Die unabhängige Zeitung für Baden-Württemberg 1,80 € Mittwoch, 9. März 2016 Nr. 57 | 10. Woche | 72. Jahrgang | E 4029 Die Null muss stehen Flüchtlinge Die EU ordnet der Grenzsicherung nun alles unter – auch die eigenen Werte. Von Christopher Ziedler Winfried Kretschmann im Wahlkampf Das Phänomen D Foto: dpa Montage: Schlösser Knorrig und väterlich dringt der grüne Ministerpräsident ins Herz des Bürgertums im Südwesten vor. SEITE 3 Stuttgart Kultur Sport Fußball, Schnitzel, Bier – 20 Jahre Schlesinger SEITE 18 Entdeckung im Archiv: Siegfried Lenz’ Roman „Der Überläufer“ SEITE 25 Dopingfall Scharapowa: der nächste Rückschlag für das Tennis SEITE 31 Neues Fördergesetz für E-Autos geplant Die Bundesregierung bereitet ein zweites Gesetz zur Förderung der Elektromobilität vor. Wie die StZ aus Regierungskreisen erfahren hat, sollen mit einer Reihe von Maßnahmen im Steuer-, Bau- und Verkehrsrecht Elektroautos attraktiver gemacht werden. „Wir brauchen ein zweites E-Mobilitätsgesetz, weil es noch in vielen Bereichen Regelungsbedarf gibt“, sagte der baden-württembergische CDU-Bundestagsabgeordnete Steffen Bilger. Dies habe die Koalition vereinbart. Noch unklar ist allerdings, ob eine Kaufprämie für E-Autos kommt. Die Regierung will aber die Nutzung von E-Autos für Berufspendler erleichtern. So soll es eine Ausnahmeregelung geben, die dazu führt, dass der Arbeitgeber seinen Beschäftigten Strom an Zapfsäulen unentgeltlich zur Verfügung stellen kann. rop – Berlin plant Privilegien für E-Mobilität SEITE 9 Last-Minute-Agenda Unmittelbar vor der Landtagswahl bereitet sich CDU-Spitzenkandidat Guido Wolf mit einem Sofortprogramm auf eine mögliche Regierungsübernahme vor. Er plant ein „Bündnis für Bürokratieabbau“. Die Konkurrenz reagiert mit Kritik. SEITE 5 Landtag macht sich breit In acht Immobilien sind die Abgeordneten des Landtags, deren Mitarbeiter und die Verwaltung in Stuttgart untergebracht. Und weiterer Raumbedarf ist möglich. Die Gerneralsanierung des Parlamentsgebäudes ist derweil im Mai fertig. SEITE 17 VfL steht im Viertelfinale André Schürrle hat den VfL Wolfsburg erstmals in das Viertelfinale der Champions League geschossen. Der Weltmeister erzielt beim glanzlosen 1:0-Sieg des FußballBundesligisten im Rückspiel gegen KAA Gent den einzigen Treffer. SEITE 32 Donnerstag 8°/2° Freitag 9°/2° Börse SEITEN 14, 15 Dax 9692,82 Punkte (– 0,88 %) Dow Jones 16 964,10 Punkte (– 0,64 %) Euro 1,1028 Dollar (Vortag: 1,0953) Ausführliches Inhaltsverzeichnis SEITE 2 36010 4 190402 901800 Die Taktik der Kanzlerin in der Flüchtlingskrise wird als inhuman bezeichnet. Die CSU warnt vor Zugeständnissen an Ankara. Verhandlungen it ihrer positiven Wertung der Ergebnisse des Brüsseler Flüchtlingsgipfels ist Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) auf Kritik gestoßen. Er sehe völkerrechtliche Fragen, wenn Menschen in die Türkei zurückgeschickt würden, die dort keinen Schutz genössen, sagte der Europa-Direktor des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR, Vincent Cochetal. Auch Amnesty International nannte den EU-Plan rechtlich brüchig. Die Türkei als sicheres Land für Flüchtlinge zu