taz.die tageszeitung

A lo cubano: Los Obama en La Habana
Historischer Besuch eines US-Präsidenten auf der Sozialisten-Insel ▶ Seite 14
AUSGABE BERLIN | NR. 10975 | 12. WOCHE | 38. JAHRGANG
DIENSTAG, 22. MÄRZ 2016 | WWW.TAZ.DE
H EUTE I N DER TAZ
€ 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND
„Seht genau hin,
was hier passiert!“
WARHERO Russischer
Richter verkündet Urteil
gegen die ukrainische
Kampfpilotin Nadija
Sawtschenko ▶ SEITE 11
WEICHEIER Schlaf – ein
kostenloser Luxus, Freizeitkiller oder was für
Schwächlinge? ▶ SEITE 13
FLUCHT Die griechischen Inseln werden
WIRKLICHKEIT Eine
geräumt. Wer nachkommt, wird ab sofort
zurückgeschickt. Lebensträume zerplatzen.
Bericht eines Helfers aus Lesbos ▶ SEITE 3
neue ZDF-Serie mit Eko
Fresh und Ferris MC gibt
sich Mühe, bleibt aber
zu bieder ▶ SEITE 18
ANALYSE Was der EU-Türkei-Pakt wirklich
Fotos oben: reuters, ap
bedeutet – und deutsche Reaktionen ▶ SEITE 2
VERBOTEN
Guten Tag,
meine Damen und Herren!
Deutschland steht wieder vor
einer horrenden Aufgabe. 200
Millionen Schokohasen haben
das Land überflutet. 89 Millio­
nen (das haben bestimmt die
da in Brüssel ausgekaspert)
werden umgehend ins Ausland
abgeschoben. Aber 111 Mil­
lionen müssen hier notversorgt
werden. Supermärkte haben
ein vorübergehendes Notasyl
angeboten. Merkel sagt:
Wir schaffen das!
(Eh, nölt da Kollege aus der
Ecke, schreib das nicht, das wird
doch wieder nicht lustig. Dabei hat er gestern gelacht. Gelacht?, grantelt der Kollege, ich
übers verboten? Niemals!)
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20612
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Hoffnungsvoll: Flüchtlinge im Lager in Moria auf Lesbos hören Helfern zu. Zwei Tage vor dem Inkrafttreten des Flüchtlingspakts Foto: Petros Giannakouris/ap
KOMMENTAR VON STEFAN REINECKE ZU MERKELS FLÜCHTLINGSPOLITIK
Fassade vor einer Ruine
A
ngela Merkel hat sich monatelang
von hysterische Medien und der
CSU anhören müssen, dass sie alles falsch macht. Dass sie in Europa isoliert ist, handlungsunfähig und an ihrer
Pastorentochtermoral gescheitert ist.
Es ist schon oft ein Fehler gewesen, die
Kanzlerin als Machtpolitikerin zu unterschätzen. Die EU hat nun einen Deal
mit der Türkei unterzeichnet, an dem
die Bundesregierung maßgeblich mitgestrickt hat. Merkel ist damit der anvisierten europäischen Lösung nähergekommen. Das ist, angesichts von verstockten Regierungen, die von Warschau
bis Wien die eigenen Grenzen verbarrikadieren, ein Erfolg.
Wir wissen noch nicht, wie resolut
der Deal in Griechenland in den nächsten Wochen de facto umgesetzt wird. Es
gibt dafür keine Blaupause. Falls dieses
Abkommen vor Ort funktioniert, hat
Merkel, was sie wollte: eine EU-Lösung
ohne deklarierte Obergrenze. Und fast
ohne Flüchtlinge. Denn die Chance, aus
Syrien, Irak oder Afghanistan über die
Türkei nach Europa zu kommen, wird
dann nahe null liegen.
Nehmen wir an, der saudi-arabische
Blogger Raif Badawi würde demnächst
auf Lesbos landen. Auch er würde wohl
umgehend in die Türkei zurücktransportiert. Denn die gilt ja (einzige Ausnahme:
Kurden) nun als sicheres Drittland. Wenn
sich keine Flüchtlinge mehr nach Griechenland aufmachen, werden auch keine
Syrer, die die EU im Tausch für Zurückgewiesene aufnehmen will, mehr kommen.
