Der Terror hat Frankreich verändert

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DEUTSCH-FRANZÖSISCHE GESELLSCHAFT
Der Terror hat Frankreich verändert
Anlässlich des Jahrestages der Anschläge auf „Charlie Hebdo“ lud die DeutschFranzösische Gesellschaft Schleswig-Holstein (DFG) am Donnerstagabend
zusammen mit der Heinrich-Böll-Stiftung und der Familie-Mehdorn-Stiftung im
Atelierhaus im Anscharpark zur Podiumsdiskussion unter dem Titel „Charlie
vivra!“ ein.
Artikel veröffentlicht: Freitag, 08.01.2016 18:22 Uhr
Artikel aktualisiert: Freitag, 08.01.2016 21:05 Uhr
Lebhafte Diskussion im Atelierhaus: Ibrahim Yazici von der Islamischen Religionsgemeinschaft (von
links), Umweltminister Robert Habeck, der französische Konsul Serge Lavroff, die Psychologin
Marieke Christina van Egmond und Verfassungsschutzchef Dieter Büddefeld saßen am Donnerstag
auf dem Podium.
Quelle: Frank Peter
Kiel. Geprägt war die Diskussion jedoch vor allem von der Anschlagsserie des 13.
November. „2015 war das Jahr der Trauer in Frankreich. Nach dem 13. November hat
sich die Situation in unserem Land radikal verändert, auch wenn es vorher schon
Anschläge gegeben hat“, schilderte der französische Konsul in Hamburg, Serge Lavroff.
„Am 13. November erreichte der Terrorismus bei uns eine ganz neue Ebene.“ Terroristen
hätten seinem Land den Krieg erklärt. Die Gefahr durch die Terrorgruppe „Islamischer
Staat“ dürfe nicht unterschätzt werden.
Mit dem Wort „Krieg“ war der stellvertretende Ministerpräsident Robert Habeck (Grüne)
nicht einverstanden. „Diese Vokabel geht mir etwas zu schnell von den Lippen“,
entgegnete er dem Konsul. „Wir müssen einen gesellschaftlichen Diskurs über unsere
Reaktion führen und sind falsch beraten, unsere Werte, für die wir stehen, auszusetzen.
Krieg wird nie Frieden schaffen.“
Ibrahim Yazici, Sekretär und Vorstandsmitglied der Islamischen Religionsgemeinschaft
Schleswig-Holstein e.V., pflichtete ihm bei: „Ich finde nicht, dass unsere Antwort bisher
Krieg ist, und das wollen wir auch nicht.“ Er habe in der vergangenen Woche mit
Muslimen in Frankreich gesprochen, die die Attentate auch als Anschlag auf sich selbst
sahen. Die Religion stehe bei der Anwerbung und Radikalisierung von potenziellen
Terroristen nicht im Vordergrund: „Die Menschen, die diese Taten verüben, tun das, weil
sie nicht gebildet sind und sich nie mit ihrer Religion auseinandergesetzt haben“, sagte
er. „Der Islam wird benutzt, um Leute zu radikalisieren.“ Seine Gemeinde trete dem mit
verschiedenen Maßnahmen entgegen.
Sinn im Leben fehlt
Psychologin Dr. Marieke Christina van Egmond pflichtete ihm in diesem Punkt bei. Sie
untersucht in Deutschland und den USA, warum Menschen radikal werden und blickte
dabei auf das Verhältnis von Ursprungs- und Empfangskultur junger Muslime. Das
Ergebnis ihrer Befragungen: Die Religion spielt im Radikalisierungsprozess keine Rolle.
Häufig fehle es den jungen Menschen aber am Sinn im Leben. Dieses Bedürfnis nutzten
entsprechende Organisationen aus. „Es ist kein Islam-Problem, vielmehr spielt der
Identitätsprozess eine übergeordnete Rolle“, sagte van Egmond.
Dieter Büddefeld, Leiter des Verfassungsschutzes in Schleswig-Holstein, bestätigte dies
aus seinen Erfahrungen: „Ursprung jedes Radikalisierungsprozesses sind Frustration
und Unzufriedenheit.“ Ein solcher Prozess dauere etwas über ein Jahr an. „So lange
haben wir noch Zeit, mit Maßnahmen zu intervenieren“, sagte er. Die beste Prävention
sei aber eine gute Integrations- und Sozialpolitik. Das Wesen einer Ideologie habe für
Sinnsuchende ebenfalls nur eine marginale Bedeutung. „Wir beobachten auch
ideologische Wechsel zum Beispiel vom linksextremen zum rechtsextremen Raum“,
erläuterte Büddefeld.
Nach knapp zwei Stunden endete die Diskussion, zu der etwa 90 Besucher gekommen
waren. „Wir sind sehr froh über die heutige Resonanz“, zog die Erste Vorsitzende der
DFG, Annette de la Motte, Bilanz. „Die Komplexität des Themas wurde deutlich, daher
waren wir bemüht, ein möglichst vielseitiges Podium zusammenzustellen.“ Die
Gespräche der Besucher im Anschluss an die Diskussion erstreckten sich noch bis in die
späten Abendstunden.