bezeichnen sei alarmierend kurzsichtig und unmenschlich, da Ankara sich nicht gut um die Flüchtlinge kümmere. Merkel verteidigte den Schulterschluss der EU und der Türkei. Politik habe neben der Orientierung an Werten auch die Aufgabe, Interessen wie den Schutz der Außengrenzen im Blick zu haben, sagte sie am Dienstag beim „Treffpunkt Foyer“ der „Stuttgarter Nachrichten“. Die in Brüssel von Ankara geforderte Verdopplung der EU-Hilfszusagen für in der Türkei lebende Flüchtlinge von drei auf sechs Milliarden Euro hält Merkel für machbar. Die EUStaaten könnten das stemmen. Es handele sich aber um eine Hilfe nicht für die Türkei, sondern für die dort lebenden Flüchtlinge aus Syrien, betonte sie. Politiker von Grünen und Linken kritisierten, dass sich die EU in zu große Abhängigkeit von der Türkei begebe. Linke-Fraktionschefin Sahra Wagenknecht sprach vom „letzten Sargnagel für die moralische Glaubwürdigkeit der EU“. Auch Grünen- M Fraktionschef Anton Hofreiter äußerte sein Unbehagen darüber, dass die EU auf Erdogan angewiesen sei. Am Montag hatte die EU in Brüssel mit der Türkei über die Flüchtlingskrise beraten. Die Türkei hatte dabei überraschend vorgeschlagen, ab einem bestimmten Zeitpunkt alle neu ankommenden Flüchtlinge aus Griechenland zurückzunehmen. Dafür stellte sie umfangreiche Gegenforderungen im Hinblick auf Finanzhilfen und Visumerleichterungen. Die CSU warnte vor solchen Zugeständnissen. „Die Visumbefreiung lädt zu Missbrauch ein“, sagte CSUInnenexperte Hans-Peter Uhl der „Welt“. Die CSU sei mit einer Visumbefreiung nur einverstanden, wenn die Türkei im Gegenzug als sicheres Herkunftsland eingestuft werde. Dies würde die Abschiebung türkischer Asylbewerber erleichtern. In offenen Widerspruch zur Kanzlerin setzte sich Unionsfraktionsvize Hans-Peter Friedrich (CSU). „Wir müssen unseren europäischen Nachbarn in Österreich, in Slowenien, in Kroatien sehr dankbar sein, dass sie nationale Maßnahmen ergriffen haben“, sagte er. Am späten Abend kündigte Slowenien an, keine Flüchtlinge mehr durchzulassen. Künftig dürften Schutzsuchende nur nach Slowenien kommen, wenn sie dort Asyl beantragen wollten oder in Einzelfällen aus humanitären Gründen, erklärte das Innenministerium. rtr/AFP – Plan mit vielen Fragezeichen SEITE 2 – Themenschwerpunkt SEITE 4 – Medien an die Kette gelegt SEITE 6 Gönner-Mails dem Archiv vorenthalten Der Umgang mit den Mails von Ex-Ministerin Tanja Gönner (CDU) hat zu einem Konflikt zwischen dem Landesarchiv und dem Umweltministerium geführt. Trotz mehrfacher Bitten hatte es das Ressort von Franz Untersteller (Grüne) abgelehnt, die Kopien der elektronischen Korrespondenz dem Archiv zur Übernahme anzubieten. Stattdessen wurden sie im November 2015 vernichtet. Der Chef des Landesarchivs beschwerte sich daraufhin beim zuständigen Wissenschaftsministerium. Anders verhielt sich das Grünen-geführte Staatsministerium: Es wird dem Landesarchiv die Mailkopien von Beamten überlassen. mül – Kommentar: Im digitalen Reißwolf SEITE 3 – Archiv bittet vergeblich SEITE 5 Luff Ball im Feld der EU Medaille für einen Kriegsverbrecher in Jahr lang hat es niemand bemerkt; jetzt Ehrung Eine Gemeinde teiligte Menschen abgeschlachtet. Von all dem, sagt Bürgermeister Rosenau, hätten weder er noch ist der Sturm hereingebrochen. Anfang im Schwarzwald holt sein immerhin 32 Jahre lang amtierender VorgänMärz 2015 bekam der Bürger Wilhelm K., die Vergangenheit ein. ger irgendetwas gewusst. 