LESEPROBE Tina Schick: „Osnabrücker Fenstersturz“ Familienbande I Endlich hatte der Regen aufgehört. Schon tagsüber schien die Sonne intensiv wie im August, heiß und inbrünstig. Das verhieß ein warmer Abend unter freiem Himmel zu werden. Immerhin war es bereits das zweite Wochenende im September und die Abendtemperaturen lagen noch über 20 Grad. Ich stand im Schlafzimmer vor dem Kleiderschrank und konnte mich nicht entscheiden, mal wieder oder eigentlich wie immer. Hinter mir auf dem Bett hatte sich Chilly hingefläzt und streckte genüsslich ihre Krallen in mein Lieblingskopfkissen. Ich hatte es bereits diverse Male gestopft, nachdem ich noch mehrere Male versucht hatte, sie davon abzuhalten und unzählige Male ihre Krallen sanft in meiner Hand gespürt hatte. Man muss halt Prioritäten setzen, entschied ich zugunsten meiner Katze. „Wie lange braucht ihr noch im Schlafgemach?“, kam es aus der Küche. „Weiß nicht“, brummte ich. „Ich könnte auch zu dir kommen“, säuselte er, „dann brauchst du gar nichts anziehen ...“ „Joshua!“, sagte ich streng und musste mir ein Schmunzeln verkneifen. „War ja nur so ein Gedanke“, entschuldigte sich die Stimme aus der Küche. Ich zog ein dünnes Sommerkleid aus dem Schrank und hielt es mir vor die Brust. „Miau“, machte es verächtlich hinter mir. „Okay, das ist wohl zu dünn“, gab ich dem Einwand nach. Dann wählte ich ein schwarzes Kleid aus festerem Stoff mit kurzem Arm. „Miiiau!“, schien Chilly auch dieses abzulehnen. Sie drehte sich zur anderen Seite. „Das Kleid ist schön“, protestierte ich. Abermals meldete sich die Stimme aus der Küche: „Vertrau der Katze, sie denkt pragmatisch ...“ „Was????????????“ „Praktisch! Zieh dir eine bequeme Hose mit Seitentaschen für die Filme an und ein T-Shirt, um 9 wird es ohnehin dunkel, da bemerkt außer mir keiner deine Schönheit ... hoffe ich.“ Er hatte ja irgendwie Recht. Doch manchmal mag frau sich einfach ein wenig rausputzen. Das dachte auch Chilly. Sie saß nun als Siegerin auf dem Bett und leckte ihre Pfoten. Sie hatte jedes Wort Joshuas in sich aufgesaugt. Eine Katze, die Recht hat. Plopp. Plopp krsch. Das erste Geräusch kam von der Prosecco-Flasche. Das zweite von der Gourmet-Dose, vermutlich mit Thunfisch. Diese Unterschiede konnte Chilly riechen, ich aber nicht hören. Doch sie sprang noch nicht auf, sondern putzte sich in aller Ruhe weiter, Härchen für Härchen ... bis ihr Fell richtig lag. Erst dann stand sie auf, streckte sich, um sich abermals zu setzen und zu warten. Das Futter wurde in ein Schälchen gefüllt, der Prosecco in Gläser. „Es ist angerichtet!“, rief Joshua. Der Startschuss. Chilly und ich liefen um die Wette in die Küche. „Chilly war schneller“, lachte Joshua. Kurz darauf war ich in praktische Klamotten geschlüpft, hatte meine Kamera umgehängt und fand mich mit Joshua im kulturellen Trubel wieder. Kulturnacht. Alle, die etwas von Kunst und Kultur verstehen oder es zumindest glauben oder meinen, sie müssten dort gesehen werden, waren auf den Beinen, drängelten sich im Angebot der Museen, Galerien und Theater rund um die Altstadt und den Domplatz. Wir ließen uns treiben, mal mit dem Strom, mal dagegen. Wir bestaunten die Venedig-Photographien im VordembergeGildewart-Haus, in dem ein Reisebüro untergebracht war. Wir setzten uns in die Stadtgalerie und lachten über Geschichten und Mären der alten Hanseleut. Ironie und Selbstironie. Wie vielen wurde hier ein Spiegel vorgehalten. Immerhin gehörte Osnabrück einst selbst zur Hanse. Gutes Leinen wurde hier gewebt und gesiegelt. An Bier hat es aber wohl auch nie gefehlt und so schienen die Geschichten noch nicht wirklich 500 Jahre her zu sein. Der Höhepunkt an diesem Abend spielte sich allerdings auf dem Marktplatz ab. Inzwischen umgab uns schwarze Nacht mit strahlend hellen Sternen. Pünktlich um 22 Uhr sollte die ‚Wellen-Sinfonie’ beginnen. Die Massen füllten den Markplatz. Allmählich verteilten sie sich über den ganzen Platz, so dass ich in aller Ruhe das Spektakel genießen und photographieren konnte. In der Mitte des Platzes stand seit Minuten der Dirigent, mit blütenweißer Weste, Hemd und Hose. Er hob seine Arme, die Menschen verharrten in absoluter Stille. Dann ... riss er sie mit