Der Tagesspiegel

Warum kommt der Bus zu spät? Eine Datenanalyse – Mehr Berlin, Seiten 20 + 21
Der fröhliche Unruhestifter:
Zum Tod des CDU-Politikers
Lothar Späth – Seite 5
BERLIN, SONNABEND, 19. MÄRZ 2016 / 72. JAHRGANG / NR. 22 704
Schuldlos: Freispruch
für Ex-Porsche-Chef
Wiedeking – Seiten 6 + 7
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Merkel setzt
Flüchtlingspakt
mit der Türkei durch
Heute: Mit Mobil,
dem Immobilienmarkt
und Stellenangeboten
BERLIN / BRANDENBURG 1,70 €, AUSWÄRTS 2,20 €, AUSLAND 2,40 €
Der Fall Diwell
Trauer um Guido Westerwelle
Schlecht
beraten
Von Lorenz Maroldt
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Schon ab Sonntag werden Migranten zurückgeführt
EU will bis zu 72 000 Flüchtlinge aufnehmen
Zur Eindämmung der Flüchtlingskrise hat
die Europäische Unionein hoch umstrittenes Abkommen mit der Regierung in Ankara geschlossen: Alle Bootsflüchtlinge,
die von diesem Sonntag an auf den griechischen Ägäis-Inseln ankommen, werden wieder in die Türkei abgeschoben –
außer sie können in einer Asylanhörung
glaubhaft belegen, dass ihnen dort Gefahr
droht. Auf diese von Kanzlerin Angela
Merkel angestrebte „europäisch-türkische Lösung“ haben sich die 28 Mitgliedsstaatenam Freitag mit dem türkischenPremier Ahmet Davutoglu geeinigt.
Im Gegenzug wird das EU-Beitrittsverfahren beschleunigt und die visumfreie
Einreise für alle türkischen Bürger von
Ende Juni an ins Auge gefasst. Außerdem
unterstützen die Europäer die Türkei bis
2018 mit sechs Milliarden Euro bei der
Unterbringung und Integration syrischer
Flüchtlinge. Für jeden aus Griechenland
zurückgebrachten Schutzsuchenden aus
Syrien darf dem Beschluss zufolge „ein
anderer Syrer“ legal aus der Türkei einreisen. Laut Abschlusserklärung bietet die
EU zusammen 72 000 Plätze zur legalen
Aufnahme an. Bootsflüchtlinge verlieren
damit de facto die Chance auf einen legalen Aufenthalt in der EU. „Wer sich auf
diesen Weg begibt, riskiert nicht nur sein
Leben, sondern hat auch keine Aussicht
auf Erfolg“, sagte Merkel nach den Verhandlungen in Brüssel. Sie und die anderen Regierungschefs hoffen darauf, dass
damit das Geschäftsmodell der Schlepper „zerstört“ wird.
Menschenrechtsorganisationen kritisierten den Deal mit Ankara teilweise
scharf, da aus ihrer Sicht die in der Genfer
Konvention verankerten individuellen
Schutzansprüche von Flüchtlingen ausgehebelt oder nur unzureichend verwirklicht werden. EU-Ratspräsident Donald
Tusk wies dagegen ausdrücklich darauf
hin, dass „jegliche Art von Kollektivausweisung ausgeschlossen ist“. Die Türkei
sei zudem darauf verpflichtet worden,
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HEUTE
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STUDIEREN 2016
So bunt
ist der Uni-Alltag
– Beilage
keine zurückgenommenen Migranten in
Gefahrengebiete abzuschieben.
Damit das Verfahren wie geplant schon
am Sonntag anlaufen kann, muss eine riesige logistische Operation anlaufen.
4000 zusätzliche Grenzbeamte, Asylexperten, Richter und Dolmetscher müssen
nun auf den griechischen Inseln die Arbeit aufnehmen. Die Rückführungen von
dort sollen Merkel zufolge am 4. April beginnen. Die Kanzlerin sprach von einem
„ganz wichtigen Schritt“, betonte jedoch,
dass es nun darum gehen müsse, mögliche Ausweichrouten wie jene über Libyen zu beobachten. Mit dem Türkei-Pakt sei „das Flüchtlingsthema als
Ganzes noch nicht beendet“. Auch Tusk
betonte, es handele sich „nur um einen
Pfeiler einer Gesamtstrategie“.
— Seite 2 und Meinungsseite
CDU geht in Berater-Affäre
auf Distanz zu Müller
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— Seite 13
INDEX
WIRTSCHAFT & BÖRSEN . . . . . . . . . . . 7–10
Nach den jüngsten
Dax
Schwankungen
am Aktienmarkt notierte
der Dax am Freitag
bei 9950 Punkten.
ISSN 1865-2263
60011
4 190662 202204
ment am Donnerstag seien viele Fragen
offen geblieben. Nach mehr als 25 Jahren
SPD-Regierung in Berlin dürfe in der Bevölkerung nicht der Eindruck entstehen,
dass Regieren zum Selbstzweck verkomme, mahnte Wegner: „Wenn Menschen das Gefühl haben, es gebe einen
SPD-Filz in dieser Stadt, ist das Wasser
auf die Mühlen der AfD.“ Wegner warf
zudem die Frage auf, ob Müller seine Senatskanzlei „wirklich im Griff“ habe. has
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WETTER
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Am Samstag bleibt es
frühlingshaft mild und heiter.
