MINH JONG JEN SEITS des SCH A TTEN S Roman Die Offenbarung Johannes 13:1 Und ich sah: Ein Tier stieg aus dem Meer, mit zehn Hörnern und sieben Köpfen. Auf seinen Hörnern trug es zehn Diademe und auf seinen Köpfen Namen, die eine Gotteslästerung waren. 20:1 Dann sah ich einen Engel vom Himmel herabsteigen; auf seiner Hand trug er den Schlüssel zum Abgrund und eine schwere Kette. 20:2 Er überwältigte den Drachen, die alte Schlange -das ist der Teufel oder der Satan -, und er fesselte ihn für tausend Jahre. 20:3 Er warf ihn in den Abgrund, verschloss diesen und drückte ein Siegel darauf, damit der Drache die Völker nicht mehr verführen konnte, bis die tausend Jahre vollendet sind. Danach muss er für kurze Zeit freigelassen werden. 1 2 Prolog S chwungvoll, leicht wie eine Feder glitt der Pinsel über die vor ihm stehende Leinwand. Kurz hielt er inne, um seine bisherige Arbeit zu betrachten. Es war fast fertig – sein Meisterwerk, wie er fand. Doch schrieb er dies nicht seinem Können, sondern vielmehr der Perfektion seiner Muse zu, deren Zartheit und Anmut für die Ewigkeit festzuhalten auf eine unerklärliche Art und Weise für ihn einer Pflicht gleichkam. Dort lag sie vor ihm, seine Göttin, so, wie Gott sie schuf. Und er schuf sie perfekt! Das lange, seidig glänzende Haar schien förmlich über ihre Schultern zu fließen und reichte ihr fast bis zur Taille. Die goldblonde Farbe bildete einen harmonischen Kontrast zu der zerschlissenen Couch, deren mahagonifarbenes Leder schon bessere Tage gesehen hatte. Doch trotz – oder vielleicht gerade wegen – dieses fast perfekten Momentes überkam ihn erneut eine Melancholie, deren Präsenz er in den letzten Wochen immer häufiger verspürte. Wie Blei lag sie auf seiner Seele und so sehr er sich auch anstrengte zu ergründen, warum ihn diese Traurigkeit und Düsternis immer öfter in Besitz nahm, es gelang ihm nicht. »Was ist mit dir?«, flüsterte die Frau vor ihm und ihr Lächeln holte ihn in die Realität zurück. »Bitte entschuldige«, sagte er. »Ich war mit meinen Gedanken kurz woanders.« »Das habe ich bemerkt.« »Du musst stillhalten! Nicht so zappeln, sonst kann ich meine Arbeit nicht beenden«, wechselte er bewusst das Thema. Doch als er in die großen blauen Augen blickte, die ihn 3 leicht belustigt, leicht erzürnt über seine Kritik ansahen, verfiel er erneut in eine Lethargie. Dieses Mal jedoch nicht begleitet von Traurigkeit, sondern vielmehr von tiefer Leidenschaft und Liebe. Eine leichte Röte färbte ihre zarten Wangen angesichts des ihr entgegengebrachten Blickes und sie lächelte. Vergessen waren Leinwand und Pinsel. Langsam, ohne die Augen von ihr abzuwenden, ging er auf die nackte Schönheit zu, die immer noch so reglos wie möglich vor ihm lag. Er kniete nieder und eine leichte Gänsehaut ließ sie frösteln, als seine Finger sacht über die Schultern hinab zu ihren Hüften strichen. Die Berührung ihrer Haut und ihr inniger Blick beraubten ihn endgültig des letzten bisschen klaren Verstandes. »Stillhalten, ja?«, hauchte sie kaum hörbar. Verträumt betrachtete er seine Hand, die nun langsam ihr Bein hinab glitt und, an ihrer Fessel angelangt, sich den Weg wieder hinauf zu ihren Hüften bahnte. Ihr Blick fiel während des auf ein Gemälde, das achtlos in einer der dunklen Ecken des Raumes stand, fast so, als wolle man es in die Vergessenheit verbannen. »Was um alles in der Welt ist das denn?«, fragte sie. »Hmm«, antwortete er abwesend, als sei ihre Frage nur schwer zu ihm durchgedrungen. Zärtlich nahm sie sein verträumtes Gesicht in ihre Hände und sah ihm tief in die Augen. »Hallo? Ich rede mit dir!« »Aber ja doch«, antwortete er endlich gedehnt. »Ich habe es letzte Woche gemalt. Frage mich jetzt aber bitte nicht, was dabei in mir vorging. Es kam so über mich.« »Es kam so über dich?«, wiederholte sie seine Worte und zog die Augenbrauen hoch. »Welche Abgründe haben sich dir da aufgetan, so etwas auf Leinwand zu bannen?« Voller Argwohn betrachtete sie das Bild. Die schwarze Leinenwand setzte sich kaum von den in dunklem Schatten liegenden Wänden ab. In der Mitte des 4 Bildes, als zentrales Augenmerk, funkelten die feurig gelben Augen einer Raubkatze, deren diabolisches Glühen das Bild auf eine seltsame Art lebendig wirken ließ. Bei genauerem Hinsehen erkannte man die schemenhaften Umrisse eines Tierschädels, dessen messerscharfe Reißzähne bedrohlich über die Lefzen hingen. »Es macht mir Angst«, flüsterte sie und strich über ihre nackten Oberarme, um die Gänsehaut zu vertreiben, die sich zwischenzeitlich auf ihrem ganzen Körper ausgebreitet hatte. Nun drehte auch er sich, wenn auch widerwillig, zu seinem Werk um. Der so lebendig wirkende Blick der Kreatur bohrte sich in sein Innerstes und die Kälte, die er hinterließ, beraubte ihn erneut jedes positiven Gedankens. Er spürte den Sog der Melancholie in sich aufsteigen. Nur mit Mühe schaffte er es, sich der Dominanz des Bildes und deren Magie zu entziehen. »Vergiss das Bild!«, erwiderte er, wandte den Blick ab und schenkte seine ganze Aufmerksamkeit jetzt wieder dem nackten Körper, der noch immer in seiner Vollendung vor ihm lag. »Mir steht der Sinn jetzt nicht nach Reden …«, murmelte er mehr zu sich selbst. »Und wonach dann?« Ein verführerisches Lächeln breitete sich auf den Lippen der Frau aus. Auch sie hatte es geschafft, sich dem Bann des Bildes zu entziehen, und blickte voller Hingabe in die sanften braunen Augen vor ihr. Ihre Gänsehaut jedoch blieb. Beide sahen sich an und eine Antwort auf ihre Frage wurde überflüssig. Als sein Mund den ihren fand, fielen Raum und Zeit von ihnen ab. Im Hier und Jetzt gab es nur sie beide und sie gehörten einander. 5 1. Kapitel h 611 Tage und 21 Stunden bis zur Stunde null L ondon. Keine Nacht wie jede andere. Tiefe Dunkelheit umgab die Stadt. Das dichte Schwarz lag wie ein Teppich des Unheils über den sonst so pulsierenden Lichtern dieser Metropole und es schien, als schlucke die Düsternis jeden noch so kleinen Versuch, sich gegen sie aufzubäumen. Ein Nebel, dicht und unnatürlich, kroch durch Straßen und Gassen und verschlang hungrig alles und jeden, der es wagte, sich ihm entgegenzustellen. Eine unheilvolle Stille breitete sich aus, als beide Naturgewalten aufeinandertrafen, und die Welt verharrte in angstvoller Erwartung auf das Kommende. S t. Paul’s Cathedral. Kurz vor Mitternacht. Als suche der unwirkliche Nebel in diesen Stunden ein bestimmtes Ziel, verweilte er für einen kurzen Moment vor den Toren der Kathedrale, bevor er sich zu Boden senkte, um dann jedoch zielstrebig in Richtung der historischen Mauern weiterzuziehen. 6 Langsam krochen die Nebelschwaden die weitläufigen Stufen des Doms hinauf, bis ein düsterer Schleier diese vollends verhüllte. Und als warte weit oben vor dem Hauptportal ein unsichtbarer Magnet auf seinen Gegenpol, glitten die gallertartigen Nebelmassen ihrem Ziel entgegen, um sich dort zu vereinen und wie eine mächtige Säule aus Dunst und Finsternis in den Nachthimmel emporzusteigen. Die Tonfolge des Westminsterschlages erklang in der Ferne und verhallte in der Stille der Nacht. Und als sei dies ein Zeichen, begann die Nebelsäule, um ihre eigene Achse zu rotieren. Schneller und schneller schraubte sie sich gen Himmel und die Dunkelheit um sie herum wich einem unwirklichen Glanz, der das Areal um die Stufen der Kathedrale fast taghell erscheinen ließ. Mit dem letzten Gongschlag Big Bens zerbarst sie lautlos. Vollkommen reglos, als würden Zeit und Raum innehalten, schwebten nun an ihrer statt ein funkelndes Teilchenmeer vor den Toren der St. Paul’s Cathedral. Und einen Atemzug später, für das bloße Auge kaum noch wahrnehmbar, vereinigten sich die glitzernden Teilchen zu einem formlosen Gebilde. Wie aus dem Nichts durchdrangen kurz darauf gleißend helle Strahlen die dichte Nebelbank. Kleine, milchige Lichtkugeln flirrten am Himmel weit über der schemenhaften Gestalt. Ein gespenstisches, unirdisches Licht umgab das Areal vor den Toren St. Paul’s und die Tiefe der Nacht gab ihren Kampf auf. Sie wich einer Luminanz, nicht von dieser Welt, und allmählich schien sich die Zeit wieder aus ihrer Erstarrung zu lösen. Unkoordiniert und ohne ersichtliches Ziel begann das unwirkliche Gebilde, sich zu verformen. Mächtige Gliedmaßen, Händen nicht unähnlich, trennten sich vom Rumpf und ein nur schemenhaft erkennbarer Kopf bewegte sich schwerfällig auf und ab. Die anfangs trägen Bewegungen gewannen nun an Struktur und das was bei genauerer Betrachtung ein Gesicht hätte sein können, verzerrte sich zu einer Fratze. Durch die Stille der Nacht 7 drang ein markerschütternder Schrei, deren Heftigkeit das Wesen taumeln ließ. Es fiel seitlich hart auf die Steinstufen und zerstob erneut in Abertausende Teilchen aus glitzerndem Dunst. Doch einen Wimpernschlag später hatten sich die Nebelfragmente bereits wieder zu ihrer Einheit zusammengefügt. »Steh auf, mein Freund!