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MA-Verlag
Elektronische Zeitung Schattenblick
Montag, 29. Februar 2016
POLITIK / FAKTEN
Treffen um Rosa Luxemburg - die Pläne des Feindes ... (2)
Lateinamerika - das gefährlichste
Pflaster für Menschenrechtler*innen
Reformismus kann die imperialistische Waffengewalt nicht brechen
poonal ­ Pressedienst lateinameri­
kanischer Nachrichtenagenturen
(Lima, 14. Januar 2016, noticias
aliadas) Das Jahr 2015 war für Men-
Podiumsdiskussion "Antiimperialismus heute"
am 9. Januar 2016 in Berlin
schenrechtler*innen in Lateinamerika ein schreckliches Jahr. Front Line
Defenders, eine in Irland ansässige
Organisation zum Schutz von Menschenrechtler*innen, gab bekannt,
dass weltweit im vergangenen Jahr
156 Menschen starben, weil sie für
Menschenrechte eingetreten .. . (S. 5)
DIE BRILLE / REPORT
Jetzt schreiben, wofür? Rolf Becker liest Georg Weerth
Rolf Becker liest aus dem Nachlaß
von Georg Weerth im Polittbüro in
Hamburg am 18. Februar 2016
(SB) ­ Viele der Gekommenen wur-
den persönlich begrüßt, einige mit
Handschlag, andere per Umarmung. Gregor Schirmer
Eher schien der Abend des 18. Fe- Foto: © 2016 by Schattenblick
bruar 2016 im Polittbüro am Hamburger Steindamm ein Treffen unter Der erste Teil des Berichts über die
Freunden zu sein als eine öffentliche auf Einladung der Europäischen
Lesung. Was kein Wunder ... (S. 6) Linken veranstaltete Podiumsdiskussion zum Thema "Antiimperialismus heute" hatte sich mit den Beiträgen Diether Dehms, Maite Molas,
DIE BRILLE / REPORT
Dov Khenins und Rainer Rupps befaßt. Im nun folgenden zweiten Teil
Jetzt schreiben, wofür? sollen die Positionen des Völkeralte, neue und offene Fragen ... rechtlers Prof. Dr. Gregor Schirmer,
Rolf Becker im Gespräch
des griechischen Sozialministers
(SB) ­ Georg Weerth, Jahrgang 1822, Prof. Dr. Georgios Katrougalos soden Friedrich Engels als den "ersten wie des italienischen Marxisten
und bedeutendsten proletarischen Prof. Dr. Domenico Losurdo gewürdigt werden.
Dichter Deutschlands" ... (S. 9)
Kämpft es sich mit dem
Völkerrecht besser
Wie Gregor Schirmer unterstrich,
brauche der Imperialismus von heute für sein Handeln Rechtfertigungsgründe, um seine Politik verdaulich
zu machen. Er komme nicht ohne die
Behauptung aus, seine Schandtaten
würden auf Grundlage des geltenden
Völkerrecht vollzogen. Dies sei jedoch nur unter dessen skrupelloser
Verfälschung möglich. Die dafür am
häufigsten benutzten Einfallstore
seien die sogenannte humanitäre Intervention und die Berufung auf das
Recht auf individuelle und kollektive Selbstverteidigung, wo eine Legi-
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timierung durch den Sicherheitsrat
nicht zu haben sei oder nicht ausreiche. Ob Jugoslawien, Afghanistan,
Irak oder Syrien, stets seien solche
Vorwände im Dienste ganz anderer
Ziele fabriziert worden. In keinem
dieser Fälle habe einen Angriff auf
die USA oder einen anderen Staat
stattgefunden. Im Syrienkrieg habe
Assad das Selbstverteidigungsrecht
auf seiner Seite, und Resolutionen
des Sicherheitsrats zum Terror des IS
gäben keine Auflassung für militärische Schläge irgendeiner von den
USA oder gar Saudi-Arabien angeführten Koalition in Syrien.
Der Einwand, an das Völkerrecht
halte sich ohnehin niemand mehr,
zumal Macht vor Recht gehe, sei
nicht ganz von der Hand zu weisen.
Dennoch favorisiere er die Maxime,
daß es sich mit dem Völkerrecht besser kämpfe als ohne dieses. Das Völkerrecht sei vor 70 Jahren in der historisch einmaligen Situation in der
Charta der Vereinten Nationen ausgeformt worden und nach wie vor
verbindlich. Seine Grundprinzipien
machten es in mancher Hinsicht zu
einem geradezu antiimperialistischen Recht, das man als Meßlatte
für die Politik der Staaten und als
Kampfinstrument nutzen sollte. Die
1948 verabschiedete allgemeine Erklärung der Menschenrechte spreche
in Art. 28 jedem Menschen den Anspruch auf eine soziale und internationale Ordnung zu, in der weitreichende Rechte und Freiheiten voll
verwirklicht werden können. Lege
man die detaillierte Auflistung der
damals formulierten Rechte zugrunde, sei das fast schon ein Recht auf
eine sozialistische Gesellschaftsordnung, schloß der Referent seinen
Vortrag.
Wenngleich Schirmer zuzustimmen
ist, daß in Verfolgung der eigenen Interessen auch eine rechtsgestützte
Strategie zu Gebote stehen kann,
greift doch der von ihm selbst zitierte Einwand zu kurz, Macht gehe vor
Recht. Vielmehr bedarf Recht stets
der juristischen, polizeilichen, admiSeite 2
nistrativen oder auch militärischen
Macht, es durchzusetzen, was es in
seinem Wesenskern als ein zentrales
Element von Herrschaft ausweist.
Sich auf Recht zu berufen, wo es in
Teilen die eigene Argumentation zu
unterstützen scheint, hat den fatalen
Pferdefuß, sich der Ideologie des
Rechts als eine übergeordnete höchste Instanz, der alle gleichermaßen
unterworfen seien, zu überantworten. Wie Schirmer einräumt, wird der
Kodex geltenden Völkerrechts fortlaufend nach den Maßgaben imperialistischer Aggression verändert.
Dies als Verfälschung zu geißeln,
mutet zwar naheliegend an, verpaßt
dem antiimperialistischen Kampf jedoch das Zwangskorsett einer der
Legalität verpflichteten Rechtfertigungsnot.
Georgios Katrougalos
Foto: © 2016 by Schattenblick
Welche europäische Identität wird
da verteidigt?
Georgios Katrougalos ging unter Bezug auf Marx und Lenin der Frage
nach, wie sich der Zustand des Kapitalismus im Laufe der Zeit verändert
habe und welche Konsequenzen daraus für eine angemessene Taktik der
revolutionären Bewegung zu ziehen
seien. Wenn Lenin den Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus ausgewiesen und beispielsweise vom internationalen Monopolwww.schattenblick.de
kapital oder dem Übergang vom
Bank- und Industriekapital zum Finanzkapital und dessen führender
Rolle gesprochen habe, treffe das
auch auf die heutigen Verhältnisse
zu. Die Sowjetunion habe einen
enormen Einfluß auf die Veränderung des Kapitalismus in den folgenden Jahrzehnten gehabt. Der Fordismus habe nicht nur Massenproduktion, sondern auch Massenkonsumption beinhaltet. Die wesentliche
Transformation des Kapitalismus
nach Einsetzen des Imperialismus sei
der Wohlfahrtsstaat, der vor allem in
Europa den Charakter eines historischen Kompromisses angenommen
habe. Sowohl Roosevelts New Deal
als auch Hitlers totalitärer Staat seien Reaktionen auf den Zustand des
Kapitalismus ihrer Zeit, aber dennoch grundverschieden
gewesen, so der Referent.
Er persönlich sei nicht der
Auffassung, daß die Linke
über eine strategische Lösung für die Frage nach
dem wünschenswerten Sozialismus verfüge. Der
Wohlfahrtsstaat sei beständig bedroht, der Neoliberalismus insofern eine revolutionäre Bewegung, als
er die Beziehungen zwischen den Kapitalinteressen und dem Sozialstaat
über den Haufen werfe.
Die Verteidigung des Sozialstaats
könne jedoch nicht den Kern linker
Politik ausmachen. Es gelte vielmehr, die Konterrevolution des Neoliberalismus zu stoppen, und das betreffe nicht nur die Ökonomie, sondern den grundsätzlichen Zustand
der Demokratie, die auf Ebene der
EU praktisch nicht existiere. Die
Verteidigung der sozialen Identität
Europas sei per se keine revolutionäre Politik, da sie auch von Sozialdemokraten vertreten werde. Doch
da man sich an einem Kreuzweg befinde, sei die Verteidigung der sozialen Werte Europas fast schon eine revolutionäre Perspektive. Der Neoliberalismus sei der Hauptfeind, da er
Mo, 29. Februar 2016
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ökonomische und staatliche Strukturen konterrevolutionär umforme. In
Griechenland sei die Situation "vor dem erzwungenen Kompromiß
vom Juli 2015" sehr
schwierig gewesen. Dennoch setze Syriza den
Kampf für die Gesellschaft fort, die seit fünf
Jahren beispiellose Einbußen hinnehmen mußte.
