William Sutcliff: Auf der richtigen Seite

William Sutcliff
Auf der richtigen Seite
Aus dem Englischen von Christiane Steen
Hamburg: Rowohlt 2014
Jugendroman ab 13 Jahren
Sowohl im topografischen, als auch im erzählerischen Zentrum des in Edinburgh lebenden
Autors steht eine Mauer. Folgerichtig lautet auch der Originaltitel des Romans „The Wall“.
Mit jedem der vier Teile wird diese Mauer in jeweils eine Richtung überquert – mit den
entsprechenden Folgen, die im Folgekapitel aufgegriffen werden und die Erzähldramaturgie
bestimmen. Der finale Showdown findet an der Mauer selbst statt, an einem Checkpoint, an
dem der Ich-Erzähler Joshua wortwörtlich zwischen die Fronten gerät: Er wird von der einen
Seite beschossen, von der anderen Seite mit Steinen beworfen und überlebt nur knapp. Bereits
dies zeigt, dass es keine richtige Seite geben kann, wie der deutschsprachige Titel (vielleicht
auch durchaus nach dieser richtigen Seite fragend) impliziert.
William Sutcliff verortet das Geschehen nicht. Es werden weder konkrete noch konkrete
Daten genannt. Dennoch bleibt unübersehbar, dass das Geschehen an der israelischen Grenze
zur Westbank angesiedelt ist. Denn zu Beginn des Romans zieht Joshua mit seiner Mutter und
deren zweiten Mann Liev von der Küste in die fiktive Siedlung Amarias, einen klinisch
sauberen, aus dem Boden gestampften Wohnort, der – ohne dass dies ausgesprochen werden
würde – der Territorialabgrenzung im Sinne der unheilvollen Verknüpfung von jüdischem
Glauben und Heiligem Land dient. Bei Liev – und auch das wird nie explizit ausgesprochen –
handelt es sich um einen ultraorthodoxen Fundamentalisten:
Das sind nicht bloß Bäume, Joshua. Nichts hier ist bloß ein Baum. Bloß weil du dich in
deinem Zuhause, das ich dir errichtet habe, warm und sicher fühlst, heißt das nicht, dass wir
sicher sind. Das hier ist Kriegsgebiet. Wir sind von Leuten umgeben, die uns hassen und die
uns unser Land wegnehmen und uns töten wollen, und jeder Baum und jeder Stein, der
unseren Feinden gehört, ist eine potentielle Abschussrampe für eine Rakete, die dich oder
deine Mutter töten kann. Oder die deine gesamte Schule auslöschen kann, mit jedem Kind das
darin ist. Hunderte von Leuten planen in diesen Minuten und in jeder Minute unseren Tod. (S.
230)
In Lievs Zurechtweisungen ist die aufgeheizte Stimmung radikaler politischer Diskurse
erkennbar; seine zunehmende Grausamkeit gegenüber dem Stiefsohn wird im Roman
gegenläufig zu Joshuas Erkenntnisprozess gestaltet. Denn Joshua lernt die anderen Seite
kennen: Durch Zufall findet er an einer Baustelle einen Tunneleingang und kriecht
unerschrocken unter der Mauer durch in eine andere Welt. Eine schmutzige, desolate, aber
unendlich lebhafte Welt die in deutlichem Kontrast zur ereignislosen und keimfreien Siedlung
steht. Und als müsste Liev Recht behalten gerät Joshua sofort in die Fänge einer Bande von
Jugendlichen und kann sich nur mit Hilfe eines Mädchens in ein Haus flüchten.
Leila zeigt Joshua den Weg zurück durch den Tunnel und stellt wie nebenbei die Frage, ob
Joshua etwas zu essen bei sich hat.
