Der Tagesspiegel

Die wollen nur knabbern: Streit um ausgewilderte Wisente – Seite 21
Aus der Reihe: Kassra Z. ist
Kronzeuge im Mordprozess
gegen drei Hells Angels – S. 3
BERLIN, MONTAG, 21. MÄRZ 2016 / 72. JAHRGANG / NR. 22 706
Nur Pegida? Eine neue
Dauerausstellung zeigt
das andere Sachsen – S. 19
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Zehn Jahre jung:
Zwitscherkanal Twitter
hat Geburtstag – S. 13
BERLIN / BRANDENBURG 1,50 €, AUSWÄRTS 2,00 €, AUSLAND 2,20 €
Obama auf Kuba
BUNDESLIGA
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Künast geht Regierenden
in Berateraffäre hart an
Foto: dpa
Berlin - Mit heftiger Kritik an Berlins Regierendem Bürgermeister Michael Müller (SPD) hat sich die Vorsitzende des
Bundestagsrechtsausschusses,
Renate
Künast, in die Berateraffäre eingeschaltet. Der Vertrag zwischen der Berliner Senatskanzlei und der Unternehmensberatung McKinsey zur Erstellung eines Masterplans Integration rieche nach klassischem Berliner Filz, sagte die Grünen-Politikerin dem Tagesspiegel. „Und das ist
mindestens die Vorstufe von Korruption.“ Müller verhalte sich wie „ein
Fürst
aus
dem
19. Jahrhundert“.
Wegen des Geschäfts mit McKinsey stehen Müller
und sein Senatskanzleichef Björn
Böhning seit Tagen
unter Druck. Der
Auftrag wurde ohne
Grüne
öffentliche
Ausschreibung
vergePolitikerin
ben und betraut das
erhebt
Unternehmen nach
Meinung von Kritischwere
kern mit einer AufVorwürfe
gabe, die von der
Berliner
Verwaltung genauso gut
hätte erledigt werden können. Da McKinsey auch den früheren SPD-Staatssekretär Lutz Diwell für dieses Projekt beschäftigt hat, wirft die Opposition Müller und
Böhning Vetternwirtschaft vor. Beide bestreiten jedoch, Einfluss auf die Beschäftigung von Diwell bei McKinsey genommen zu haben.
Die Grünen-Politikerin warf Müller
und Böhning vor, die Berliner über das
Ausmaß der Affäre täuschen zu wollen.
„Sie sollten die Stadt nicht mit ihren unglaubwürdigen Märchen belästigen“,
sagte Künast.
Tsp
— Seite 7
Angela Merkel nach den Landtagswahlen
und dem EU-Gipfel: Wie stark ist die
Kanzlerin noch?
Das Geraune über die Merkel-Dämmerung bestätigt abermals den Spruch, den
WmdW dem großen K. Marx zuschreibt: „Die bürgerliche Presse kann
die Ereignisse nicht abwarten.“ Denn:
Obwohl sechs von zehn Deutschen Merkels Flüchtlingspolitik nicht mögen,
schätzen 54 Prozent die Kanzlerin. Das
sind 20 Punkte mehr, als die Union derzeit kriegt. Was gibt es Schöneres für die
Chefin, als die Popularität ihrer Partei
so zu übertreffen? Die spannt die CDU/
CSU so schnell nicht vom Wagen, erst
recht nicht, wenn die Türken den Flüchtlingsstrom zurückstauen. Sorgen müssen wir uns um die einstige Volkspartei
SPD machen, die in zwei LT-Wahlen elf
und 13 Prozent geholt hat. Sie hatte mal
46 Prozent (1972), in der letzten BTWahl genau die Hälfte.
Was lehrt uns der Erfolg von Donald
Trump über die Amerikaner?
Videos aus
dem Verlies
Von Philipp Lichterbeck
N
Vor zehn Jahren lief eine junge Frau
ihrem Entführer davon – nach 3096 Tagen.