Dieses Abkommen erinnert an den Asylkompromiss von 1993. Formal gibt es das
individuelle Recht auf Asyl noch – aber
nur als Fassade vor einer Ruine.
Man gibt CSU-Mann Horst Seehofer
ungern recht. Aber seine Bemerkung,
Der EU-Türkei-Deal
ähnelt im Effekt dem
Asylkompromiss von 1993
SPD: Mehr Selbstbewusstsein
SOZIS
SPD-Spitzenleute bringen Sigmar Gabriel als Kanzlerkandidat ins Spiel
BERLIN taz | SPD-Spitzenpoliti-
ker fordern ihre Partei auf, im
Bundestagswahlkampf
2017
selbstbewusst aufzutreten, und
bringen Parteichef Sigmar Gabriel als Kanzlerkandidat ins
Spiel. „Die SPD muss 2017 den
Anspruch haben, um Platz eins
zu kämpfen“, sagte SPD-Bundesvize Ralf Stegner am Montag
der taz. „Wer nur Zweiter werden will, wirkt wenig selbstbewusst.“ Stegner fügte mit Blick
auf die Umfragewerte der SPD
hinzu: „Aber natürlich muss die
Rhetorik geerdet bleiben.“
Mehrere Spitzengenossen
haben dem SPD-Vorsitzenden
nach den Landtagswahlen demonstrativ den Rücken gestärkt.
„Sigmar Gabriel wäre ein guter
Kanzlerkandidat“, sagte Stegner
weiter. Wenn er antreten wolle,
habe er als Parteichef den ersten Zugriff. Auch Johannes
Kahrs, Sprecher des konserva-
tiven Seeheimer Kreises in der
Fraktion, empfahl seiner Partei Selbstbewusstsein. „Natürlich muss unser Anspruch sein,
vorne zu liegen. Das ist so, keine
Frage.“ Wähler seien nicht mehr
so stark an Parteien gebunden,
die Lage könne sich schnell ändern, betonte er. Die SPD liegt
in Umfragen im Moment über
10 Prozentpunkte hinter Angela
Merkels Union. US
Inland SEITE 7
dass Merkel ihre Politik komplett verändert hat, ohne dies zuzugeben, ist auf
infame Weise zutreffend. Infam, weil er
kräftig mitgewirkt hat, dass Merkel mit
ihrem Ziel, großzügig Flüchtlinge aufzunehmen und in der EU zu verteilen,
gescheitert ist. Aber das sind die Rechnungen von gestern. Merkel setzt, ohne
das Wort Obergrenze zu benutzen, auf
Abschreckung. Sie hat diese Wende unfallfrei und ziemlich lautlos vollzogen.
Taktisch eine Meisterleistung. Fast ein
halbes Jahr hat sich eine ganz große Koalition von der CDU über Rot-Grün bis
zu Linksparteirealos hinter der Kanzlerin versammelt. Vorbei, passé. Wir brauchen wieder eine Opposition.
Warlord verurteilt
JUSTIZ
Den Haag spricht Kongolesen schuldig
DEN HAAG afp/taz | Der Interna-
tionale Strafgerichtshof in Den
Haag hat erstmals einen Angeklagten als „militärischen Befehlshaber“ für Verbrechen seiner Truppen an Zivilisten schuldig gesprochen. Jean-­
Pierre
Bemba, ehemaliger Vizepräsident der Demokratischen Republik Kongo, wurde nach über
fünf Jahren Prozess in seiner
Funktion als Chef der Rebellenbewegung MLC zwischen
1998 und 2003 für Verbrechen
verurteilt, die MLC-Truppen
2002/2003 in der Zentralafrikanischen Republik verübten.
Ihm droht lebenslange Haft.
Richterin Sylvia Steiner sagte,
Bemba habe „das militärische
Kommando und die faktische
Kon­trolle über seine Truppen“
innegehabt. Deren Taten seien
vorsätzlich begangen worden.