Man verteidige nach wie
vor die europäische
Identität, die in Jahrzehnten der Kämpfe der
Arbeiterklasse, der kommunistischen und sozialistischen Parteien erreicht worden sei.
Wenn sich Katrougalos im Kreis
dreht, wo er im selben Atemzug argumentiert, eine Verteidigung der sozialen Werte Europas sei für sich genommen keine revolutionäre Politik,
aber angesichts der Konterrevolution des Neoliberalismus doch fast
schon eine revolutionäre Perspektive, geschieht das nicht zufällig. Ausgehend von der These, daß die Linke über keine strategische Lösung
für den Kampf um den wünschenswerten Sozialismus verfüge, plädiert
er nicht dafür, gerade deswegen das
Ringen um eine dezidiert antikapitalistische Ausrichtung voranzutreiben. Vielmehr attestiert er der reformistischen Anpassungsleistung Syrizas die Qualität, eine europäische
Identität zu verteidigen, die von der
Arbeiterklasse erkämpft worden sei.
Die europäische Nachkriegsordnung, die EU und der Euro, noch dazu im Haus der NATO, waren jedoch
nie etwas anderes als eine dezidiert
antikommunistische und imperialistische Formierung der führenden
westlichen Nationalstaaten und deren Kapitalfraktionen. Sie wurde
ganz gewiß nicht von der Arbeiterklasse oder deren Parteien erkämpft,
die ganz im Gegenteil gute Gründe
hätten, sich in einem dezidiert internationalistischen Kampf dieses "Europas" zu entledigen.
Mo, 29. Februar 2016
tikoloniale Weltrevolution des 20.
Jahrhunderts in
Frage zu stellen.
Die neokolonialen
Kriege seit 1989
kündigten größere
Kriege an, wobei
China die erste
Zielscheibe sei.
Heute strebten die
Länder, die das politische Joch des
Kolonialismus abgeschüttelt haben,
danach, sich auch
von der wirtschaftlichen und technologischen AbhänDomenico Losurdo
gigkeit zu befreien, da ihre politische
Foto: © 2016 by Schattenblick
Unabhängigkeit andernfalls nur formell bestünde. Es gelte daher, nicht
Koloniale Kriege mit den
Zielscheiben China und Rußland nur die politische, sondern auch die
wirtschaftliche und technologische
Domenico Losurdo ging eingangs Annexion in einem antikolonialen
der Frage nach, wann der große Kampf abzuschütteln.
Krieg der Gegenwart begonnen habe. Seit dem Triumph des Westens Die zweite Zielscheibe sei Rußland,
im Kalten Krieg folge ein warmer ein Land mit einer komplizierten
Krieg dem anderen. Panama, Irak, Geschichte, das eine imperialistische
Jugoslawien, Libyen, Syrien und die Macht, doch zugleich der Gefahr
koloniale Expansion in Palästina - ausgesetzt gewesen sei, eine Kolonie
diese Kriege seien völkerrechtswid- zu werden. Viele Historiker seien der
rig entfesselt worden und zielen stets Auffassung, daß Hitlers Krieg im
auf Länder ab, die eine mehr oder Osten der größte Kolonialkrieg der
weniger gelungene antikoloniale und Weltgeschichte gewesen sei. Auch
antifeudale Revolution vollzogen nach der Niederlage im Kalten Krieg
hätten. Länder wie Saudi-Arabien, wäre Rußland unter Jelzin im Zuge
für die das nicht gelte, unterstützten der massiven Privatisierung fast eine
und finanzierten heute den Islami- Halbkolonie des Westens geworden,
schen Staat, dessen Barbarei zu- da sich nicht nur die russische Oliggleich und vor allem jene des west- archie, sondern auch westliche Molichen Kolonialismus und Imperia- nopole den Sozialreichtum angeeiglismus sei. Der Krieg gegen Syrien net hätten. Putin habe alledem ein
sei schon 2003 von US-amerikani- Ende gesetzt, was den Haß des Weschen Neokonservativen mit dem stens auf ihn erkläre.
Ziel eines Regimewechsel geplant
worden. Welche Kritik an Assad man Losurdo wies darauf hin, daß auch
auch immer habe, ändere das doch die Widersprüche innerhalb des
nichts an der Tatsache, daß dies kein westlichen Imperialismus zu berückBürgerkrieg, sondern in erster Linie sichtigen seien. An seiner Spitze steein imperialistischer Aggressions- he mit den USA die einzige Macht,
welche ihre imperialistischen Ambikrieg sei.
tionen glorifiziere und sich von Gott
Angeführt von den USA versuche auserwählt wähne, die Welt zu regieder westliche Imperialismus, die an- ren. So habe auch Obama jüngst das
www.schattenblick.de
Seite 3
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Dogma bestätigt, wonach die USA
die einzige "unentbehrliche Nation"
der Welt seien. Selbst der konservative italienische Journalist und Botschafter in der Sowjetunion, Sergio
Romano, habe den USA die Ambition attestiert, ungestraft den ersten
nuklearen Schlag zu führen.
Linkspartei unverrückbar
antiimperialistisch?
Wenngleich die Podiumsdiskussion
natürlich keine Strategiedebatte der
Europäischen Linken war, setzte sie
doch im Kontext des Rosa-Luxemburg-Wochenendes in Berlin bedeutsame Akzente, was die künftige Positionierung der deutschen
Linkspartei und ihrer Schwesterparteien in anderen europäischen
Ländern betrifft. So erinnerte ein
Diskussionsteilnehmer aus dem
Publikum daran, daß auf dem Europaparteitag in der Präambel die
Aussage gestrichen wurde, Europa
sei imperialistisch. Seiner Auffassung nach sei Die Linke entweder
antiimperialistisch oder gar keine
Linke. Dafür erntete er viel Beifall
und zwangsläufig keinen Widerspruch, schien seine Forderung
doch mit dem Thema der Veranstaltung konform zu gehen.
Europa sei zweifellos imperialistisch, berge aber diverse US-Stützpunkte mit Atomwaffen, über die
nur Washington verfügen könne.
Washington könne daher Italien
oder ein anderes westeuropäisches
Land in einen Atomkrieg stürzen.
Im Zweiten Weltkrieg habe die Resistenza unter Führung der KPI Italien in einem nationalen Befreiungskampf vor dem Faschismus gerettet. Heute bedürfe es einer breiten Front im Kampf gegen den
Krieg, gegen den Imperialismus.
"Ich glaube, daß wir den Kampf
auch gegen die NATO und deren
Stützpunkte in Europa führen müssen, weil das für ganze Völker le- Die Linke ist in der Tat die einzige
benswichtig ist", schloß Losurdo Antikriegspartei im Bundestag und
festigt auch darüber das Bild einer
seinen Vortrag.
sition mit ihr nicht zu haben, heißt
es einmütig an der Spitze und wohl
auch an der Basis der Partei. Der
Schwerpunkt "Antiimperialismus
heute" am Vorabend des festlichpolitischen Jahresauftakts schien
diesen Eindruck nur um so mehr zu
bestätigen, setzte er doch mit seiner
inhaltlichen Ausrichtung und der
hochwertigen Besetzung des Podiums ein klares Signal gegen den
imperialistischen Krieg.
Da die Linkspartei jedoch mehrheitlich bereits den demokratischen Sozialismus und das imperialistische Europa entsorgt hat,
muß sie sich die skeptische Frage
gefallen lassen, wie felsenfest ihr
vorgeblich antiimperialistischer
Konsens gefügt ist. Wenn Diether
Dehm den Antikapitalismus in
den Nachrang verweist, in seinem
Schlußwort die Abkehr von der
"Engstirnigkeit mancher Linken
und ihrer sektiererischen Dünnlippigkeit" begrüßt und eine "breite, populäre Front gegen Krieg"
heraufziehen sieht, fällt es jedenfalls schwer, darin ein Plädoyer
für eine offene Diskussion ohne
mehrheitsfixierte Preisgabe genuin linker Positionen zu sehen.
21. Rosa Luxemburg Konferenz
in Berlin im Schattenblick
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INFOPOOL → POLITIK →
REPORT:
BERICHT/223: Treffen um Rosa
Luxemburg - Wasser predigen ...
(SB)
BERICHT/224: Treffen um Rosa
Luxemburg - Weichgespült ... (SB)
Rainer Rupp, Dov Khenin, Diether
Dehm, Maite Mola, Georgios Ka­
trougalos, Domenico Losurdo, Gre­
gor Schirmer
Foto: © 2016 by Schattenblick
Seite 4
BERICHT/225: Treffen um Rosa
Luxemburg - Eine Hälfte brennt ...
Geschlossenheit, das sie in der Ver- (SB)
gangenheit häufig vermissen ließ.
Was die Frage ihrer Koalitions- BERICHT/226: Treffen um Rosa
oder gar Regierungsfähigkeit be- Luxemburg - Multiform schlägt Unitrifft, sei eine Preisgabe dieser Po- form ... (SB)
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Mo, 29. Februar 2016
Elektronische Zeitung Schattenblick
BERICHT/227: Treffen um Rosa
Luxemburg - Die Gier der Märkte ...
