurs aus. Man vertraut der eigenen Währung nicht mehr. 02:49 O-Ton Till Mayer im Taxi: „Die Inflation ist natürlich eine absolute Katastrophe. Es betrifft auch die Grundnahrungsmittel. Der Staat hat jetzt einfach auch wenig Mittel zur Verfügung da riesige Beträge für den Konflikt gebunden werden und auch davor war es ja alles andere als ein stabiler Staat. Den ging’s ja auch wirtschaftlich vorher sehr schlecht.“ 03:05 Text, Sprecher männlich: Till Mayer weiß wovon er spricht. Wie oft er bereits in der Ukraine war, kann er gar nicht mehr zählen. Seit Jahren sammelt er Spenden, um der alten Bevölkerung in Lviv unter die Arme zu greifen. 03:16 O-Ton Till Mayer im Taxi: „Wie ich 2007 hier war empfand ich die Situation der Rentner schon wirklich katastrophal. Und damals war die Kaufkraft der Rente noch knapp 80 bis 90 Euro. Jetzt haben wir 50 Euro und die Ersparnisse sind zum größten Teil aufgebraucht. Ich frage mich wirklich manchmal, wie die Rentner es schaffen zu überleben. Vor allem die, die keine Familienangehörigen haben, die den Winter ihres Lebens als unerträglich empfinden.“ 03:43 Atmo: aussteigen aus dem Taxi und Schritte durch den Schnee 03:47 Atmo Schritte und Klavierthema Shchedryk 04:03 Text, Sprecher männlich: Nach 20 Minuten Fahrt sind wir in der Innenstadt. Wir steigen aus und gehen zu Fuß weiter. Dass in der Ukraine Krieg herrscht, ist hier auf den ersten Blick nicht zu bemerken. Geschäftiges Treiben auf der Straße, wunderschöne Gebäude und Parks säumen unseren Weg. Die Altstadt von Lviv ist UNESCO-Weltkulturerbe, früher war sie ein großer Tourismusmagnet – seit der Spaltung des Landes verirren sich aber kaum noch Besucher hierher. Russische Touristen sind ohnehin nicht gern gesehen. Lviv ist politisch eindeutig pro-westlich eingestellt. 04:36 Atmo: Schritte und klopfen ans Fenster 04:40 Text, Sprecher männlich: Bald sind wir am Ziel angekommen. Das Medico Soziale Zentrum von Lviv, kurz MSZ. 04:47 Atmo: Eintreten ins MSZ, weibliche Stimme aus dem Hintergrund 04:55 Text, Sprecher männlich: (im Hintergrund Atmo von Gespräch der Krankenschwestern) Hier treffen wir auf unsere Dolmetscherin. Olga H. wird uns in den nächsten Tagen begleiten. Nach einer kurzen Vorstellungsrunde führt Till mich durch die Einrichtung 05:05 O-Ton Till Mayer führt durchs MSZ: „Wir sind jetzt hier im Medico Sozialen Zentrum, kurz MSZ, und das wurde vom ukrainischen Kreuz mit Unterstützung vom badischen Roten Kreuz ins Leben gerufen. Da muss man sich drunter vorstellen: eine sehr große drei Zimmer Wohnung. Jetzt befinden wir uns im Hauptraum, das ist wie ein ganz ganz großes Wohnzimmer, und da finden auch immer die ganze Aktionen statt, zum Beispiel wenn sie ihre Kaffee-Runden machen oder wenn der Chor sich trifft. Das ist so quasi der soziale Raum. Und da sieht man auch, dass sie hier sehr viel Herz reingelegt haben. Vor einem Jahr haben sie hier alles sehr schön in modischem violett gestrichen. Vielleicht ein bisschen ungewohnt für westliche Augen, aber die Menschen hier die lieben das wirklich sehr.