▶ Schwerpunkt SEITE 4
▶ Meinung + Diskussion SEITE 12
02
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
Schwerpunkt
DI ENSTAG, 22. MÄRZ 2016
EU-Flüchtlingspolitik
Was um Himmels willen steht wirklich in der Vereinbarung mit
der ­Türkei? Und wie soll das alles funktionieren? Viele rätseln noch
Fehlstart mit Obergrenze
EUROPA Der umstrittene Flüchtlingspakt ist in Kraft. Und nun? Hier ein paar Fragen und Antworten zum Deal mit der Türkei
AUS BRÜSSEL ERIC BONSE
Seit Sonntag wird zurückgeschickt, jedenfalls auf dem Papier. Alle „irregulären“ Flüchtlinge, die auf den griechischen
Inseln ankommen, sollen in die
Türkei ausgewiesen werden und
ihren Traum von Europa aufgeben. So sieht es der umstrittene
Flüchtlingspakt vor, den die EU
mit der Türkei geschlossen hat.
Doch in der Praxis ist davon
noch nichts zu sehen. Kein einziger Migrant wurde bisher abgeschoben. Auch der „Kampf
gegen das Geschäftsmodell der
Schlepper“, den Kanzlerin Angela Merkel angekündigt hat,
ist ein Flop. Am Montag kamen
wieder mehr als Tausend Flüchtlinge auf den griechischen Inseln an.
Die EU müsse nun endlich
Druck auf die Regierung in Ankara ausüben, damit diese ihre
Küste besser überwache, sagte
der griechische Premier Alexis
Tsipras: „Wenn der Strom nicht
reduziert wird, können wir die
Inseln nicht in erfolgreicher
Weise räumen, damit das Abkommen vollständig umgesetzt
werden kann.“
War es also ein Fehler, den Pakt
sofort in Kraft zu setzen?
Merkels Sprecher Steffen Seibert sagt: Nein. Es brauche „ein
paar Tage“, bis die zugesagten
Sicherheitskräfte, Dolmetscher
und Asylexperten die griechischen Behörden bei der „Rückführung“ der Flüchtlinge in die
Türkei unterstützen könnten.
Allerdings: Bis dahin dürften
wieder einige Tausend auf den
Inseln gelandet sein. Die EU hat
zu früh auf den Startknopf gedrückt – sie hätte lieber warten
sollen, bis Griechenland wirklich bereit ist.
Ist die Abschiebung der Flüchtlinge überhaupt legal?
Darüber streiten die Experten.
Für Ärger sorgt vor allem, dass
die Türkei die Genfer Flüchtlingskonvention nur teilweise
anwendet. EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker hält
das aber für vertretbar, wenn
Griechenland die Türkei zum
sicheren Drittstaat erklärt. Auf
die massiven Proteste reagierte
die EU zudem mit der Versicherung, auf Massenabschiebungen zu verzichten und jeden Fall
individuell zu prüfen.
Der Haken: Griechenland soll
Asylanträge möglichst komplett
als unzulässig ablehnen. Die EUKommission schickt sogar Experten nach Athen, um bei der
Ablehnung zu „helfen“. Das Asylrecht werde so zur Farce, sagen
Kritiker wie die grüne Europaabgeordnete Ska Keller.
Was bedeutet das Eins-zu-einsPrinzip?
Für seine Anhänger ist es eine
magische Formel, mit der die
Fluchtwelle gestoppt und die
„legale“ Einreise gesichert werden soll. Für Kritiker ist es hingegen ein perverses Prinzip, das
dazu führt, dass Flüchtlinge nur
noch dann willkommen sind,
wenn möglichst viele „illegal“
nach Griechenland kommen
und abgeschoben werden.
Das ist tatsächlich der Grundgedanke: Für jeden in die Türkei
abgeschobenen „illegalen“ Syrer soll ein anderer legal in die
EU einreisen. Die Abgeschobenen sollen keine Chance mehr
haben, nach Europa kommen –
zur Abschreckung.
Wie soll das funktionieren?
Das kann bisher niemand
schlüssig erklären. Die EU-Kommission versuchte es am Montag in Brüssel – und scheiterte.
Klar ist nur, dass die Türkei zur
Drehscheibe für syrische Flüchtlinge wird und dass sie dabei
nichts zu verlieren hat: Die EU
zahlt für das Karussell.
Gibt es eine Obergrenze?
Auch wenn es die Bundesregierung bestreitet: Diese
Obergrenze gibt es, sie ist sogar schriftlich fixiert. Insgesamt will die EU nämlich exakt
72.000 syrische Asylbewerber
übernehmen – höchstens.