Nun sollen umfangreiche Filmaufnahmen
ihres Martyriums aufgetaucht sein.
Beseitigen sie alle offenen Fragen
im „Fall Natascha Kampusch“? – Seite 24
Foto: Marcus Brandt/pa/dpa
„Vorstufe
zur
Korruption“
Beliebter als
die Castros
Athen kann Türkei-Deal nicht umsetzen
Griechenland fehlen tausende Grenzbeamte / Flüchtlinge kommen trotz Abkommen
Von Markus Bernath, Athen,
und Thomas Seibert, Istanbul
Seit der Nacht auf Sonntag ist der EU-Türkei-Flüchtlingsdeal in Kraft – doch die
Probleme bleiben. Vor der griechischen
Insel Ro im Mittelmeer ertranken zwei
kleine Mädchen, die aus einem Boot gefallen waren; auf Lesbos starben zwei Syrer
an einer Herzattacke. Das ohnehin angeschlagene Griechenland kämpft bei der
Umsetzung des Flüchtlingsabkommens
um alles: Experten, Polizisten, Zeit.
Wer das Land auf illegalen Wegen von
der Türkei aus erreicht, soll direkt wieder zurückgeschickt werden. Dafür will
die EU für jeden abgeschobenen Syrer einen syrischen Flüchtling legal aufnehmen, der schon in der Türkei lebt. So sollen Schlepper bekämpft und Schutzsuchende von der gefährlichen Bootsfahrt
abgehalten werden.
Griechenland kommt nun die Aufgabe
zu, alle ankommenden Flüchtlinge zu re-
Vier Fragen an Josef Joffe
Was macht
die Welt?
Gegen Einwanderung,
Globalisierung
und Eliten revoltieren
gistrieren, ihre Rückkehr zu organisieren
– und dabei, wie von der Regierung und
der EU versprochen, das Asylrecht einzuhalten. Kommissionschef Jean-Claude
Juncker sprach von einer Herkulesaufgabe. Derzeit harren in Griechenland
etwa 47 500 Flüchtlinge aus, allein
10 500 davon in Idomeni an der verriegelten mazedonischen Grenze. Rund 1500
Menschen wagten kurz vor dem Inkrafttreten des Deals binnen 24 Stunden noch
rasch die Überfahrt nach Griechenland.
Das waren drei Mal so viele wie in den
Tagen zuvor. Etliche Schutzsuchende erreichten die Inseln auch noch nach der
Deadline am Sonntag – trotz Warnungen
vor der gefährlichen Flucht.
Griechenland fehlt es zur Bewältigung
des anhaltenden Ansturms vor allem an
Personal. Regierungschef Alexis Tsipras
will trotzdem „keine Abstriche“ bei der
Einhaltung humanitärer Standards im
Umgang mit den Flüchtlingen machen.
Seinen Angaben zufolge werden in Grie-
So viel wie der Raketenstart der AfD
über die Deutschen. Die hat in SachsenAnhalt, engl. „Saxony-Stop“, 24 Prozent
kassiert. Trump holte in den Primaries
um die 35 Prozent bei einer Hälfte des
Wahlvolks. Er würde sogar gegenüber
dem Linksausleger Bernie Sanders um
zehn Punkte unterliegen. Hieße das,
Amerika ist ein sozialistisches Land?
Aber aufgepasst: Sanders verkörpert ein
ähnliches Protestpotenzial gegen „die
da oben“ und die „Mainstream-Medien“
wie Trump. In der ganzen westlichen
Welt erleben wir eine Revolte gegen Eliten, Einwanderung und Globalisierung.
Bundespräsident Gauck reist zum ersten
Mal nach China: Warum so spät?
Erstens ist China ziemlich weit weg.