«, hallte eine tiefe Stimme durch die Nacht und ließ das Wesen am Boden zusammenzucken. Am Fuße der Treppe, wie aus dem Nichts, erschien eine Gestalt. Licht und Schatten schienen in ihr vereint und die milchig blassen Reflexionen beider Gegensätze verliehen dem Wesen etwas Überirdisches. Doch binnen weniger Sekunden verblassten die Spiegelungen und ein großer, kräftiger Mann stand vor den Stufen der Kathedrale. Breite Schultern und eine massige Statur gaben ihm Würde und Macht. Sein langes Haar, streng zu einem Zopf gebunden, betonte seine hohen Wangenknochen und ließ ihn unnahbar und bedrohlich wirken. Sein Äußeres schimmerte farblos und bleich, doch die Augen des Mannes, eisblau und funkelnd wie ein Meer aus Diamantstaub, sprühten förmlich vor Leben und Leidenschaft. Und als würden sie alles um sich herum mit Energie speisen, begann seine blasse Statur Form und Farbe anzunehmen. Festen Schrittes stieg er die Stufen empor. Schnell und kraftvoll beugte er sich zu der immer noch am Boden kauernden Gestalt herunter, packte sie und richtete sie auf. »Man nennt mich Whyrhd. Ich bin hier, um dir deine Fragen zu beantworten.« Die schemenhaften Gesichtszüge des Nebelgeschöpfes verzogen sich erneut, doch kein Laut drang nach außen. »Du musst dich erst einmal sammeln. Erst dann wirst du in der Lage sein, dich zu artikulieren«, sagte der bullige Mann mit den Augen wie aus Aquamarin, als ahnte er, was in dem Wesen vorging. »Konzentriere dich auf dein innerstes Selbst und stelle dir vor, wie dein Äußeres aussehen soll. Aber du musst Ruhe bewahren! Lass deine Lebensenergie sich mit dir 8 vereinen.« Die Kreatur senkte den Kopf. Sekunden verstrichen, ohne dass etwas geschah. Aus der Formation der Lichtkugeln über ihnen löste sich die kleinste heraus und schwebte in Richtung der beiden Gestalten. Ihre Leuchtkraft reichte nicht annähernd an die ihrer Wegbegleiter heran, doch mit jedem Zentimeter, den sie ihrem Ziel näher kam, gewann es an Größe und Intensität. Whyrhd, die Lider geschlossen, saß erwartungsvoll daneben, bevor er nach weiteren endlosen Minuten leise zu sprechen begann: »Ich beginne die langsam wahrzunehmen – dein braunes Haar, deine jugendlichen Züge. Konzentriere dich - erschaffe dein neues Selbst!« Der kleine Lichtball schwebte jetzt unmittelbar über der Gestalt. Lauernd, fast so, als warte er auf eine höfliche Einladung, hielt er in seiner Bewegung inne. Doch im nächsten Augenblick beschleunigte er, entfernte sich wieder, beschrieb einen weiten Bogen, um dann frontal und mit voller Wucht durch sein Ziel hindurch zu stoßen. Der Aufprall, so gewaltig und unerwartet, ließ das Wesen erzittern und nur mit Mühe verlor es nicht das Gleichgewicht. Auf den Stufen, dort, wo noch Sekundenbruchteile zuvor die schemenhafte, graue Nebelgestalt gesessen hatte, kauerte jetzt ein junger Mann. Er war mittelgroß und von durchtrainierter Statur. Sein welliges, braunes Haar reichte ihm fast bis zu den Schultern und seine großen, tiefbraunen Augen blickten verwirrt in die Nacht. Er senkte den Blick und betrachtete voller Neugierde seine langen, feingliedrigen Hände. Whyrhd, der immer noch die Augen geschlossen hielt, sagte leise: »So – und nun nenne mir deinen Namen.« 9 Lange, sehr lange kam kein Laut über die Lippen des jungen Mannes. Dann, eine gefühlte Ewigkeit später, blickte er auf. Verzweiflung sprach aus seinem Blick, doch in seinen Augen lag noch etwas anderes: Ihr Strahlen, voller Intensität und Wärme, ließ vermuten, welche Kraft und Willensstärke in ihnen wohnte. Langsam begannen seine Lippen, den Namen zu formen, der wie ein Donnerschlag durch die Stille der Nacht klingen würde: »Joshua.« »Welch ungewöhnlicher Name in unseren Reihen«, erwiderte Whyrhd nach einem kurzen Moment der Stille. »Willkommen im Reich der Schatten!« »Was ist passiert?«, hörte man die leise, gebrochene Stimme des jungen Mannes. »Du bist nun in einer neuen Welt, mein Freund. Einer Welt fernab jeglicher Vorstellungskraft. Einer Dimension, die ihre eigenen Gesetze hat und in der entschieden wird, wohin und mit wem du weitergehen wirst«, erklärte Whyrhd. »Wie komme ich hierher? Was ist passiert?« Ein Quell an Fragen sprudelte jetzt aus Joshuas Mund, begierig auf Antwort wartend. »Langsam! Alles der Reihe nach!«, bremste der Mann neben ihm ein und versuchte, seine Stimme so ruhig wie möglich klingen zu lassen. »Um es ohne Umschweife zu sagen: Du bist tot. Deine Seele jedoch konnte nicht in das Reich der Himmel eintreten. So bist du hier gestrandet, mein Freund. Ich werde dich auf deinem bevorstehenden Weg begleiten, dir alles beibringen, was du wissen musst, und versuchen, dir auf deiner letzten Reise zur Seite zu stehen.« Die Offenbarung des Unausweichlichen schien die Luft förmlich zu elektrisieren und man glaubte, das Knistern zwischen den Männern hören zu können. Joshua schüttelte den Kopf und in seiner Frage lag 10 unverhohlene Panik. »Ich verstehe dich nicht! Was heißt, ich sei tot? Ich sitze hier. Wir reden. Ich fühle das Leben in mir und das Blut in meinen Adern. Ich kann nicht tot sein!« »Sehe ich wirklich so aus, als würde ich scherzen?«, donnerte die Stimme Whyrhds durch die Nacht. Doch dann schloss er die Augen. Glitzernde Partikel lösten sich von seinem Körper. Zu Anfang nur vereinzelt, doch mit jeder verstrichenen Sekunde glich der Sog mehr und mehr einem Nebel, der sich in rasanter Geschwindigkeit um ihn herum wand. Dann, vollkommen unerwartet, öffnete Whyrhd die Augen. Gespenstisch und kalt leuchtete nun das Blau seiner Iris und Joshua musste unwillkürlich schaudern. Beim nächsten Atemzug jedoch saß Whyrhd wieder in seiner vollen Größe neben ihm. Freundlicher als zuvor fuhr er fort: »Warum du hier bist, können wir nur erahnen. Menschen gelangen ins Schattenreich, wenn sie für ihre letzte Reise noch nicht bereit sind. Das ist meist der Fall, wenn sie unfreiwillig oder unerwartet aus ihrem Leben gerissen wurden. Diese Menschen konnten noch keinen inneren Frieden finden, doch bevor dies nicht geschieht, wird ihnen der Zugang in das Reich der Himmel verwehrt.« »Aber wieso sieht hier alles so …« Joshua suchte nach Worten. »… lebendig aus?« »Du befindest dich in einer Dimension zwischen deiner bisherigen Existenz und einer Welt, in der das Leben eine neue Bedeutung erlangt. Das Reich der Schatten ist weder das eine noch das andere. Es ist der Vorhof in das Reich Gottes. Du siehst all die Menschen und Tiere, aber sie sehen dich nicht. Deine Erinnerungen an dein bisheriges Leben wurden ausgelöscht. Du musst deinen letzten Weg gehen und die Aufgabe, die dir vom Hohen Rat zugeteilt wurde, erfüllen, um deinen Frieden mit dir selbst zu machen. Nur so – und wirklich nur so«, sagte Whyrhd mit Nachdruck, »erhältst du die Möglichkeit, in das Reich der Himmel einzutreten.« »Ich bin ein Geist?« Whyrhd lachte herzhaft und Joshua fühlte Unmut in sich 11 aufsteigen. »Nein. Kein Geist im herkömmlichen Sinne, wenn du das meinst. Doch der Mythos, der von je her in der Welt der Lebenden Bestand hat, kommt nicht von ungefähr. Die Vermutungen und Fantasien der Menschen haben über Jahrtausende ein Bild erschaffen, welches nichts mehr mit dem gemein hat, was wir im Grunde darstellen. Daher sind wir über derlei Vergleiche auch nicht sonderlich erfreut. Wir spuken nicht in langen, weißen Gewändern und uns fehlen auch keine Köpfe.« »Was sind wir dann?« Whyrhd überlegte kurz. »Seelen«, sagte er schließlich. »Seelen, die den Sinn des Lebens noch nicht gefunden haben. Deren innerer Kreis über die Einheit zwischen Leben und Tod sich noch nicht geschlossen hat.« »Wann wird meine Seele bereit sein, in das Reich der Himmel einzutreten?« fragte Joshua mit gebrochener Stimme. »Tja … das, mein Freund, das kann ich dir leider beim besten Willen nicht beantworten. Einzig der Hohe Rat besitzt das Wissen über die Aufgaben und Schicksale der Schattenwesen. Du musst deinen …« Whyhrd verstummte, wendete sich blitzschnell von Joshua ab und war sogleich mit einem Satz auf den Beinen. Joshua folgte seinem Blick. Durch die tiefe Schwärze der Nacht hindurch funkelten zwei feuerrote Punkte und ein weit entferntes Knurren durchdrang die Stille. Als würde sein Kopf in einen Schraubstock gespannt, verspürte Joshua einen stetig anwachsenden Druck an seinen Schläfen. Und so sehr ihn auch die Schmerzen beherrschten, er vermochte nicht, seinen Blick von den leuchtenden Objekten abzuwenden. Zwischen Faszination und Entsetzen hin und her gerissen, schien es, als würde er hinab gezogen in in die Tiefen der Hölle. Doch mit einem Mal erlosch die sengende Hitze und der unsägliche Schmerz in seinem Kopf ließ nach. Whyrhd hatte 12 sich zwischen sie gestellt und so den Blickkontakt unterbrochen. »Was ist das?«, flüsterte Joshua, der schnell wieder zu Kräften kam. Doch Whyrhd gab keine Antwort. Stattdessen ging er einige der Steinstufen hinunter und jede Faser seines massigen Körpers, der nur aus Muskeln zu bestehen schien, war zum Zerreißen gespannt. Langsam, ganz langsam wurden die leuchtenden Punkte kleiner, bis sie sich letztendlich in der Schwärze der Nacht verloren. Whyrhd jedoch regte sich nicht. Selbst als Joshua mühsam auf die Beine kam und neben ihn trat, wandte er seinen wachsamen Blick nicht von der Dunkelheit vor ihnen ab. »Was war das?«, versuchte es Joshua erneut. »Frag lieber: Wer war das!«, entgegnete Whyrhd und seine Muskeln entspannten sich etwas. »Gut, dann frage ich: Wer – in Gottes Namen – war das?