Auf Deutschland entfallen davon maximal 15.000 – ein Witz
im Vergleich zu den Zahlen, die
bisher kamen. CSU-Chef Horst
Seehofer könnte eigentlich zufrieden sein. Allerdings könnte
Deutschland noch wesentlich
mehr Menschen aus der Türkei übernehmen: auf freiwilliger Basis.
Was machen die anderen EUStaaten?
Abwarten und Tee trinken.
Grundsätzlich hätten sich alle
zur Aufnahme von Flüchtlingen
bereit erklärt, so Merkel in Brüssel. Die Quoten legt ein Verteilungsschlüssel der EU-Kommission fest.
Doch Ungarn und die Slowakei machen nicht mit, Großbritannien sowieso nicht. Und
für den Start der „legalen“ Aufnahme aus der Türkei haben
sich auch noch keine Freiwilligen gefunden.
Was wird aus den Menschen in
Idomeni?
Das ist unklar. Merkel hat an
die Gestrandeten appelliert, in
bessere Unterkünfte in Grie­
chenland umzuziehen. Doch
dafür stehen nach Angaben
von Hilfsorganisationen nicht
­genügend Plätze bereit. Und was
nach ­einem Umzug geschehen
soll, das ist auch noch unklar. Im
Flüchtlingspakt wird die Lage in
Idomeni mit keinem Wort erwähnt.
Kann der Deal noch einmal
aufgedröselt werden?
Nein, er ist endgültig. Merkel
sprach vom „Moment der Unumkehrbarkeit“. Es gibt nicht
einmal eine Klausel, die definiert, was passiert, wenn die
Türkei oder Griechenland nicht
mitspielen und der Andrang
über den Seeweg nach Europa
anhält. Die EU hat sich selbst ein
Bein gestellt und von der Türkei
abhängig gemacht.
Wie viele gekommen sind
■■2015 sind so viele Ausländer
nach Deutschland gezogen wie
noch nie zuvor: knapp zwei
Millionen. Gleichzeitig zogen
rund 860.000 Ausländer fort.
Das sei der höchste Wanderungsüberschuss in der Geschichte
der Bundesrepublik, berichtete
das Statistische Bundesamt
am Montag. Im Vergleich zum
Vorjahr habe sich der Wert fast
verdoppelt.
■■Bis 2014 waren die Zuwanderer vor allem aus anderen
EU-Ländern gekommen. Viele
hielten sich nur vorübergehend
in Deutschland auf. Jetzt sind es
zum Großteil Schutzsuchende.
■■Ende 2015 waren 9,11 Millionen Personen im Ausländer­
register gemeldet. Das entspricht
einem Anstieg von 955.000 oder
knapp 12f Prozent gegenüber
2014. (epd)
Seit Sonntag ist die neue Vereinbarung in Kraft. Die Migranten, die hier im Hafen von Elefsina westlich Athens ankommen, wissen nicht, was das für sie bedeutet Foto: Yorgos Karahalis/ap
Parteiübergreifend Kritik am Abkommen
REAKTIONEN
Die CSU fordert Merkel auf, mehr zu reden. Linke und Grüne wollen handeln
BERLIN taz | Als Angela Mer-
kel vergangen Freitag vor die
Presse trat, hatte sie eine Botschaft: Dass sie erleichtert sei,
mit allen 28 EU-Mitgliedsstaaten eine Lösung gefunden zu
haben, „im Geiste einer breiten
und wirklich wichtigen Partnerschaft und auch in dem Geist,
Lasten miteinander zu teilen“.
Nur war sie dafür über eine andere Partnerin hinweggegangen
– über die CSU. Die hat den Deal
mit der Türkei kritisiert.
Die CSU ist gegen einen EUBeitritt der Türkei. Zwar hatte
die Kanzlerin vergangene Woche im Bundestag darauf hingewiesen, dass der noch nicht
auf der Tagesordnung stehe.
Doch das Abkommen von Freitag vereinbart ausdrücklich, die
Verhandlungen fortzuführen.
Auch unmittelbar soll die
Türkei profitieren: indem ihre
Staatsbürger kein Visum mehr
benötigen, um nach Europa zu
reisen. Erfüllt die Türkei bis zum
Sommer eine Reihe von Bedingungen, tritt die Regelung in
Kraft – so hatten es nicht nur die
EU-Mitglieder im vergangenem
Jahr beschlossen. Auch die Koalitionsspitzen haben dazu ein
Papier unterzeichnet. Davon
will die CSU inzwischen nichts
mehr wissen: Sie wolle Visa-Freiheit maximal für „bestimmte
Personengruppen“ mittragen,
hatte die CSU-Landesgruppenchefin Gerda Hasselfeldt gesagt,
etwa für Geschäftsreisende.