“ 05:40 Atmo Schritte auf Holzboden durch das MSZ 05:45 O-Ton Till Mayer führt durchs MSZ: „Jetzt sind wir hier im Behandlungsraum, die Schwestern behandeln hier eben ihre Klienten wenn sie herkommen und kleine Wewehs haben, oder sich Medikamente abholen. Und auch Massagen werden hier verschrieben. Es ist der offizielle Stützpunktraum von den Krankenschwestern.“ 05:59 Atmo Schritte auf Holzboden durch das MSZ 06:01 O-Ton Till Mayer führt durchs MSZ: „Und was neu ist, seit einem Jahr haben wir auch eine große Waschmaschine hier drinnen stehen und einen Wäschetrockner und die Krankenschwestern waschen jetzt auch oft die Bettwäsche von den Menschen hier. Obwohl es eigentlich gar nicht ihre Aufgabe ist. Die ist eigentlich nur, nach dem medizinischen Wohl zu schauen und wenn es nötig ist eine Überweisung zum Arzt zu machen und ihnen Medikamente und Spritzen zu verabreichen. Aber der Zustand ist oft so schlecht, dass die Betten völlig verdreckt waren, grade bei inkontinenten Klienten und jetzt schaffen wir es wenigstens einmal pro Woche, dass die Wäsche mitgenommen und gewaschen wird. Was mich besonders beeindruckt: eine Krankenschwester verdient bloß 50 Euro und trotzdem sind sie nicht nur bereit ihre Pflicht zu tun, sondern machen auch noch mehr als sie tun müssten.“ 06:45 Text, Sprecher männlich (unterlegt mit Atmo vom Kaffeeklatsch: Drei Zimmer und ein Flur – das ist das MSZ. Von hier werden rund 70 Rentner in Lviv grundversorgt. Ursprünglich wurde das MSZ vom badischen roten Kreuz gegründet, um Menschen zu helfen, die unter Diktaturregimen gelitten hatten. So finden sich unter den Patienten ehemalige KZ-Häftlinge und Gulag-Insassen. Geleitet wird die Einrichtung von Nina Dobrinka. 07:15 O-Ton Nina Dobrinka Voice Over Sprecher, weiblich: Wir existieren und arbeiten dank dem Deutschen Roten Kreuz, den freiwilligen Helfern vom DRK und solchen Leuten wie Till Mayer, der außerordentlich viel für das Zentrum macht, für die Menschen des RK. 07:36 O-Ton Nina Dobrinka, Voice Over Sprecher, weiblich: Dank ihm existiert das Programm „Medikamente für die Klienten des RK in Lviv“. 07:48 Text, Sprecher männlich: Die Finanzierung seitens des badischen roten Kreuz ist mittlerweile zu Ende, erklärt Nina uns. Medikamente werden aber nach wie vor aus Deutschland bezahlt. Finanziert durch Spendenfonds. 08:06 O-Ton Nina Dobrinka, Voice Over Sprecher, weiblich: Wir versuchen es hinzubekommen, dass das Zentrum weiterhin existiert, damit die Leute weiterhin kommen können. Ehemalige KZ-Häftlinge oder des Ghettos, sowie jetzt auch alleinstehende Menschen im hohen Alter, die nahe am Zentrum wohnen. Viele besuchen uns, und wir erteilen ihnen medizinische und soziale Hilfe, so gut wir es eben können. 08:30 Musik: Klavierthema Shchedryk 08:34 Text, Sprecher männlich (unterlegt mit Klavierthema): Doch längst nicht alle Patienten sind noch mobil genug für eine ambulante Behandlung im MSZ. Am nächsten Tag begeben wir uns deshalb in einen Randbezirk von Lviv. Dazwischen Atmo Schritte durch Schnee und Klaviermusik kurz freistehend Gemeinsam mit unserer Dolmetscherin Olja besuchen wir Onufrij Dudok. Auf dem Weg kommen wir an einer Wechselstube vorbei. Die Griwna ist wieder gefallen. Ihr Wert liegt jetzt bei fast 28 für einen Euro. 08:57 Musik und Atmo kurz hochfaden 09:00 Text, Sprecher männlich: Dudok feiert in Kürze seinen 90. Geburtstag. 