« Vorsichtig blickte Joshua in die Richtung, in der noch Minuten zuvor die seltsame Erscheinung zu sehen gewesen war. Whyrhd ließ sich Zeit, auf seine Frage zu antworten. »Gott hat damit nichts zu tun. Der Hohe Rat ist es, der über die Welt der Schatten wacht. Und was du gerade gesehen hast, sind die Augen von Aureus.« »Aureus?« »Er war einst wie wir – bis er sich entschied, einen anderen Weg zu gehen. Er schloss sich Abaddon an, einem verstoßenen Mitglied des Hohen Rates und nun Herrscher der Finsternis. Seit dem Tag seiner Verbannung kämpfen er und seine Gefolgschaft gegen uns.« »Was will er von uns?« Whyrhd zögerte. Letztendlich sprach er doch: »Unsere Seelen.« Entsetzen lag in Joshuas Blick, doch Whyrhd wechselte schnell das Thema: »Für den Rest der Nacht nehme ich dich erst einmal mit zu mir. Dann werden wir weitersehen.« 13 »Zu dir?« »Komm einfach mit! Ich erkläre dir alles später. Wir müssen hier fort.« In Gedanken versunken, beschäftigt mit dem Versuch das Unbegreifliche für ihn begreiflich zu machen, folgte Joshua ihm in Richtung Fleet Street. »Nicht normal diese Dunkelheit …«, murmelte Whyrhd kaum hörbar. »Bleib dicht hinter mir!« »Ist es noch weit?«, brach Joshua dann doch das Schweigen, als die beiden an Lincoln’s Inn vorbeikamen. Ein Obdachloser, eingehüllt in einen schäbigen Schlafsack, kauerte an dem filigranen Eisenzaun des Parks. Als die Männer ihn passierten, zog er seinen zerlumpten Baumwollsack höher. Der Gestank von Alkohol und Urin drang in Joshuas Nase und er bemühte sich, den aufkeimenden Brechreiz zu unterdrücken. Das hier kann nur ein böser Albtraum sein, dachte er. Er würde gewiss gleich aufwachen. Vielleicht von einer durchzechten Nacht – dies wäre zumindest eine plausible Erklärung dafür, warum ihm so speiübel war. Und noch während Joshua zu ergründen versuchte, welche Ursachen dieser bizarre Traum haben könnte, fiel ihm ein Junge auf, der unter einem der alten Laubbäume im feuchten Gras saß und ihn anstarrte. Whyrhd und er hatten den Park bereits betreten, dessen Tore nachts normalerweise fest verschlossen waren. Doch Joshua blieb nicht viel Zeit, über diesen ungewöhnlichen Umstand zu grübeln. Als sich das blassgrüne Augenpaar mit dem seinen traf, tauchte er hinab in eine andere Welt. Gezogen vom Bann der Willenlosigkeit, änderte er seine Richtung und ging direkt auf den Jungen zu. Die unsichtbare Kette zwischen ihnen ließ seinen Verstand erstarren und seine Motorik gehorchte nicht mehr dem seinen, sondern dem Willen des Kindes. Doch als nur noch wenige Schritte sie voneinander trennten, löste sich der Bann wie von Zauberhand. 14 »Andras! Hör sofort auf damit!«, hörte man die laute Stimme Whyrhds durch den Park. Erst jetzt gelang es Joshua, den Blick abzuwenden, und er drehte sich zu seinem Mentor um, der nun dicht hinter ihm stand. »Was ist …?« Doch Whyrhd schnitt ihm das Wort ab und blickte finster zu dem Jungen. »Du weißt ganz genau, dass es dir untersagt ist, deine Kräfte auf diese Weise zu nutzen! Wo ist Selene?« Suchend blickte er umher, doch das Kind schwieg. Ausdruckslos, fast apathisch fixierte es die beiden Männer. Joshua meinte, einen Anflug von Spott in der Mimik des Jungen erkennen zu können. Dicht hinter ihnen hörten sie auf einmal das Knacken von Ästen und eine junge Frau trat aus der Dunkelheit. Auch sie besaß dieselben blassgrünen, stechenden Augen, doch anders als bei dem Jungen lag in ihnen Wärme und Fürsorge. Obgleich Joshua diese Frau nicht kannte, fühlte er sich ihr dennoch unergründlich nahe und so huschte ein Lächeln über sein Gesicht. Sie erwiderte diese Geste der Zuneigung und auch sein neuer Lehrmeister schien sich bei ihrem Anblick zu entspannen. »Ich bin’s nur.« Sie ging auf Whyrhd zu und schlang ihre dünnen Arme freundschaftlich um seinen massigen Oberkörper. »Selene! Es ist schön, dich zu sehen!«, sagte Whyrhd und seine Stimme begleitete eine Sanftheit, die Joshua seinen Lehrmeister aus einem neuen Blickwinkel betrachten ließ. »Was machen denn du und dein Freund zu einer solch ungewöhnlichen Zeit hier?« Sie sah zu Whyrhd auf und löste leicht ihre Umarmung. »Darf ich dir vorstellen: Das ist mein neuer Schützling – Joshua. Wir sind auf dem Weg zu mir. Das ist zwar nicht der sicherste Ort, aber ihn gleich mit St. Paul’s zu konfrontieren, halte ich für verfrüht.« Die junge Frau musterte Joshua jetzt intensiver und ihr 15 Blick entfachte in ihm ein Gefühl, als würde seine Körpertemperatur um einige Grad ansteigen. »So, so … ein Frischling.« Zu Whyrhd gewandt, fuhr sie fort: »Gefährliche Entscheidung in dieser Nacht. Irgendetwas geht heute hier draußen vor. In St. Paul’s wärt ihr sicherer.« »Ich weiß. Aureus zieht seine Kreise und auch sonst ist diese Nacht anders. Da gebe ich dir Recht.« Selene blickte zu dem Jungen hinüber, der immer noch teilnahmslos unter dem Baum saß und die Unterhaltung verfolgte. »Hat mein Bruder deinen Schüler erschreckt?« Doch ohne Whyrhds Antwort abzuwarten, fuhr sie – an Joshua gewandt – fort: »Es tut mir leid, sollte er dich verunsichert haben. Andras schlägt hie und da ein wenig über die Stränge.« Obgleich die Situation zwar etwas Seltsames in sich barg, nickte Joshua und murmelte kaum hörbar: »Schon gut. Es ist ja nichts passiert …« Whyrhd, der langsam unruhig wurde, bedeutete seinem Schüler, ihm zu folgen. Zu Selene gewandt meinte er: »Pass auf Andras auf! Du weißt, welche Aufgabe dir obliegt?! Ihn in einer solchen Nacht hier allein zu lassen ist gefährlich.« Ohne ein Wort des Grußes drehte er sich um und ging zügig den dunklen Pfad entlang, der sich durch die hohen Bäume des Parks wand. Joshua folgte schnellen Schrittes, um den Anschluss nicht zu verlieren. Doch bereits nach wenigen Metern konnte er die Neugierde nicht mehr unterdrücken. Er holte seinen Lehrmeister ein und kam sogleich auf den Punkt: »Was ist mit dem Jungen? Warum hat er nichts gesagt? Und wieso war ich ihm praktisch willenlos ausgeliefert?« »So viele Fragen auf einmal?« Whyrhd sah kurz zu Joshua hinüber, ohne jedoch seine Schritte zu verlangsamen. »Das ist eine komplizierte Geschichte. Ich werde sie dir zu gegebener Zeit erzählen.« Doch Joshua ließ nicht locker. »Was meintest du 16 eigentlich mit: Wir gehen zu mir?« »Es ist nicht mehr weit«, entgegnete Whyrhd ohne auf seine Frage einzugehen. »Du hast eine Familie?« »Wenn du so willst – ja. Allerdings ist das nicht meine eigene. Ich habe mich dort sozusagen nur eingenistet. Viele von uns tun das. Es gibt uns ein wenig Halt und gaukelt uns ein Stück Normalität vor«, brummte Whyrhd. Schweigend, ließen die Männer die Straßen und Gassen hinter sich, und obwohl Whyrhd größer und kräftiger war als Joshua, so hatte dieser erstaunlicherweise keine Mühe, mit ihm Schritt zu halten. Viel mehr noch – er fühlte sich, als könne er Bäume ausreißen, und fast meinte er, die Energie, die durch seinen Körper strömte, spüren zu können. Joshua blieb abrupt stehen und sah sich um. Die Dunkelheit gab nur das Nötigste preis, doch er verspürte eine Art Vertrautheit mit der Umgebung um ihn herum. Schon im Park war ihm das aufgefallen, doch er hatte dem keine Bedeutung beigemessen. »Ich kenne diese Gegend«, sagte er in die Stille hinein und Whyrhd, bereits einige Meter vor ihm, blieb stehen und drehte sich um. »Das bildest du dir ein. Jetzt komm schon! Dort drüben ist es!«, rief er ihm zu und zeigte auf eine Kreuzung, in deren Mitte ein beschaulicher Park zu erkennen war. Die schmalen Reihenhäuser mit ihren braunen Ziegeln säumten reihum die kleine Parkanlage und es schien, als würden sie der grünen Oase in ihrer Mitte Schutz bieten. Die um die Jahrhundertwende erbauten georgianischen Häuser wirkten wie ein endloses Aneinanderreihen von immer demselben Haus. Von den mit weißem Stein umrahmten Türen bis hin zu den Eisenzäunen unterschied sich in der Dunkelheit der Nacht kaum ein Gebäude vom anderen. »Wir sind am Bedford Square«, meinte Joshua nüchtern. »Ja, selbstverständlich. Dort oben steht es ja.« Whyrhd deutete auf das blaue Straßenschild. 17 Doch Joshua hatte das Schild nicht gesehen. Er war einem Impuls gefolgt. Einem inneren Wissen. Er hätte seinen Mentor davon unterrichten sollen, dennoch behielt er diesen seltsamen Umstand für sich. »Lass uns reingehen!«, sagte Whyrhd, als sie endlich vor dem Haus mit der Nummer 9 standen. »Aha … Und wie? Hast du einen Schlüssel?«, wollte Joshua wissen und scherzhaft fragte er noch: »Oder wirst du mir gleich mitteilen, du könntest durch Wände gehen?« Doch Whyrhd lachte nicht. »Ich an deiner Stelle würde mich nicht darüber lustig machen. Wie skurril und bizarr das hier alles ist, brauchst du mir nicht unter die Nase reiben. Aber vergiss nicht, mein Freund: Du sitzt mit im Boot!« Für einen Sekundenbruchteil blitzten Whyrhds eisblaue Augen kalt und wütend auf. »Aber so ganz Unrecht hast du nicht. Du solltest für diese Gabe jedoch dankbar sein. Uns wurde die Möglichkeit gegeben, uns rein durch die Kraft unseres Willens von einem Ort zum anderen zu bewegen. Unsere mentalen Fähigkeiten erlauben uns eine Art der Fortbe-wegung, die keine Grenzen kennt und keine Schlüssel benötigt.