DasProblemlöstsichnichtvonselbst Auf ältere Arbeitnehmer bauen

Neuö Zürcör Zäitung
Mittwoch, 20. April 2016
Leichter Rückgang der Zuwanderung
Das Problem löst sich nicht von selbst
SIMON GEMPERLI
Die Zuwanderung in die Schweiz ist im ersten
Quartal gegenüber der Vorjahresperiode um
34 Prozent gesunken. Diese Meldung aus dem
Staatssekretariat für Migration scheint eine
kleine Sensation anzukünden. Der Konflikt
mit der EU über die Personenfreizügigkeit,
der innenpolitische Knatsch um Kontingente
und Schutzklauseln, die Unsicherheit der hier
lebenden EU-Bürger – all das hätte ein Ende,
würde die Einwanderung nachhaltig in diesem Ausmass zurückgehen.
Die Sache ist allerdings komplizierter, und
die Schweiz dürfte nicht so bald wieder zu
einem Auswanderungsland werden. Zunächst
kann eine Quartalsstatistik, isoliert betrachtet, irreführend sein. Vergleicht man die ersten drei Monate 2016 mit dem zweiten Quartal 2015, hat die Nettoeinwanderung nämlich
nicht abgenommen, sondern um fast ein Viertel zugenommen – unabhängig von saisonalen
Effekten.
Die Zuwanderung aus Europa verlief in
diesem Jahrzehnt relativ konstant und auf
hohem Niveau: 10 000 bis 15 000 EU-Bürger
pro Quartal, dazu etwa halb so viele Zuwanderer aus Drittstaaten. Nach der Aufgabe des
Wechselkurses durch die Nationalbank begannen die Migrationsbewegungen stärker zu
schwanken, die Zuwanderung sank leicht.
Extrapoliert man die Einwanderung des ersten Quartals, würde die durchschnittliche
Nettozuwanderung der letzten Jahre von rund
70 000 Personen auf 60 000 Personen sinken.
Ist das viel? Hält der Trend an? Lässt sich
die SVP vor diesem Hintergrund auf einen
Kompromiss bei der Auslegung des Zuwanderungsartikels ein? Wer es weiss, kann gut
raten. Die Einwanderung wurde schon immer
durch die Nachfrage gesteuert, das heisst von
der wirtschaftlichen Verfassung der Schweiz.
Das war selbst in der Zeit des alten Kontingentsystems der Fall. Bei Knappheit passte
man einfach die Höchstzahlen nach oben an.
Sogenannte Push-Faktoren gibt es auch,
sie fallen aber weniger ins Gewicht. Eine unlängst publizierte Studie des Bundes kam zum
Schluss, dass die starke Zuwanderung aus der
EU weniger auf die Finanz- und Wirtschaftskrise in gewissen Ländern zurückgeführt wer-
den kann als auf die Attraktivität der Schweiz.
Entsprechend ist das wichtigste Herkunftsland auch kein Krisenstaat, sondern der europäische Wirtschaftsmotor Deutschland.
Zu hoffen, dass sich von selbst ein Rückgang der Zuwanderung einstellt, kann keine
Strategie sein. Das wäre eine geradezu defaitistische Haltung, weil damit – das lehrt die
Geschichte – eine Rezession einhergeht. Die
Wiedereinführung von Kontingenten für EUBürger änderte daran im Übrigen wenig.
Nicht nur würde das Arbeitsangebot künstlich verknappt. Es fielen vermutlich auch
Teile des bilateralen Vertragswerks mit der
EU dahin, was wirtschaftliche Folgeschäden
hätte.
Volk und Stände haben der Politik am
9. Februar 2014 den Auftrag gegeben, die Zuwanderung zu bremsen und dabei explizit die
Interessen der Wirtschaft zu berücksichtigen.
Das Brecheisen ist das falsche Instrument.
Wichtiger wäre, wenn über zwei Jahre nach
Annahme der Masseneinwanderungsinitiative endlich die ersten Massnahmen für mehr
endogenes und qualitatives Wachstum greifen
würden. Die am Donnerstag stattfindende
nationale Konferenz zum Thema ältere
Arbeitnehmende steht unter Beobachtung.