22 Jahre, von 1975 bis damals 93 Jahre alt, für vielfältige soziale VerVon Paul Kreiner 1997, saß K. für die SPD im Gemeinderat von Endienste die Ehrenmedaille seiner Heimatgegelsbrand; in den Dorfvereinen war er sehr aktiv; meinde Engelsbrand (Enzkreis). Und jetzt, am Wochenende, erreichte Bürgermeister Bastian Rosenau eine Schwarzwaldbücher hat er geschrieben. So kannten ihn prakNachricht aus Italien: Ob sie denn wirklich wüssten, wen sie da tisch alle. „Aber nie hat uns eine Behörde, auch keine italienigeehrt hätten? Seither kann sich Rosenau vor Protest und An- sche, über seine Person informiert, nicht einmal über die Verfragen aus Deutschland und Italien nicht retten, denn der ver- urteilung“, sagt Bastian Rosenau, dem die Sache jetzt „sehr leid diente Bürger Wilhelm K. war ein Kriegsverbrecher. Als sol- tut“: „Es ist Schreckliches passiert, und wir wollten wirklich chen jedenfalls hat ihn die italienische Justiz im Sommer 2008 niemandem zu nahe treten.“ Mit K. selber hat Rosenau „angesichts dessen angeschlageletztinstanzlich zu lebenslanger Haft verurteilt – in Abwesenheit. Aber wie das so ist: der Verurteilte wurde nicht ausgelie- ner Gesundheit“ noch nicht gesprochen. Aber die Gemeinde fert; der Ruhestand des Wilhelm K. war nie ernsthaft gefährdet. will jetzt alle Akten anfordern, sie übersetzen lassen und bei der Als 22-jähriger Unteroffizier in der 16. SS-Panzergrenadier- Staatsanwaltschaft nachfragen. Die Opferverbände in MarzaDivision „Reichsführer-SS“ hat K., den italienischen Richtern botto und italienische Politiker haben bereits an Bundeskanzlezufolge, im Herbst 1944 in der Gegend von Bologna, genauer in rin Angela Merkel appelliert, die Ehrung zurückziehen zu lasMarzabotto, an der massenhaften Ermordung von Zivilisten sen. Für Rosenau ist dies Sache des Gemeinderats: „Nachdem mitgewirkt. Auf der „Partisanenjagd“ wurden fast 1000 unbe- wir alles geprüft haben, wird er der Entscheidungsträger sein.“ E Wetter SEITE 8 Mittwoch 8°/–3° Merkel erntet harsche Kritik nach EU-Gipfel www.stuttgarter-zeitung.de // Was trägt Stuttgart? Eine Modeliebhaberin klärt uns auf er Fußballtrainer Huub Stevens gilt als Erfinder der Maxime, dass ohne sichere Abwehr alles andere nichts ist. Gekleidet hat er sie in den Satz „Die Null muss stehen.“ Diese Weisheit hat sich nun die Europäische Union zu eigen gemacht: Selbst wenn ein Flüchtling irgendwie noch die europäische Abwehr aus Nato-Schiffen, Beamten der Grenzschutzagentur Frontex und griechischer Küstenwache passieren sollte – er wird auf jeden Fall in die Türkei zurückgeschickt. Das ist die Quintessenz der jüngsten Einigung mit Ankara, die Bundeskanzlerin Angela Merkel ganz entscheidend vorangetrieben hat. Die potenzielle Reduzierung des Zustroms auf Null wird der sich abwendenden CDU-Klientel als Wiederherstellung von Recht und