(SB)
BERICHT/228: Treffen um Rosa
Luxemburg - Zweckvereinnahmung
... (SB)
BERICHT/229: Treffen um Rosa
Luxemburg - die Pläne des Feindes
... (1) (SB)
INTERVIEW/289: Treffen um Rosa
Luxemburg - und niemand sieht hin
... Nick Brauns im Gespräch (SB)
INTERVIEW/290: Treffen um Rosa
Luxemburg - Vergessen frißt Fortschritt auf ... Ihsan Cibelik im Gespräch (SB)
INTERVIEW/291: Treffen um Rosa
Luxemburg - getrennt marschieren ...
S.E. Jorge Jurado im Gespräch (SB)
INTERVIEW/292: Treffen um Rosa
Luxemburg - Etablierte Fronten ...
Talip Güngör im Gespräch (SB)
INTERVIEW/295: Treffen um Rosa
Luxemburg - Engels Hordentraum ...
Michael Chrapek im Gespräch (SB)
POLITIK / FAKTEN / MENSCHENRECHTE
Lateinamerika das gefährlichste Pflaster für Menschenrechtler*innen
poonal ­ Pressedienst lateinamerikanischer
Nachrichtenagenturen
Lateinamerika ­ das gefährlichste Pflaster für
Menschenrechtler*innen
häufig Opfer von Gewalt. "Mit einem Anteil von 15 Prozent an den
schenrechtler*innen in Lateinameri- tödlichen Angriffen auf Menschenka ein schreckliches Jahr. Front Line rechtler*innen stellen LGBTI-AktiDefenders, eine in Irland ansässige vist*innen die zweitgrößte Gruppe."
Organisation zum Schutz von Menschenrechtler*innen, gab bekannt, Wie dem Bericht zu entnehmen ist,
dass weltweit im vergangenen Jahr müssen in Brasilien, Kolumbien,
156 Menschen starben, weil sie für Ecuador, Guatemala, Honduras, MeMenschenrechte eingetreten waren. xiko, Nicaragua, Paraguay und Peru
Von den 87 Menschen, die in Latein- Menschenrechtler*innen, die die neamerika deswegen ermordet wurden, gativen Auswirkungen der Bergbaustarben allein 54 in Kolumbien. "In praxis anprangern und die UnternehLateinamerika für die Menschen- men kritisieren, weil die Bevölkerechte einzutreten, ist weiterhin ein rung der betroffenen Regionen im
sehr gefährliches Engagement. Die Vorfeld nicht ausreichend informiert
Kriminalisierung friedlicher Protest- wurde, immer wieder mit physischen
bewegungen und ihrer Protago- Angriffen, Bedrohungen, Einnist*innen geht weiter", so der Jah- schüchterungen, Verleumdungen
resbericht 2016 der Organisation.
und Strafanzeigen rechnen.
(Lima, 14. Januar 2016, noticias
aliadas) Das Jahr 2015 war für Men-
INTERVIEW/294: Treffen um Rosa
Luxemburg - das Ziel im Auge behalten ... Patrik Köbele im Ge- Menschenrechte versus
Mega-Projekte
spräch (SB)
INTERVIEW/293: Treffen um Rosa Wie der am 8. Januar unter dem Titel
Luxemburg - Im Herzen der Lügen "Stop de Killings - Front Line Defen... Thomas Zmrzly im Gespräch ders Annual Report 2016" (Schluss
mit den Morden - Front Line Defen(SB)
ders Jahresbericht 2016) veröffentlichte Bericht beschreibt, sind "Umweltaktivist*innen, Indígena-Sprehttp://www.schattenblick.de/
cher*innen und Protagonist*innen
infopool/politik/report/
der Landbewegungen am stärksten
prbe0230.html
gefährdet. 41 Prozent der Ermordungen entfallen aufsie. Fast alle standen
in Verbindung mit den so genannten
"Megaprojekten", zum Großteil mit
denen, die im Bergbau aktiv sind.
Auch Journalist*innen, die über
Menschenrechtsfragen berichten, leben gefährlich. In dem Bericht von
Front Line Defenders wird die Ermordung des Fotografen Rubén Espinoza und der Menschenrechtlerin
Nadia Vera in direktem Zusammenhang mit ihrer Berichterstattung zu
den mutmaßlichen kriminellen Machenschaften Javier Duartes, Gouverneur des Bundesstaats Veracruz in
Mexiko, gestellt.
Angriffe durch Polizei und Justiz
Im Falle Ecuadors informiert der Bericht über staatliche Repressalien gegen die sozialen Proteste des vergangenen Jahres, darunter ein Generalstreik im August, dem die Forderung
Menschen, die im Bereich Sexuelle nach einer Agrarreform und einem
Orientierung und Geschlechteriden- verbesserten Zugang zur Gesundtität engagiert sind, würden ebenfalls heitsversorgung zugrunde lag.
Mo, 29. Februar 2016
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"Menschenrechtler*innen berichten von zunehmenden Angriffen
durch Polizei und Justiz, insbesondere im Kontext dieser Proteste. Im
August wurde die Umweltschützerin und Aktivistin für indigene
Rechte, Margith Escobar, nach einem Generalstreik in Puyo verhaftet. Ihr wurde vorgeworfen, den öffentlichen Frieden zu gefährden.
Erst nach über einer Woche kam sie
wieder auf freien Fuß. Die Journalistin Manuela Picq wurde in ihr
Herkunftsland Brasilien verbracht,
weil ihr Pass abgelaufen war. Sie
war bei einer Demonstration festgenommen worden, die das Bündnis der indigenen Nationalitäten
Ecuadors organisiert hatte. Obwohl
ein Gerichtsurteil bestätigt hatte,
dass es keinen Anlass für ihre Verhaftung und Ausweisung gab, wurde ihr das Aufenthaltsrecht entzogen."
der Verabschiedung des Kommunikationsgesetzes im Jahr 2013 hat
sich die Situation der unabhängigen Medien weiter verschärft, und
auch die Selbstzensur der Journalist*innen hat laut Front Line Defenders weiter zugenommen. Auch
im Hinblick auf das Vereinigungsrecht fanden Einschränkungen
statt: Mehrere NGOs wurden ohne
klar ersichtliche Motive aufgelöst.
Besonders betroffen sind auch hier
die Menschenrechtsorganisationen.
Bei der Vorstellung des Berichts erklärte Mary Lawlor, Direktorin der
Front Line Defenders: "In allen
Teilen der Erde haben Menschenrechtler*innen mit immer restriktiveren Bedingungen zu kämpfen,
und sie sind immer brutaleren Angriffen ausgesetzt. Immer häufiger
wird mit extremer Brutalität und
Gewalt vorgegangen; in vielen
Angriffe auf das Recht der freien Ländern sind ungerechte, vorgeferMeinungsäußerung kommen in tigte Gerichtsprozesse bereits NorEcuador ebenfalls häufig vor. Nach malität. Es werden immer drasti-
schere Maßnahmen ergriffen, um
Menschenrechtler*innen zum
Schweigen zu bringen, und die Angriffe machen auch nicht an Landesgrenzen halt."
URL des Artikels:
https://www.npla.de/poonal/lateinamerika-das-gefaehrlichste-pflaster-fuer-menschenrechtlerinnen/
Quelle:
*
poonal Pressedienst lateinamerikanischer
Nachrichtenagenturen
Herausgeber: Nachrichtenpool
Lateinamerika e.V.
Köpenicker Straße 187/188,
10997 Berlin
Telefon: 030/789 913 61
E-Mail: [email protected]
Internet: http://www.npla.de
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infopool/politik/fakten/
pfmen324.html
DIE BRILLE / REPORT / BERICHT
Jetzt schreiben, wofür? - Rolf Becker liest Georg Weerth
Rolf Becker liest aus dem Nachlaß von Georg Weerth im Polittbüro in Hamburg am 18. Februar 2016
Wenn die Weltgeschichte den Leuten die Hälse bricht, da ist die Feder überflüssig
(Georg Weerth an Heinrich Heine, 10. Juni 1851)
(SB) ­ Viele der Gekommenen wur-
den persönlich begrüßt, einige mit
Handschlag, andere per Umarmung.