Besuch von Ungarns Ministerpräsidenten Viktor Orban bei Altkanzler Helmut Kohl
Europäische Freunde
PETER RÁSONYI
Ein untersetzter Herr im dunklen Anzug entsteigt im sonnigen Wohnquartier Oggersheim
in Ludwigshafen einem schwarzen Personentransporter. Knapp zwei Dutzend Demonstranten rufen aus sicherer Distanz Parolen zur
Flüchtlingspolitik. Der Mann betritt, einen
grossen Blumenstrauss auf dem Arm, ein
Wohnhaus. 80 Minuten später kommt er wieder heraus und spricht ein paar Sätze in die
Mikrofone wartender Journalisten.
Viel ist vor dem Privatbesuch des ungarischen Ministerpräsidenten Orban im Haus
des 85-jährigen Altkanzlers Helmut Kohl geschrieben und spekuliert worden. Mit dem
Empfang des ungarischen Gastes werde Kritik an Bundeskanzlerin Merkels Flüchtlingspolitik demonstriert, hiess es. Andere sprachen gar von später Rache an der Kanzlerin,
die an Kohls Sturz während der Parteispendenaffäre nicht unbeteiligt gewesen war. Der
ungarische Ministerpräsident ist wegen seiner
rechtsnationalen, oft auch populistische und
autoritäre Züge aufweisenden Politik nicht
besonders beliebt in Deutschland. Im letzten
Jahr nahm er als «Zaunbauer» in der Flüchtlingskrise eine Gegenposition zu Merkels
«Willkommenskultur» ein, obschon sich beide Seiten mit ihren Aktionen letztlich unterstützten. Ist also der blosse Empfang eines
derart polarisierenden Politikers ein Zeichen
des politischen Protests gegen Merkel?
Orban wollte nichts von alledem gelten
lassen. Er machte deutlich, er und Kohl sähen
sich in keinem Gegensatz zu den Bemühungen der Kanzlerin. Orban bat die Journalisten, den Altkanzler nicht in irgendwelche
politischen Auseinandersetzungen zu ziehen;
Kohl stehe über den aktiven Politikern.
Der versöhnliche Appell des Gastes ist
plausibel. Die beiden Männer verbindet seit
der Wahl des damals erst 35-jährigen jungliberalen Wirbelwinds Orban zum Ministerpräsidenten im Jahre 1998 eine politische
Freundschaft. Damals hatte der ungarische
Jungpolitiker den grossen «Kanzler der Einheit» um Rat ersucht und diesen auch grosszügig erhalten. Ungarn und Deutschland ver-
band in den Jahren nach dem Mauerfall, zu
dem beide Länder Bedeutendes beigetragen
hatten, viel, vor allem gegenseitige Dankbarkeit und Respekt. Es folgten stürmische Jahre
für beide Politiker, in denen sie stets zueinanderhielten. Deshalb ist Orbans Erklärung, er
wolle Kohl die Ehre erweisen und sich im
Namen aller Ungarn bedanken, glaubhaft.
Ganz unpolitisch war der Besuch trotzdem
nicht. Orban brachte die frisch gedruckte
ungarische Übersetzung von Kohls 2014 herausgekommenem Buch «Aus Sorge um
Europa» mit. Dieses enthält ein neues Vorwort Kohls. Darin schreibt er warnend, der
Rückfall in altes, nationalstaatliches Denken
sei keine Option. Europa müsse wieder verstärkt an einem Strang ziehen, jeder müsse die
gemeinsamen Regeln einhalten. Es brauche
mehr Verlässlichkeit und Berechenbarkeit im
Umgang miteinander. Das kann als Mahnung
sowohl an Merkel, deren kompromisslose
Politik der offenen Grenzen von vielen in
Europa als Zumutung empfunden wurde, wie
auch an Orbans übersteigertem Nationalismus verstanden werden. Europa hätte viel gewonnen, wenn es sich auf Kohls Verständnis
von Einheit und Solidarität zurückbesänne.
Bessere Integration in den Schweizer Arbeitsmarkt mit flexibleren Lösungen
Auf ältere Arbeitnehmer bauen
NATALIE GRATWOHL
Seit der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative gehört es bei Politikern und
Wirtschaftsvertretern zum guten Ton: Das inländische Potenzial an Fachkräften, vor allem
auch das der Altersgruppe «50 plus», soll besser ausgeschöpft werden. Die neusten Zahlen
des Bundesamts für Statistik zeigen erfreulicherweise, dass die Integration der älteren
Arbeitnehmer in den vergangenen fünf Jahren deutlich gestiegen ist. In der Schweiz liegt
die Erwerbsbeteiligung der 55- bis 64-Jährigen derzeit mit knapp 76 Prozent höher als in
den meisten anderen Ländern der OECD.