09:02 Atmo empfang bei Onufrij Dudok, Klingel und großes Hallo 09:15 Text, Sprecher männlich: Er empfängt uns mit Tee und selbstgebranntem Schnaps. Die Wohnung ist einfach eingerichtet, nur auf seinen Holzboden ist er stolz. 09: 23 Atmo Till Mayer lobt den Holzboden: „Das ist der schönste Holzboden von Lviv hier“. 09:45 Text, Sprecher männlich: Onufriy Dudok lebt in einer einfachen Ein-Zimmer Wohnung. Er führt uns zu einer kleinen Holzbank, die unter einem großen Wandteppich hängt. Er selbst nimmt auf einem Schemel platz. Über dem Wandteppich thront, handtellergroß, die Flagge der Ukraine. An einer Tischlampe im Eck das Zeichen der EU. 10:03 O-Ton Till Mayer: „Oufryi Dudok ist für mich als Journalist so ein Interviewpartner den ich wahrscheinlich nie vergessen werde. Erstmal wegen seiner Geschichte, er hat drei KZs überlebt, aber er ist ein Mann der so viel Milde ausstrahlt und so viel Güte, solche Menschen trifft man einfach nur selten. Der Herr Dudok ist noch sehr fit muss man sagen, trotz seines hohen Alters ist er eigentlich nie krank und hat eine kleine Datscha und da werkelt er im Sommer rum und baut sein Obst und Gemüse an. Das kommt dann ins Einmachglas und damit schafft er’s dann eben auch im Winter über die Runden zu kommen mit seiner kargen Rente. Aber er ist nie einer der irgendwie klagen würde.“ 10:33 Atmo Onufrij Dudok lädt zum Wein trinken ein: „Probieren Sie bitte unseren Wein“, anstoßen „auf die Liebe und auf das Treffen“ 10:46 Text, Sprecher männlich: Onufriy Dudok wird im Alter von 17 Jahren festgenommen. Eine Wehrmachtsstreife greift ihn ohne Ausweis auf, zur Strafe wird er zuerst in ein Arbeitslager, später in ein KZ geschickt. Dudok überlebt zuerst das Konzentrationslager Mauthausen und wird dann in einen Zug nach Auschwitz-Birkenau gebracht. 11:04 O-Ton Onufrij Dudok 11:13 Text, Sprecher männlich: Während des Transportes hören die Insassen plötzlich Sirenen. Der Zug wird bombardiert, deutsche Geschütze feuern zurück. Dudoks Wagen wird zwar nicht getroffen, trotzdem muss der Zug anhalten – und bleibt eine Woche lang stehen. 11:26 O-Ton Onufrij Dudok 11:31 Musik: Klavierthema Shchedryk (im Hintergrund noch immer Onufrij Dudok 11:32 Text, Sprecher männlich: Die Wageninsassen essen den Reif und den Schnee, der sich an den Türgriffen im Wageninneren sammelt. So schafft es Dudok zu überleben, bis die Tür sich wieder öffnet. 11:42 O-Ton Onufrij Dudok l.W. „AUSCHWITZ – Auschwitz“ 11:52 Musik: Klavierthema Shchedryk (läuft seit 11:31 weiter, wird kurz lauter bis) 11:56 Text, Sprecher männlich: Während Onufriy Dudok erzählt, beginnt es draußen zu dämmern. Trotzdem bleibt das Licht aus – Strom ist teuer… 12:00 Atmo unter dem Sprechertext beginnt Dudok mit dem Papier zu rascheln (man hört Olja „Das ist ein Dokument aus Flossenbürg aus dem Archiv, wo angegeben ist dass er da ist.“ Vorher und hinterher ist Onufrij Dudok zu hören) 12:15 O-Ton Till Mayer: „Wie viel Rente bekommt denn der Herr Dudok, wenn ich fragen darf?