Eher schien der Abend des 18. Februar 2016 im Polittbüro am Hamburger Steindamm ein Treffen unter
Freunden zu sein als eine öffentliche
Lesung. Was kein Wunder wäre, ereignete sich das Ganze doch in Rolf
Beckers eigenem Quartier, St. Georg, im Herzen der Hansestadt, wo er
seit 45 Jahren zuhause ist und wo
sich die Frage, ob Deutschland ein
Seite 6
Einwanderungsland ist oder nicht, Weerth, jenem deutschen Dichter
längst durch die Faktizität beantwor- des Vormärz, den Engels als den "ertet hat.
sten und bedeutendsten proletarischen Dichter Deutschlands" beBecker, der seit fast 60 Jahren auf zeichnete und der doch lange unbedeutschen Bühnen, in Film und kannt blieb, bis ihn nach dem zweiFernsehen unterwegs ist und nicht ten Weltkrieg zunächst die Literamüde wird, sich auch politisch welt- turwissenschaft der DDR wiederweit zu engagieren, las an diesem entdeckte, später dann auch die bunAbend unter dem bewußt doppel- desrepublikanische in seiner Lyrik
deutigen Titel "Du kamst zur Welt "die innovative Verbindung von pound fandest keine Blüten" Gedichte litischer Radikalität und volksliedund Prosa aus dem Werk von Georg haftem Stil" erkannte. [1]
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Mo, 29. Februar 2016
Elektronische Zeitung Schattenblick
Das Polittbüro in Hamburg
Foto: © 2016 by Schattenblick
Georg Weerth wird 1822 als Sohn eines Superintendenten in Detmold geboren. Mit 14 beginnt er eine kaufmännische Lehre, aus dieser Zeit datieren auch erste Gedichte, die sich,
ganz altersgemäß, zunächst um die
Liebe und die möglichen Ausschweifungen des Lebens drehen. Schon
früh allerdings ist darin auch sein
poetischer Protest abzulesen, so
Becker, seine Auflehnung gegen die
christliche Prüderie wie gegen eine
spießbürgerliche proletarische Moral.
Wie die Natur in ihrer ew'gen Schöne
in ew'ger Nackheit schimmert nur allein
so mögen ihre Töchter auch und Söhne
nicht fürchten, sinnlich, wie sie sind, zu sein.
Nach der Lehrzeit wird Weerth
Buchhalter in Köln, wenig später
geht er nach Bonn. Aber eigentlich
zieht es ihn hinaus in die Welt. 1843
fährt er als Handelskorrespondent
nach England. Dort durchstreift er,
dem schon früh ein soziales Gewissen erwacht, zusammen mit Friedrich Engels die Elendsquartiere in
den englischen Industriezentren,
Mo, 29. Februar 2016
lernt Robert Owen, den
Führer der Chartisten,
kennen, studiert Ludwig
Feuerbach und beteiligt
sich an der Herausgabe
frühsozialistischer
Schriften zur politischen
Ökonomie. Ab Herbst
1844 befaßt er sich auch
in seinen Gedichten und
Prosatexten ausschließlich mit politischen, sozialen und wirtschaftlichen Themen. Über die
unvorstellbaren Lebensverhältnisse der englischen Arbeiter schreibt er
in Skizzen und Briefen an
seine Mutter: "Manchester liegt einem wie Blei
auf dem Kopfe; in Birmingham ist es nicht anders, als säße man mit der
Nase in einer Ofenröhre;
in Leeds muß man vor Staub und Gestank husten [...]! In Bradford glaubt
man aber nirgendsonstwo als beim
leibhaftigen Teufel eingekehrt zu
sein." [2] und "White-Abbey. Ein
Zimmer, 4 Fuß unter der Erde. In
diesem Loch schlafen in einem Bett,
das aus Abfall gemacht ist, 1 Mann,
1 Frau und 4 Kinder, alle krank." [3]
Rolf Becker
beim Lesen Weerthscher Gedichte
Foto: © 2016 by Schattenblick
Unter dem Titel Handwerkslieder
und Lieder aus Lancashire entstehen eine Fülle sozialkritischer Gedichte, in denen Weerth die durch
die industrielle Produktion bedingte miserable Lage der englischen
Arbeiterklasse beschreibt und anprangert.
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Verehrter Herr und König
Weißt du die schlimme Geschicht
Am Montag aßen wir wenig
Und am Dienstag aßen wir nicht
Und am Mittwoch mußten wir darben
Und am Donnerstag litten wir Not
Und ach, am Freitag starben
Wir fast den Hungertod
Drum laß am Samstag backe
Das Brot, fein säuberlich
Sonst werden wir sonntags packe
Und fressen, o König, dich!
Die meisten Gedichte sind schlicht,
kurz und eingängig, "politisierte und
poetisierte Variationen einfacher lyrischer Formen" [4], enthalten bisweilen auch Anklänge an bereits bekannte Werke anderer Autoren, wie
etwa das Weberlied von Heinrich
Heine, mit dem Weerth eine intensive Freundschaft verbindet. Mit der
ganzen Bandbreite der Vorlesekunst
und dennoch ohne jede Theatralik
bringt Rolf Becker eine Reihe davon
zu Gehör, und läßt sie dadurch um so
stärker wirken.
Es war ein armer Schneider
Der nähte sich krumm und dumm
Er nähte dreißig Jahre lang
Und wußte nicht warum
Und als am Samstag wieder
Eine Woche war herum
Da fing er wohl zu weinen an
Und wußte nicht warum
Und nahm die blanke Nadel
Und nahm die Schere krumm
Zerbrach so Scher und Nadel
Und wußte nicht warum
Und schlang viel starke Fäden
Um seinen Hals herum
Und hat am Balken sich erhängt
Und wußte nicht warum
Er wußte nicht - es tönt
Der Abendglocken Gesumm
Der Schneider starb um halber acht
Und niemand weiß warum.
Internationale Beachtung wird Georg Weerth, inzwischen Mitglied
des Bundes der Kommunisten, 1847
auf dem Brüsseler Freihandelskongress zuteil, als er in seiner Rede für
die Arbeiter Partei ergreift. Der
Freihandel, so Weerth, beschere den
Seite 7
Elektronische Zeitung Schattenblick
Arbeitern durch verschärfte Konkurrenz der Unternehmen zwar
kurzfristig mehr Lohn und Arbeit
und niedrige Preise, stürze sie aber
langfristig durch den internationalen Zusammenschluß der Unternehmer noch stärker ins Elend.
Darum müsse, wer den Arbeitern
helfen wolle, an mehr denken als
den Freihandel. Denn: "Die Arbeiter sind satt der Versprechungen ohne Erfüllung; sie wollen nichts
mehr wissen von den nimmer bezahlten Anweisungen auf den Himmel."
Drittel aus politischen Gründen zunächst unveröffentlicht blieb. Aus
"Fragmente eines Romans", "Humoristische Skizzen aus einem deutschen Handelsleben", "Skizzen aus
dem sozialen und politischen Leben
der Briten", aus "Fragment einer
Warnung vor der Neuen Rheinischen Zeitung" sowie aus dem Roman "Leben und Thaten des berühmten Ritters Schnapphahnski"
liest Rolf Becker Ausschnitte. Darin karikiert Weerth den Fabrikanten
Preiß ebenso wie sein jeweiliges
Gegenüber, sei es der neue Lehrling,
Rolf Becker
gibt den Fabrikanten Preiß
Foto: © 2016 by Schattenblick
Daß bei allem Ernst der geschilderten Zustände das Vorgelesene von
manchem Zuhörer im fast voll besetzten Saal sehr unterhaltsam aufgenommen und mit Lachen quittiert
wird, spiegelt jene Widerspruchslage, mit der sich jede kulturell verarbeitete und auf die Bühne vor ein auf
Zerstreuung gerichtetes Publikum
gebrachte Variation der Wirklichkeit
konfrontiert sieht.
Becker alias Weerth
vor dem Freihandelskongress
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Den Bezug zur aktuellen Diskussion
um TTIP und CETA durch ein Zitat
von Willi Wimmer aus dem Jahre
2014 aus einem Interview mit der
Jungen Welt hätte Becker so explizit
gar nicht ausführen müssen - er
drängte sich den Zuhörenden beim
Vortrag dieser Rede von selbst auf.
1848 ist Georg Weerth mit Marx
und Engels bei Gründung der Neuen Rheinischen Zeitung dabei, deren Auslandsredakteur und Feuilletonleiter er wird. Dort veröffentlicht
er auch eigene Prosatexte und Romanfragmente, von denen etwa ein
Seite 8
sein Buchhalter Lenz oder der Baron d'Eyncourt, die er mit Mimik,
Gestik und Modulation der Stimmlage so lebendig werden läßt, als
hätten sie dort wahrhaftig auf jenem
leeren Stuhl in der Mitte der Bühne
Becker gegenüber am Tisch gesessen. Des Fabrikanten Sohn August autobiographische Anklänge sind
unüberhörbar - wird nach Erfahrungen in England zu einem glühenden
Sozialisten. Am Ende führt sich
Preiß als Opfer der 48er Revolution
selbst vor. In jeder Lebenslage vor
allen Dingen profitorientiert, verschreibt er sich der Produktion von
Schrapnells, dient sich dazu mit Erfolg den Regierenden an. Auch hier
drängen sich aktuelle Bezüge geradezu auf.