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Die Aussichten:
Die Temperaturen bleiben stabil,
aber es regnet auch immer wieder mal.
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Berlin - In der Berater-Affäre um den
langjährigen SPD-Politiker Lutz Diwell
wächst der Druck auf Berlins Regierenden Bürgermeister Michael Müller
(SPD). Am Freitag verlangte der Koalitionspartner CDU rückhaltlose Aufklärung. CDU-Generalsekretär Kai Wegner
sagte dem Tagesspiegel: „Im Anbetracht
vieler Merkwürdigkeiten wird Müller sicherlich für vollständige Transparenz sorgen, denn hier geht es um die Glaubwürdigkeit des Regierenden Bürgermeisters.“ Bei Müllers Auftritt vor dem Parla-
Foto: Klaus-Dietmar Gabbert/dpa
Von Christopher Ziedler, Brüssel
S
reiter zum Amtsantritt als Generalsekretär erhielt, die
konnte er sein:ein „Chief Whip“, ein Einpeitscher. Ein Politiker ohne Angst vor Vereinfachung.
DerWahlsieg 2009 der FDP mit fast 15Prozent war seiner. Er war der größte in der Geschichte der Partei. Was
die nicht wusste: Der Wahltag war schon der Zenit der Legislatur. Westerwelle und seine Gefolgschaft verhandelten, ließen sich auf falsche Beschlüsse ein, und er wurde
nicht Finanz- oder Zukunfts-, sondern Außenminister.
Weil sein politisches Vorbild immer Hans-Dietrich Genscher war. Der Rheinländer kann auch romantisch sein.
Und dann die Liebe. Guido Westerwelle hat es nie bestritten, aber lange nicht gesagt, dass er homosexuell war.
Er musste schon nicht zur Bundeswehr deshalb. Er traf
den Mann seines Lebens, Michael Mronz, Rheinländer
auch er – und war auf einmal freier denn je. Es wich die
Verbissenheit aus seinen Zügen, nachdem er sich hier geöffnet hatte; und das war auch Angela Merkel zu verdanken, der Kanzlerin, die ihm – einer Freundin gleich – den
Weg öffnete. Nicht zuletzt zu sich selbst.
Was von ihm bleibt? Innenpolitische Erfolge, die heute
wieder von Nachfolgernerreicht werden, die ihmviel verdanken. Außenpolitisch der Wunsch, dass Deutschland
sich nicht militärisch einmischen, sondern als diplomatische Großmacht verstehen möge. Die Enthaltung im Libyen-Konflikt, viel kritisiert, weil sie kein entschiedenes
Ja oder Nein war, nur ein sachtes Nein – sie ist dennoch
quasi konstitutiv bis heute. Und entspricht in dieser
Form, dieserunerwarteten Sachtheit der politischenAussage, die gleichwohl zu verstehen war, ganz besonders
Guido Westerwelle. Er konnte sacht sein. Wer ihn gesehen hat bei der Buchvorstellung „Zwischen zwei Leben“
Ende vergangenen Jahres, der konnte es sehen.
Er hat hart gekämpft. Immer. Gegen die Leukämie hat
er verloren. Ein viel zu kurzes Leben. Guido Westerwelle
ist mit 54 Jahren in Köln gestorben.
Stephan-Andreas Casdorff
ein härtester Kampf begann im Juni 2014. Er
war an Leukämie erkrankt, zufällig entdeckt bei
der ersten Voruntersuchung zu einer Knieoperation. Das änderte alles im Leben des Guido Westerwelle, und es änderte auch den Blick auf ihn.
Politische Gegner und Freunde – und von beiden hatte er
reichlich – fanden zusammen im Wunsch, er, der doch
noch jung war, möge die tückische Krankheit besiegen.
Und wie er den Kampf annahm! Ruhig und doch entschlossen, im Herzen optimistisch. Ein Rheinländer von
Geburt und Gesinnung. In Bad Honnef geboren, in Bonn
und Köln zu Hause, hat ihn der Lebensmut nicht verlassen. Lange nicht, und öffentlich nie. Denn auch das gehört zum guten Rheinländer: das preußische Element. Er
war, wie es Johannes Rau, der sozialdemokratischeMinisterpräsident der Rheinländer und Westfalen und spätere
Bundespräsident, einmal auch als Anspruch formulierte:
ein rheinischer Preuße.
DieseWürde,die ihnzuletztumgab,hatihnvielen Menschen sympathisch gemacht. Menschen, die ihn vorher
nur kannten als einen, der energisch und laut zu sein
schien. Einer, der es politisch zwingen wollte. Der „Projekt 18“-Wahlkampf vor Jahrzehnten, bei dem er die Zahl
auf seine Schuhsohlen schrieb und in den Big-BrotherContainer ging und dann doch keine acht Prozent mit seiner FDP erreichte – das war das vorherrschende Bild. Immer wirkte er zu ehrgeizig. Und zu öffentlich.