Doch Merkel ignorierte diese
Einschränkung, als sie nach
Brüssel fuhr. Und so steht nun
fest: Ende April will die EU abschließend prüfen, ob die Türkei alle Bedingungen zur VisaFreiheit erfüllt. Die CSU müsste
also sauer sein. Müsste.
Bislang hören sich die Kommentare führender CSU-Politi-
ker so an: „Es ist gut und notwendig, dass Europa zusammensteht und mit einer Stimme
spricht. Das ist ein Erfolg der
Kanzlerin“, sagte Hasselfeldt
der Passauer Neuen Presse. Einen „Schritt nach vorne“, nennt
Stephan Mayer, innenpolitischer Sprecher der Unionsfraktion, das Abkommen. Sogar
CSU-Chef Horst Seehofer sagt in
der Bild am Sonntag fast schon
mild über das Abkommen: Man
müsse „in den nächsten Wochen
sehr genau darauf schauen, was
daraus wird“.
Eigentlich aber ist die CSU
nicht zufrieden. Deshalb fordert
Seehofer auch, den Bundestag
in die Entscheidungen über die
EU-Flüchtlingspolitik einzubeziehen. „Wir sind der Meinung,
dass der Bundestag bei dem
Thema bislang zu kurz gekommen ist“, heißt es erläuternd aus
Parteikreisen. Auch von einem
„Schattendasein“ ist die Rede.
Doch Abkommen, wie das mit
der Türkei, sind nicht von der
Zustimmung des Parlaments
abhängig. Deshalb will die CSU
nicht nur mehr reden, sondern
fordert Merkel und die CDU auf,
ein „Signal“ zu senden: dass „die
bedingungslose Willkommenskultur in Deutschland beendet“
sei. Was das nach Asylpaketen,
Grenzkontrollen und dem Türkei-Deal noch sein soll, erläutert
niemand aus der Partei.
Die Kritik der Opposition
Die Linkspartei bezweifelt derweil, ähnlich wie Menschenrechtsorganisationen und UNVertreter, dass der Deal mit
internationalem und europäischem Recht vereinbar ist. „Die
Bundesregierung sollte die
Anschuldigungen durch ein
­
unabhängiges Gutachten prüfen lassen, wenn sie es ernst mit
der Menschenrechtskonvention und europäischen Grundrechten meint“, sagte Fraktionsvize Jan Korte. Er nennt drei
Gründe für seine Zweifel: Die
Türkei habe die Genfer Flüchtlingskonvention nicht vollständig akzeptiert, lasse den Konflikt
mit den Kurden eskalieren und
schiebe Flüchtlinge manchmal
sogar nach Syrien ab.
Die Grünen teilen diese Kritik. Manche in der Partei fordern
zudem eine Lösung für diejenigen Flüchtlinge, die bereits in
Griechenland festsitzen und
deshalb vom Abkommen nicht
direkt berücksichtigt werden.
Die Europa-Abgeordnete Ska
Keller sagte während eines Besuches in Idomeni, angesichts
der „untragbaren Situation“
dort sollten „die EU-Staaten ihre
Grenzen öffnen und diese Menschen reinlassen“.
CHRISTINA SCHMIDT, TOBIAS SCHULZE
Schwerpunkt
EU-Flüchtlingspolitik
DI ENSTAG, 22. MÄRZ 2016
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
03
In Griechenland dreht sich schon das Flüchtlingskarussell.
Schon Angekommene werden von zu spät Kommenden getrennt
„So ein Plan kann nicht innerhalb von 24 Stunden umgesetzt werden“: das Moria-Flüchtlingscamp auf der Insel Lesbos Foto: Björn Kietzmann
Die letzte Hand, die ich schüttele
GRIECHENLAND Flüchtlinge werden seit
Montag von den Inseln aufs Festland
gebracht. Eine Reise ins Ungewisse. Doch
wer nach ihnen ankommt, muss zurück.