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Nach gescheiterter 48er Revolution,
dem Verbot der Neuen Rheinischen
Zeitung und einer dreimonatigen
Gefängnisstrafe wegen angeblicher
Verleumdung des Fürsten Ernst
Lichnowski durch seinen Roman
"Leben und Thaten des berühmten
Ritters Schnapphahnski" wendet sich
Weerth vom Politischen wie vom Literarischen gänzlich ab und konzentriert sich fortan aufs Kaufmännische. In Westindien errichtet er eine
eigene Handelsagentur. Er, der sich
selbst einen Lumpenkommunisten
nannte, kann jener Unerträglichkeit
entfliehen, die für die, für die er Partei ergriff, alternativlos bleibt.
Dürftige Witze, schlechte Späße
reißen, um den vaterländischen
Fratzen ein blödes Lächeln abzuge­
winnen, wahrhaftig, ich kenne nichts
Mo, 29. Februar 2016
Elektronische Zeitung Schattenblick
Erbärmlicheres. Ich muß gestehen, die
letzten drei Jahre für nichts und wie­
der nichts verloren zu haben. Aber:
wir haben uns nicht kompromittiert.
Das ist das Wichtigste. [5]
Am 30. Juli 1856 stirbt Georg Weerth
erst 34jährig in Havanna an Gelbfieber, auf"jenem Feld", schreibt er fast
visionär an Marx, "auf welchem die
großen Konflikte der neuen Welt zunächst ausgefochten werden". [6] 100
Jahre später wird von dort die Kubanische Revolution ausgehen.
Die Intensität, mit der Rolf Becker an
diesem Abend den Texten und dem
wenngleich befristeten literarischen
und politischen Anliegen Weerths zu
neuer Aufmerksamkeit verhalf, zeugte von großem Respekt auch vor der
Weitsicht dieses marxistischen Literaten, machte aber auch immer wieder
die eigene Kritik an den herrschenden
Verhältnissen deutlich spürbar und
wurde vom Publikum mit solidari- Bruno Kaiser, Aufbau-Verlag Berlin,
1957, Bd. 3, S. 165
schem Beifall belohnt.
[3] Georg Weerth: Der Gesundheitszustand der Arbeiter in Bradford, Yorkshire,
England, in: Georg Weerth, Sämtliche
Werke, a.a.O., S.226-228
[4] Kindlers Neues Literatur Lexikon,
a.a.O., S. 476
[5] Briefan Karl Marx vom 28. April 1851
[6] Brief an Karl Marx vom 1. April 1855
[7] Kindlers Neues Literatur Lexikon,
a.a.O., S. 477
Dabei hatte Weerth selbst "seiner Lyrik keinen besonderen Stellenwert beigemessen, sie war ihm nach der Erinnerung von F. ENGELS, 'einmal hingeschrieben, total gleichgültig'" und
weder Ersatz noch Agitation fürs politische Handeln [7]. Die bleibende Aktualität seiner Gedichte und Prosa
mehr als 150 Jahre später speist sich
vor allem aus der Tatsache, daß der Ein Interview mit Rolf Becker zu dieser
Konflikt zwischen Arm und Reich, Lesung finden Sie im Schattenblick
zwischen Starken und Schwachen an unter: Schattenblick INFOPOOL →
Brisanz nichts verloren hat, vor allem DIE BRILLE REPORT →
aber der Kampf nicht ausgefochten ist. INTERVIEW/047: Jetzt schreiben,
wofür? - alte, neue und offene Fragen
... RolfBecker im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infoAnmerkungen:
[1] Kindlers Neues Literatur Lexikon, pool/d-brille/report/dbri0047.html
Hrsg. Walter Jens, München 1992, S. 477
[2] Georg Weerth, Skizzen aus dem sozialen und politischen Leben der Briten, in:
Georg Weerth, Sämtliche Werke, Hrsg.
http://www.schattenblick.de/
infopool/d­brille/report/
dbrb0040.html
DIE BRILLE / REPORT / INTERVIEW
Jetzt schreiben, wofür? - alte, neue und offene Fragen ...
Rolf Becker im Gespräch
Interview mit Rolf Becker am 18.02.2016 in Hamburg
Vor Ort sein!
Georg Weerth, Jahrgang 1822, den
Friedrich Engels als den "ersten und
bedeutendsten proletarischen Dichter Deutschlands" bezeichnete, war
den meisten Deutschen lange unbekannt. Seine Schaffensphase war
kurz und ergiebig. In nur sechs Jahren schuf er neben über 140 Gedichten, in denen er auch die Folgen der
Industrialisierung für die Arbeiter in
England beschrieb und anprangerte,
zahlreiche theoretische Schriften zur
politischen Ökonomie sowie in Skizzen und Romanfragmenten etliche
Prosa. Weerth war neben Marx und
Engels Mitbegründer der Neuen
Mo, 29. Februar 2016
Rheinischen Zeitung und deren
Feuilletonchef. Nach dem Scheitern
der 48er Revolution zog er sich vom
Schreiben und von der Politik zurück
und begründete ein Handelshaus in
Lateinamerika. 100 Jahre lang lagen
seine Schriften auf dem Dachboden
seines Elternhauses in Detmold, bis
ihn die Literaturwissenschaft zuerst
in Ost-, dann in Westdeutschland
wiederentdeckte.
Am Abend des 18. Februar 2016
brachte der Schauspieler RolfBecker
diesen engagierten Denker und
Dichter des Vormärz noch einmal in
www.schattenblick.de
sehr lebendige Erinnerung. Im Polittbüro in Hamburg las er vor fast
vollem Haus aus Georg Weerths
Werken.
Rolf Becker selbst ist seit Jahrzehnten in zahlreichen Projekten politisch
engagiert. So trat er Anfang 2000 für
einen gerechten Prozeß für Slobodan
Milosevic vor dem internationalen
Gerichtshof in Den Haag an, war ehrenamtlicher Betreuer des einstigen
RAF-Inhaftierten Christian Klar,
setzt sich bis heute für die Freilassung Mumia Abu Jamals ein und unterstützt den Kampf der Kurden geSeite 9
Elektronische Zeitung Schattenblick
gen Vertreibung und Vernichtung.
Nicht zuletzt beschäftigt ihn auch die
aktuelle Situation von Millionen von
Menschen, die aus durch den Einfluß
der Westmächte mitverursachten
Bürgerkriegen, aus zerrütteten und
zerbombten Ländern zu fliehen versuchen.
Im Anschluß an die Lesung nahm
sich Rolf Becker Zeit für ein Gespräch mit dem Schattenblick um
politische und soziale Fragen, die
seit Weerths Zeiten gleichermaßen
aktuell wie ungelöst sind.
Rolf Becker
Foto: © 2016 by Schattenblick
Schattenblick (SB): Es schien, als
habe die Lesung Sie am Ende auch
emotional sehr mitgenommen.
Stimmt dieser Eindruck?
RolfBecker (RB): Ja, es nimmt mich
auch inhaltlich mit. Dieses Wissen,
was da begraben liegt, Georg Weerth
mit seiner Voraussage, daß der Bruch
zwischen dem Norden und dem Süden in der Havanna stattfindet, also
in Kuba, 1855 geschrieben, und ein
Jahrhundert später tritt ein, was er
gesagt hat. Das ist eine Weitsichtigkeit von den marxistischen Theoretikern, die für uns kaum vorstellbar ist.
Wir wissen nicht einmal die nächsten
Etappen einzuschätzen, die uns bevorstehen. Und diese Voraussicht ist
Seite 10
so wenig aufgegriffen worden, weder von der Arbeiterbewegung noch
von den Schreibenden der deutschen
oder auch der internationalen Literatur. Georg Weerth ist einfach lange
Zeit nicht zur Kenntnis genommen
und zurückgedrängt worden auf die
Position eines etwas abseitigen
Schriftstellers aus Detmold.
SB: Wie sind Sie auf Georg Weerth
gekommen?
RB: Zusammen mit Klaus Bremer,
dem Schweizer Poeten und deutschen
Dramaturgen, mit dem ich jahrzehntelang zusammengearbeitet habe. Ich
weiß nicht mehr, wodurch wir genau
darauf gekommen sind. Ich nehme an,
wir haben, als wir uns mit Heinrich
Heine beschäftigten, die Briefe von
Weerth an Heine gefunden, und haben
dann gefragt, wer ist denn das? Wir
hatten dann vor, ein Lesebuch "Georg
Weerth" herauszubringen. Das ist aber
nicht zustande gekommen, weil Klaus
Bremer an Parkinson erkrankte und
1996 starb. Das Material ist einfach
liegen geblieben, bis ein Anstoß von
Arno Klönne kam, dem Historiker aus
Paderborn, der mich im vorigen Jahr,
wenige Monate vor seinem Tod, anrief und fragte: Kannst du im Dezember bei uns in Paderborn - ich lese seit
10 Jahren jedes Jahr dort vor - nicht
den nächsten Abend über Georg
Weerth machen? So habe ich dann aus
den Materialien zu dem Lesebuch und
einem nochmaligen Gang durch das
Werk von Weerth - ein erstaunlich
umfangreiches Werk, obwohl er mit
34 gestorben ist - diese Textfolge zusammengestellt.