“ Antwort von Übersetzerin Olja: „1400 Griwna“. Frage Autor: „Kann man davon leben?“ 12:37 Text: 1400 Griwna Rente im Monat, nach damaligem Wechselkurs ca 51 Euro. Davon bezahlt Onufriy Dudok Strom, Gas, und Lebensmittel 12:49 O-Ton Dudok und Olja: „Er kann von dieser Rente leben, weil er so was gewohnt ist, aber die Frau kann nicht davon leben, sie hat noch niedrigere Rente – 1100.“ 13:03 Text: Als wir uns verabschieden lächelt Onufriy Dudok uns an. Was denn sein größter Wunsch sei, möchte Till von ihm wissen. Ich wünsche mir, dass Russland seine Kämpfer zurückzieht, antwortet er. Er möchte, dass man die Ukraine endlich in Frieden lässt. Krieg, hat Onufriy Dudok wahrlich genug erlebt… 13:21 O-Ton Onufrij Dudok 13:24 Musik: Klavierthema Shchedryk rückt bei 13:33 in den Hintergrund 13:33 O-Ton Till Mayer: „Bei alten Menschen ist halt kein Kindcheneffekt da. Die sind nicht süß, die schauen nicht nett aus wie ein Kleinkind. Da investiert auch keine Versicherung mehr in ein Projekt, weil sie denken, wenn sie erwachsen sind werden es vielleicht mal unsere Kunden. Die haben ja nicht mehr viel vor sich, da geht’s ja ans Sterben und mit solchen Menschen lässt sich nicht mehr Profit machen. 13:46 Atmo unter O-Ton: Straße in Lviv. 13:48 Atmo unter O-Ton: Auto wird gestartet, im Autoradio läuft „Sweet Dreams“ 14:00 Text, Sprecher männlich (darunter Straßenatmo und Autoradio): Am nächsten Tag haben wir eine weitere Verabredung. Olga, eine Krankenschwester des MSZ, nimmt uns mit auf ihre täglichen Hausbesuche. Olga ist schon 73 Jahre alt und selbst Rentnerin, doch sie kümmert sich nach wie vor um ihre Patienten. Zum Einen, weil ihr Beruf für sie mehr ist, als eine Verpflichtung, zum anderen aber, weil ihre Rente nicht zum Leben reichen würde. Durch Rente und Job kommt sie auf knappe 100 Euro im Monat. 14:27 Atmo: Ende der Taxifahrt. Olga: „Ich glaube wir sind da“. Till: „Wieviel will er haben?“ Olga diskutiert mit Taxifahrer: „60 Griwna“ Bei 14:43 aussteigen und Tür geht zu 14:47 Text, Sprecher männlich: Olga trägt einen dicken Mantel und noch dickere Stiefel. Die Stiefel, erzählt mir Till, hat sie von einem bayrischen Helfer bekommen. Sie seien teurer als ein ganzes Monatsgehalt einer Krankenschwester. Damit stapft Olga durch den ukrainischen Schnee. Unser Ziel ist eine Wohnblocksiedlung. 15:03 Atmo Schritte durch den Schnee (gehen in den Hintergrund) 15:09 O-Ton Olga Roman, Text Voice Over, Sprecher weiblich: Ich bin 73 Jahre alt und arbeite für das rote Kreuz seit 54 Jahren. Das ist mein ganzes Leben. Ich gehe schon so lange zu meinen Patienten, dass sie für mich schon so etwas wie eine eigene Familie sind. Zu einigen gehe ich schon seit 7 oder 8 Jahren. Wenn ich nicht da bin, dann machen sie sich manchmal Sorgen und fragen wo ich bin. 15:30 O-Ton Olga Roman 15:35 Atmo Türklingel, eintreten und Treppe 15:55 Text, Sprecher männlich: Die Wohnung der Patientin liegt im vierten Stock. Als wir oben ankommen, ist Olga komplett außer Atem. Eine alte Frau öffnet uns die Tür. Sie ist auf einen Stock gestützt und trägt ein altes, blümchenverziertes Nachthemd. 