Mit Religion hat das wenig zu tun

Westfalenpost vom 24.03.2016
Seite:
Ressort:
4
Mantel Regional
Gattung:
Auflage:
Rubrik:
Ausgabe:
WP Lennestadt/Kirchhundem
Westfalenpost - Zeitung für Lennestadt und
Kirchhundem
http://www.funkemedien.de
Reichweite:
Weblink:
Tageszeitung
99.621 (gedruckt) 93.007 (verkauft)
94.352 (verbreitet)
0,28 (in Mio.)
„Mit Religion hat das wenig zu tun“
Von Autor: Harald Ries
89 Prozent fühlen sich zugehörig
Hagen.
402 gebildete Muslime im Alter von 18
bis 40 Jahren haben die Wissenschaftler
Die Bedrohung kommt nicht aus der 2013 und 2014 befragt, 204 in DeutschFerne, die Terroristen stammen aus der land. 89 Prozent von ihnen sehen sich
eigenen Gesellschaft: An vergangenen als zugehörig und formal integriert.
Attentaten waren junge Männer betei- „Aber die meisten haben das Gefühl,
ligt, die in Europa geboren und aufge- dass von ihnen die völlige Assimilation
wachsen sind. Gut 700 Deutsche haben erwartet wird“, sagt van Egmond.
sich dem „Islamischen Staat“ angeschlossen. Wie kann es sein, dass Mus- „Assimilation“, also die Aufgabe der
lime, die in westlichen Demokratien Herkunftskultur, ist eine von vier Strategroß geworden sind, in den Dschihad gien der Begegnung zwischen verschieziehen? Eine Studie der Jacobs Univer- denen Kulturen. „Integration“ meint
sity Bremen und der University of Teilhabe an beiden, „Separation“ setzt
Maryland (USA) hat die psychologi- ausschließlich auf die des Herkunftslanschen Prozesse untersucht, die einer des, und bei „Marginalisierung“ besteht
Radikalisierung vorausgehen. Beteiligt zu beiden kein Zugang.
daran ist die Psychologin Dr. Marieke
Christina van Egmond, die seit Juli 2015 Diese Marginalisierung verschärfe sich,
wissenschaftliche Mitarbeiterin an der je mehr die Menschen ausgegrenzt würFernuniversität Hagen ist.
den, sich diskriminiert fühlten und den
Verlust von persönlicher Bedeutung
Ihr Fazit in Kurzform: Gefährdet sind erführen, erklärt die Psychologin. Die
insbesondere kulturell Heimatlose, die jungen Leute suchten nach Identität und
sich weder mit ihrer Herkunftskultur, seien deshalb anfällig für eine Gruppe,
noch mit der ihres Ankunftslandes iden- die ihnen Schutz und Bedeutung gebe,
tifizieren. Je mehr Islamophobie die einfache Unterscheidungen von Gut
herrscht, desto eher besteht die Gefahr und Böse, Wir und Denen ermögliche
der Radikalisierung. Und umgekehrt: Je und Unsicherheiten reduziere. „Das ist
mehr Respekt den Immigranten und das klassische Sektenprinzip“, sagt die
ihrer Lebensweise entgegengebracht Niederländerin, „mit Religion hat das
wird, desto besser integrieren sie sich nur wenig zu tun.“ Die meisten Attentäund sind immun gegenüber Werbern für ter seien gerade nicht besonders fromm
den „Heiligen Krieg“.
gewesen. Weniger als zehn Prozent der
Wörter:
Urheberinformation:
© 2016 PMG Presse-Monitor GmbH
499
FUNKE MEDIENGRUPPE GmbH & Co. KGaA
Befragten empfinden sich selbst als
Opfer von Diskriminierung, 77 Prozent
nehmen jedoch eine starke Ablehnung
des Islam wahr.
Ist das in den USA anders? Dort sei der
Assimilierungsdruck traditionell geringer: „Wer etwas beitragen konnte,
wurde akzeptiert, egal wie er privat
lebte.“ Doch das verändere sich gerade:
„Trump schürt Ängste gegen die Muslime, und das könnte bei ihnen zu einer
Radikalisierung führen.“ Und wie ist es
in den Niederlanden? „Wegen unserer
kolonialen Vergangenheit waren wir
immer eine gemischtere Gesellschaft,
Toleranz war nationale Norm. Das hat
sich geändert durch die Rechtspopulisten.“
Spirale der Ablehnung
Es ist eine Spirale der gegenseitigen
Ablehnung. „Anti-islamische Rhetorik
ist kontraproduktiv“, sagt van Egmond.
Das beste Konzept gegen Ängste seien
Kontakte: „Je mehr man sich austauscht,
desto schneller schwinden Vorurteile.“
Es sei wohl kein Zufall, dass es in
Deutschland die meisten Proteste gegen
Zuwanderer dort gebe, wo am wenigsten leben. Und es sei sicher hilfreich,
wenn marginalisierte Muslime Gruppen
fänden, die ihnen Selbstwertgefühl vermittelten, ohne Gewalt zu propagieren.