Dennoch gibt es keinen Grund, die Hände
in den Schoss zu legen. Die Altersgruppe ist
immer noch deutlich schlechter in den
Arbeitsmarkt integriert als etwa die 40- bis
54-Jährigen, deren Erwerbsquote 91 Prozent
beträgt. Werden ältere Arbeitnehmer arbeitslos, brauchen sie zudem länger, um wieder
eine neue Arbeitsstelle zu finden. Und obwohl sich das Pensionsalter durchschnittlich
erhöht hat, werden immer noch knapp ein
Drittel der Arbeitnehmer frühpensioniert.
Weitere Erfolge zu erzielen, wird zugegebenermassen mit fortschreitender Einbindung der älteren Arbeitskräfte immer herausfordernder. Doch allein aus demografischen
Gründen scheiden jährlich ohne Berücksichtigung der Zuwanderung 5000 Personen mehr
aus dem Arbeitsmarkt aus, als neue eintreten.
Vor diesem Hintergrund sollten langfristig
orientierte Unternehmen ihre Personalpolitik
im eigenen Interesse auf Personen ausrichten,
deren Ressourcen noch brachliegen oder zu
wenig genutzt werden.
Um ältere Arbeitnehmer länger im Erwerbsprozess zu halten, gilt es, altersgerechte
und flexiblere Arbeitsbedingungen – zum
Beispiel ein grösseres Angebot an Teilzeitmodellen und individueller Projektarbeit – zu
fördern und den Angestellten eine Weiterarbeit über das (flexibler zu handhabende)
Pensionsalter hinaus zu ermöglichen. Hilfreich wäre dabei auch, traditionelle Karrieremodelle zu überdenken. Im Vordergrund stehen pragmatische Lösungen, um das Know-
how und die für das Unternehmen schwierig
messbare, aber in manchen Fällen unbezahlbare Erfahrung der älteren Arbeitnehmer am
besten zu nutzen und den bisweilen veränderten Bedürfnissen der Babyboomer-Generation Rechnung zu tragen. Ob im Einzelfall
eine für beide Seiten befriedigende Lösung
gefunden wird, hängt letztlich auch stark davon ab, wie die geleistete Arbeit vom Arbeitgeber wertgeschätzt wird. Auch hier scheint
es noch Potenzial zu geben. Arbeitnehmer,
die das Gefühl haben, einen wertvollen Beitrag für die Firma zu leisten, bringen sich lieber ein – auch in einer anderen Funktion.
Die Fachkräfte-Initiative des Bundes, die
etwa Coachings für ältere Arbeitslose vorsieht, kann zwar bei der Integration der Älteren in den Arbeitsmarkt flankierend helfen
und sollte weiterhin breit abgestützt vorangetrieben werden. Notwendig wären aber
darüber hinaus auch Anpassungen bei den
Sozialversicherungen. Die Beschäftigung von
älteren Angestellten würde für die Unternehmen deutlich attraktiver werden, wenn in der
beruflichen Vorsorge die Staffelung der mit
dem Alter immer teurer werdenden Pensionskassenbeiträge abgeschafft würde.
MEINUNG & DEBATTE 11
RUNDUM
Die Methode
Obama
Von ULRICH SPECK
Wenn es einen roten Faden gibt in den Interviews, die
Barack Obama derzeit gibt, um die Deutung seiner
Präsidentschaft für die Nachwelt zu prägen, dann ist es
das Unbehagen mit Amerikas Rolle in der Welt. Ein
Unbehagen, das sich in vielen Facetten zeigt. Der
amerikanische Präsident, der auf George W. Bush folgte,
ist vor allem auf eines stolz: in Syrien nicht eingegriffen zu
haben. Er bedauert hingegen, in Libyen interveniert zu
haben. Die ganze Region – die arabische Welt – hält er
für einen hoffnungslosen Fall. Lieber heute als morgen
möchte er Amerika aus der Verantwortung für die
Ordnung in der Region herausziehen. Kriege im Irak und
in Afghanistan beendet zu haben, amerikanische Soldaten
nach Hause geholt zu haben, darauf ist er stolz. Ebenso
darauf, einen denkbaren Krieg mit Iran durch einen
Atomdeal mit verhindert zu haben.