SB: Von Georg Weerth stammen die
Zeilen, auch die haben Sie vorgelesen: "Jetzt schreiben! Wofür? Wenn
die Weltgeschichte den Leuten die
Hälse bricht, da ist die Feder überflüssig." In diesem Zusammenhang
gefragt: Wen können oder wollen Sie
mit einer solchen Lesung erreichen,
was bewirken?
sofort eine Reihe von Organisationen
hier in Hamburg reagiert - die stehen
auch auf dem Einladungszettel - als
sie hörten, daß ich im Polittbüro vorlesen werde. Es waren heute Abend
sogar Gewerkschaftskollegen aus
Mecklenburg-Vorpommern da, aber
alles Leute, die schon ein Vorwissen
haben, die Reste der Interessierten
aus der Arbeiterbewegung, die mit
dem Namen Georg Weerth irgendetwas verbinden. Gehofft hatte ich, daß
vielleicht ein größerer Teil hier aus
St. Georg kommen würde, auch aus
dem gewerkschaftlichen Bereich.
Die Hoffnung hat sich leider nicht
erfüllt.
Wir sind ja mit unserem Anliegen,
die Arbeiterbewegung zu reorganisieren, wenn wir ehrlich sind, gescheitert. Wir haben nicht umsetzen
können, was wir uns vorgenommen
hatten. Ich bin Jahrgang 1935, habe
die Kriegs- und Nachkriegsgeschichte in Erinnerung und habe eigentlich mein Leben darauf ausgerichtet zu verhindern, daß sich wiederholen kann, was ich als Kind miterlebt habe, aber damals noch nicht
reflektieren konnte. Entsprechend
habe ich dann Kontakte gesucht und
gefunden, teilweise im Bereich der
Literatur, aber zum größeren Teil im
Bereich der Arbeiterbewegung oder
den aufgeschlossenen Teilen der gewerkschaftlichen Bewegung. Unser
Anliegen war es, der Arbeiterbewegung wieder eine Stimme zu geben,
sie wieder zum Sprechen zu bringen.
SB: Engels nannte Weerth den ersten
und bedeutendsten proletarischen
Dichter Deutschlands, obwohl er
selber kein Proletarier im engeren
Sinne war. Ist die Distanz, diese Vermitteltheit, und das träfe jetzt vielleicht auch für Ihr eigenes politisches
Engagement zu, ein Nachteil oder
vielleicht eine besondere Chance, für
die Benachteiligten dieser Welt einzutreten?
RB: Weerth kommt, anders als EnRB: Schwer zu sagen. Auf die An- gels, nicht aus einer begüterten Fakündigung der Veranstaltung haben milie, sondern aus einem Pastorenwww.schattenblick.de
Mo, 29. Februar 2016
Elektronische Zeitung Schattenblick
haus, das heißt, er kommt von einem
moralischen Engagement her, was
ihn dann auch vom Christentum entfernt, also von seinem Vater gelöst
hat. Das ist eigentlich nicht mehr als
das, was Kinder gerne tun, sich erst
einmal lösen von dem, was von den
Vätern vorgegeben wird. Aber
Weerth kommt von unten. Er fängt
wirklich als Handelslehrling an, ganz
jämmerlich ....
SB: ... aber er ist kein Proletarier ...
SB: Nein, er kommt aus dem Angestelltenbereich, aber da von ganz unten und durchstreift dann mit Engels wobei wissenschaftlich noch nicht geklärt ist, wodurch der Kontakt entstand, ob der schon in Wuppertal-Elberfeld existierte oder ob sie sich
durch Zufall begegnet sind - die
Elendsviertel Manchesters und sie untersuchen die Lage der arbeitenden
Klasse in England, wie Engels das
nennt. Es gibt ähnliche, ergänzende
Schriften von Weerth. Man müßte eigentlich "Die Lage der arbeitenden
Klasse in England" von Engels zusammen herausgeben mit den Schriften von Weerth, weil diese Texte in
gemeinsamer Arbeit und aus gemeinsamen Untersuchungen und konkreten Erfahrungen hervorgegangen sind.
Krisengebieten weltweit unterwegs
gewesen. Wie sehen Sie Ihre eigene
Rolle des Eintretens für Benachteiligte oder emanzipatorische Bewegungen?
RB: Ich habe es schon angedeutet,
der Ursprung liegt in den Erfahrungen der Kriegszeit. Ich bin Kind einer kleinbürgerlichen Familie, aufgewachsen auf dem Bauernhof meines Großvaters hier oben in Schleswig-Holstein, was man so eine Bauernklitsche nennt, 25 Hektar - meine
Großmutter hat immer gesagt, zu
wenig zu leben, zu viel zum Sterben
- und der Hof ist dann auch kaputtgegangen, weil er die Industrialisierung nicht hat realisieren können,
wie die Mehrzahl der Höfe auf unserem Dorf. Von den 28 Höfen, die es
einmal gab, existieren heute noch
drei, und die drei sind noch wieder
abhängig von den Samenzuchtanstalten in Elmshorn. Entsprechend
hat es einen Proletarisierungsschub
gegeben, der das ganze Dorf ergriffen hat. Von daher habe ich noch
Kontakt mit einigen der Bauernjungs, mit denen ich während der
Nazizeit zur Volksschule gegangen
bin. Ich selber wurde dann, meine
Mutter hatte wenig Geld, nach Bremen in Pension gegeben und habe
dann in den Ferien im Hafen gearbeitet, später dann mein Schauspielstudium als Bühnentechniker an den
Münchner Kammerspielen verdient.
Das heißt also, ich bin im engsten
Kontakt aufgewachsen mit der Klasse, die kein Klassenbewußtsein hat
oder noch nicht hat. Und daraus ist
dann eben dieser Doppelgedanke
entstanden, einerseits zu verhindern,
was sich geschichtlich damals abgespielt hat und andererseits dieser
Klasse, die sich ihrer Geschichte
nicht mehr bewußt ist, zum Bewußtsein ihrer Geschichte zu verhelfen.
einander; auch ausgelöst durch die
Kriegserfahrung. Das hat uns verbunden in einer Arbeit, die zunächst
rein dramaturgisch angefangen hat,
bessere Übersetzungen zu machen,
der Dramaturgie in den Theatern auf
die Sprünge zu helfen und ist dann
schrittweise gekippt in die gemeinsame politische Arbeit, die sich dann
auch in seinen Gedichten, soweit er
sie noch schreiben konnte, niedergeschlagen hat. Ein bisher kaum bekannter Poet, ich möchte demnächst
einmal mit einer Veranstaltung an ihn
erinnern.
Foto: © 2016 by Schattenblick
SB: Georg Weerth hat, nachdem die
Revolution von 1848 gescheitert
war, sein politisches Engagement
drangegeben und ist nach Südamerika gegangen, um sich ganz seinen
Handelsgeschäften zu widmen.
Sehen sie in dieser Reaktion eine
mögliche Parallele zu einigen Vertretern der Generation der 68er, die
sich nach enttäuschten Hoffnungen
auf eine Umwälzung der Gesellschaft von ihren politischen Positionen abgewendet und aus dem Scheitern eine bürgerliche Karriere legitiUnd da fand ich einen Partner, den miert haben?
Klaus Bremer, aus katholischem ElFoto: © 2016 by Schattenblick
ternhaus, der schrittweise dahin ge- RB: Ich denke, das ist nur bedingt
kommen ist zu sagen, Kommunis- vergleichbar. Die Bewegung, in die
SB: Sie sind ja nun auch selber über mus und Christentum schließen ein- Weerth gestellt war, vor, während
Jahrzehnte in den verschiedensten ander nicht aus, sondern bedingen und dann mit der gescheiterten 48er
Mo, 29. Februar 2016
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Seite 11
Elektronische Zeitung Schattenblick
Revolution, war eine gigantische
Bewegung, die die gesamte Bevölkerung nicht nur Deutschlands erfasst hat. Die Studentenbewegung
ist, will ich mal sagen, der intellektuelle Versuch gewesen, eine Avantgarde zu schaffen, um den Sorgen,
wohin sich diese Bundesrepublik
entwickeln könnte, entgegenzutreten. Aber das ist von der Wucht, von
dem elementaren Schub her, der das
damalige Europa erfaßt hat, überhaupt nicht zu vergleichen. Davon
sind wir weit entfernt. In Frankreich
hat sich das angedeutet, da war das
an der Schwelle, in Deutschland
kam es mit Verzug zu den Septemberstreiks 1969 in den Stahlwerken,
bei Klöckner in Bremen und Hoesch
in Dortmund, auf den Werften, wo
man gedacht hat, sie ziehen nach.
Aber dann hat sich, vor allem seit
den Aktionen der RAF, die Arbeiterbewegung von diesem Ansatz abgesetzt und sich zurückbewegt in Richtung der sozialdemokratischen Partei, weil solche Methoden von der
Arbeiterschaft niemals aufgegriffen
werden. Weerth zitiert ja Marx, den
revolutionären Terrorismus, das
meint aber nicht den Terrorismus individueller oder kleinerer Gruppierungen, sondern das meint den Terror, der aus seiner Sicht - ich möchte mich da zurückhalten - dann entsteht oder notwendig wird, wenn es
zur Klassenauseinandersetzung
kommt. Aber um 1848 - das waren
Kräfte von einer Dynamik, die weit
umgreifender war, die später auch
die französische Commune hervorgebracht hat oder die Russische Revolution, die Kubanische Revolution, die Chinesische Revolution, das
waren Weltbewegungen. Da spielt
die 68er Zeit eine verschwindend
kleine Rolle.