Ja, er scheute die Öffentlichkeit nicht – er suchte sie.
Schon als Junger Liberaler, als deren Pressesprecher er in
den achtziger Jahren begann. Aber Guido Westerwelle
verstand es zugleich, ein Netzwerk zu knüpfen, das auch
eines der Inhaltlichkeit war. Er kannte die liberalen Ahnen, die großen Namen, hatte gelesen, was sie geschrieben hatten. Aber er erlaubte und leistete sich eine eigene
Meinung. Und vertrat sie: als Bundesvorsitzender der Julis seit 1983, als Generalsekretär der Bundespartei seit
1994. Ob Klaus Kinkel oder Wolfgang Gerhardt, Guido
Westerwelle erschien immer wie der eigentliche Chef.
Derwurde er 2001. DieGerte, die der vormalige Dressur-
— Seite 3
eutsche Gründlichkeit ist super“,
hatte Angela Merkel angesichts
der Flüchtlingskrise gesagt, „aber
jetzt ist deutsche Flexibilität gefragt.“
Ähnlich argumentierte jetzt Michael Müller, als er vors Parlament zitiert wurde,
um Aufklärung zu leisten in der Sache Diwell/McKinsey, die zur Affäre geworden
ist. Mit „Dienst nach Vorschrift“ sei das
Problem nicht zu lösen gewesen, deshalb
habe „man im Rahmen der Handlungsmöglichkeiten, im Rahmen der Entscheidungskompetenzen Spielräume genutzt,
um schnell helfen zu können“.
Mal abgesehen davon, dass der Hinweis auf „Dienst nach Vorschrift“ angesichts des großen Engagements auch vieler Verwaltungsangehöriger wenig sensibel wirkt; und unterstellt, dass die Absicht eine gute war in einer Situation
wachsender Hilflosigkeit: Es gibt eine Voraussetzung dafür, diese Spielräume zu
nutzen, und die lautet – Vertrauen. Der
Senat aber missbraucht dieses Vertrauen,
durch klandestines Verhalten, durch Intransparenz, durch selektive, zu späte
oder gar keine Information von Parlament und Gesellschaft, durch vage und
ausweichende Antworten, durch fragwürdige Ausnahmebehauptungen – und
durch den Gebrauch des unpersönlichen,
teflonartigen Wörtchens „man“.
Wie kam der SPD-Mann Lutz Diwell
von seiner unentgeltlichen Arbeit für den
Senat, die eine üppig dotierte hatte werden sollen, zu einem Honorarauftrag bei
McKinsey ausgerechnet in jenem Moment, da auch das Unternehmen nach monatelanger unentgeltlicher Arbeit plötzlich unausgeschrieben einen Honorarauftrag vom Senat erhielt? Müller sagt, er
selbst habe damit nichts zu tun, sei aber
auch „nicht bei jedem Gespräch dabei“.
Das ist eine bemerkenswert lapidare Aussage von jemandem, den Mitarbeiter als
Kontrollfreak bezeichnen, zumal die
Frage nicht überraschend kam. Und wie
glaubwürdig ist das, nachdem Müller die
Flüchtlingskrise erst wenige Wochen zuvor mit einem fulminanten Auftritt im
Parlament zur Chefsache machte?
Was damals nur wenige wussten: Sein
frisch wirkender Neun-Punkte-Plan, mit
dem er die zuständigen Senatoren in den
Senkel stellte, stammte zum Teil von Diwell, zum Teil von McKinsey. Da war der
erste Versuch schon gescheitert, den
Ex-Staatssekretär noch kurz vor dem Ruhestand mit einem Honorarvertrag auszustatten. Auch davon erfuhr die Öffentlichkeit nichts, ebenso wenig wie später vom
Wechsel. Dabei wurde der Vertrag mit
McKinsey in voller Kenntnis des neuen
Engagements von Diwell unterzeichnet.
Es war der Senatskanzlei also spätestens
beim formalen Abschluss des Geschäfts
klar, dass ein Teil der 238 000 Euro aus
dem Etat für Beraterleistungen direkt an
ihren Vertrauten ging. Doch diese Pikanterie verschwieg der Senat auch dann
noch dem Parlament, als es explizit nach
den Umständen fragte.
Nicht einmal ob der Masterplan sein
Geld wert ist, lässt sich aufgrund der Senatsangaben beurteilen: Die Integrationsverwaltung, die ohnehin die Hilfe McKinseys nicht wollte, beansprucht die Autorenschaft weitgehend für sich – was bleibt
da übrig für 238 000 Euro an einmaliger,
unverzichtbarer Expertise? Dem Plan anzusehen ist es nicht. So schadet die Senatskanzlei nicht nur ihrer eigenen Glaubwürdigkeit, sondern auch der des Unternehmens McKinsey, das feststellen muss,
ausgerechnet in eigener Sache schlecht
beraten gewesen zu sein. Bei aller Flexibilität: Das ging gründlich daneben.
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