« Joshua hob fragend die Brauen und Whyrhd startete einen zweiten Versuch: »Also, wir bestehen aus kleinsten Materieteilen. Das wirst du sicherlich schon festgestellt haben. Rein durch unseren Willen können wir uns formen. Das ist uns sozusagen von Grund auf gegeben. Auch du hast ja diesen Prozess bereits durchlaufen, als du deine Hülle erschaffen hast.« Er machte eine andächtige Pause. »Und genauso können wir diesen Vorgang umkehren. Wenn du es nur wirklich willst und dich auf dein Ziel konzentrierst, dann schaffst du es auch, dich mit mentaler Kraft von einem Ort zum anderen zu bewegen. Mit ein bisschen Übung natürlich …«, fügte er abschließend hinzu. Whyrhd, dem die Anspannung nach seinem ersten Lehrversuch förmlich ins Gesicht geschrieben stand, betrachtete erwartungsvoll seinen Schüler. Joshua hingegen gelang es nur, 18 seinen Mentor auf die ihm derzeit einzig mögliche Art anzublicken: mit Verständnislosigkeit. »Gut«, meinte dieser schließlich und senkte resigniert den Kopf. »Ich habe begriffen: Du hast nichts von dem verstanden, was ich versucht habe, dir zu erklären, stimmt’s?« »Das fällt mir generell schwer angesichts dieser bizarren Situation«, antworte Joshua nüchtern und knapp. Whyrhd seufzte, drehte sich ohne ein weiteres Wort um – und im nächsten Moment bemerkte Joshua die Nebelteilchen, die sich vom Körper seines Lehrers zu lösen begannen. Nur einen kurzen Augenblick später war Whyrhd bereits verschwunden. Joshua schauderte bei dem Gedanken, jetzt selbst durch diese Tür gehen zu müssen. Noch ehe er sich zu einer Entscheidung durchgerungen hatte, erschien der milchige Strom abermals und wenige Meter vor ihm formatierten sich in Sekundenschnelle erneut die silbrigen Partikel und Whyrhd stand in voller Größe vor ihm. Mürrisch und ungehalten fragte er: »Kommst du endlich?« Joshua räusperte sich. Doch der Kloß, der hartnäckig seine Kehle blockierte und ihm das Gefühl vermittelte, keine Luft zu bekommen, löste sich nicht. Schließlich nahm er all seinen Mut zusammen, stieg die Stufen zur Haustür hinauf und hielt den Atem an. Er schloss die Augen und versuchte, sich den unbekannten Raum hinter dieser Tür vorzustellen. Einen Atemzug später durchzog eine Druckwelle seinen Körper und Joshua öffnete blitzschnell die Augen. Dunkelheit empfing ihn. Überrascht drehte er sich um. Tatsächlich – hinter ihm befand sich die Tür des Hauses Bedford Square Nummer 9, sicher verschlossen, und da stand auch Whyrhd, der ihm zwischenzeitlich gefolgt war. Er nickte anerkennend und klopfte Joshua auf die Schulter. »Ich bin beeindruckt! Es gibt nicht viele, die diese Hürde beim ersten Mal schaffen!«, murmelte er und wies Joshua den 19 Weg durch einen großen Rundbogen, der den Vorraum vom Wohnzimmer trennte. Selbst in der Dunkelheit konnte man unschwer erkennen, wie stilvoll und familiär das Haus eingerichtet war. Der offene Kamin, in dem noch immer eine schwache Glut glomm, strahlte angenehme Wärme aus. Whyrhd ging auf die Couch in der Mitte des Raumes zu, wobei er über am Boden liegendes Spielzeug steigen musste. »Hier leben Kinder?«, fragte Joshua. Ohne näher auf seine Frage einzugehen, wies Whyrhd auf die Couch, die mit ihrem floralen Stoffbezug gemütlich und einladend wirkte. »Setz dich!« sagte er. »Nachts können wir uns hier ungehindert bewegen.« »Du magst keine Kinder?« »Doch … schon. Aber am Tag müssen wir aufpassen, wo und wie wir uns im Haus aufhalten. Sie können uns zwar nicht sehen, aber in seltenen Fällen spüren sie unsere Präsenz. Abgesehen von der Tatsache, dass es auf Dauer sehr ermüdend sein kann, ständig aufzupassen, wo und wie man sich bewegt.« Joshua, gerade im Begriff sich zu setzen, legte vorher den zerschlissenen Stoffbären beiseite, dessen trübe Glasaugen in unweigerlich an seine eigene Gemütsverfassung erinnerten. »Was, zum Teufel, machst du da?«, fragte Whyrhd schockiert und überrascht zugleich. Joshua zuckte die Achseln und sah ihn verständnislos an. »Hätte ich mich draufsetzen sollen?« »Das meine ich nicht.« Whyrhd schüttelte den Kopf. »Wie konntest du ihn einfach beiseitelegen?!« »Was ist daran falsch? Er lag da. Warum also hätte ich ihn nicht aufheben sollen«, versuchte sich Joshua zu verteidigen. »Du musst wissen: Es sollte für einen Frischling wie dich praktisch unmöglich sein, ohne Übung materielle Dinge in der anderen Welt zu berühren oder gar zu bewegen«, entgegnete Whyrhd. »Das bedarf viel Übung und 20 Geschicklichkeit. Versuch es noch einmal!« Joshua nahm erneut den Bären in die Hand. Whyrhd schüttelte den Kopf. »Es ist unglaublich! Deine Fähigkeiten sind bemerkenswert!« Er machte eine kurze Pause. »Und beängstigend zugleich …« Nachdenklich, fast argwöhnisch betrachtete er den jungen Mann neben sich. »Egal …«, begann Joshua, hob entschuldigend die Hände und legte den Bären achtlos beiseite. »Was mich viel mehr beschäftigt ist die Tatsache, dass das alles hier nur ein schlechter Albtraum sein kann. Anders lässt sich das nicht rational erklären. Eine Welt zwischen Leben und Tod?« Whyrhd musterte den jungen Mann und eine Spur Mitleid lag in seinem Blick. »Glaubst du das wirklich – oder versuchst du dir hier selbst etwas vorzumachen? Ich kann das nachvollziehen, aber es ist und bleibt eine Tatsache, dass dein bisheriges Leben ein Ende gefunden hat. Auf welche Weise auch immer. Und es bleibt ebenso eine Tatsache, dass du deinen Weg, der dir vom Hohen Rat vorherbestimmt ist, wirst gehen müssen. Gewöhne dich an diesen Gedanken und finde dich lieber heute als morgen damit ab.« Die Hoffnung, an die Joshua sich bis zu diesem Zeitpunkt geklammert hatte, zerplatzte wie eine Seifenblase. Und so schonungslos die Predigt Whyrhds auch gewesen sein mochte, sie war ehrlich. Er würde sich mit der Tatsache anfreunden müssen, dass dies weder ein schlechter Scherz noch ein Traum war, aus dem er jeden Moment erwachen würde. »Dann erzähl mir alles über diese Welt und wie ich dem Ganzen so schnell wie möglich ein Ende bereiten kann!« Joshuas Stimme war belegt und die bitteren Worte kamen ihm nur schwer über seine Lippen. Whyrhd zögerte und man konnte ihm ansehen, dass er dieses Gespräch als äußerst unangenehm empfand. Er 21 rutschte auf der Couch hin und her und suchte verzweifelt nach passenden Worten. Als er begann, legte er so viel Vorsicht und Einfühlungsvermögen in seine Erklärungen, wie es ihm nur möglich war. »Mir erging es einst genau wie dir. Am Fuße von St. Paul’s wurde ich ebenfalls ins Schattenreich geschickt – ohne Ahnung oder Kenntnis, was mit mir geschehen war. Mein Lehrmeister wartete damals genauso auf mich, wie ich heute auf dich gewartet habe. Du musst wissen, dass wir unsere Fähigkeiten erst erlernen müssen. Ich werde dich lehren, zu kämpfen und dich in dieser Welt zurechtzufinden. Doch erst einmal bleibst du für einige Zeit hier bei mir. Zumindest so lange, bis du etwas anderes gefunden hast und sozusagen auf eigenen Beinen stehen kannst.« Whyrhd räusperte sich und Joshua ergriff die Gelegenheit, eine seiner vielen Fragen zu stellen: »Wie werde ich leben? Was mache ich den ganzen Tag? Nur warten, bis ich endlich meinen Weg zu Ende gehen kann?« »Für uns gibt es weder Tag noch Nacht. Und wir leben auch nicht!« Whyrhd machte erneut eine Pause, bevor er weitersprach. »Wir versuchen, unsere Aufgabe zu finden, damit wir diese trostlose Welt zwischen Leben und Tod so schnell wie möglich verlassen können. Wir tun im Grunde nichts anderes, als unserem Gewissen zu folgen. Es wird uns den richtigen Weg weisen.« Joshua senkte den Kopf. Er war überwältigt von der direkten Konfrontation mit der nackten, glanzlosen Wahrheit. Es fehlten ihm die Worte, um seine Hilflosigkeit zum Ausdruck zu bringen, und Whyrhd ließ ihm alle Zeit der Welt, indem er die Mauer der Stille und Beklommenheit zwischen ihnen nicht durchbrach. »Ich kann es nicht begreifen«, begann Joshua schließlich. »Wer tut uns so etwas an? Reichten Schmerz und Unrecht in unserem bisherigen Leben nicht aus? Was auch immer uns dort wiederfahren ist, wenn wir noch nicht bereit für den Tod waren, warum geht unser Martyrium dann hier weiter?« 22 »Das habe ich mich auch schon so viele Male gefragt«, entgegnete Whyrhd. »Aber glaube mir bitte, wenn ich dir sage, dass du keine Antwort darauf erhalten wirst. Es führt dich einzig an den Rand der Verzweiflung und hilft dir nicht, dies hier durchzustehen!« »Dann verrate mir eines …«, begann Joshua und ein Hauch von Resignation lag in seiner Stimme. »Wie stehst du das durch? Erinnerst du dich denn gar nicht an dein Leben vor diesem …« Er suchte nach Worten. »… gottlosen Ort?« »Nein, an mein früheres Leben erinnere ich mich nicht mehr. Wie schon gesagt, unsere Vergangenheit wird vollkommen ausgelöscht. Und den nötigen Halt finde ich hier.« Whyrhd sah sich langsam im Raum um und fuhr fort: »Es ist zwar auf der einen Seite eine Qual, hier bei den Chesterfields zu leben, aber an manchen Tagen fühle ich mich fast wie ein richtiges Familienmitglied. Man könnte fast sagen, wie ein unsichtbares Haustier.