SB: Sie haben zu Beginn der Lesung
erwähnt, daß afghanische und syrische Flüchtlinge im Publikum waren. Möglicherweise eine etwas unzulässige Frage, ich stelle sie trotzdem: Was wäre Ihr Rat zum Thema
Flüchtlingsfrage, Flüchtlingskrise an
die Politik?
Seite 12
RB: Das ist sehr, sehr schwer. Ich erinnere mich gut an die Zeit ab 1944,
als die Flüchtlinge kamen. Wir hatten auf unserem Hof die Einquartierung einer ostpreußischen Familie.
Alles, was sie noch hatten, war der
Pferdewagen, immerhin mit zwei
sehr kräftigen Pferden, und dann die
vielköpfige Familie. Deutschland lag
damals in Trümmern, die Fabrikation war unten, man war froh, wenn
zeitweilig Licht brannte, es fehlte an
Nahrungsmitteln, es fehlte an fast allem - aber es war möglich, um die
zehn Millionen Flüchtlinge aufzunehmen. Heute sagen wir, wir sind
mit einer Million an der äußersten
Grenze. Das stimmt einfach nicht,
wir können weit mehr. Die Appelle,
die von rechts außen kommen, von
PEGIDA, AfD und ähnlichen Gruppierungen, richten sich an das Wahren und die Verteidigung des kleinbürgerlichen Besitzstandes. Dabei
brauchten wir nur einen Bruchteil
unserer Besitzstände zu opfern, um
weitere Millionen aufzunehmen. Das
gilt auch europaweit. Daß sich die
Oststaaten sperren, in denen die
Menschen meist nur zu einem
Bruchteil der Löhne in Deutschland,
Frankreich, den Niederlanden oder
England arbeiten, macht nachvollziehbar, daß sie mit Grenzzäunen
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drohen. Aber wenn wir öffnen,
bräuchten sie keine Grenzzäune. Sie
ziehen sie ja nur hoch, weil sie
fürchten, die Flüchtlingsschwemme
bleibt bei ihnen hängen.
Rolf Becker im Gespräch
mit dem Schattenblick
Foto: © 2016 by Schattenblick
Ich nehme mal ein konkretes Beispiel: Im letzten September waren
wir mit unserer Solidaritätsgruppe,
wie jedes Jahr, in Griechenland. Da
waren wir häufig unten am Hafen
von Piräus, wo die Fähren von Lesbos und anderen Inseln ankommen,
mal mit 500, mal mit 2500 Flüchtenden und mehr. Versorgt werden sie
von den Ärmsten der Armen, die selber kaum existieren können, Leute
aus den Arbeitslosenzentren, die
Selbstversorgungsstrukturen aufbauen, um ihre Kinder noch zu ernähren, damit sie nicht hungernd
zum Unterricht gehen. Diese Frauen
sind unten am Hafen und versorgen
die Flüchtlinge. Die Griechen sind
durch die Sparauflagen zu einem extrem notleidenden Volk geworden
mit einer Vielzahl der Flüchtlinge,
die wir hier haben, und es geht ohne
AfD und ohne PEGIDA. Wir können
viel lernen und wir können umdenken. Das wären, wenn ich mit Frau
Mo, 29. Februar 2016
Elektronische Zeitung Schattenblick
Merkel reden könnte, Stichworte, die mal 2000 an - das Schauspielhaus
ich gern weitergeben würde.
hatte die Türen offen, Kampnagel
hatte sie offen, die Diakonie hatte sie
Genauso wie jetzt die Milliardenun- offen und es waren, weiß der
terstützung für Erdogan, der die Kuckuck, woher die kamen, MenFlüchtlinge halten soll und in der Nä- schen in großer Menge da, unorganihe der syrischen Grenzen in grauen- siert, und es lief alles. Die Bevölkehafte Lager sperrt. Ich war vor drei rung hat gezeigt, nicht nur hier in
Wochen in der eingeschlossenen Alt- Hamburg, sondern in vielen Städten
stadt von Diyarbakir, Sur, bis an die Deutschlands, wozu sie in der Lage
Frontlinie, wo die Schießereien be- und bereit ist. Ich kenne hier in St.
gannen, und wo die Sonderpolizei Georg eine ganze Reihe Familien uns nicht von der Seite wich. Weil das liegt nahe, weil wir eben dicht
mir das lästig war, habe ich zu einem am Hauptbahnhof wohnen -, die
gesagt, 'ich brauche keinen Schutz, Flüchtlinge aufgenommen haben,
die tun mir nichts' und da hat er ge- zwei und mehr, eine Wohngemeinsagt, 'aber ich brauche Schutz, des- schaft hat sogar bis zu 15 Flüchtlinhalb bleibe ich neben Ihnen'. Unter ge pro Nacht untergebracht. Es ging
extremen Bedingungen passiert auch eine ganze Menge. Auch die Kirche
was in den Köpfen.
hat mitgespielt. Das müßte gestärkt
werden. Anfangs hat die Merkel das
Daß es keinen Einspruch gibt von noch gemacht. Dann hat sie gemerkt,
seiten Merkels, daß sie nicht sagt, daß sie sich politisch selbst gefährwas ihr da in Kurdistan treibt, was ihr det, ist bedrängt worden und hat sich
in Syrien mit eurer Unterstützung zurücknehmen müssen. Dieser Imdes IS macht, um die Kurden unter puls hätte gestärkt werden müssen,
Kontrolle zu kriegen, das geht nicht. auch als Impuls gegen PEGIDA, geDa wäre Einspruch möglich und der gen AfD und erweitert werden müswürde auch gehört. Leider schweigt sen: Macht Schluß mit den Kriegen
die Mehrzahl der Medien bei uns zu und damit den wirklichen Fluchturdiesen Sachverhalten. Um Gottes sachen.
Willen die Politik der Merkel nicht
gefährden, erstens, damit sie nicht SB: Aber es gibt den Konflikt zwistürzt, und zweitens, damit die schen Regierungsinteressen und BeFlüchtlinge in der Türkei gehalten völkerung.
werden. Vernünftig wäre das Gegenteil: Dafür eintreten, daß die Kriege
aufhören! Gestoppt werden müssen
die Saudis, gestoppt werden muß Erdogan. Beide versuchen, ihre Machtbereiche im Nahen Osten auszuweiten. Da müssten die europäischen
Regierungen deutlich gegenhalten.
Mich erschüttert, was da zur Zeit
passiert.
RB: So ist es. Und das beschreibt
ja auch Weerth, daß die Politik die
Interessen vertritt, die von der
Ökonomie vorgegeben werden.
Das macht auch Olaf Scholz hier
in Hamburg treu und brav, dabei
ein bißchen sehr bürokratisch. Die
Impulse aus der Bevölkerung,
auch das Knurren, auch der Widerstand, all das wird viel zu wenig aufgegriffen. Konkretes Beispiel: Als die Lampedusa-Gruppe
kam, das waren ja nur 300, hätte
Scholz mühelos sagen können,
Paragraph 23 und fertig. Nachdem
er einmal nein gesagt hatte, konnte er später nicht wieder ja sagen,
obwohl er sogar bedrängt wurde
aus seiner eigenen Umgebung:
Gehen Sie einmal in die St.-PauliKirche, geben Sie den Flüchtlingen die Hand und äußern Sie Ihre
Sorgen und Probleme, daß Sie
fürchten, daß sich weitere Gruppen auf den Paragraphen berufen;
aber nehmen Sie einmal konkret
wahr, was sich abspielt. Was hat er
gemacht? Irgendein Vertreter ist
hingegangen, hat sich aber geweigert, mit den Flüchtlingen zu sprechen, sondern nur mit den Pastoren geredet.
Bleibt engagiert: Rolf Becker
Foto: © 2016 by Schattenblick
SB: Ist die ganz archaische Angst des
Menschen, selber nachher Hunger zu
leiden, eben weil man teilen soll,
nicht irgendwo berechtigt?
RB: Was die Bevölkerung signalisiert hat, als die Flüchtlingsströme
kamen, hat doch kein Mensch für
möglich gehalten. Hier am Hauptbahnhof kamen pro Abend mal 500,
Mo, 29. Februar 2016
www.schattenblick.de
Seite 13
Elektronische Zeitung Schattenblick
Das Vor-Ort-Gehen ist eine unglaubliche Hilfe, vor allen Dingen hilft es, die
falschen, zusammengemixten Vorstellungen zu korrigieren. Die kommen ja
nicht nur von den Medien, sondern das
liegt auch am eigenen Kopf, an der zufälligen Auswahl dessen, was man
wahrnimmt. Wenn man vor Ort ist,
dann dreht sich das um und man muß
sich auseinandersetzen mit dem, was
man gelesen hat, was man hört oder im
Fernsehen sieht.