Zweitens sind da so viele Leute, nämlich
16 Mal mehr als daheim; wie viele
Hände kann er da schütteln? Drittens
muss der Präsident einen gefährlichen
Drahtseilakt bewältigen. Er darf die Führung der zweitgrößten Wirtschaft nicht
desavouieren, aber auch nicht die wach-
chenland 2300 Experten aus anderen
EU-Staaten erwartet, die dem wirtschaftlich und finanziell geschundenen Land
helfen sollen – „400 Asylexperten, 400
Übersetzer und 1500 Sicherheitsspezialisten“. Doch mit der Entsendung der Experten ist es noch nicht getan. Der ausgehandelte Plan lasse sich nicht binnen eines Tages umsetzen, sagte Griechenlands
Koordinator für Einwanderungspolitik,
Giorgos Kyritsis. „De facto braucht man
Strukturen, das Personal muss vorbereitet sein und das dauert ein bisschen länger als 24 Stunden.“
Insgesamt werden für den Deal, der
mit enormen Zugeständnissen an die Türkei verbunden ist, rund 4000 Grenzbeamte und andere Experten benötigt. In einem Zeitraum von sechs Monaten dürften dabei Kosten in Höhe von 300 Millionen Euro auf die Europäische Union zukommen.
Für den Anschlag am Samstag im Zentrum der Metropole Istanbul mit insge-
senden Menschenrechtsbrüche ignorieren. Schon gar nicht heute, wo Xi Jinping auf Unterdrückung gesetzt hat.
Aber Gauck kann mit Recht von sich sagen: „Wir schaffen das!“
Ein letztes Wort zur CDU/CSU ...
Der Beute-Bayer WmdW, der drei Trachtenjacken besitzt, ist nicht glücklich
über die Verachtung, die progressive
Nordlichter seinem Häuptling entgegenbringen. Schließlich hat Seehofer, wie
vor ihm Strauß, den höchsten Unterhaltungswert auf der gesamtdeutschen
Bühne. Von den ersten Plätzen, die BY
in Wirtschaft, Bildung und Hochkultur
belegt, ganz zu schweigen. Man darf die
Sprüche der Bajuwaren nicht auf die
Goldwaage legen. Dass die Christsozialen sich bundesweit ausdehnen, wie Seehofer munkelt, ist bloß Bierkrug-Rasseln. „Mir san mir“ funktioniert nicht in
Wanne-Eickel, Prenzlberg oder Plön.
— Josef Joffe ist Herausgeber der „Zeit“.
Fragen: mal.
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samt fünf Toten macht die türkische Regierung einen Attentäter mit Verbindungen zur Terrormiliz IS verantwortlich.
„Der derzeitige Ermittlungsstand zeigt,
dass der Terrorist in Verbindung mit der
Terrororganisation Daisch (IS) stand“,
sagte Innenminister Efkan Ala am Sonntag vor Journalisten in Ankara. Der Selbstmordattentäter hatte am Samstag in der
belebten Istanbuler Einkaufsstraße Istiklal vier Menschen mit in den Tod gerissen und 39 verletzt. Drei der Todesopfer
sind Israelis.
Die deutsche Botschaftsschule in Istanbul, die die Klassen eins bis vier umfasst,
bleibt am Montag geschlossen. Das deutsche Generalkonsulat in Istanbul hatte
vergangene Woche gewarnt, dass das kurdische Newroz-Fest an diesem Montag
Anlass zu „gewaltsamen Auseinandersetzungen und terroristischen Anschlägen“
sein könnte.
mit AFP/dpa
— Seiten 2, 4 und Meinungsseite
C
INDEX
D
EINE KLASSE FÜR SICH . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
Charlottenburger Schüler, die noch nie
in Neukölln waren, und umgekehrt –
ein Theaterprojekt über Grenzen.
WETTER
............................................
2
Der Himmel ist bewölkt.
Es kann etwas regnen.
Die Sonne scheint nur kurz.
7 /3
In den nächsten Tagen bleibt es
überwiegend wechselhaft.