« Sein Zynismus war unüberhörbar. »Wir sollten uns jetzt ein bisschen ausruhen. Es wird bald Tag und mit der Ruhe in diesem Haus ist es dann vorbei. Du wirst sehen, ich verspreche dir nicht zu viel, wenn ich sage: Du wirst dich wieder richtig lebendig fühlen«, wechselte er jetzt das Thema. Doch Joshua ließ nicht locker. »Es ist für mich nicht nachvollziehbar, welchen Sinn es machen sollte, denjenigen, die bereits einen langen, dunklen Weg gegangen sind - Tod, Krankheit, was auch immer diese Bürde aufzuerlegen?! Warum sie noch einmal prüfen? Wo bleibt da die Gerechtigkeit?« Jähzorn loderte jetzt in seiner Stimme. »Ja, glaubst du denn allen Ernstes, wir hätten uns das nicht schon längst selbst gefragt? Du bist weiß Gott nicht der einzige, den diese Fragen beim Eintritt ins Schattenreich quälen. Und du wirst auch gewiss nicht der Letzte sein! Aber ich gebe dir einen guten Rat …« Whyrhd beugte sich vor und seine Miene war wie versteinert. »Leg dich nicht mit dem Hohen Rat an! Du würdest den Kürzeren ziehen, mein 23 Freund. Glaub mir!« »Du meinst also, diese Regeln werden vom Hohen Rat aufgestellt?« »Bei ihm laufen die Fäden zusammen, ja.« Whyrhd nickte zögerlich. »Doch sei auf der Hut! Es hat schon einmal jemand versucht, sich ihm entgegenzustellen.« »Du meinst Abaddon?«, fragte Joshua. »Unterschätze niemals die Macht des Hohen Rates! Sein Wissen ist allmächtig und seine Präsenz allgegenwärtig!«, antworte Whyrhd, ohne jedoch wirklich auf seine Frage einzugehen. »Er folgt höheren Gesetzen, die uns oftmals verborgen bleiben. Glaub mir bitte, wenn ich sage, dass alles gewiss seine Richtigkeit hat.« Joshua schüttelte den Kopf, doch er schwieg. Was spielt es denn für eine Rolle, was ich denke oder fühle, dachte er bitter. Whyrhd hatte Recht, er würde sich fügen müssen, ob er wollte oder nicht. »Lass uns die letzten Stunden der Nacht sinnvoll nutzen. Komm ein wenig zur Ruhe und lass die familiäre Idylle dieses Raumes auf dich wirken!«, forderte Whyrhd ihn auf – und ohne eine Antwort abzuwarten, verschränkte er die Arme hinter dem Kopf, drückte sich noch tiefer in die weichen Kissen und legte die Füße auf den kleinen Holztisch vor ihm. Er schloss die Augen und schien in Gedanken eine Reise in eine bessere Welt anzutreten. Joshua jedoch, viel zu aufgewühlt, als dass er auch nur eine Minute hätte still sitzen, geschweige denn ausruhen können, schritt ziellos im Raum auf und ab. Das schwache Licht der Straßenlaterne vor dem Haus warf lange Schatten durch die Fenster und ließ das am Boden liegende Spielzeug fast gespenstisch wirken. Der große Kamin, in dem zwischenzeitlich auch die letzte Glut erloschen war, strahlte noch immer ein bisschen behagliche Wärme aus und auf dem Sims stand eine Reihe Familienfotos. Neugierig betrachtete Joshua die zahlreichen Porträts. Die Chesterfields mussten eine sehr große Familie sein. 24 Einige der Bilder waren schon alt, vergilbte und ausgebleichte Zeugen vergangener Epochen. Andere, bunt und farbenfroh, zeigten Kinder, deren offenherziges Lachen und freundliche Ausstrahlung die Porträts noch lebendiger wirken ließen. Einzig ein Mann auf den vielen Fotos blickte mürrisch und geheimnisvoll drein und sein Lächeln schien nicht von Herzen zu kommen. Joshua konnte sich auch hier des Gefühls nicht erwehren, die dunklen Augen des Mannes zu kennen, doch es gelang ihm nicht, sie einzuordnen. Verwirrt über seine Empfindungen wandte er den Blick ab, als könne er sich so besser an irgendeine winzige Kleinigkeit aus seinem bisherigen Leben erinnern. Angestrengt versuchte er, den Mann auf den Fotos mit seiner Vergangenheit zu verknüpfen, um vielleicht einen Teil seiner Erinnerungen zurückzuholen. Doch selbst der Blick aus den großen Fenstern des Wohnzimmers in die immer noch so düstere Nacht erlaubte ihm keinen Zugang zu seinem früheren Leben. Der Nebel hatte sich aufgelöst, als habe die Dunkelheit den stillen Kampf dieser beiden Titanen gewonnen. Immer noch schwer und bedrohlich lag sie über den Straßen Londons. Doch da war noch etwas anderes! Als hätten sich zwei Löcher in die Schwärze der Nacht gefressen, erkannte Joshua die feuerrot leuchtenden Punkte in weiter Ferne sofort wieder, die er Stunden zuvor schon einmal gesehen hatte. Starr vor Schreck und wie gebannt konnte er den Blick nicht abwenden. Erneut hin und her gerissen zwischen Faszination und Abscheu starrte er auf die roten Lichtpunkte, die nun schnell an Größe gewannen. Unaufhörlich drangen sie aus der Tiefe der Nacht und wem oder was sie auch immer gehörten – sie kamen näher! Und dann, im Schein einer Straßenlaterne, konnte er es erkennen: Ein Wesen, fast zwei Mann groß, stand leicht vornüber gebeugt am Rande des kleinen Parks. Joshua stockte der Atem. 25 Es hatte den Kopf eines Schakals, der das krasse Gegenstück zu dem aufrecht auf zwei Beinen stehenden, fast menschlichen Körper bildete. Und trotz der eingefallenen, vertrockneten Haut war sein Korpus muskulös - jeder Knochen und Muskel erkennbar. Seine langen, spitzen Klauen umklammerten ein wuchtiges Schwert, dessen Widerhaken bedrohlich im Schein der Laterne funkelten. Als wüsste das Geschöpf, dass jemand es beobachtete, huschte ein hämisches Grinsen über sein Gesicht und lange, messerscharfe Reißzähne kamen zum Vorschein. Die feuerroten Augen hielten ihn gefangen und was anfangs noch wie ein leises Knurren mit kaum vernehmbaren zischenden Lauten schien, bohrte sich langsam als erkennbare Worte in Joshuas Verstand, als wollten sie ihn innerlich vergiften. »Du gehörst mir!« Unerwartet, genauso wie das Wesen erschienen war, verschmolz es jetzt wieder mit der Dunkelheit. Doch die Worte, die es hinterließ, würden Joshuas künftige Existenz für immer verändern. 26 2. Kapitel h 613 Tage und 21 Stunden bis zur Stunde null D ie Zeit schien wie erstarrt. Selbst als die Kreatur schon lange im Nichts verschwunden war, schaffte Joshua es nicht, seinen Blick von der Stelle abzuwenden, an der das Wesen noch kurz zuvor gestanden hatte. Die diabolisch leuchtenden Augen bohrten sich in seine Gehirnwindungen und gewährten ihm einen kleinen Einblick in die tiefen Abgründe der Hölle. Die gesprochenen Worte, so leise sie auch gewesen sein mochten, legten sich wie ein Mantel aus Eis um seine Seele und machten es ihm schier unmöglich zu reagieren. Wie lange er so paralysiert in die Dunkelheit gestarrt hatte, wusste er nicht. Vor seinem inneren Auge trieben die Blicke der unheimlichen Kreatur immer noch ihr Unwesen und nur langsam gewann sein Verstand wieder die Oberhand. Als er es endlich schaffte, seiner Sinne Herr zu werden, stolperte er in Richtung Couch. Er setzte sich neben Whyrhd, der von alledem nichts mitbekommen hatte, und es schien noch eine Ewigkeit zu dauern, bis Joshua in der Verfassung war, ihn auf das eben Geschehene aufmerksam zu machen. »Whyrhd?«, fragte er in die Stille hinein. »Hm«, brummte dieser. »Ich habe sie wieder gesehen …«, antwortete Joshua und seine Stimme klang erstaunlich ruhig. »Was?« »Die roten Punkte in der Dunkelheit. Draußen vor dem Haus.« Die Teilnahmslosigkeit, mit der er das Geschehene berichtete, erschreckte ihn, denn tief in seinem Innern wütete 27 immer noch blankes Entsetzen. »Moment mal! Langsam! Willst du mir damit sagen, du hast Aureus gesehen?!«, fragte Whyrhd, der sofort hellwach war und sich aufrichtete. »Ja. Hörst du mir denn nicht richtig zu?«, erwiderte Joshua. »Er stand draußen auf der Straße. Im Schein der Laternen konnte ich ihn sehen.« »Das ist unmöglich!« Doch ein Blick in Joshuas Augen genügte um zu erkennen, dass sein Schüler ihn nicht in die Irre führte. »Ich weiß nicht, was hier heute Nacht vor sich geht, aber es verheißt leider nichts Gutes«, sagte Whyrhd. »Und was machen wir jetzt?« »Wir warten bis zum Morgengrauen. Aureus wird es nicht wagen, am Tage irgendetwas zu unternehmen. Was es auch sein mag …« »Dann müssen wir nicht mehr allzu lange ausharren«, erwiderte Joshua mit einem Blick aus dem Fenster. »Die Sonne wird schon bald aufgehen.« Und tatsächlich – das minütlich heller werdende Grau war der erste Vorbote auf die Lebendigkeit des Tages. »Bevor wir allerdings nach St. Paul’s aufbrechen, möchte ich dir gerne die Chesterfields vorstellen«, wechselte Whyrhd das Thema. »Was gibt es in St. Paul’s?«, fragte Joshua und ignorierte damit die letzten Worte seines Mentors. »Alles zu seiner Zeit, mein Freund«, wich dieser ihm aus. »Jetzt genieße erst einmal das Leben, das bald in diesen Wänden Einzug halten wird.« Und in der Tat – kurz darauf hörte man vom oberen Stockwerk her laute Stimmen und Fußgetrappel. Whyrhd stand vom Sofa auf und bedeutete Joshua, ihm zu folgen. Zwei Kinder kamen die Treppe heruntergelaufen. Der Junge, nicht älter als fünf Jahren, schubste das Mädchen neben sich angriffslustig und drängelte an ihr vorbei. Als die beiden das Wohnzimmer betraten, herrschte bereits eine rege Rangelei. 28 »Du scheinst gewusst zu haben, dass sie das Sofa in Beschlag nehmen werden, oder?«, fragte Joshua mit leichtem Schmunzeln, als die Kinder die Couch erreichten. »Es ist jeden Morgen das gleiche Ritual«, erklärte Whyrhd verschmitzt. Nur wenigen Minuten später glich das Wohnzimmer einem kindlichen Schlachtfeld. Erst der Klang einer resoluten Frauenstimme ließ beide innehalten. »Schluss jetzt! Sofort!«, herrschte die Frau und betrat das Zimmer. »Sebastian, gib Florentina sofort die Fernbedienung!