SB: Sie fahren selbst ja seit eh und je in
alle möglichen Krisengebiete, um sich
ein eigenes Bild vor Ort zu machen.
RB: Soweit ich das schaffe, mache ich
das noch. Das härteste war der Jugoslawienkrieg.
SB: Und Vietnam, habe ich gelesen ...
RB: ... da bin ich aber nicht gewesen.
Ich bin nur bis Laos gekommen und
bis in die Nähe des Ho-Chi-Minh-Pfades. Ich hatte einen Motorradfahrer,
der erklärt hat, ich fahre keinen Meter
weiter, da unten in der Ebene wird geschossen und die schießen auf alles,
was sich bewegt, wir fahren zurück.
Ich hatte versucht, über die Air France reinzukommen, aber die hat nur
noch raustransportiert. Ich habe gedacht, was hast du zu verlieren, mehr
als festsetzen können sie dich nicht,
tun werden sie dir mit Wahrscheinlichkeit nichts, sie werden dich zunächst
für einen Amerikaner halten und vom
Hocker fallen, wenn du mit einem
deutschen Pass kommst - aber es ging
nicht. Aber ich habe am 1. Mai das Takeover mitbekommen in Form der geflohenen amerikanischen Piloten und
mit einem amerikanischen Offizier gesprochen, der heulend in der Maschine saß. Er hat gesagt, wenn Sie wüßten, wie viele meiner Kameraden tot
oder Krüppel sind - wofür das alles?
Da habe ich gefragt, was wäre denn
die Alternative gewesen und meinte,
den Krieg nicht geführt zu haben. Aber
er hat gesagt: Warum haben wir die
Atombomben, die wir haben, nicht
eingesetzt. Also auf der einen Seite
weinen über das Erlittene und aufder
anderen Seite nicht wissen, warum.
SB: Herr Becker, wir bedanken uns
ganz herzlich für das Gespräch.
Ein Interview mit Rolf Becker zu die­
ser Lesung finden Sie im Schatten­
blick unter: Schattenblick INFO-
POOL → DIE BRILLE → REPORT
INTERVIEW/047: Jetzt schreiben,
wofür? - alte, neue und offene Fragen
... Rolf Becker im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/d-brille/report/dbri0047.html
http://www.schattenblick.de/
infopool/d­brille/report/
dbri0047.html
SCHACH UND SPIELE / SCHACH / SCHACH-SPHINX
gime! Im heutigen Rätsel der Sphinx
ärgerte sich der Nachziehende im
wahrsten Sinne des Wortes schwarz,
denn als er zuletzt 1...Ld7-h3 gespielt
hatte, ging ihm zu spät auf, daß er nun
all seinen Vorteil wegen einer kleinen
Pattkombination verliert. Also, Wanderer, royalistisch gedacht!
Royalistisch gedacht
(SB) ­ Es gibt kaum etwas Hinterhäl-
tigeres, als wenn sich der Gegner
selbst pattsetzt. Fast ist es so, als würde er damit der gerechten Strafe für
sein schlechtes Spiel entgehen. Da hat
man Stellungs- und auch Materialgewinne zusammengehäuft wie nichts
Gutes und wird doch zuletzt um den
Lohn betrogen. Regeln sind Regeln,
wird nun der eine oder andere einwenden. Aber auch Regeln sind schließlich menschlich erdacht! Warum nur?
fragt man sich zu Recht. Natürlich um
die Herrlichkeit des Königs zu unterstreichen. Mattgehen darf er, aber wehe, er kommt nicht mehr weiter, der
ganze Bau der Hierachie würde ansonsten einstürzen. Die Pattregel ein
Kniefall also vor dem royalistischen
Dünkel? Es hat zumindest den Anschein. Die oberste Regel im Schach
Seite 14
Auflösung des letzten
Sphinx­Rätsels:
Troitzky - Vogt
1896
ist das Matt. Die Gangarten der Figuren, ihre Schlagmöglichkeiten, die
Rochade - alles nur im Zeichen der
Huldigung des Königs. Der Humanist
wird nun einwerfen: Immerhin, die
schwächere Seite bleibt so nicht ohne
eine letzte Chance. Gewiß, denn der
König darffallen, nicht aber sein Rewww.schattenblick.de
Die kleine Chinesin war groß im
Kombinieren, und nach 1.Dh6xh7+!
Sf8xh7 2.Th4xh7+ Kf7-e6 3.Sd5-f4+
Ke6-e5 4.Sf4xg6+ Ke5-e6 5.Sg6-f4+
Ke6-e5 6.Th7xe7+! Dd7xe7 7.Th1h5+ f6-f5 8.Th5xf5# gehörte ihr der
Weltmeistertitel zu Recht.
http://www.schattenblick.de/
infopool/schach/schach/
sph05760.html
Mo, 29. Februar 2016
Elektronische Zeitung Schattenblick
SOZIALWISSENSCHAFTEN
SOZIALWISSENSCHAFTEN / REPORT / INTERVIEW
Migrationswissenschaftliche Fragen - Gegenmittel ...
Gesa Köbberling im Gespräch
Gewalt ist nicht gleich Gewalt
"Hate Crime" und die daraus erwachsenden schweren
langanhaltenden Belastungssymptome
Interview mit Dipl.­Psych. Gesa Köbberling vor dem Kongress der
Neuen Gesellschaft für Psychologie (NGfP) "Migration und Rassismus.
Politik der Menschenfeindlichkeit" vom 3. bis 6. März 2016 in Berlin
Quelle: NGfP
Migrationswissenschaftliche Fragen
- Bekenntnis und Verständnis ...
Humanistisch, kapitalismuskritisch
und interdisziplinär
(SB) ­ Vom 3.-6.
März 2016 findet in
Berlin der Kongress "Migration und
Rassismus. Politik der Menschenfeindlichkeit" statt. Veranstalter sind
die Neue Gesellschaft für Psychologie (NGfP) und der AStA der Freien
Universität Berlin. Mit dem Thema
knüpft die NGfP an den Kongress
des Vorjahres "Krieg um Köpfe" an,
über den ...
http://www.schattenblick.de/
infopool/sozial/report/
sorb0033.html
Gesa Köbberling (GK): Noch vor
fünf Jahren hätte ich eine solche Eskalation nicht für möglich gehalten.
Gleichzeitig zögere ich, darin eine
ganz neue Qualität zu sehen. Rassismus und Fremdenfeindlichkeit sind
in Deutschland nicht neu. Die unabhängigen Opferberatungsstellen berichten seit Jahren über rassistische
Gewalt, ohne dass die Politik darauf
reagiert hat. Die Gewalt betrifft nicht
nur Flüchtlingsunterkünfte, sondern
Schattenblick (SB): Laut Bundeskri- auch tätliche Angriffe auf Migranten
minalamt hat sich die Zahl von An- und Flüchtlinge ...
griffen auf Flüchtlingsunterkünfte
2015 gegenüber dem Vorjahr verfünfhttp://www.schattenblick.de/
facht - 1005 insgesamt. Worin sehen
infopool/sozial/report/
Sie die Ursachen und welche Konsesori0037.html
quenzen müssen gezogen werden?
(SB) ­ Der Schattenblick sprach mit
der Diplompsychologin und Dokto­
randin Gesa Köbberling, eine aus
dem interdisziplinär zusammenge­
setzten Kreis von mehr als 30 Refe­
renten beim bevorstehenden Kon­
gress "Migration und Rassismus.
Politik der Menschenfeindlichkeit"
über ihre Erfahrungen in einer Be­
ratungsstelle für Opfer rechter und
rassistischer Gewalt.
SPORT / MEINUNGEN / KOMMENTAR
Fußballfelder, Schweigegelder ...
Liste der neuesten und
tagesaktuellen Nachrichten ...
Kommentare ...
Interviews ... Reportagen ...
Textbeiträge ... Dokumente ...
Tips und Veranstaltungen ...
http://www.schattenblick.­
de/infopool/infopool.html
Moderner Pyramidenbau in Katar:
Bayern München und Co. gehen über Leichen
(SB) ­ Wegen der Wahl seines Trainingslagers steht der FC Bayern aber-
mals in der Kritik. "Bayern München sollte kein Trainingslager in Katar
aufschlagen. Sie legitimieren damit ein System der modernen Sklaverei",
erklärte Kommunikationsdirektor Tim Noonan vom ...
http://www.schattenblick.de/infopool/sport/meinung/spmek243.html
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______I n h a l t__________________________________Ausgabe 1749 / Montag, den 29. Februar 2016____
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DIE BRILLE - REPORT
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Royalistisch gedacht
Und morgen, den 29. Februar 2016
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DIENSTE / WETTER / AUSSICHTEN
Und morgen, den 29. Februar 2016
+++ Vorhersage für den 29.02.2016 bis zum 01.03.2016 +++
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Heute wie gestern
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Zweitagesschwestern,
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