16:08 Atmo Begrüßung, Olga atmet schwer. Olja übersetzt: „Sie sagt Du sollst Platz nehmen. Sie hat erzählt, dass sie Probleme mit den Augen hat, deshalb hat sie Tropfen genommen, aber die helfen nicht so sehr.“ Till: „Und die Brille ist ihr kaputtgegangen?“ Patientin: „Alles geht kaputt“ 16:42 Text, Sprecher männlich: Die Brille der Patientin ist notdürftig mit einem Pflaster geflickt. Die Matratze in ihrem Bett, das sie gleichzeitig als Couch benutzt, ist komplett durchgelegen – in der Mitte ist eine tiefe Kuhle zu sehen. Das gesamte Leben der Frau reicht vom Bett zur Küchenzeile und wieder zurück – rausgehen ist unmöglich. Der Wohnblock hat keinen Fahrstuhl und Treppen steigen kann sie nicht mehr. 17:05 Atmo Patientin erzählt, Olja übersetzt: „Seit 55 Jahren lebt sie hier“ 17:09 Text, Sprecher männlich: An jenem Tag treffen wir noch auf zwei weitere Patienten von Olga. Immer bringen wir ein Care-Paket mit Gemüse, Obst und Käse mit. Alle Patienten leben von der Mindestrente, umgerechnet rund 49 Euro im Monat. Wieder kommen wir an einer Wechselstube vorbei. Der Kurs liegt jetzt bei 28,2. 17:27 Atmo: Treppenhaus, eintreten, guten Tag 17:38 Text, Sprecher männlich: In jeder Wohnung in der wir ankommen, läuft das Radio. Dann fühlt man sich nicht so allein, sagt eine Rentnerin. Immer stellen wir dieselbe Frage: 17:46 Atmo-O-Ton Autor: „Glauben Sie, dass sich an der Rentensituation in der Ukraine bald etwas ändern wird?“ Antwort Patientin, übersetzt von Olja: „Gott weiß es ob sich was ändert oder nicht. Es ist doch Krieg. Das ganze Geld geht für den Krieg. Wozu brauchen wir diesen Krieg? Für die Menschen? Aber was können wir machen?“ Autor: „Hoffen?“ Antwort: „Ja! Nur Gott kann uns helfen…“ 18:37 Musik: Klavierthema Shchedryk 18:53 Text, Sprecher männlich (im Hintergrund läuft die Musik weiter): Am nächsten Tag ist es kalt. Minus acht Grad hat es, als wir uns wieder auf den Weg machen. Im MSZ haben wir von einem besonders schweren Fall erfahren. Die 83Jährige Sofia lebt in einer Wohnung ohne Heizung und warmem Wasser. Sie möchten wir besuchen. Eigentlich erwarten wir, bei unserer Ankunft eine traurige, frierende Gestalt vorzufinden. Doch wir werden überrascht. 19:17 Atmo: Ankunft bei Sofia, völlig wildes Durcheinandergeplapper, lautes Radio, großer Kontrast 19:30 Text, Sprecher männlich: Eine kleine Frau wirbelt aus der Tür. Sie ist nur ca 1 Meter 50 groß versucht aber trotzdem jedem von uns einen Kuss aufzudrücken und umarmt uns stürmisch. Aus der Wohnung im Hintergrund tönt in voller Lautstärke das Radio, während die 83-jährige Sofia auf uns einredet. Dass Dolmetscherin Olja mit dem Übersetzen gar nicht hinterherkommt, scheint Sofia egal zu sein. Wir können nicht anders, die Stimmung ist direkt ausgelassen – das ukrainische Energiebündel hat uns kalt erwischt. Damit haben wir nicht gerechnet. 20:01 Atmo bei Sofia, sie spricht, Olja übersetzt: „Sie wird zu Gott beten dass wir alle gesund bleiben, dass der Gott uns hilft, dass wir nie Kummer erleben.