noch mehr Schwung in die Höhe, ein gespreizter TotalAkkord. Die Gebäude erwachten in dämonischem Licht. Ein Marktplatz wie er vielleicht im Mittelalter geleuchtet hat, Angst einflößend. Was hatten ehrenwerte Osnabrücker Bürger um diese Zeit noch auf dem Marktplatz verloren? Die Streicher, postiert in der Bibliothek, strichen wild auf ihren Instrumenten. „Klingt ja wie Einstürzende Neubauten“, bemerkte ich. „Vielleicht mag Willem Schulz die auch“, entgegnete Joshua. „Vermutlich, sonst hätte er diese Sinfonie nicht so komponiert“, sagte ich und konzentrierte mich wieder auf stimmungsvolle Photos. Nun rasten farbige Feuerwerksraketen hinter der Bibliothek gen Himmel und versetzten die Zuschauer in weiteres Staunen. Die Arme Schulzes kreisten nun wild, die Streicher kamen zum Höhepunkt – Abbruch. Stille. Der Eingang der Marienkirche erleuchtete in einem dunklen Blau. Fünf kluge und fünf törichte Jungfrauen blickten als Statuen interessiert und verächtlich auf die Menschen herab. Dann ertönte herrliche Orgelmusik aus dem Inneren der Kirche. Durch das Licht schienen die Jungfrauen im Takt mitzuschwingen. Immer wieder stellte ich mir diesen Platz im Mittelalter vor. Von Mal zu Mal wirkte er bedrohlicher. Völlig fasziniert schoss ich weitere Photos. Was davon hinterher zu gebrauchen war, würde der nächste Tag entscheiden. Jetzt versuchte ich Stimmungen einzufangen. Ich ärgerte mich, keine Videokamera mitgenommen zu haben. Auf den Photos fehlte eindeutig die Musik. Das linke Fenster im ersten Geschoss des Rathauses erstrahlte. Eine junge Frau in blauer Bluse sang den Übergang zu den Streichern in der Bibliothek und dem Schlagzeug auf einer gesonderten Bühne. Der Gesang wurde immer moderner, von Klassik zum deutschen Rap ‚Es zählt der Augenblick’. „Mist“, fluchte ich, „der Text kommt nicht aufs Bild.“ Joshua lachte. An einem weiteren Rathausfenster ein Rapper, der immer noch den Augenblick zählte. Er bewegte sich bedrohlich dicht ans Fenster, als würde er gleich hinausfliegen. Ein drittes Fenster leuchtete. Eine Frau in rotem Kleid untermalte den Rap mit Soul-Einflüssen. Das ganze Rathaus zeigte sich nun in den verschiedensten Farben. Beeindruckend. Ein Trommelwirbel. Feuerkugeln jagten quer über den Marktplatz und endeten in der Stadtwaage. Ich wusste gar nicht mehr recht, wohin ich blicken sollte. Das Spektakel umringte mich von allen Seiten. Eine Kamera reichte längst nicht mehr, um alle Eindrücke einzufangen. Eine weitere Feuerkugel blitzte, meine Kamera auch, gerichtet auf das Rathaus. Etwas Rotes stürzte aus dem Fenster. Eine gelungene Inszenierung. Zum Abschluss ein buntes Feuerwerk, das jedes Ah und Oh übertönte. Einige Menschen rannten zur Rathaustreppe. Ihre Gesichter wirkten erschrocken. Ein Mann wedelte mit den Armen. Schreie, die nicht gehört wurden. Zwei Rettungsassistenten kamen von ihrem Wagen gelaufen, der sicherheitshalber zwischen Marienkirche und Stadtwaage parkte. Immer mehr Menschen drängten sich. Die Musik hüllte den Marktplatz in letzte Enthusiasmen und verschallte in den Winden zu den Sternen. Applaus. Die Sanis versuchten zu telefonieren, sich Hilfe zu besorgen. Mit Blaulicht fuhr der Rettungswagen vor. Die Schaulustigen machten nur unfreiwillig Platz. „Kannst du was sehen?“, fragte ich. „Nicht mehr als du, nur n Haufen Leute, die keinen Platz machen“, antwortete Joshua. „Ich hab da eben etwas Rotes fallen sehen. Ob das die Sängerin war?“ „Du wirst es am Montag in der Zeitung lesen können.“ Ende der Diskussion. Wir bemühten uns noch, einen netten Abschluss für unseren Abend zu finden, noch einen Wein zu trinken, doch dieser Vorfall beschäftigte mich zutiefst. Ich wollte nicht reden. Joshua spürte meine Verwirrung und entschied, dass wir den Abend besser beenden sollten. Ich kuschelte mich an Joshuas Brust. Im anderen Arm streichelte er Chilly. „Schlaft gut, meine Lieben“, hauchte er noch, gab jeder von uns einen Kuss auf die Stirn und verschwand in andere Sphären. Auch Chilly schnarchte schnell. Ich schloss meine Augen und sah ... ROT. Ein roter Schleier fiel vom Himmel. Ein rotes Kleid fiel herab. Rotes Blut klatschte zu Boden. Rote Schreie hallten durch die Luft ... ROT.
© Copyright 2024 ExpyDoc