Der Bericht eines Helfers
AUS LESBOS PAUL OSTWALD
Amir F. aus Pakistan kommt jeden Morgen zu mir ans Kleidungszelt. Seit zwei Monaten lebt er in einem der weißen Zelte. Der durchtrainierte
19-Jährige hält meist einen Becher Tee in der linken Hand und
trägt eine graue Mütze mit dem
Namensaufdruck seines Idols,
des Wrestlers John Cena. Meist
bittet er um ein neues T–Shirt
oder eine Hose, fast immer verlässt er das Zelt, ohne beides erhalten zu haben, aber trotzdem
nie schlecht gelaunt.
Die Reserven reichen nicht
für Doppelverpflegung. Aber
das ist ihm inzwischen fast
egal, eigentlich kommt Amir,
um mit den Helfern zu plaudern und sein Englisch mit uns
zu üben. Er ist einer von knapp
850 überwiegend pakistanischen Flüchtlingen, die zurzeit
im Olive Grove Camp in Moria auf der griechischen Insel
Lesbos wohnen. Für sie ist der
Camp-Alltag erträglich, solange
die Sonne scheint. Neben Teezelt und Kleidungsausgabe gibt
es einen Basketballplatz, einen
Pizzaofen und sogar eine Kinderecke.
Damit soll jetzt innerhalb
von 48 Stunden Schluss sein –
als Folge der am Freitag getroffenen Vereinbarung zwischen EU
und Türkei.
Alle 6.000 Flüchtlinge, die
sich auf den griechischen Inseln der Ostägäis befinden, sollen noch im Laufe des Montags
evakuiert, also per Fähre nach
Kavala auf das griechische Festland gebracht werden. Von dort
an ist ihre Reise, wieder einmal,
eine Fahrt ins Ungewisse.
Sie können Asyl beantragen.
Für die pakistanischen Männer
und Familien aus dem Olive
Grove Camp sieht es dabei aber
nicht gut aus. Für sie bedeutet
Kavala wahrscheinlich das Ende
des europäischen Traums, denn
die griechische Regierung sieht
sie zumeist als Wirtschaftsflüchtlinge an.
Samstag, der Tag vor dem Inkrafttreten des EU-Türkei-Abkommens. Als Amir am Samstagabend wieder einmal vor
mir steht, um sich ein neues T–
Shirt abzuholen, wissen die freiwilligen Helfer bereits um sein
Schicksal. Wir haben von der Lagerleitung Anweisungen erhalten, den Flüchtlingen keine Informationen über ihre anstehende Reise mitzuteilen. Zu
groß ist die Angst davor, dass
sie in der Nacht das Zeltlager
verlassen könnten, um sich auf
der Insel vor der anrückenden
Polizei und ihrer Deportation
zu verstecken. Seit das drahtlose
Internet im Camp kollabiert ist,
sind wir ihre einzige Quelle für
Informationen. Doch Amir und
viele andere merken schnell an
unseren Reaktionen, dass etwas
nicht stimmt.
Der EU-Türkei-Deal sieht vor,
dass für jeden Flüchtling, den
die Türkei aufnimmt, ein Flüchtling aus der Türkei in Europa
angesiedelt wird. So zumindest
lautet der Fahrplan. Doch Giorgios Kyritsis, der Sprecher der
griechischen Regierung in Migrationsangelegenheiten, äußert
seine Zweifel: „So ein Plan kann
nicht innerhalb von 24 Stunden
umgesetzt werden“.
Sonntag, seit Mitternacht ist die
Vereinbarung in Kraft, aber sie
wird zunächst nicht umgesetzt.
Wir schieben Doppelschichten,
ich bin bereits seit 20 Stunden
im Dienst, als wir am Sonntagmittag die Nachricht erhalten,
dass die Polizei eingetroffen
sei und mit der Deportation
begonnen habe. Mit Kampfausrüstung, Plexiglasschildern
und breiten Sonnenbrillen stehen sie in der griechischen Mittagssonne vor unserem Camp.
Die Campleitung ruft die
knapp 40 Freiwilligen für eine
kurze Ansprache zusammen.