Stolz ist Obama in der Syrien-Frage vor allem darauf,
sich dem Druck nicht gebeugt zu haben. Obwohl der
syrische Gewaltherrscher Asad Giftgas angewendet hat,
obwohl der amerikanische Präsident dies zuvor selbst als
«rote Linie» markierte und obwohl viele Berater ihm
dringend rieten, in Reaktion darauf syrische Positionen zu
bombardieren, ist er diesen Schritt nicht gegangen. Immer
wieder taucht dieser Gegensatz in den Interviews auf: auf
der einen Seite ein aussen- und sicherheitspolitisches
Establishment, das auf eine aktive weltpolitische Rolle
drängt, auf der anderen Seite ein Präsident, der sich dem
Rat von Kabinettsmitgliedern und Experten verweigert
und vor allem eins tut – nicht handeln.
Nicht zu handeln, ist bei Obama ein bewusster Akt.
Zum einen glaubt er nicht daran, dass amerikanisches
Handeln viele Probleme in anderen Ländern lösen kann.
Obama denkt, das aussen- und sicherheitspolitische
Establishment in Washington sei getragen von einer Art
Wahn – dass amerikanische Intervention die Dinge zum
Besseren wenden könnte. Sich herauszuhalten, Konflikte
zu beenden, sich zurückzuziehen und andere vortreten zu
lassen: Das ist die Methode Obama.
Barack Obama will Verbündete dazu zwingen, selbst
mehr zu tun, anstatt immer nur auf Amerika zu warten.
Die USA, so die Idee, unterstützen regionale Vormächte,
die in ihrer Umgebung für Ordnung sorgen, sie führen die
Mission aber nicht selbst an. Das war das Modell der
Libyen-Intervention, mit Frankreich und Grossbritannien
im Fahrersitz. Obama bedauert diese Intervention jedoch
jetzt: Die Alliierten hätten nicht das geleistet, was sie
versprochen hätten – sie hätten es versäumt, im Anschluss
an die Militärintervention das Land stabil zu halten und
mit aufbauen zu helfen.
Nicht zu handeln, hat bei Obama aber auch eine weltanschauliche Begründung. Obama ist aussenpolitisch ein
Kind der neunziger Jahre. Für ihn ist Globalisierung das
zentrale Paradigma, nicht Geopolitik. Die Aufgabe der
führenden Staaten ist nicht, in jeder Region der Erde
selbst für Ordnung zu sorgen. Die Aufgabe liegt vielmehr
im Bereich der «global governance»: Kampf gegen Klimawandel, Kampf gegen Seuchen, Kampf gegen die Weiterverbreitung nuklearer Waffen. Obamas Entwurf
amerikanischer Weltpolitik realisiert sich nicht auf den
Schlachtfeldern der geopolitischen Konflikte, sondern in
den Konferenzhallen der Gipfeldiplomatie.
Ob die Methode Obama mehr ist als eine Reaktion auf
George W. Bush, ob sie Ausdruck einer grundlegenden
Neuorientierung amerikanischer Aussenpolitik insgesamt
ist, wird sich im Handeln des nächsten Präsidenten zeigen.
Ulrich Speck ist Senior Fellow bei der Transatlantic Academy
in Washington, DC.
ARCHIV-TROUVAILLEN
Kirschblüten
bsa. V «Die ersten Aprilwochen gelten in Japan
als die Zeit der Kirschblütenfeste, die seit Generationen von arm und reich, vom Kaiser sowohl
als dem Bauern und Fischermann gefeiert werden», berichtet der NZZ-Sonderkorrespondent
Walter Bosshard 1955. Die Japaner pilgern in der
Kirschblütenzeit zu ihren Tempeln, die über das
Land zerstreut liegen. Das Land versinkt in
einem Meer von rosa und weissen Kirschblüten,
abends beleuchten unzählige bunte Papierlaternen die Strassen. Grosse Anziehungskraft
haben auch die Miyako Odori, die pantomimischen Kirschblütentänze. Die Menschen treffen
sich, trinken Tee und geniessen die Tage.
www.nzz.ch/archiv-trouvaillen