« Der Junge folgte nur widerwillig der Aufforderung seiner Mutter, jedoch nicht, ohne lautstark zu protestieren. »Darf ich vorstellen?« Whyrhd deutete mit einer theatralischen Verbeugung in Richtung der Frau. »Das ist meine Traumfrau Jessica Chesterfield!« Joshua sah ihn mit hochgezogenen Brauen an. »Ja! Schau nicht so! Wenn ich mir eine Frau aussuchen könnte, dann müsste sie so sein und aussehen wie Jessica«, erwiderte Whyrhd mit unverhohlener Bewunderung in der Stimme. »Sieh sie dir doch an! Sie ist außergewöhnlich. Ihre Ausstrahlung – ihr schwarzes Haar«, schwärmte er und hatte nur noch Augen für die Frau, deren feine Gesichtszüge elegant und anmutig wirkten und sie mit einer Aura der Erhabenheit umgaben. Die Streitereien im Wohnzimmer schienen immer noch kein Ende nehmen zu wollen, bis eine tiefe Stimme ein lautes »Guten Morgen!« in den Raum warf. Wie von Zauberhand kehrte schlagartig Ruhe in die morgendlichen Zwistigkeiten ein. »Und das ist ihr Ehemann Peter! Irgendwo leitender Angestellter, Workaholic und nur selten zu Hause«, erklärte Whyrhd jetzt schmucklos, ohne sich große Mühe zu geben, seine Geringschätzung diesem Mann gegenüber verbergen zu wollen. Der Anblick Peters, der fast gebieterisch die Treppe 29 herunterkam, ließ Joshua heiße und kalte Schauder über den Rücken laufen. Weder sein perfekt sitzender grauer Nadelstreifenanzug noch seine hagere, strenge Statur, brachten sein Blut für einen kurzen Moment in Wallung. Vielmehr hegte er eine tiefe Abneigung gegen diesen Mann, ohne jedoch rational erklären zu können warum. »Komm, lass uns von hier verschwinden!« Unterbrach Whyrhd seine Gedanken, indem er Joshua bedeutete, er möge ihm folgen. Dieser jedoch hätte sich gerne noch länger im Haus der Chesterfields aufgehalten, denn sein Mentor hatte wahrlich nicht zu viel versprochen. In den wenigen Minuten, seit Leben in das Haus Einzug gehalten hatte, konnte Joshua das erste Mal, wenn auch nur für kurze Zeit, seine eigene trostlose Lage vergessen. Aber das war es nicht allein. Er hoffte und klammerte sich an jeden Strohhalm, der sich ihm bot. Jede Frage, jede Ungereimtheit ließ ihn neue Hoffnung schöpfen. Aus ihm unerklärlichen Gründen konnte und wollte er nicht akzeptieren, dass sein bisheriges Leben, wie es auch immer gewesen sein mochte, ein Ende gefunden hatte. Whyrhd jedoch wollte weg von diesem Ort und zog Joshua hinter sich her in Richtung Haustür. Schon im folgenden Moment standen sie draußen auf der um diese Uhrzeit bereits verkehrsbelebten Straße. Aus der gespenstischen, dunklen Nacht war ein grauer Morgen geworden, doch die Farblosigkeit des Tages störte Joshua nicht, denn er fühlte die menschliche Wärme um sich herum, die ihm ein Gefühl von Lebendigkeit vorgaukelte. »Wieso hast du es auf einmal so eilig?«, fragte er. »Du wolltest doch mehr über uns wissen, oder?« »Ja, schon. Aber du hast absolut Recht, die Chesterfields sind ausgesprochen faszinierend.« »Nichtsdestotrotz ist es Zeit, in die Wirklichkeit zurückzukehren. Wir müssen nach St. Paul’s, denn eines ist gewiss: Irgendetwas ist hier nicht so, wie es sein sollte«, erklärte Whyrhd. 30 »Nichts ist, wie es sein sollte!«, meinte Joshua und erntete strafende Blicke für seinen Sarkasmus. »Warum eigentlich St. Paul’s? Was macht die Kathedrale zu etwas so Besonderem?« »Kannst du dir das nicht denken?«, fragte Whyrhd. »St. Paul’s ist ein geheiligter Ort. Aureus und seinen Gefolgsleuten ist der Zugang dort verwehrt. Somit stellt sie für uns eine ideale Zuflucht dar.« Joshua drehte seinem Lehrmeister den Rücken zu und ging in Richtung Fleet Street. »Stopp! Wo willst du denn hin?«, rief er ihm nach. »Du wolltest doch zur Kathedrale, oder?« »Ja, aber doch nicht auf so profane Art und Weise!« Joshua hob fragend die Augenbrauen. »Ich sagte dir doch bereits, dass wir auf schnelle und unkonventionelle Art und Weise die Möglichkeit haben, uns fortzubewegen. Große Distanzen sind für uns ebenso wenig ein Problem wie verschlossene Türen. Ich dachte eigentlich, dir das gestern verständlich erklärt zu haben.« Noch immer sah Joshua sein Lehrmeister fragend an. »Es ist beunruhigend, wenn du diesen Blick hast«, brummte Whyrhd. »Wie meinst du das?« »Er vermittelt mir, was für ein schlechter Lehrer ich zu sein scheine. Du hast nichts von dem verstanden, was ich versucht habe, dir zu erklären, stimmt’s?« »Das siehst du falsch«, antwortete Joshua ruhig. »Ich kann dir durchaus folgen. Es ist nur …« Er stockte. »Ach, vergiss es! Erkläre mir lieber, wie ich mich so verändern kann, dass ein Fußmarsch überflüssig wird.« »Im Grunde ist keine große Schwierigkeit dabei. Du hast es ja gestern bereits intuitiv richtig gemacht. Verknüpfe dein Ich mit dem Ort, an den du vorhast, zu gehen. Stelle dir dein Ziel genau vor und vereine diese Vorstellung mit deinem Willen, dort zu sein – und das war es auch schon. Versuch du es als Erster! Ich werde nachkommen, sobald ich gesehen 31 habe, dass es klappt!« Joshua schloss die Augen. Eine seltsame Kälte erfasste ihn. Wie ein Geschwür breitete sie sich aus und fraß sich unersättlich durch das Innerste seines Selbst. Nur mit Mühe gelang es ihm, durch die Barriere der Hoffnungslosigkeit zu dringen, um sich auf sein Ziel zu konzentrieren. Und dann sah er vor seinem inneren Auge die Stufen von St. Paul’s, auf denen vor wenigen Stunden seine Reise in die Unendlichkeit begann. Eine erneute Druckwelle durchzog seinen Körper, gefolgt von einem Prickeln. Er fühlte sich leicht wie eine Feder. Der Wind trug ihn fort und strich ihm sanft über die Haut. Doch schon im folgenden Augenblick verspürte er einen unsäglichen Schmerz, der sich durch seine Gliedmaßen fraß. Erschrocken über diesen Anflug von Unbehagen öffnete er die Augen. Vor ihm lagen die Tore St. Paul’s. »Du bist ein wahres Naturtalent, weißt du das?«, lobte Whyrhd, der bereits neben ihm stand. »Mir ist noch niemand untergekommen, der in kürzester Zeit solche Fortschritte gemacht hätte. Gut – du bist mein erster Schüler …« Er räusperte sich verlegen. »Aber ich habe zumindest schon oft gehört, dass es Monate dauert, bis Schützlinge angelernt seien.« Joshua konnte seine Begeisterung nicht teilen. Diese Form der Fortbewegung empfand er als unnatürlich und zudem noch als ausgesprochen unangenehm. »Du hast mir immer noch nicht gesagt, wen du hier treffen willst«, meinte Joshua, als sie durch das große Tor in die Kathedrale eintraten. Zu beiden Seiten strömten bereits die ersten Besucher in die Kirche, deren weitläufiges Hauptschiff vom hereinfallenden Tageslicht zart erhellt wurde. Andächtige Stille und leises Getuschel zeigten Joshua, dass er nicht der einzige zu sein schien, den die Anmut dieses Bauwerkes beeindruckte. Ohne weiter auf seinen Schüler zu achten, ging Whyrhd auf einen kleinen Mann zu, der an einer der zahlreichen 32 Säulen im Schneidersitz saß. Wie in Trance schwebte ein Dolch unmittelbar über seiner Handfläche. Silbern glänzend und wohl nicht länger als zehn Zentimeter folgte er gehorsam dem Blick des Mannes hinauf in Richtung Deckengewölbe. Doch sobald dessen Aufmerksamkeit nicht mehr dem Dolch, sondern Whyrhd galt, der mittlerweile direkt vor ihm stand, unterwarf sich die Waffe der Erdanziehung und schoss hinab auf die noch immer ausgebreitete Handfläche des Mannes. Blitzschnell und geistesgegenwärtig zog dieser seine Hand beiseite und die Waffe stoppte nur Millimeter vor dem Steinboden der Kathedrale seinen Fall. »Hallo, Thomas«, begrüßte ihn Whyrhd. Joshua stand noch immer andächtig und gedankenverloren am Eingang. Überwältigt von der Schönheit und dem erhabenen Glanz seiner Umgebung hatte er nicht darauf geachtet, dass sein Lehrmeister seinen Weg bereits fortgesetzt hatte. Whyrhd bedeutete ihm, er möge ihm endlich folgen, doch Joshua kam nur träge dieser Aufforderung nach. Die hellen Mauern aus Stein mit ihren Pilastern faszinierten ihn ebenso wie die reichen Verzierungen, mit denen Säulen, Nischen und Denkmäler ausgestattet waren. Die Aura, die dieses Gebäude umgab, nahm ihn gefangen. Es war weit mehr als das andächtige Staunen beim Anblick dieser Gewaltigkeit. Diese Mauern schienen ihn willkommen zu heißen. Er fühlte sich fast heimisch, so, als kehre er nach Jahren der Abwesenheit an den Ort seiner Geburt zurück. »Das ist Thomas«, riss ihn Whyrhd aus seinen Gedanken. Der Mann zu seinen Füßen sah gebrechlich und dürr aus. Die matten, grauen Haare hingen ihm strähnig bis ins Gesicht und der ungepflegte Bart wirkte verfilzt und dreckig Joshuas. Er hatte Mühe, den Worten seines Lehrers Glauben zu schenken. »Lass dich in dieser Welt nicht vom äußeren Schein täuschen! Er kann oft trügerisch sein. Thomas ist einer unserer besten und siegreichsten Kämpfer!« In seiner Stimme lag große Bewunderung für diesen 33 hageren und kränklich wirkenden Mann. Thomas grüßte Joshua stumm mit einem Nicken. An Whyrhd gewandt fragte er frei heraus: »Ein Frischling?« »Ja – wobei seine Fähigkeiten bereits jetzt außergewöhnlich sind. Das ist auch der Grund, warum ich dringend mit dir reden muss.« »Kein Problem. Aber, wenn möglich, nicht jetzt. Ich hatte eine anstrengende Nacht. Irgendetwas hat alle gottverdammten Dämonen wie Ratten aus ihren Löchern getrieben. Ich konnte zwar einige ausschalten. Leider aber nicht genug.