Ordnung verkauft. Man nimmt es der Parteichefin Merkel zwar ab, dass sie Europa zusammenhalten wollte. Dass sie so gar nicht auf den nahen Wahlsonntag geschielt haben will, wirkt dennoch unglaubwürdig – dazu waren die Rufe in ihrer Partei nach nationalen Abwehrmaßnahmen zu laut. Sie dürften mit der Aussicht auf eine faktische Schließung der EU-Außengrenze leiser werden. Ob sich das in der kurzen Zeit auch auf Wahlergebnisse auswirkt, steht auf einem anderen Blatt. Europa scheint sich wieder einmal zusammengerauft zu haben. Das ist sicherheits- und wirtschaftspolitisch viel wert. Zu kritisieren ist, unter welchem Banner es sich neu sammelt. Statt den internen Streit über die Verteilung zu lösen – ein oder auch zwei Millionen Flüchtlinge wären kein so großes Thema, wenn sich alle Länder solidarisch zeigten –, liegt der alleinige Fokus auf der Reduzierung der Flüchtlingszahl. Die Vereinten Nationen kritisieren, dass es Stand heute unsicher ist, ob Schutzsuchende im angeblich sicheren Drittstaat Türkei ein gleichwertiges Asylverfahren erhalten. Kollektive Abschiebungen stehen im Gegensatz zum individuellen Anspruch. Das ist keine juristische Lappalie, sondern Wesenskern europäischer Rechtsstaaten. Pressefreiheit und Minderheitenschutz gehören dazu, Werte, bei denen der neue Partner Türkei zuletzt nicht geglänzt hat, um es sehr milde zu formulieren. Quasi als Belohnung erhält der lupenreine Demokrat Recep Tayyip Erdogan von der EU Reisefreiheit für seine Bürger. Was zuletzt in den Kurdengebieten oder der Zeitung „Zaman“ passiert ist, wurde zwar pflichtschuldigst angesprochen, bleibt aber ohne Konsequenzen. So abhängig ist die EU beim Grenzschutz von der Türkei, dass sie ihr leisetreterisch gegenübertritt. Rechtsstaatliche Mindestforderungen werden in den wiederbelebten Beitrittsgesprächen Thema und damit in die Zukunft vertagt. Nicht, dass die Richtungsentscheidung einfach gewesen wäre. Alternativen zur Kooperation mit der Türkei wären Zurückweisungen auf offenem Meer oder weiter unkontrollierte Einreisen gewesen mit den schon erkennbaren Folgen: soziale Spannungen, Erstarken der Rechtspopulisten, nationale Alleingänge, EU-Zerfallsprozess. Dennoch wäre ein selbstbewussteres Auftreten gegenüber Ankara und mehr Flüchtlingspolitik statt Flüchtlingsabwehrpolitik zu wünschen. Auch die schmutzige Realpolitik lässt gewisse politische Spielräume. Selbst der überfällige Paradigmenwechsel weg von illegaler hin zu legaler Migration ist in dieser Hinsicht typisch: Die EU legt bei der Öffnung sicherer Routen weit weniger Ehrgeiz an den Tag als beim Zusperren unerlaubter Wege. Wer nimmt der Türkei denn größere Flüchtlingskontingente ab? Absichtlich vage bleiben die EUStaaten dazu. Und das geplante Menschentauschgeschäft – für jeden aus Griechenland zurückgebrachten Syrer darf ein anderer Syrer aus der Türkei in die EU ausreisen – hinterlässt ein ganz ungutes Gefühl. Huub Stevens’ Kredo ist eben nur bedingt eine Erfolgsformel. Wer stur allein auf die Defensive setzt, riskiert immer eine Niederlage durch ein Eigentor. // Pet-Content Die Tierkolumne
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