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ISSN 1865-2263
10012
4 190662 202006
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VfB Stuttgart – Bayer Leverkusen
FC Augsburg – Borussia Dortmund
un ist er auf der Insel gelandet –
als erster amtierender US-Präsident seit 1928. Noch am Abend
unternahm Barack Obama einen Spaziergang durch die jahrzehntelang vernachlässigte Altstadt Havannas, die heute an
vielen Stellen aufwendig renoviert wird
und einen Eindruck liefert vom enormen
touristischen Potenzial Kubas.
Potenzial, das ist das Stichwort, um zu
verstehen, warum die US-Regierung
nach mehr als einem halben Jahrhundert
wieder Beziehungen mit Kuba aufgenommen hat und ihre anachronistische Blockade aufhebt. Das Wirtschaftsembargo
war nur noch absurd und im Falle der Blockade lebenswichtiger Medikamente sogar kriminell. Auch dass die USA ausländischen Firmen quasi verboten hatte, mit
Kuba zu handeln (wenn man es sich nicht
mit den USA verderben wollte), war an
Arroganz kaum zu überbieten.
Nun hat Obama erkannt, dass die kommunistische Insel sich durch Handel und
Kontakte stärker verändern wird als
durch Druck. „Es funktioniert nicht“, hat
Obama über das Embargo gesagt. Er ist
Pragmatiker, kein Ideologe. Er hat begriffen, dass autoritäre Regime einen Feind
brauchen, um zu überleben. Obama ist
heute beliebter auf Kuba als die Castros.
Aber die Amerikaner mögen sich verschätzt haben, wenn sie glauben, dass ihnen Kuba nun zu Füßen liegt. Es ist kein
Geheimnis, dass sich die US-Businessgemeinde von der Öffnung Kubas viel erwartet. Man glaubt, ein riesiger Markt
hungriger Konsumenten stehe jetzt offen. Tatsächlich hat seit Raúl Castros
Machtübernahme eine zarte wirtschaftliche Liberalisierung stattgefunden. Eine
halbe Million Kubaner sind als Selbstständige registriert, die meisten unterhalten
Gästehäuser, Restaurants, fahren Taxis.
Sie sind also im Tourismus tätig, wo es
die wertvollen Konvertiblen Pesos
(CUC) zu verdienen gibt. CUC ist die
Währung für Ausländer, sie hat ungefähr
den Wert des Dollars. Bisher waren es
vor allem Europäer und Kanadier, die
Kuba besuchten. 2015 schnellte die Zahl
von Touristen aus den USA um 80 Prozent in die Höhe.
Im Gegensatz zu ihnen werden US-Unternehmen von den Kubanern stiefmütterlich behandelt. Es prallen zwei Wirtschaftswelten aufeinander. Die hemdsärmelige Art der Amerikaner trifft auf die
behäbige, mit Regeln überladene kubanische Bürokratie. Ein Großteil der kubanischen Wirtschaft wird vom Militär kontrolliert, Gehälter müssen an den Staat gezahlt werden. Es überrascht daher nicht,
dass bisher weniger als eine Handvoll
US-Firmen in Kuba Fuß gefasst haben.
Vielen Kubanern scheint das nicht unrecht zu sein. Investitionen seien zwar
wichtig, sagen sie, aber den Kapitalismus
amerikanischer Prägung wollen sie nicht.
Sie sind in der Mehrheit eben gut informiert. Vom Kommunismus direkt in den
Konsumismus? Nein danke! Und sie erwarten, dass der Staat sie vor Rückgabeansprüchen von Exilkubanern schützt.
Schon vor seiner Reise versuchte
Obama, gute Stimmung zu machen. In einem Fernsehsketch telefonierte er mit
dem beliebten kubanischen Komiker Pánfilo. Die beiden scherzen, dass Pánfilo
den US-Präsidenten mit seinem Moskwitsch abholen könnte. Obama könne
auch bei ihm schlafen, sagt Pánfilo. Nur
das Bett sei ein bisschen unbequem, die
Federn drückten. „Es ist nicht einfach“,
benutzt Pánfilo einen typischen kubanischen Ausdruck. Und Obama wiederholt
auf Spanisch: „No es fácil!“ In der Tat.