« Und nach einer kurzen Pause meinte er: »Wart ihr draußen? Ist euch nichts aufgefallen?« »Doch. Und auch deswegen muss ich mit dir sprechen«, antwortete Whyrhd. »Treffen wir uns bei Einbruch der Nacht wie gewohnt unten in der Krypta?« Thomas nickte. »Können wir machen«, sagte er knapp und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die kleine Waffe, die sich in der Zwischenzeit nicht vom Fleck bewegt hatte. Joshuas Lehrmeister folgte weiter dem Hauptschiff. »Du hast hier immer einen Ort, an dem du Zuflucht und Trost finden kannst«, erklärte er, ohne auf eventuelle Fragen seines Schülers zu warten. »Und hier oben«, er wies auf die Empore im Kuppelbereich der Kirche, »haben wir die Whispering Gallery. Es heißt, sie könne Stimmen von einer Wand an die gegenüberliegende projizieren. Für uns jedoch stellt sie weit mehr dar als das! Hier hast du die Möglichkeit, mit dem Hohen Rat Kontakt aufzunehmen – sofern dieser dazu bereit ist.« Joshua blickte beeindruckt auf die große Galerie mit ihren mächtigen Säulen und den prunkvoll verzierten Wänden. »Wer oder was ist der Hohe Rat?«, fragte er unvermittelt. »Der Hohe Rat fungiert als Bindeglied zwischen den Welten. Man sagt, er besäße die allwissende Macht und diene Gott als Verbindung von seinem Reich in die Welt der Lebenden. Nichts geschieht ohne oder gegen den Willen des 34 Hohen Rates.« Joshuas Gedanken arbeiteten auf Hochtouren. Er würde eine Unterredung mit ihm erbitten. Es würde der Augenblick kommen, da er die Gelegenheit dazu bekäme und dann würde man ihm seine Fragen beantworten müssen. Whyrhd unterbrach ihn und es schien, als ahne er die gewagten Gedanken seines Schützlings. »Denk nicht mal dran, Joshua!«, ermahnte er ihn scharf. »Ich weiß nicht, was du meinst …« »Ich sehe es in deinen Augen. Dieses gefährliche Blitzen verheißt nichts Gutes. Also, lüg mich nicht an!« Ohne sich in Diskussionen verstricken zu lassen, drehte sich Joshua auf dem Absatz um und setzte seinen Erkundungsgang fort. Whyrhd folgte ihm und so verbrachten sie den Rest des Tages damit, die Kathedrale näher in Augenschein zu nehmen. Whyrhd machte Joshua mit einigen Plätzen vertraut, an denen sie sich ausruhen konnten, ohne von Besuchern vertrieben zu werden. Die Zeit verging wie im Flug, und ehe sie sich versahen, wurde es dunkel. Die Kirche begann sich langsam zu leeren und Ruhe kehrte in das jahrhundertealte Gebäude ein. Doch immer mehr Männer und Frauen traten durch das Hauptportal, die sich grundlegend von den anderen unterschieden. Beim Blick in ihre fesselnd leuchtenden Augen schien es, als würde ein Feuerwerk aus Zuversicht und Entschlusskraft die Nacht zum Tage machen. Doch ihre Blicke waren ernst, fast trübsinnig und in sich gekehrt. Whyrhd, der es sich bereits vor Stunden in einer der angrenzenden Nischen gemütlich gemacht hatte, erhob sich nun und ging zu einer jungen Frau, die er sogleich freundschaftlich umarmte. Ihr schulterlanges, glattes Haar ließ sie noch zarter und gebrechlicher wirken und ihre schlichte, schwarze Kleidung verlieh ihr eine Aura der Unnahbarkeit. Was die beiden sprachen, konnte Joshua nicht verstehen, aber die Frau kam daraufhin näher, streckte ihm ihre Hand entgegen und sagte: 35 »Hallo, ich bin Saundrine. Whyrhd hat mir gerade so einiges über dich berichtet.« Beim Blick in die azurblauen Augen der Frau segelte Joshuas Geist im ruhigen Meer der Unendlichkeit, um sich ihr darzubieten. »Was tust du da?« Instinktiv trat er einen Schritt zurück und blickte zu Boden. »Ich habe die Gabe einer Seherin«, erklärte sie ruhig. »Ich kann in die Seelen eines jeden Schattenwesens blicken. Ich sehe, welche Abgründe sie in sich trägt.« »Und was siehst du bei mir?« »Eine undurchdringbare Mauer der Bedrohung«, sagte sie schmucklos. Ihre Augen verdunkelten sich und ihre Stirn lag in Falten. »Du scheinst etwas mit aller Macht verbergen zu wollen.« Whyrhd trat zu den beiden und legte den Arm freundschaftlich um die Schulter seines neuen Schützlings. »Na? Habt ihr euch schon bekannt gemacht?«, fragte er. Sie nickte, doch Joshua, der nicht wusste, ob er verärgert oder verwundert über ihre seltsame Feststellung sein sollte, erwiderte mürrisch: »Sie meint, ich würde etwas verbergen!« Whyrhd sah fragend zu Saundrine. »Es umgibt ihn eine Aura, die ich nicht durchdringen kann. Ich glaube jedoch nicht, dass er das bewusst steuert, aber irgendetwas ist dort.« Mit dieser Feststellung schien für sie die Unterhaltung beendet, denn sie drehte sich ohne ein weiteres Wort um und ging zu einer kleinen Gruppe, die unweit des Kuppelbereiches stand. Joshua sah ihr verwundert nach und Whyrhd, der seinen Gesichtsausdruck sofort richtig deutete, versuchte zu erklären: »Ich weiß, Saundrine ist etwas seltsam, aber sie besitzt die Gabe, den Weg eines jeden Schattenwesens sehen zu können. Es ist bislang noch nie vorgekommen, dass sie, wie bei dir, nicht in der Lage war, das Vorherbestimmte vollständig wahrzunehmen. Vielleicht hat sie das etwas aus 36 der Fassung gebracht …« »Was hat sie bei dir gesehen?«, wollte Joshua wissen. »Keine Ahnung! Ich glaube, ich würde es auch gar nicht wissen wollen. Ich kenne niemanden, der so verschwiegen ist wie Saundrine, daher vermute ich, würde sie mir sowieso keinen Einblick in meinen Weg gewähren.« Whyrhd beugte sich zu Joshua und flüsterte, als stünde sie direkt neben ihnen: »Weißt du, man sagt, sie besäße ein Geheimnis, welches sie vor uns geschickt im Verborgenen hält. Es heißt auch, sie nutze ihr Wissen einer Seherin, um dies vor uns zu schützen. Ich kenne Saundrine, seit ich denken kann, doch sie gibt mir immer wieder Rätsel auf.« Saundrine, als habe sie die leise Unterhaltung mitbekommen, blickte plötzlich auf und kam erneut zu ihnen herüber. »Ich hörte, ihr hattet Probleme mit Aureus?« »Ja. Seltsamerweise tauchte er nicht nur hier vor dem Portal auf, sondern Joshua hat ihn auch vor dem Haus der Chesterfields gesehen.« Saundrine blickte zu Whyrhds Schüler. »Da bist du dir ganz sicher?« »Ja, selbstverständlich! Glaubst du, ich würde lügen?«, antwortete Joshua hitziger als eigentlich gewollt. Saundrine sah nachdenklich zu Boden. »Weißt du, es ist nicht typisch für Aureus, dass er sich einem Frischling so häufig in so kurzer Zeit nähert. Meist wartet er, bis sie ausgebildet sind, um zu versuchen, sie auf seine Seite zu ziehen. Das erspart ihm eine Menge Arbeit und Zeit«, erklärte sie. Joshua dachte an die wenigen Worte der Kreatur, die sich in sein Gedächtnis eingebrannt hatten. Für einen kurzen Moment war er gewillt, diese Information jetzt preiszugeben. Doch er hielt inne. Die Reaktionen seiner neuen Weggefährten zeigten ihm, dass etwas Seltsames im Gange war. Etwas, was für diese Dimension ebenso als ungewöhnlich galt, wie es in der Welt der Lebenden der Fall 37 gewesen wäre. Und so entschloss er sich, dieses Stückchen Wissen fürs Erste nicht zur Sprache zu bringen. »Was ist los mit dir?«, fragte Whyrhd, der ihn mit wachsamen Augen beobachtet. »Nichts«, antwortete er ein wenig zu schnell. »Komm mit, ich zeige dir die Krypta!«, wechselte Whyrhd zu Joshuas Erleichterung das Thema. Freundschaftlich legte er den Arm um dessen Schultern und zog ihn von Saundrine fort. »Es wird Zeit, mit dem Training zu beginnen«, erklärte er. »Thomas wird bestimmt auch schon unten sein. Wir haben einiges zu besprechen.« Sie stiegen die Steinstufen in die unteren Gewölbe hinunter, aus denen bereits lautes Stimmengewirr und das Klirren von Metall zu ihnen hinaufdrangen. Als sie die Krypta betraten, lieferten sich an die zehn Paare hitzige Schwertkämpfe. »Hier trainieren wir, sooft es geht«, erklärte Whyrhd. »Es hält uns fit und wir sind für den Tag X vorbereitet.« »Der Tag X?« »Ja, der Tag X! Er wird kommen – der Tag, an dem Aureus und Abaddon versuchen werden, die Kontrolle über den Hohen Rat zu erlangen.« Und obgleich Joshua noch so viele Ungereimtheiten auf der Seele brannten, beließ er es erst einmal dabei. Doch er kam nicht umhin, sich selbst du fragen, warum er nicht einfach nur hatte sterben können? Doch anstelle dieser so simplen Lösung fand er sich nun weit über die Grenzen des Todes hinaus in einem Chaos aus Macht, Gier und Krieg wieder. Und tief im Innersten, begannen quälende Frage zu keimen: Was definiert das Gute? Was macht Böses zu Bösem? Und was war richtig oder falsch? Whyrhd riss ihn aus seinen Gedanken: »He! Hörst du mir überhaupt zu?« »Klar«, antwortete Joshua schnell. »Aber was macht ihr euch für Sorgen? Wir sind doch schon tot. Was also kann es Schlimmeres geben?« 38 Entsetzen stand Whyrhd ins Gesicht geschrieben. »Was es Schlimmeres geben kann?! Bist du nicht mehr bei Sinnen? Glaubst du allen Ernstes, deine Seele würde unter Abaddons Herrschaft Frieden finden? Wir wären Sklaven! Dazu verdammt, willenlos zu dienen, ohne die Aussicht, jemals in das Reich der Himmel eintreten zu können!