„Haltet euch aus der Arbeit der
Polizei raus, aber seid Augenzeugen dessen, was hier passiert“, lautet der Appell. „Vielleicht können wir so zumindest
sicherstellen, dass menschlich
mit den Flüchtlingen umgegangen wird.“
Eine junge Helferin aus Finnland kann ihre Tränen nicht zurückhalten. Alle sind betroffen,
wischen die Augen trocken, atmen tief durch, dann öffnen wir
wieder für Amir und die anderen. Und versuchen zu lächeln,
um die Situation so entspannt
wie möglich zu halten und den
Abreisenden Halt zu geben.
Für Amir habe ich am Sonntagnachmittag leider kaum Zeit,
er steht mit apathischem Blick
neben dem Geschehen. Eine
Welle von Neuankömmlingen
hat über Samstagnacht noch
versucht, die Insel zu erreichen.
An den Stränden um Mytilini,
der großen Hafenstadt der Insel Lesbos, landen im Morgengrauen mehr als zehn Boote. Wir
sind per WhatsApp direkt mit
den Crews am Strand vernetzt
und erwarten die frisch Eingetroffenen bereits mit der nötigsten Kleidung.
Wieder sterben einige, als ein
Schlauchboot auf Felsen platzt.
Diejenigen, die überleben,
werden sofort registriert, um
gegenüber Behörden belegen
zu können, dass sie Europa vor
dem 21. März erreicht haben.
Denn das Schicksal derer, die
danach die Strände von Lesbos
erreichen werden, scheint bereits festzustehen. Da die Türkei
es zur Bedingung gemacht hat,
dass die Rückkehrregelung nur
für Neuankömmlinge gilt, werden die Nachzügler als illegale
Immigranten mit Zwischenstopp in der Türkei in ihre Heimatorte zurücktransportiert.
Das soll Nachzügler abschrecken, vor allem die sogenannten Wirtschaftsflüchtlinge.
Doch Mitarbeiter vom UNFlüchtlingshilfswerk UNHCR,
Zum Mittagessen
gibt es Linseneintopf
mit Kartoffeln
in Pappbechern.
Danach ist es so weit
Vertreter von Ärzte ohne Grenzen und die Freiwilligen sind
sich einig: Die Menschen werden weiterhin kommen. Sie werden sich nicht mehr wie bisher
registrieren lassen und sich so
um Asyl bewerben können. Für
sie bedeutet es, dass sie andere
Wege finden müssen, nach Eu40 km
Kavala
Thessaloniki
TÜRKEI
Babakale
GRIECHENLAND
Mittelmeer
Larissa
Mithimna
Lesbos
Moria
Mytilini
Izmir
GRIECHENLAND
TÜRKEI
Athen
taz.Grafik: infotext-berlin.de
ropa zu gelangen. Wahrscheinlich wird ihr Weg weiterhin über
Lesbos führen, meint Katie, die
das Olive Grove Camp mitbetreibt. „Nur können wir sie jetzt
nicht mehr legal unterstützen,
verpflegen und ihnen einen
Schlafplatz bieten. Sie müssen
sich jetzt im Freien auf eigene
Faust durchschlagen.“
Montag, auf Lesbos wird das EUTürkei-Abkommen nun tatsächlich umgesetzt. Zum Mittagessen
gibt es Linseneintopf mit Kartoffeln in Pappbechern. Danach ist
es so weit. Der Abtransport beginnt.
Als die Polizei die ersten 150
Menschen in Busse verlädt,
stehe ich inmitten verschnürter Taschen und bleierner Minen. Manche der Flüchtlinge haben einen nächsten Schritt seit
Monaten herbeigesehnt, auch
wenn sie nicht wussten, wie
er aussehen würde. Mit dieser
Rückkehrvereinbarung endet
für sie am heutigen 21. März,
dem offiziellen Frühlingsbeginn, der lange Winter des Wartens. Andere brechen angesichts
der erneuten Ungewissheit in
Tränen aus.
Ich spreche ihnen Mut zu, die
letzte Hand, die ich schüttle, ist
die von Amir. Er lächelt gezwungen und schenkt mir seine JohnCena-Mütze. Wir umarmen uns.
Dann verlasse ich den Vorplatz
und lasse meinen Tränen in einer Nebengasse gemeinsam mit
andere Freiwilligen freien Lauf.
Der erste von vielen Bussen
fährt mit leisem Brummen ab.
■■Der Autor ist derzeit freiwilliger
Helfer im Olive Grove Camp in
Moria auf Lesbos