Von Leila angezogen und vom Image des Weltenretters inspiriert, bunkert Joshua
Lebensmittel und kehrt damit durch den Tunnel zurück in die Stadt hinter der Mauer – und
bringt nun nicht nur sich, sondern Leilas gesamte Familie in Gefahr. Seine Erstbegegnung mit
der anderen Seite wird nun atmosphärisch noch gesteigert. Auch wenn Leilas Familie die
Lebensmittel zuerst zurückweist, folgt aus Joshuas Gabe doch ein kulinarisch intensiver
Abend, an dem sich trotz der Ärmlichkeit der Verhältnisse das familiäre Miteinander festlich
ausbreitet: Mit geringsten Mitteln werden Köstlichkeiten auf den Tisch gezaubert: das
sinnliche Erlebnis des Miteinander Mahl Haltens wird fortgesetzt
serviert werden und an dem alles in mehrfacher Hinsicht als kulinarisch, als sehr sinnlich
beschrieben wird in einem aufgeschlossenem Miteinander, das Joshua aus seinem unemotionalen, reglementierten Zuhause nicht kennt (oder seit dem Tod des Vaters nicht mehr
kennt). Er beschließt hier zu bleiben, wird aber zurückgewiesen: Schon sein erneutes
Auftauchen und der Verdacht der Spionage, der daraus resultiert, bringt die Leilas Familie in
Lebensgefahr.
Sozusagen als Sühnehandlung dafür bitte Leilas Vater Joshua darum, einen OlivenbaumGarten jenseits der Mauer zu pflegen. Deutlich gemacht wird damit einerseits die Mühsal,
über die Checkpoint von jenseits der Mauer ins Siedlungsgebiet zu gelangen. Nur jeden ersten
Freitag im Monat darf Leilas Vater – wenn überhaupt – die Mauer queren. Andererseits wird
mit dem Garten genau das Gegenteil dieser grausam geteilten Welt beschworen: der
paradiesische Ort, an dem das Glück für kurze Zeit möglich und Joshuas Liebe zu Leila
erfüllbar scheint. Doch das Glück währt nicht lange, denn Leiv kommt Joshua auf die
Schliche: Das Paradies wird zerstört und erneut findet eine Vertreibung aus dem Garten Eden
statt. Von nun an scheinen alle Grenzen dicht, alle Übergänge zerstört. Doch als Leilas Vater
Medikamente benötigt, wagt Joshua noch einmal die Grenzüberschreitung …
Der Roman folgt dem naiven Blick seines Ich-Erzählers Joshua – und entwickelt sein
Potential erst aus eben diesem naiven Blick. Denn natürlich hält der Wechsel zwischen den
Welten keinem Realismus-Check stand. Doch es soll ja ohnehin eine zeichenhafte Geschichte
über einen politischen und kulturellen Clash erzählt werden, die im Lektüreprozess verortet
werden kann, aber nicht muss. Zum Movens wird dabei Joshuas Sehnsucht: Die Sehnsucht
nach einem liebevollen, familiären Miteinander, die Sehnsucht nach einer anderen Welt, die
Sehnsucht nach dem Meer. Dorthin kehrt Joshua letztlich mit seiner Mutter zurück – die sich
nach langem Schweigen von Leiv abgrenzt und zum versöhnenden Charakter wird.
William Sutcliff gelingt ein eindrucksvoller Roman, der mitten hinein in ein hochbrisantes
politisches Gebiet führt und einen intensiven Eindruck vom Leben in der Westbank gibt.
Dabei wird der politische Druck von außen gleichermaßen thematisiert wie eine hierarchische
Binnenstruktur innerhalb des Lebensumfeldes von Leilas Familie.
Die konsequente Perspektivierung des Romans bringt damit natürlich auch ein gerüttet Maß
an Parteilichkeit mit sich, denn dem naiven Blick Joshuas und dem fundamentalistischen Leiv
wird aus israelischer Seite keine ausgleichende Figur zur Seite gestellt. In Kenntnis dieser
Einschränkung jedoch bleibt der Roman als jugendliterarisch einzigartiges Zeugnis eines
Erkenntnisprozesses zu lesen, der den Blick für ein (religiöses) Krisengebiet schärft.
Lexe Heidi