“ 20:15 Text, Sprecher männlich (Atmo bricht abrupt ab): Wir treten ein – und werden direkt wieder mit der Realität konfrontiert. Der Raum ist ungefähr drei Quadratmeter groß, an jeder Wand steht ein Bett, dazwischen ist genügend Platz dass eine Person hindurchgehen kann. Der Boden besteht aus nacktem Beton. An der Türseite lehnt ein selbstgezimmerter Altar, mit Jesus-Fresken, Mariabildchen und Rosenkränzen. Das einzige Fenster ist zur Hälfte mit Pappkarton geflickt. Jemand hat es eingeworfen, erzählt Sofia uns. 20:42 Atmo Till Mayer: „Wie schaut’s denn aus mit ihrer Gasheizung? Die funktioniert ja nicht so richtig“ Olja übersetzt in ukrainisch, Sofia antwortet. 20:54 Text, Sprecher männlich (im Hintergrund spricht Sofia weiter): Sie zieht sich warm an, und das muss reichen, erklärt Sofia. Ihre Gasheizung ist durchgerostet und müsste ausgetauscht werden, aber das kann sie sich nicht leisten. Deshalb ist ihre einzige Wärmequelle der Gasherd in der Küche, sagt sie, dreht den Herd auf und reibt zur Demonstration ihre Hände über der Flamme. Sofort steigt uns Gasgeruch in die Nase. Nicht nur die Heizung scheint durchgerostet zu sein, auch die Leitungen sehen marode und brüchig aus. 21:19 Atmo: Olja übersetzt Sofias Geschichte: „Manchmal geht sie hier in der Nähe in ein Geschäft, da geht sie zu den Mädchen, sitzt ein bisschen mit ihnen und dann geht sie nach Hause und zieht sich wieder warm an.“ 21:30 Musik: Klavierthema Shchedryk (Bis 21:33 noch Atmo, Sofia: „Tak.“) 21:54 O-Ton Sofia 22:05 Text, Sprecher männlich: Tagsüber geht sie meist durch die Straßen und sammelt alte Zeitungen, erzählt Sofia. Das Altpapier verkauft sie dann an bestimmte Händler. Das bringt zusätzlich zu ihrer Rente ein bisschen was ein. 22:16 O-Ton Sofia 22:24 Text, Sprecher männlich: Während Sofia erzählt, bilden sich vor ihrem Mund kleine Atemwolken. In der Wohnung ist es so kalt, dass unsere Finger längst steifgefroren sind. Die Ritzen in der alten Holztür hat Sofia mit einem alten Teppich und mehreren Handtüchern verstopft. Trotzdem zieht es. 22:40 O-Ton Sofia, übersetzt von Olja: „So ist das Schicksal“ 22:52 O-Ton Sofia, Text Voice-Over Sprecherin weiblich: Ich weine. Ich weine wegen des Krieges. Und ich weine, weil unsere Leute dort sterben müssen. 22:57 O-Ton Sofia, übersetzt von Olja: „Sie sagt sie weint hier, diejenigen die böse sind, die werden da oben weinen.“ 23:05 Musik: Klavierthema Shchedryk, läuft im Hintergrund weiter 23:10 Atmo: Schritte im Schnee, Straßengeräusche 23:23 Text, Sprecher männlich: Auf dem Weg zurück ins warme Hotelzimmer spricht keiner von uns ein Wort. Der Krieg ist noch immer weit weg – und irgendwie doch so nah. 23:32 Musik und Atmo stehen alleine 23:40 Text, Sprecher männlich: Der Wert der Griwna steht an diesem Tag bei 28,4. 23:45 Musik Klavierthema, letzter Akkord verklingt langsam (bis 23:50) ______________________________________________________________________ Spendenkonto für Soforthilfe nach Lviv: Spendenkonto DRK-Landesverband Badisches Rotes Kreuz Sparkasse Freiburg Nördlicher Breisgau IBAN: DE50 6805 0101 0013 0894 89 SWIFT-BIC FRSPDE66XXX Stichwort: Ukraine Mehr zu Till Mayer und seiner Ukrainehilfe finden Sie im Buch: „roter winkel, hartes leben“
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