« »Es tut mir leid«, antwortete Joshua, doch es klang ein wenig lahm. Whyrhd sah ihn immer noch entgeistert an, so als stünde vor ihm nicht der Mann, den er noch vor wenigen Stunden als einer der ihren bezeichnet hatte. Joshua bereute es zutiefst, seine derzeit so abstrusen Gedanken laut ausgesprochen zu haben. Abermals dachte er an die unmissverständlichen Worte Aureus‘. Und selbst wenn er die Euphorie seiner Weggefährten nicht teilen konnte, so wusste er doch es gäbe für ihn keine andere Wahl. »Dann will auch ich kämpfen. Ich werde für eure Sache mein Bestes geben!« Entschlossenheit war in seine Stimme zurückgekehrt. Einzig ein rasches Aufblitzen der Furcht in seinen dunkelbraunen Augen zeugte von der Verzweiflung, die in ihm wütete. Doch Whyrhd bemerkte dies nicht. »Gut. Dann lass uns beginnen!«, sagte sein Mentor. Alle Frauen und Männer, die sich in den unteren Hallen von St. Paul’s im Kampf übten, hielten inne, als Whyrhd mit lauter Stimme in das stetige Klirren des Metalls hineinrief: »Hört mich an! Wir haben einen neuen Kämpfer an unserer Seite!« Ein Raunen erfüllte den weitläufigen Saal, und als aus der Menge der kleine, hagere Mann hervortrat, den Whyrhd ihm kurz zuvor als Thomas vorgestellt hatte, wich das Gemurmel einem gespannten Schweigen. Ein warmer, freundschaftlicher Schatten lag über seinem Gesicht, als er seine Hand auf Joshuas Schulter legte und mit tiefer Stimme, die so gar nicht zu seiner Statur passte, meinte: »Weise Entscheidung, mein Freund! Es wäre mir eine Ehre, dich unterrichten zu dürfen. 39 Whyrhds Einverständnis vorausgesetzt …« »Natürlich bin ich damit einverstanden! Es gibt keinen Besseren als dich, Thomas!« »Ich meine ja nur … Du bist sein Lehrmeister«, warf dieser ein. »Joshua soll aber den Besten bekommen. Und das bist nun einmal du.« Zu Joshuas Verwunderung schloss Thomas die Augen. Einen Sekundenbruchteil später bewegte sich einer der zahlreichen Dolche aus dem Lederfutteral seines Gegenübers. Thomas öffnete die Augen und das unscheinbare, glanzlose Stück Metall begann, sich langsam auf Joshuas Augen zuzubewegen. Im Zuge dieser Bedrohung bemerkte er die Veränderung, die sich über ihm vollzog. Er blickte nach oben und erkannte das kleine, milchige Etwas sofort wieder, das ihn schon einmal so unsanft attackiert hatte. Ein hohes Flirren erfüllte den Raum und nur von fern nahm Joshua das Raunen in der Menge wahr. Gebannt verfolgte er, wie der zu Anfang so unscheinbar wirkende Ball nun stetig an Größe zunahm. Seine Leuchtkraft erhellte jetzt das gesamte Kellergewölbe, so, als würden gleißende Sonnenstrahlen direkt in den unterirdischen Saal geleitet. »Ist das seiner?«, hörte er eine Stimme aus der raunenden Menge. »Was zum Henker …?!« Noch ehe Joshua den Satz vollenden konnte, bewegte sich der Ball langsam auf ihn zu. »Du brauchst nicht vor ihm zurückzuweichen. Es ist deiner!« Whyrhd stand jetzt direkt hinter ihm. »Es ist dein Viamnamis deine Lebensenergie! Er ist ein Teil von dir.« Joshua sah den Ball jetzt unmittelbar an sich hinunterschweben und vor seiner Brust innehalten. Und als wisse er um das Ritual, welches auf ihn wartete, öffnete er die Hände. Sacht glitt der Ball in seine Handflächen, ohne diese jedoch zu berühren. Eine seltsame Wärme umfing ihn. Das ballähnliche Gebilde leuchtete jetzt stärker denn je und 40 begann, um die eigene Achse zu rotieren. Was im nächsten Augenblick geschah, konnte Joshua nicht genau nachvollziehen: Der Ball schien sich in einen silbrig glänzenden Strudel aufzulösen. Wie eine Spirale wand er sich um seinen Körper. Doch fast zeitgleich umgab ihn ein undurchdringbarer Nebel, so als würden die seltsamen Teilchen durch ihre Reibung aneinander verdunsten. Gebannt verfolgte Joshua das Schauspiel, und mit ihm alle Anwesenden. Ohne zu wissen, warum oder weshalb, griff er in die Luft. Wie selbstverständlich ertasteten seine Hände einen massigen Griff. Seine Finger umschlossen kaltes Metall und bereits im nächsten Moment hielt er ein Schwert in Händen, welches an Größe und Glanz dem Whyrhds in nichts nachstand. Beeindruckt betrachte Joshua seine neue Waffe und blickte fragend zu seinem Lehrer. »Es hat schon alles seine Richtigkeit! Sieh hinauf!« Johsua folgte dem Blick Whyrhds. Das Deckengewölbe erstrahlte in gleißendem Licht und Joshua legte schützend die Hand vor die Augen. Doch dann, als bediente jemand einen Regler, normalisierte sich die Helligkeit und er erkannte ein Meer von kleinen und großen Bällen. »Ein jedes Schattenwesen trägt seinen Viamnamis in sich. Es ist ein Teil von uns und wann immer wir es brauchen, wird es uns zu Diensten sein. Dein Viamnamis vereint sich mit dir und zum Schutze deiner selbst erhältst du in unserer Welt eine Waffe, die deinen jeweiligen Fähigkeiten und Vorlieben angepasst ist.« Joshua betrachtete das Schwert in seinen Händen. »Da habe ich aber viel von diesem Viamnamis …«, meinte er trocken. Thomas lachte lautstark und antwortete verschmitzt: »Ja, mein Freund. In der Tat! Wenn ich mir da so meine Waffe ansehe …« Und auch Whyrhd konnte sich ein Schmunzeln nicht mehr verkneifen. »Was bedeutet die Inschrift?«, fragte Joshua jetzt und 41 wandte seinen Blick Whyrhd zu, dessen Lachen augenblicklich erstarb. »Welche Inschrift?« »Na, die auf der Klinge.« Auch das Interesse von Thomas war nun geweckt. Beide Männer gingen einige Schritte auf Joshua zu und dieser hob das imposante Stück Metall in die Höhe, sodass man es genauer betrachten konnte. Das Schwert war schlicht, ohne Zweifel, aber doch ging von ihm eine Magie aus, die sämtliche Blicke auf sich zog. Zwei Flügel, die sich um den Griff wanden, bildeten seine einzige Verzierung. Auf beiden Schneiden des blanken Stahls waren Inschriften der Länge nach eingraviert: »LUDIT IN HUMANIS DIVINA POTENTIA REBUS« »SI MONUMENTUM REQUIRIS CIRCUMSPICE« Ein unwirkliches Licht umgab die Lettern und Joshua fühlte sich an die außergewöhnliche Leuchtkraft seines Viamnamis erinnert. Thomas und Whyrhd starrten immer noch gebannt auf die Buchstaben. »Was steht da?«, wollte Joshua wissen. Gespannte Stille beherrschte den Raum. Erst nach Minuten, die ihm wie eine Ewigkeit vorkamen, begann Thomas zögerlich: »Deine Waffe trägt die Inschrift des Hohen Rates. Du findest sie überall hier in St. Paul’s.« Es war ihm deutlich anzusehen, dass er nur einen kleinen Teil dessen preisgab, was er tatsächlich wusste. Sichtlich nervös blickte er von Whyrhd zu Joshua und wieder zurück und versuchte dann recht unbeholfen, das Thema zu wechseln. »Ich möchte wetten, dass du bestimmt ein herausragender Kämpfer wirst! Ich würde gern gleich mit deinem Unterricht beginnen. Lass uns keine Zeit verlieren!« »Warum weichst du mir aus?«, fragte Joshua 42 herausfordernd. »Für alles gibt es eine Zeit, mein Freund. Frage nicht nach dem Warum! Nimm es als Geschenk und mache dir seine Fähigkeiten zu Nutze. In allem liegt ein Sinn, eine Fügung. Also übe dich in Geduld, denn das Schicksal wird dir zur rechten Zeit Antworten auf deine Fragen geben«, sagte Thomas ruhig. »Bist du jetzt bereit für deinen ersten Kampf?« Joshua nickte. Die Männer begannen ihren Kampf und das mächtige Schwert in Joshuas Hand verschmolz mit ihm zu einer mentalen Einheit. Kraft und Ruhe durchströmten seinen Körper, und obgleich seine neue Waffe ein enormes Gewicht besaß, lag es in seinen Händen wie eine Feder. Ohne zu wissen, warum, wusste er, welche Hiebe er ausführen musste, um den blitzschnellen Attacken von Thomas auszuweichen. Dieser griff Joshua mit seinen Dolchen an, die aufgrund ihrer geringen Größe wie Pfeilspitzen durch die Luft schossen. Die Messer fielen klirrend zu Boden, als die schwungvollen Hiebe des Schwertes sie trafen. Doch Joshua unterschätzte die mentalen Fähigkeiten seines Gegners. Die so harmlos wie unscheinbar wirkenden Werkzeuge erhoben sich in Windeseile wieder hoch in die Luft, um ihn erneut in einen Kampf zu verstricken. Thomas zog alle Register. An die dreißig Dolche schwirrten mittlerweile auf Joshua zu und so sehr er und sein Schwert sich auch drehten und die Waffen abzuwehren versuchten, letztendlich unterlag er. Sechs Klingen hatten seinen Kopf dicht eingekreist und warteten auf die Anweisungen ihres Meisters. »Ich gebe auf!«, sagte er atemlos und ein Grinsen lag, trotz der Niederlage, auf seinem schweißnassen Gesicht. Er fühlte sich leicht, ja, fast glücklich. Der Kampf hatte ihm alles abverlangt, doch gleichzeitig gab er ihm ein Gefühl der Befriedigung. »Du hast dich, wie erwartet, als würdigen Gegner erwiesen«, meinte Thomas. 43 Erst jetzt entfernten sich die kleinen Waffen und schwebten, als würden sie den Weg nach Hause antreten, langsam in die Futterale an Thomas’ Brustgurt zurück. Whyrhd kam auf Joshua zugestürmt und umarmte ihn euphorisch. »Das war wirklich großartig!« »Ich habe nicht gewonnen«, gab Joshua zu bedenken. »Ich sagte ja schon, Thomas ist der Beste! Aber du hast dich hervorragend geschlagen. Nicht war, Thomas?« »Ohne Zweifel. Für deinen ersten Kampf außergewöhnlich. Mit ein wenig mehr Übung wirst du ein mehr als ebenbürtiger Gegner im Kampf gegen die Mächte der Dunkelheit werden.« 44 Lesen Sie weiter … „Jenseits des Schattens“ Als Download bei Amazon erhältlich: Hier Einzelheiten & News unter: http://www.minhjong.com Fragen oder Feedback per Mail: mailto:[email protected]?subject=Jenseits des Schattens 45
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